2nd Season: Russian Diaries von Flokati ================================================================================ Kapitel 11: Trophée de France – Yuuri Katsuki: Find your Story -------------------------------------------------------------- Trophée de France, 18. November - 19. November, Paris Zum freien Training am Wettkampfmorgen erscheinen alle überpünktlich. Es ist fast eine Wiederholung des letzten Finales, lediglich Georgi und ein junger Deutscher zählen nicht zur Startaufstellung von Barcelona. Obwohl wir Läufer uns eigentlich gut untereinander verstehen, redet heute kaum jemand mehr als nötig mit dem anderen. Phichit ist der Einzige, der sich mir und den anderen gegenüber normal verhält, aber die veränderte Stimmung fällt auch ihm auf. Viktor und Chris reden zwar miteinander, aber Chris ist nicht so locker wie sonst. JJ bleibt seltsamerweise für sich, ohne einem von uns die Ohren abzukauen oder unnötige Infos zu verteilen. Eigentlich lässt er sich ja von nichts und niemandem beeindrucken, aber dem heutigen Vorentscheid scheint auch er mit etwas mehr Respekt zu begegnen. Vielleicht, weil auch er erkannt hat, wie dämlich sein Gelaber im letzten Jahr war, denn Viktors Ergebnisse bei den Russian Nationals und der NHK Trophy haben in Zahlen belegt, dass Viktor trotz Pause in einer ganz anderen Liga läuft. Aber irgendwie glaube ich das dann doch wieder nicht. JJ wird sich nie ändern - because it's JJ-Style! ...Ok, der war schlecht. Schon seit das Training heute Morgen begonnen hat, bemerke ich immer wieder, wie nicht nur der Kanadier, sondern auch Chris und Georgi Viktor mit ihren Blicken belauern. Manchmal huschen ihre Augen nur flüchtig zu Viktor, manchmal starren sie ihn an, ohne sich Mühe zu geben, es zu verstecken. Sie kommen mir vor wie Raubtiere, die den perfekten Moment abpassen wollen, ihre Beute zu jagen und sich als derjenige Läufer zu verewigen, der es geschafft hat, den legendären Viktor Nikiforov zu bezwingen. An Yurios Sieg vom letzten Jahr scheint niemand mehr zu denken. Ich bin mir auch sicher, dass Viktor diese Blicke längst bemerkt hat. Er kann es besser überspielen, aber ich weiß, dass er den Ehrgeiz der Verfolgergruppe im Nacken spürt. Dass er heute von der Trainerbank aus zusehen wird, stachelt seine Herausforderer nur zusätzlich an und es entsteht der Eindruck, als wollten sie ihm jetzt schon einen Vorgeschmack auf das geben, was ihn im Finale erwarten wird. Es ist überaus skurril und doch muss ich unwillentlich grinsen. Viktors Interesse gilt nicht den Duellen mit Georgi, Chris, JJ oder irgendeinem anderen Läufer. Das ist ihm völlig egal. Viktor will nur seine Rekorde zurück. Dafür hat er für sich, Yurio und mich mit seinen Programmen eine kleine Arena geschaffen, in die kein anderer eingreifen kann. Er will sich auf seinem Niveau mit Yurio und mir messen und das hat schon etwas Unwirkliches, aber auch Geniales an sich. Dagegen ist das Imponiergehabe dieser stolzen Pfaue irgendwie... ich trau mich fast gar nicht es zu denken, lächerlich, aber es ist nicht zu leugnen, dass die Aussicht auf ein direktes Duell mit Viktor sie zu Höchstleistungen anspornt. Ich darf sie auf keinen Fall unterschätzen. In Kanada hat es für den zweiten Platz gereicht, aber die Konkurrenz war eine ganz andere. Heute darf