Between evil voices and innocent hearts von Platan (Weltenträume) ================================================================================ Kapitel 26: Was ist mit Ciar? ----------------------------- „51, 52, 53, 54...“ Außer meiner Stimme war sonst nichts zu hören. Nicht mal Echos erreichten mich mit ihren Klagen in diesem schweren Mantel aus Stille, der mich umhüllte. Die schneeweißen Deckenpaneelen über mir bestanden aus Rechtecken, die sich wie Mauersteine, also stets etwas versetzt, aneinander reihten. Ich versuchte bereits zum zweiten Mal sie zu zählen. Zuvor hatte ich mittendrin auf einmal einen Knoten im Gehirn, weshalb ich dann aus dem Konzept gekommen und mir nicht mehr sicher gewesen war, bei welcher Zahl ich wieder hätte einsteigen müssen. „55, 56, 57, 58...“ Meine Augen huschten kurz über die Paneelen, die ich schon hinter mir hatte. Dadurch verlor ich fast die Stelle, bei der ich stehengeblieben war. Es gab aber auch echt nichts, das hilfreich dabei wäre, mir die aktuelle Reihe zu merken. Nur kahle Wände, eine sah aus wie die andere, und sobald ich ganz woanders hinsah, war es sowieso sofort vorbei. „Äh, 58? 58, 59, 60, 61...“ Hatte ich die richtige Stelle im Blick? Irgendwie war ich mir unsicher, also zählte ich rasch die einzelnen Reihen aus Rechtecken ab. Verdammt, das hätte ich machen sollen, bevor ich überhaupt zu zählen angefangen hatte. Jetzt war ich komplett raus. „58, 59 … nee, war ich nicht schon weiter?“ Toll, vergeigt. Schon wieder. Genervt stieß ich einen Seufzer aus und schloss die Augen. Scheiß auf die Deckenpaneelen. Wer wollte schon wissen, wie viele Rechtecke genau sich dort oben befanden? Richtig, keiner. Vielleicht hätte sich höchstens ein Kastenbrot mit zu kurzen Armen und grimmiger Mimik dafür interessiert. Sollte der doch selbst herkommen und zählen. Ich steckte trotzdem hier fest. Mit Gurten festgeschnallt auf einem Bett, irgendwo in einem Raum mit schneeweißen Deckenpaneelen und noch heller erscheinenden Wänden. Mehr konnte ich von meiner Position aus nicht ausmachen, aber bestimmt gab es sonst tatsächlich nichts zu entdecken. Darum hatte ich, aus Langeweile, angefangen die Rechtecke zu zählen. Was sollte ich sonst tun? Bewegen konnte ich mich ja nicht. Dunkel erinnerte ich mich daran, dass ich durchgedreht war, und die Leute um mich herum angegriffen hatte. Offenbar war ich anschließend überrannt und außer Gefecht gesetzt worden. In einem hinteren Teil meines Gehirns existierte das Bild davon, wie Faren versuchte mich und die anderen zu beruhigen, während im Hintergrund Ciars Schrei verhallte. Ciar ... Eigentlich müsste mein Kopf überlaufen vor Gedanken, Sorgen und anderen Gefühlen. Seltsamerweise war da nichts. Als ich aufgewacht war und meine Bewegungsunfähigkeit festgestellt hatte, nahm ich das sofort resigniert hin. Seitdem herrschte in mir diese Leere. Nicht die der verzweifelten Art, mit der ich wenigstens vertraut gewesen wäre, sondern einfach nur ein unglaublich, lächerlich nüchternes Nichts. Wenn man eine Weile so herumlag, machte das einen aber auch extrem wahnsinnig. Nicht mal das Zählen funktionierte als Beschäftigung, egal wie leer mein Kopf gerade war. Sogar wenn mich nichts ablenkte, konnte ich mich nicht lange genug auf eine Sache konzentrieren. Typisch, was konnte ich überhaupt? Echos bekämpfen, darin war ich richtig gut. Ohne Ciar hatte sich das vermutlich erledigt. Oh Mann, es kotzte mich selbst an, dass ausgerechnet das in diesem Moment mein einziges Problem war. Da gab es zig andere Dinge, die mich beschäftigen sollten. Was war nur los mit