ich keinen Fehler machen. Damit das gelingt, haben wir meine Sprünge im Vergleich zur Performance in Kanada geändert. Meine Sprungkombination ist jetzt dieselbe wie bei On Love: Eros im letzten Jahr: Dreifacher Axel, vierfacher Toeloop und Salchow in Kombination mit einem dreifachen Toeloop, die ich alle sicher landen kann und die bei perfekter Ausführung auch mehr als 100 Punkte ergeben sollten. Und mehr als 100 Punkte im Kurzprogramm müssten es laut Viktor auch werden, wenn ich gewinnen will. Trotzdem soll ich kein unnötiges Risiko eingehen. Den vierfachen Flip wollen wir zwar erst zum Finale wieder einbauen, aber wenn ich mir in Erinnerung rufe, was Chris und JJ beim Training schon gezeigt haben, wäre es doch eine Überlegung wert... Wenn ich die Sprünge einfach so ohne Absprache ändere, wird Viktor wieder grummelig sein, aber ich will gewinnen. Auf der Trainerbank ist er wie Yakov; alles nach Plan. Wenn er selbst auf dem Eis steht, gibt es nur noch seine eigenen Regeln, aber so ist er wenigstens nie lange grummelig, weil er weiß, dass er es selbst nicht anders machen würde... Nach dem Training gehen wir alle still schweigend unserer Wege, um uns am Abend zum Kurzprogramm in genau derselben Stille wieder zu begegnen. Morooka, der wie immer die Wettkämpfe für das japanische Fernsehen moderiert, erscheint zur Auslosung der Startreihenfolge, um mir seinerseits noch viel Erfolg zu wünschen. Ich ziehe die Nummer 4 und muss als Erster in der zweiten Gruppe ran. Den Anfang macht Phichit, gefolgt von Chris und dem deutschen Läufer. Danach folgen ich, JJ und Georgi als letzter. Je näher es dem Start des Wettkampfes entgegen geht, desto unruhiger werde ich. Eigentlich dachte ich, ich wäre die Wankelmütigkeit los, aber der innere Druck reißt meine Selbstbeherrschung Stück für Stück ein, ohne dass ich irgendetwas dagegen tun kann. Ich muss aufhören, nachzudenken! Es sind nicht die Dinge um mich herum, sondern vielmehr bin ich es selbst, der den Druck aufbaut! Aus einem unerfindlichen Grund schwebt seit heute morgen Viktors glückliches Gesicht von vorgestern vor meinem inneren Auge, als wollte es mich ermahnen, bloß nichts zu verhauen... Als könnte Viktor sich plötzlich in Luft auflösen, wenn ich es nicht schaffe, ins Finale zu kommen. Ich muss aufhören, zu denken! So sehr ich es aber versuche, es hilft nichts. Schon bald haben meine Gedanken eine Eigendynamik entwickelt, die ich kaum noch kontrollieren kann und ich spüre, dass mich meine mentale Schwäche überrennt. Im Vergleich zum letzten Jahr haben wir zwar vor Beginn der Saison darüber gesprochen, wie wir uns verhalten können, falls mit mir die Pferde durchgehen, aber es ist unsagbar schwierig. Viktor steht bei mir, hält mich im Arm und schweigt, bis ich mich gleich aufwärmen muss. Seine Hand streichelt ab und an sachte durch meine Haare, dass ich runterkommen kann und als niemand schaut, setzt er einen Kuss auf meine Stirn. In seinen blauen Augen liegt ein ähnlich lauernder Blick wie in den Augen seiner Verfolger heute morgen, nur dass Viktor nicht lauert um anzugreifen, sondern um zu beschützen. Ich bin ihm unendlich dankbar, dass er bei mir ist, auch wenn es sein glückliches Gesicht ist, das mich gerade in dieses tiefe Loch stürzt... Dann wird es langsam Zeit für Phichit sich bereit zu machen. Im Gegensatz zu mir setzt ihm der hohe Leistungsdruck bei diesem Vorentscheid nicht zu. Er hat Spaß an seiner Performance und zögert nicht, uns das ab der ersten Sekunde zu zeigen, als er zu He's a Pirate sein Kurzprogramm läuft. Von allen Teilnehmern ist Phichit derjenige, der die größte, natürliche Ausstrahlung besitzt und das merkt man sofort. Das Publikum grölt, die Stimmung ist direkt auf Anschlag und sogar ich vergesse für einen kurzen Moment die Aufregung. Phichit hat sich von der strahlenden Garde seiner Majestät in einen exzentrischen Piraten gewandelt. Was für eine Vorstellung! Als Nächstes ist Chris an der Reihe. Sein Programm ist von der Thematik her weniger überraschend, aber mit nicht weniger Power dahinter: Pokerface hält die Stimmung von Phichit's Performance und Chris will offenbar noch einen drauf setzen. Es ist echt heftig, was er da aufs Eis hämmert... Yurio hatte gesagt, die Vorstellung in Detroit wäre so olàlà gewesen, aber das was wir hier gerade sehen, ist alles andere als nur olàlà. Der Unterschied ist aber nicht überraschend, denn Chris ist vom Wettkampftyp her eher ein langsamer Starter, der mit einem Knall plötzlich unter den Besten rangiert und dieser Knall scheint gerade gekommen zu sein. Seine Sprünge bleiben fehlerlos und er kassiert 103,54 Punkte für sein Pokerface. Das Publikum kommt heute definitiv auf seine Kosten. Der deutsche Neuzugang steht auch schon bereit und ich bete innerlich, dass er nicht auch so ein Stimmungslied wie Chris und Phichit hat, denn sonst würden bei mir gleich alle in ein tiefes Loch fallen und das nicht nur, weil ich nervlich durch bin. Als die Musik beginnt scheinen meine Gebete erhört, denn das Lied ist sehr melancholisch. Es ist auf Deutsch und das einzige Wort, das ich verstehe, ist Symphonie, aber auch ohne den Text jagt mir das Lied Gänsehaut ein. Ich schließe die Augen, hole tief Luft. Ich darf nicht weiter zuhören. Um zumindest die letzten Minuten den Wettkampf noch ausblenden und abschalten können, lasse ich mir von Viktor meine Ohrstöpsel geben. Die Stille in meinem Kopf tut unendlich gut... Ich stehe auf und wiederhole noch einmal einige Dehnübungen, um meine Gedanken davon abzuhalten, tiefer in das Loch zu kriechen. Find your story... Darum geht es jetzt. Ich muss mich konzentrieren. Ein Blick auf die Anzeigebildschirme verrät mir, dass Sebastian Wagner 82,64 Punkte erhalten hat. Chris ist also nach wie vor das Maß der Dinge. Dann ist es Zeit, aufs Eis zu gehen. Ich setze den ersten Fuß auf und spüre direkt, dass es sich sträubt, mich so anzunehmen. „Es ist soweit, Katsuki Yuuri geht an den Start. Nach einer souveränen Leistung in Kanada hoffen wir, dass er das Niveau halten und uns erneut als Geschichtenerzähler verzaubern kann. Das diesjährige Thema vom Finden einer Geschichte ist eine, wie wir finden, durchaus ungewöhnliche Wahl. Da er sich schwer getan haben soll, sich für ein Thema zu entscheiden, soll sein Programm genau diese Odyssee ausdrücken. Die Choreografie stammt von seinem Coach Viktor Nikiforov. Das Stück heißt Find your story.“ „Mésdames et Monsieurs, le prochain coureur représentant le Japon, Yuuri Katsuki.