mir? Aus einer Ecke des Raumes war ein leises Knarren zu hören, das ein wenig an dem Mantel der Stille, der diesen Ort von der Außenwelt abschnitt, kratzte. Endlich erwachte wieder etwas Leben in mir. Mühevoll hob ich den Kopf an, so weit es mir eben möglich war, und lauschte aufmerksam. Zwei Männerstimmen schienen über etwas zu diskutieren, leider konnte ich keine genauen Gesprächsfetzen auffangen. Einer von ihnen klang deutlich jünger als der andere. Kurze Zeit später ertönte abermals ein Knarren, dicht gefolgt von einem Klacken. Vermutlich war eine Tür geöffnet und wieder geschlossen worden, was ich nur raten konnte. Heißt das, irgendwer hatte diesen Raum betreten? Hoffentlich war dieser Jemand da, um mich von den lästigen Gurten zu befreien. „Hallo?“, fragte ich unsicher, wobei ich mir wie der letzte Depp vorkam. Wenigstens erhielt ich darauf tatsächlich eine Antwort, von der Stimme eines Mannes, die zwar ruhig, aber angespannt, nein, vielmehr gestresst klang: „Guten Tag, Ferris.“ Stirnrunzelnd versuchte ich irgendwie einen Blick auf die Person, die offenbar meinen Namen kannte, zu erhaschen, doch es gelang mir nicht. Schon frustrierend, zu realisieren, dass man überraschend viel Körpereinsatz benötigte, wenn man alles um sich herum ins Augen fassen wollte. Stöhnend ließ ich den Kopf wieder sinken und ergab mich meinem Schicksal. Wer auch immer sich zu mir gesellt hatte, seine Stimme kam mir nicht bekannt vor. „Also, werde ich jetzt aufgeschnitten und in meine Einzelteile zerlegt?“, scherzte ich, wieder genervt von meiner momentanen Lage. „Ich kenne zig Horrorfilme, die so enden, wenn man erst mal gefesselt wurde, ohne Aussicht darauf, sich befreien zu können.“ „Deinem, als lustig anmutenden, Vergleich entnehme ich, dass die Synapsen in deiner Steuerzentrale wieder einwandfrei funktionieren?“ „Hä?“ Ich peilte nicht, was er mir mit dieser Antwort sagen wollte. „Was?“ Für einige Sekunden legte sich wieder der Mantel der Stille über den Raum, weshalb ich kurz befürchtete, mir diese fremde Stimme nur eingebildet zu haben. Es wäre nicht das erste Mal, dass mir so etwas passierte. Wie oft hatte ich schon Eri zu mir sprechen gehört? Das eine Mal wäre ich sogar fast von ihr erwürgt worden, auch wenn es hinterher so aussah, als hätte ich es selbst getan. „Kann ich die Gurte öffnen, ohne befürchten zu müssen, dass du ein weiteres Mal Amok läufst?“, fragte der Mann ernst. In seiner Stimme hörte ich einen Unterton heraus, der mich deutlich davor zu warnen schien, nochmal in irgendeiner Form Ärger zu machen, weil ich damit keinen Erfolg hätte. Ich fühlte mich aber sowieso nicht danach auszuflippen, dafür mangelte es mir an Energie und Emotionen. Genau das erwiderte ich auch als Antwort auf die Frage, woraufhin der Fremde näher ans Bett trat. Diesmal befand er sich endlich in meinem Blickfeld, als ich den Kopf in seine Richtung wandte. Mir fiel sofort das silbergraue, kurze Haar auf, erst recht durch seinen dunklen Teint. Auch das goldene Augenpaar, das hinter einer Brille lag und mich forschend ansah, hob sich vom Gesamtbild ab – das war fast genauso ungewöhnlich wie meine blauen Haare. In meinem chaotischen Leben, welches prall gefüllt war mit rebellischen Phasen, hatte ich schon viele strenge Erwachsene getroffen, doch dieser Typ könnte wahrscheinlich alle bisherigen Begegnungen dieser Art in den Schatten stellen. Allein seine Mimik und der stechende Blick trugen so viel Autorität in sich, dass ich mich schlagartig unwohl fühlte. Bestimmt würde es nicht lange dauern, bis es zwischen dem und mir so richtig knallte, und das nicht auf die gute Weise. Vom Kleidungsstil her könnte das jemand mit einem hohen, bedeutsamen Posten im Echo-Institut sein, wo ich mich gerade befinden musste. Jedenfalls war das naheliegend, nach dem, was auf der Brücke passiert war. Allerdings trug er einen grauen Mantel, also hatte man mich vielleicht eher in einen abgelegen Metallkasten eingesperrt, der irgendwo draußen in der Pampa stand. Mir zumindest wäre das viel zu warm in einem geschlossenen Gebäude. Zügig, aber vorsichtig, befreite das goldäugige Weißhaar mit dem stechendem Blick mich nach und nach von meinen Fesseln, ohne ein Wort zu sagen. Erleichtert rieb ich mir über die Handgelenke und setzte mich langsam auf, als ich wieder frei war und mich bewegen konnte. Der Gedanke an einen Metallkasten schien gar nicht so abwegig, denn außer dem Bett gab es tatsächlich nichts anderes zu entdecken, bis auf eine stahlgraue Tür in einer Ecke des quadratischen, überraschend großen, Raumes. Aus einer Innentasche seines Mantels holte der Fremde eine dieser winzigen Taschenlampen heraus, die Ärzte immer bei sich trugen und eher wie ein Stift zum Schreiben aussahen. Damit überprüfte er die Reflexe meiner Augen, was ich schweigsam mit mir machen ließ. Wie gesagt, in mir sah es zu leer aus, als dass ich einen Aufstand machen könnte. „Du hast gestern zur Beruhigung ein Medikament bekommen“, erklärte er mir, als könne er meine Gedanken lesen – sicher nur Zufall. „Wie fühlst du dich?“ Ich blinzelte, ein wenig unschlüssig. „Wollen Sie jetzt eine genaue Abhandlung über mein Seelenleiden oder geht es Ihnen rein um körperliche Beschwerden?“ Anscheinend konnte mein Gegenüber sich denken, woher diese Frage rührte, weshalb er nicht nachhakte, sondern monoton antwortete: „Ich möchte wissen, ob wegen dem Medikament Nebenwirkungen aufgetreten sind.“ „Wie schon erwähnt, ich fühle mich schlaff, ohne Energie, und seltsam leer. Ansonsten geht es.“ Den Fakt, dass ich ganz froh darüber war gerade mal keine Ohrenschmerzen zu haben, weil mich hier die Stimmen der Echos nicht erreichten, behielt ich vorsichtshalber für mich. Meine Worte stimmten den Mann zufrieden, er nickte für sich, und steckte die Taschenlampe wieder weg. „Mein Name ist Jii Tharom“, stellte er sich vor. „Ich bin im Echo-Institut der Leiter der Abteilung, die sich um Echos kümmert.“ Wie vom Schlag getroffen hielt ich die Luft an. Dieser Jii war also quasi der Chef von Ciar und allen anderen Jägern? Mir war so, als hätte ich seinen Namen sogar schon mal gehört, nur wollte mir nicht einfallen wo das gewesen war. Aber wenn ich es jetzt auf einmal mit einer führenden Kraft zu tun bekam, musste die Kacke richtig am Dampfen sein. Scheiße … Ciar. Jii schob die Hände in die Seitentaschen seines Mantels, sein Blick konzentriert auf mich gerichtet. „Es ist bedauerlich, dass du und ich uns unter solch unglücklichen Umständen kennenlernen. Wir alle durchleben momentan eine ungewöhnlich komplexe Lage, deren Gefahrenpotenzial von Sekunde zu Sekunde wächst. Daher muss ich dir einige dringende Fragen stellen, egal ob sie dir gefallen oder nicht. Eine Kooperation würde uns beiden nicht nur dieses Gespräch erleichtern, also appelliere ich hierbei an deine Vernunft.“ Das klang überhaupt nicht gut. Was war da draußen los? Wie lange war ich wohl bewusstlos gewesen? So langsam glühte ein kleiner Funken Nervosität in mir auf, ein schwaches Kribbeln, das meine schlafenden Emotionen aufzuwecken versuchte. Bevor ich mich mit Fragen löchern ließ, musste ich zuerst unbedingt etwas wissen: „Was ist mit Ciar?