“ Meine Startposition bei diesem Programm ist nicht die Mitte, sie liegt nur etwa zwei Meter von der Bande entfernt. Trage mich so weit es geht..., flüstere ich dem Eis unter mir zu. Es liegt nicht an meinem Willen. Ich kenne mein Ziel und trotzdem kann ich meine Emotionen nicht mehr unter Kontrolle halten. Ich darf Viktor nicht enttäuschen... nicht heute! Die Musik beginnt still. Wie ein Windhauch, der zaghaft und bestimmt stärker wird, zieht das Cello einsam über die Eisfläche. Es gibt hier nichts außer mir. Ich höre die Töne der Glöckchen aus Nimmerland, der so eintönig wie spielerisch in diese Welt der Leere kommen. Ich bewege mich wie eine Marionette, abgehakt, allmählich flüssiger; ganz so, als kämen die Zahnräder in mir langsam in Bewegung. Zuerst nur mein Oberkörper, dann folgen langsam meine Hände und Füße und ich beginne erste Kreise auf der Stelle zu drehen. Erst im Uhrzeigersinn, dann entgegen. Die Spieluhr wird aufgezogen. Der tiefe Anschlag der Saiten eines Piano setzt mich in Bewegung und ich laufe los. Dort ist etwas, das meine Aufmerksamkeit auf sich ziehen will. Ich gleite am Rand entlang, beginne eine kurze Schrittsequenz, die mit dem nächsten Anschlag zu einer Pirouette wird, bei der ich mich kurz von unten nach oben drehe. Noch bin ich unentschlossen. Ich bin der ideenlose Schreiber, der ohne Inspiration umherwandert. Dann der nächste Saitenanschlag, stärker. Dieses Etwas, es ruft mich, ist schüchtern. Es packt meine Neugier, aber wie kann ich es zu Gesicht bekommen? Vorsichtig ziehe ich meine Bahnen am Rand der Eisfläche entlang. Ich nehme Geschwindigkeit auf, bereite den erste Sprung vor, der vierfache Toeloop – springe und habe es erblickt. Ich halte einen kurzen Moment inne, fange an zu tanzen und Streicher begleiten mich. Was ist es? Meine Arme bewegen sich grazil um meinen Körper, während ich einen engeren Kreis laufe. Ich fühle es deutlich und das Cello begleitet weiter meine Unentschlossenheit in einem sachten Auf und Ab, als ich eine weitere Pirouette drehe, nun von oben nach unten. Aus der Drehung ziehe ich eine weitere Runde, wieder dichter zur Mitte hin, entscheide mich dafür, werde schneller, um den nächsten Sprung mit dem nächsten Anschlag, dem stärksten Klang, vorzubereiten. Der vierfacher Salchow mit dreifachem Toeloop. Ich springe und auch wenn ich gewackelt habe, ich bin fest entschlossen, es greifen zu wollen. Ein helles Echo von Stimmen erklingt. Ich spüre, dass es eine Form annehmen will, gesehen werden will, faszinieren will... sich mir offenbaren will. Die Dramatik in der Musik nimmt Fahrt auf, ich ziehe einen letzten Kreis um den dritten Sprung zu vollführen und ich bin nur noch wenige Meter von dieser wundervollen Geschichte entfernt. Gleich! Beim Absprung zum dreifachen Axel strecke meine Hand aus, versuche sie zu greifen; diese Geschichte, die mich angelockt hat - und verpasse sie. Ich stolpere, meine Hände setzen auf das Eis auf, aber ich kann mich fangen, stehe ruckartig auf und bremse, die Endpose passt gerade so. Entsetzt schlage ich die Hände vor mein Gesicht. Nein... Der Schluss war so nicht gedacht, eigentlich hätte ich sie greifen sollen...! Ich sacke auf die Knie. Warum? Warum habe ich sie nicht greifen können...? Der Axel gelingt mir so gut wie immer und dann ausgerechnet jetzt...! Durch meine krampfenden Finger hindurch suche ich aufgewühlt nach Viktor. Er steht am Aufgang und wartet