“ Sacht tippte Jii mit dem Zeigefinger gegen das Gestell seiner Brille. „Erläutere mir, worüber du exakt informiert werden möchtest. Das Thema Ciar hat inzwischen viele verschiedene Facetten, die uns aktuell sehr beschäftigt halten.“ Gute Frage. Was wollte ich wissen? Garantiert ging es Ciar alles andere als gut, dessen konnte ich mir sicher sein, ohne seinen Chef auszuhorchen. Dachte ich an den Schrei zurück, den Ciar aus dem Inneren seines Kokons ausgestoßen hatte, zog sich in mir alles zusammen. „Was ist passiert, nachdem ich ausgeknockt wurde? Was habt ihr mit Ciar gemacht?“ Erschreckend professionell ratterte Jii wie einstudiert die darauf passende Antwort herunter: „Wir konnten den Bereich, in dem Ciar aktiv ist, weiträumig sichern und halten momentan die Stellung.“ „Was ist mit sichern gemeint?“ „Da du kein eingetragenes Mitglied in unserer oder einer anderen Abteilung des Echo-Instituts bist und dich auch noch nicht in der Ausbildung befindest, darf ich dir das nicht näher erläutern. Auch aus strategischen Gründen.“ Zerknirscht sackte ich in mir zusammen. Typisch, dieser Text hätte geradewegs aus einem militärischen Action-Film stammen können. Seinem noch nicht in Verbindung mit Ausbildung konnte ich außerdem schon entnehmen, dass man meinen zukünftigen Weg gegen meinen Willen für mich fest geplant hatte. Selbst wenn das nur dazu diente, mir den richtigen und kontrollierten Umgang mit meinen Fähigkeiten beizubringen, ich jedoch hinterher nicht zwingend im Institut arbeiten müsste, kotzte mich das ziemlich an. „Aufgrund deiner Beziehung zu Ciar“, fügte Jii noch hinzu, „verrate ich dir dennoch ein paar grobe Details: Er wurde frühzeitig bewegungsunfähig gemacht, seine Position hat sich also nicht verändert. Seitdem wurden noch keine weiteren Aktionen durchgeführt. Die Ausarbeitung des Plans für eine reibungslose Evakuierung der Zivilbevölkerung hatte Vorrang, um schnell handeln zu können, sollte dies nötig sein.“ „So schlimm?“ „Schlimm beschreibt das Ausmaß unserer Lage nicht mal im Ansatz. Lass es mich ganz deutlich formulieren: Halten wir Ciar nicht auf, wird Cherrygrove nur die erste Stadt sein, die bald nicht mehr existiert. Wir haben noch nie zuvor eine zerstörungswütige Energie von solcher Intensität erlebt.“ Zerstörung. Ciar hatte das also wirklich ernst gemeint? Ein Teil in mir war erstaunlich froh darüber, schließlich war das immer der Plan gewesen. Unheimlich. Die Welt vernichten. Alles, was uns leiden lässt. Ja, so lautete der Plan. Etwas daran fühlte sich aber falsch an, wie mir mein Gewissen krampfhaft klarzumachen versuchte – etwas zu spät. „Okay ...“ Mir fiel es schwer weiterzusprechen. „Aber ihr werdet Ciar nicht einfach töten, oder? Ihr werdet doch sicher erst versuchen, ihm zu helfen?“ Für meinen Geschmack war Jii etwas zu lange still, ehe er sich dazu äußerte: „Aufgrund seines Zustands stehen uns da leider nicht viele Optionen offen.“ Leider. Dieses Wort traf mich wie ein Blitz, der mein Herz kurz aussetzen ließ. In diesem Zusammenhang klang leider sehr schlecht und viel zu endgültig. „Warum? Wie ist denn … sein Zustand?“ „Irreparabel“, entgegnete Jii schonungslos. Meine Augen weiteten sich. „Was soll das heißen?“ „Er befindet sich in einem Zustand, der nicht mehr rückgängig zu machen ist.“ „Ich weiß, was irreparabel bedeutet“, zischte ich. „So strunzdumm bin ich dann auch nicht. Ich finde es nur erschreckend, wie einfach ihr es euch macht und irreparabel als Rechtfertigung für vorsätzliche Tötung verwendet. Woher wollte ihr so genau wissen, dass Ciars Zustand nicht rückgängig zu machen ist?!“ Langsam, fast bedächtig, ging Jii einige Schritt nach links. Er schwieg kurz, was ich nur so deuten konnte, dass er darüber nachdachte, was genau er als nächstes sagen sollte. Inzwischen erwachten auch die bislang schlummernden Emotionen in mir und schlossen sich zusammen, für einen Sturm, der sich anbahnte. „Du warst doch dort und hast es mit eigenen Augen gesehen“, sagte Jii gefasst. „Ciar hat seine Menschlichkeit abgelegt.“ „Ich hab nur gesehen, dass er rot glühende Terminator-Augen hat“, wandte ich patzig ein. „In seinem Würfel sah Ciar an sich aber durchaus noch sehr menschlich aus!“ „Wie viel weißt du über Ciar?“ „Er war eine Totgeburt.“ Ich atmete schwer aus. „Und ihr habt ihm das Herz eines Echos eingepflanzt, damit er lebt.“ „Offenbar hat er dir viel Vertrauen entgegen gebracht, wenn er dir das erzählt hat“, bemerkte Jii, ohne jegliche Wertung. „Ciar war von Anfang an ein besonderer Fall. Er schwebte stets zwischen zwei Welten: Menschen und Echos.“ Ich ballte meine Hände zu Fäusten, was mir kaum gelang, weil ich nicht viel Kraft hatte. „Erspare mir irgendeinen philosophischen Scheiß.“ „Weißt du auch, warum er eine Totgeburt war?“ Nein, das wusste ich nicht. Gab es dafür etwa einen Grund, von dem Ciar mir nichts erzählt hatte? Irgendwie fühlte ich mich ein wenig vorgeführt, als dürfte ich nicht so eine große Lippe riskieren. Traurigerweise kannte das Echo-Institut Ciar aber nun mal wirklich wesentlich länger als ich, schon seit seiner Geburt. Da war es natürlich, dass sie weitaus mehr Informationen über ihn hatten. Wortlos schüttelte ich nur den Kopf. Statt einer Geste des Triumphs oder mich mit Worten in die Schranken zu weisen, was das Thema Ciar betraf, sprach Jii ganz normal weiter: „Möglicherweise wirst du mit diesem Begriff nichts anfangen können, aber Ciar kam als Totgeburt zur Welt, weil sich in seinem Körper ein Miasma-Keimling gebildet hatte. Aufgrund dessen wird er seither in unserer Kartei als potenzielles Echo klassifiziert.“ Davon hatte ich in der Tat noch nie etwas gehört, erst recht nicht von Ciar. Irritiert und interessiert wollte ich wissen, was ein Miasma-Keimling war und was das damit zu tun hatte, dass sie Ciar für irreparabel hielten, doch Jii wollte meinen Wissensdurst nicht befriedigen, sondern nutzte die Gelegenheit zu seinen Gunsten: „Beantworte meine Fragen und ich gebe dir gerne die eine oder andere Antwort, sofern der Inhalt nicht der Geheimhaltung unterliegt.“ Missbilligend zog ich die Augenbrauen zusammen. „Ihr Ernst jetzt?“ „Wie ich dir zu Beginn mitteilte, steht die Welt da draußen kurz vor einer Apokalypse“, merkte er an. „Ich hätte mehr als genug Leute, die den Kokon, in dem Ciar sich aufhält, durchaus vernichten könnten, wenngleich mit gewissen Risiken. Das wäre die einfache und schnelle Variante, dieses Problem zu beseitigen. Mit Sicherheit auch der beste Weg für die Sicherheit vieler Unschuldiger, jedoch das schlechteste Ende für Ciar, seine Familie und für dich.“ Mir lag auf der Zunge, dass mir seine Familie bisher nicht sehr fürsorglich vorgekommen war, eher resigniert, als hätten sie sich mit Ciar als schwierigen Fall abgefunden. Manchmal glaubte ich sogar, sie waren froh, durch mich etwas mehr Ruhe vor ihm gewonnen zu haben. Für mich wäre es dagegen eine Katastrophe, ihn zu verlieren. Ohne Ciar würde ich jeglichen Halt verlieren. Ohne ihn wäre ich verloren. Ohne ihn wäre ich so gut wie tot. Während Jii weitersprach, ging er wieder einige Schritte zurück nach rechts, vermutlich um seiner inneren Ungeduld entgegenzuwirken. Jedenfalls sprach er wesentlich schneller als zu Beginn unseres Gespräches, was seinen Mangel an Zeit oder Nerven verdeutlichte. Vermutlich traf sogar beides zu. „Darum bin ich hier, statt meinen Leuten den nächsten Befehl zu erteilen. Wir müssen in Erfahrung bringen, woher Ciar seine Energie bezieht. Erst dann können wir uns eventuell Wege überlegen, das Problem anders zu lösen. So viel Macht kann unmöglich von ihm alleine ausgehen. Weißt du, was die Quelle ist?