mit einem tröstlichen Lächeln im Gesicht auf mich. Ich hab's vermasselt... Nach den Kurzprogrammen führt JJ mit 107,75 Punkten vor Chris. Phichit konnte sich zuvor mit seinem Programm 91,59 Punkte sichern und ich liege knapp davor mit 94,46 Punkten. Den fünften und sechsten Rang belegen Georgi und Sebastian. Für die Kür morgen muss ich mir also dringend etwas einfallen lassen, um das Blatt noch wenden zu können... Die Nacht über schlafe ich schlecht. Ich bin ständig wach und unruhig, sodass Viktor neben mir auch nicht wirklich schlafen kann, aber er beschwert sich nicht. Während dem Frühstück und dem Training sprechen wir kaum miteinander und auch wenn ich davon überzeugt bin, dass es an der Müdigkeit liegt, werde ich das Gefühl nicht los, dass je länger Viktor so still ist, ich doch für das Schweigen zwischen uns verantwortlich bin. Ich weiß, dass er mir keine Schuld an der Situation gibt, aber trotzdem schaffe ich es nicht, aus der negativen Stimmung herauszukommen... Ich weiß auch nicht, was ich sagen sollte. Da ist dieser Drang sich zu entschuldigen, aber es wäre gleichbedeutend mit Aufgeben und ich will nicht aufgeben. Als wir uns am frühen Abend fertig machen, um zur Halle zu gehen, versucht Viktor mir noch einmal gut zuzureden: „Yuuri, wir sind in Wettkämpfen. Jeder tut sein Bestes, zu jedem Zeitpunkt.“ Ja, ist mir schon klar... „Wir treffen Entscheidungen in dem Glauben, dass sie uns zum Besseren verhelfen. Es sind die Ergebnisse, die nur einen Sieger kennen. Aber für genau diesen Sieg nehmen wir an Wettkämpfen teil.“ „Es tut mir Leid.“ Aber mein Ton sagt etwas anderes. Mittlerweile bin ich einfach nur noch sauer auf mich und dass Viktor mit einer Moralpredigt um die Ecke kommt, macht es gerade nicht besser. „Das Einzige, was dir Leid tun sollte, ist wenn du nicht dein Bestes gibst, Yuuri.“ Am Ende liegt das Ergebnis meiner Kür bei 199,23 Punkten, weil ich mich entschieden habe, den vorgesehenen Sprüngen nicht zu folgen und daraus resultierend gepatzt habe. Beim vierfachen Salchow habe ich mit beiden Füßen aufgesetzt und ich bin, ungeachtet von Viktors Anweisung, einen vierfachen Flip gesprungen, bei dem ich nur noch mit Hand auf das Gleichgewicht halten konnte. Und einen Plan B gab es natürlich nicht. Noch während wir im Kiss & Cry sitzen, wandert mein Blick angespannt zu Viktor, nachdem die Punkterichter meine Wertung bekannt gegeben haben. Er sieht nicht böse aus, aber auch nicht viel mehr. Genaugenommen ist sein Gesicht vollkommen ausdruckslos und das erscheint mir das vernichtendste Urteil überhaupt zu sein. „Viktor, ich-“ „Es ist gut, Yuuri“, unterbricht er mich sofort und steht von Bank auf. „Komm, lass' uns andere Plätze suchen.“ „Aber ich wollte-“ „Yuuri. Es ist gut. Noch ist nichts entschieden“, sagt er und reicht mir seine Hand. Aber im Grunde ist es entschieden. Von meinen Fehlern beflügelt haut vor allem Chris noch einmal raus, was geht, sodass er und JJ ihre Positionen im finalen Ranking sogar noch tauschen. Chris gewinnt mit nur zwei Zählern Vorsprung im Hexenkessel von Paris und zieht unter tosendem Applaus der französischen Eiskunstlauffans ins Finale ein. Auch JJ gelingt mit seinem zweiten Platz der Finaleinzug, sodass drei Finalisten bereits feststehen. Und für mich ist es der ungeliebte dritte Platz, den ich aus Frankreich mit nach Hause nehme. Auch wenn rein rechnerisch die Hoffnung noch nicht gestorben ist, so liegt es nicht mehr in meiner Macht, aus eigener Kraft ins Finale zu kommen. Ich habe meine Chance nicht genutzt. Zurück in St. Petersburg wird die Stimmung nicht gerade besser. Yurio ist von meinem Ergebnis bitter enttäuscht und ignoriert mich seit unserer Rückkehr permanent. Ich kann es ihm nicht einmal übel nehmen, denn eigentlich ist er nur traurig über meine wackelige Position. Auch die Teilnahme von Otabek im Finale ist noch nicht sicher und die Aussicht, keinen von uns im Finale als Gegner zu haben, macht unserem Blondschopf schwer zu schaffen. Er hängt wie ich in einem Motivationsloch und treibt Yakov damit zur Weißglut. Aber auch Viktor hat mit meiner trotzigen Einstellung zu kämpfen, dabei kann er überhaupt nichts dafür; es waren meine Entscheidungen, die zum Misserfolg geführt haben und auch wenn ich merke, dass seine Geduld langsam dem Ende zugeht, kann ich das Beleidigtsein mit mir selbst nicht abstellen. Erst recht beim Training nicht, denn solange rein theoretisch noch die Chance besteht, will Viktor weitermachen und er hat damit auch nicht Unrecht, aber ich bin gerade wenig empfänglich dafür. „Yuuri, mach' fünf Minuten Pause. Du konzentrierst dich nicht.“ „Ich konzentriere mich.“ „Das tust du nicht. Mach kurz Pause, dann geht’s weiter.“ „Ich brauche keine Pause.“ „Yuuri.“ Viktors Blick wird starr. „Ich brauche keine Pause“, wiederhole ich, wohl wissend, dass es an Viktors Nerven zehrt. „Dann mach' weiter, aber ich brauche eine.“ Yakov horcht auf und dreht sich zu uns um. In seinem Gesicht zeigt sich Unglauben. Ein genervter Viktor ist in der Tat nicht das, was man alle Tage erlebt und er kennt Viktor nun schon sehr lange. Viktor wendet sich ab und gleitet in Richtung Bande. „Du brauchst dazu nicht wegzugehen“, sage ich. „Yuuri, überspann' den Bogen nicht“, warnt er. „Ich komme wieder, ja? Mach selbst Pause oder mach weiter, es ist mir gleich, aber ich brauche einen kurzen Moment für mich. Deine Laune ist nur schwer zu ertragen. Ich kann nichts dafür, dass du nicht das gesprungen bist, was du springen solltest.“ „Dann geh' nach Hause, wenn du keine Lust mehr hast.“ „Yuuri, es reicht!“ Wir ernten unglaubwürdige Blicke von allen Seiten. Dass auch bei uns der Haussegen schief hängen kann, ist für alle Anwesenden scheinbar eine neue Erfahrung. Noch bevor Viktor weiter etwas zu mir sagen oder gehen kann, steht Yurio zwischen uns. Er zieht ein Gesicht, das ich so bei ihm noch nie gesehen habe. Es ist eine Grimasse zwischen Fassungslosigkeit und Wut. „Sag' mal, habt ihr zwei 'nen Knall?!“ „Yurio, halt' dich da raus.“ Viktors Ton ist äußerst bestimmt. „Wir wollen hier auch trainieren, diskutiert woanders, klar?!“ „Yurio, halt' dich raus!“ „Ihr Vollidioten!