“ Die Würfel! Natürlich lag es an den Herzen der Echos, die wir gesammelt hatten. Sie waren nun ein Teil von ihm. Bestimmt gab es daher letztendlich doch nur eine Möglichkeit, ihn aufzuhalten. Man würde Ciar töten. Was sollte ich tun? Eine geistig zurechnungsfähige Person würde Jii die Wahrheit sagen, bevor es wirklich so weit kommen könnte, dass die Stadt zerstört wurde und Menschen starben. Aber ich wollte Ciar nicht verraten, obwohl ich Zweifel hegte, wegen dem, was Faren zu mir gesagt hatte. Bestimmt war das eine Lüge gewesen. Ein Trick. Das Thema mit dem Brand damals war abgeschlossen und das Echo, der Täter, vernichtet. Von mir persönlich. Warum sollte ich Faren also glauben? Warum behauptete er so etwas überhaupt? So kannte ich Faren nicht. Der Faren, der einst mein bester Freund gewesen war, hätte so etwas nicht ohne einen guten Grund behauptet. Verdammt. Rasch senkte ich den Kopf, weil ich nicht riskieren wollte, von Jii gelesen zu werden wie ein offenes Buch. Mir wurde schon von einigen Seiten nachgesagt, bei mir wäre das leicht – ich sollte wohl besser doch wieder an meinem schauspielerischen Talent feilen. „Keine Ahnung“, log ich. „Ich peile eh kaum etwas von dem, was passiert. Echt, ich würde es selbst gerne wissen.“ Für mich, in meinen Ohren, klang ich ziemlich überzeugend. Deswegen machte ich mir keine Sorgen. Wäre er wie mein Vater und auch Therapeut, hätte ich mir jede Lüge sparen können, aber Jii kannte mich nicht. Er konnte unmöglich einschätzen, ob ich log oder nicht. Alles gut. Oder? Warum sagte Jii nichts mehr? In derselben Sekunde, als mich eine böse Vorahnung packte, wurde genau diese Wirklichkeit. Nach einer unangenehme Phase des Schweigens, veränderte sich nämlich Jiis Stimme und drang mit seinen folgenden Worten in meinen Kopf ein, so klar und bestimmend, dass sie sogar meine eigenen Gedanken übertönte: „Sag die Wahrheit.“ Erschrocken riss ich den Kopf hoch und konnte nicht fassen, wie unbeschreiblich dumm ich war. Nur ein Idiot wie ich konnte so etwas Wichtiges vergessen. Schon Vane hatte bei meiner Untersuchung davor gewarnt, dass ich mit Befehlen zum Sprechen gebracht werden würde, falls ich mich nicht von mir aus öffnen wollte. Richtig, da war auch Jiis Name gefallen. Jetzt fiel es mir wieder ein. Zähneknirschend wollte ich gegen den Befehl ankämpfen, hatte so kurz nach dem Kampf auf der Brücke und sicher auch wegen diesem blöden Medikament keine Kraft dafür. Außerdem hallte Jiis Stimme durch die Leere des Raumes derart laut, dass ich keine Chance hatte. „Mist! Es sind … die Würfel“, keuchte ich widerwillig. „Ciar hat Herzen von Echos gesammelt und sie geschluckt, um sie in sich aufzunehmen und stärker zu werden.“ Zum ersten Mal konnte ich nun eine deutliche Regung in Jiis Mimik beobachten, der nun ebenso geschockt wirkte wie ich, nur aus einem gänzlich anderen Grund. Anscheinend befürwortete das Echo-Institut das Konsumieren roter Würfel nicht. Ich fragte mich, warum. Zusammen mit Ciar war mir das relativ normal vorgekommen. „Wie viele?“ „Wir haben sie nicht gezählt“, erwiderte ich gereizt. „Viele.“ „Hast du mitgemacht?“ „Ja ...