“ Jetzt reicht es auch Yakov. Für gewöhnlich tanzen Yurio und Viktor ihm auf der Nase herum, aber der Ton, den der russische Trainer anschlägt, lässt einem das Blut in den Adern gefrieren. Er wirft uns alle drei vor die Tür und herrscht uns an, erst dann wieder einen Fuß in diese Halle zu setzen, wenn wir unsere Angelegenheiten in den Griff bekommen hätten. Von dem Rauswurf völlig überrumpelt, ist Yurio kurz davor zu randalieren, weil er gar nicht mehr weiß, wohin mit seinen ganzen Emotionen. Mit Worten, so müssen wir allerdings feststellen, ist Yurio nicht mehr beizukommen und er macht den Eindruck, nicht weit davon entfernt zu sein, Viktor sonst wohin zu treten, sodass dieser sich gezwungen sieht, Yurio in den Schwitzkasten zu nehmen, um ihn davon abzuhalten. Es ist wie David gegen Goliath und ich kann nicht fassen, was sich da vor meinen Augen abspielt. In einer Kurzschlussreaktion entscheide ich mich, die beiden Streithähne zu umarmen, um dieser schrecklichen Situation irgendwie Einhalt zu gebieten, die ich provoziert habe. Es ist vielleicht nicht die cleverste Idee, aber es tut mir fürchterlich weh, Yurio so aufgebracht zu sehen und Viktor schon beinahe handgreiflich. Ich weiß nicht, welche Gedanken ihnen in dem Moment der Umarmung durch den Kopf gehen, aber Yurio hört nach einem Schreckmoment auf, um sich zu schlagen und Viktors Arme lockern sich spürbar. Da stehen wir nun zu dritt vor der Eishalle, Viktor hält Yurio vor sich fest, Yurio gegen Viktors Brust gesunken und beide von mir umarmt. Keiner von uns sagt einen Ton, aber das nicht ganz freiwillige Gruppenkuscheln erfüllt seinen Zweck. Ich fühle große Erleichterung, dass Yurio langsam wieder runterkommt und kann nicht umhin, so etwas wie elterliche Fürsorge für diesen Rabauken zu empfinden, dem wir offenbar viel wichtiger sind, als er sich eingestehen will. Er ist nur deswegen so außer sich, weil er uns gern hat und es nicht erträgt, dass wir streiten. Viktors und mein Blick treffen sich über Yurios Kopf und uns wird klar, dass wir etwas Dummes getan haben und in Gedanken schämen wir uns für unser Verhalten. Kurz darauf kommt Yakov nochmals nach uns schauen. Als Yurio ihn sieht, befreit er sich aus Viktors Armen, der ihn ohne Widerstand gehen lässt. „Bis morgen habt ihr euren Scheiß geklärt, klar?“, ruft er uns noch zu und verschwindet mit seinem Trainer wieder nach drinnen, der uns einen ähnlich ermahnenden Blick zuwirft als wollte er sagen: „Und wehe, wenn nicht.“ Dann ist es wieder still und ich verfalle ins Nachdenken. Die Notwendigkeit, Yurio zu beruhigen zu müssen, hat meinen Blickwinkel auf die ganze Situation verschoben. Im Gegensatz zu mir versuchen er und Viktor das Beste aus der Situation zu machen und sie kämpfen weiter, während ich mich nur in Selbstmitleid gesuhlt habe. Keiner von beiden hat mir ernsthaft die Schuld an dem unglücklichen Ergebnis gegeben. Ich sollte wirklich nicht so egoistisch sein... Viktor hatte Recht, als er sagte, dass wir in Wettkämpfen stehen und man die Ergebnisse nehmen muss, wie sie kommen. Es gehört dazu. Auch jetzt stehen die Beiden noch hinter mir, obwohl mich nur noch eine Fügung des Schicksals vor dem Ausscheiden bewahren kann. Aber für Viktor und Yurio ist der Wettkampf noch nicht zu Ende. Sie werden im Finale stehen und brauchen meine Unterstützung... „Viktor?“ „Yuuri?“ „Es tut mir Leid.” „Mir auch.” „Ich war sauer auf mich. Ich wollte Yurio und vor allem dich nicht enttäuschen.“ „Das hast du doch gar nicht.“ „Du hast schon jetzt so viel Kraft diese Saison investiert; ich wollte nicht, dass es umsonst ist.“ „Yuuri, wir hatten so ein Gespräch schon mal, kann das sein? Ich habe die Kraft gerne investiert. Ich bin nicht dein Trainer aus Mitleid oder aus einer Ausrede heraus. Ich mache es, weil du es mir wert bist. Und Rückschläge gehören dazu. Deswegen werde ich aber nicht aufhören oder dich fallen lassen. Ich würde mir wünschen, dass du sehen kannst, dass du dich nicht verstecken musst vor dem, was du erreichst.“ Du hast ja Recht... „Ich weiß, dass du ehrgeizig bist; dass du immer alles perfekt machen willst und dich dieser dritte Platz anfuchst, weil du glaubst, dass du dein Soll nicht erreicht hast. Aber das verlangt niemand. Niemand denkt so von dir. Begrab' das Kriegsbeil mit der selbst, Yuuri. Mir würde es sehr viel bedeuten, wenn du weiterhin für dich um den Sieg kämpfst. Letztendlich kann nur einer von uns drei der Gewinner sein.“ „Also wirst du auch um den Sieg laufen, Viktor?” „Natürlich.“ „Dann gib' alles, was du hast. Sonst bin ich auf ewig mit dir beleidigt“, sage ich und schaue ihn vorwurfsvoll an. „Wow, mach' mir keine Angst.“ (° _ °) „Ich mein’s ernst... gib dein Bestes“, wiederhole ich mit Nachdruck. Dann wird mein Ton sanfter. „Immerhin bist du es dann, der mich rauswirft. Dir erlaube ich das...“ Zuerst sagt Viktor nichts, dann hellen sich seine Züge deutlich auf und er lächelt mich erleichtert an. „... Danke, Yuuri.“ Wir schauen uns eine Weile verlegen an. „Alles wieder gut?“ „Alles wieder gut.“ Nach unserem Gespräch gehen wir Hand in Hand zurück in die Eishalle. Die Fronten zwischen uns sind geklärt und mein Training kann wieder normal weitergehen. Yurio ist schon bald wieder unser laut fauchendes Kätzchen und selbst Yakov scheint überaus erleichtert. Als Viktors Trainer hat er natürlich auch ein Interesse daran, dass Viktor die letzten Tage vor dem Abflug zum Rostelecom Cup nicht damit verbringt, sich mit mir zu streiten. Und eine kleine Hoffnung gibt es ja immer noch. Mein Training beenden Viktor und ich dennoch früher als angesetzt. Stattdessen will Viktor noch einige Runden alleine drehen und wir beschließen, ihm dabei zuzuschauen. Da außer ihm keiner von uns mehr in einem Vorentscheid antreten muss, soll Viktor die beiden letzten verbliebenen Tage die Eisfläche für sich alleine bekommen. Ich kann es schlecht in Worte fassen, aber je länger ich ihm zusehe, desto mehr beschleicht mich das Gefühl, dass er bisher vielleicht doch mit Rücksicht auf mich und Yurio gelaufen ist. Ich kann es mir nicht anders erklären, denn irgendwas ist anders. Es erinnert mich entfernt an seinen Schneeflockentanz, aber es kann auch sein, dass ich mir das einbilde. Am nächsten Tag ist der Unterschied jedoch nicht mehr zu leugnen. Seit meiner Drohung, ihm böse zu sein, wenn er nicht sein Bestes gibt, habe ich zum ersten Mal diese Saison das Gefühl, dass Viktor einzig und allein von sportlichem Ehrgeiz angetrieben ist. Mit jedem weiteren Durchgang erwacht in Viktors Performance etwas, das man nicht lernen kann, sondern das einem in die Wiege gelegt worden ist. Es war keine Einbildung gestern, da ist das gleiche Leuchten, das ich damals in Hasetsu bei ihm gesehen habe. Wo es her kommt, vermag ich nicht sagen zu können, aber es füllt Viktor gänzlich aus und wir alle können es deutlich sehen. Wenn das, was wir gerade geboten bekommen, der schmale Grad zwischen Naturtalent und Genie ist, dann ist er weitaus gewaltiger, als ich jemals geglaubt hätte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)