“ Seufzend griff Jii sich an die Stirn. „Meine Güte, was für ein Irrsinn. Was hat er sich dabei gedacht?“ Aufgebracht rutschte ich vom Bett. Meine Beine waren so weich, ich knickte beinahe ein, kaum dass ich aufrecht stand. Wehrlos wollte ich diese Manipulation aber nicht hinnehmen. Ich holte tief Luft und spürte die Hitzewelle in meiner Brust, das Aufbäumen meiner Seele. All meine letzten jämmerlichen Kraftreserven legte ich in diesen verzweifelten Versuch, mit einem eigenen Befehl alles rückgängig zu machen. „Vergiss alles!“, schrie ich heiser. Plötzlich war das Ticken einer Uhr zu hören. Sie übertönte sowohl den Nachhall von Jiis Stimme als auch von meiner, wischte sie regelrecht davon. Im selben Augenblick konnte ich ein bläuliches Glühen unter dem grauen Mantel von Jii ausmachen, das im Takt gleichmäßig stärker und schwächer wurde. Kurz darauf verblasste das Licht wieder und es wurde totenstill. Als hätte etwas innerhalb eines Wimpernschlags sämtliche unnatürliche Regungen im Raum aufgesogen und somit verstummen lassen. Perplex stand ich da und wartete auf die Wirkung meines Befehls, während ein Teil von mir längst ahnte, dass es nicht geklappt hatte. Es hätte aber funktionieren müssen. „Als Anführer einer Gruppe von Begabten, die dazu fähig sind mit ihrer Stimme andere zu beeinflussen, wäre es fatal, wenn ich mich dagegen nicht absichern würde“, sagte Jii, mit einer Selbstverständlichkeit, die mich nur noch wütender machte. „Arschloch!“, fluchte ich. „Schon gut, mehr brauche ich ohnehin nicht zu wissen. Das genügt mir vollkommen.“ Unbeeindruckt wandte er sich ab und ging Richtung Tür. „Ich werde Dr. Belfond zu dir schicken. Er soll sich vorerst um dich kümmern und untersuchen, wie viel Schaden die Herzen bei dir schon angerichtet haben.“ „Warte! Bleib hier, verdammt!“ Es gelang mir, ihm hinterher zu hechten, wobei ich mehr schwankte als richtig geradeaus zu gehen. Gezielt hielt ich Jii an seinem Mantel fest und zwang ihn somit, nochmal stehenzubleiben. Seinen gut gemeinten Rat, dass ich mir nicht noch mehr Ärger einhandeln sollte, ignorierte ich gekonnt. Ich schmiss weitere, böse Flüche an den Kopf, auch wenn das nichts ändern konnte. Ich saß in einer Sackgasse fest. Ich fühlte mich so fucking hilflos. Ich wusste ohne Ciar nicht, was ich tun sollte. Meine Befürchtung, dass das Echo-Institut Ciar nun erst recht töten würde, machte das Ganze noch schlimmer. Sie durften ihn mir nicht wegnehmen. Nur wegen Faren befand ich mich dieser aussichtslosen Situation, weil er irgendwelche Gespenster oder was auch immer gesehen hatte. Warum, Faren? Warum? „Lass mich mit Faren sprechen!“, forderte ich. An seinem Stirnrunzeln erkannte ich, wie sehr es ihm missfiel, dass ich so eine Szene machte – oder es störte ihn, dass ich ihn nicht mehr Siezte. Mir war scheißegal, unter was für einem Zeitdruck Jii stand und dass die Stadt, vielleicht sogar die ganze Welt, in Gefahr war. Ich war eben kein Held. „Wozu?“, hakte Jii nach. „Ich muss etwas von ihm wissen“, drängte ich. „Faren befindet sich in Haft.“ Seufzend schloss Jii die Augen und verschränkte die Arme vor der Brust. „Er hat eigenmächtig und voreilig gehandelt, um dich zu retten.“ „Ich war aber gar nicht in Gefahr!“, brach es aus mir heraus. „Überhaupt, seit wann arbeitet Faren für euch?!“ „Er war bei uns in Behandlung, wegen dem Befehl, den du auf ihn ausgesprochen hattest. Du kannst von Glück reden, dass er diese Tortur heil überstanden hat“, kritisierte er mich ungeniert. „Während seiner Behandlung stellte sich heraus, dass auch er ein Begabter ist. Seitdem ist er bei uns in Ausbildung. Wie gewisse andere Personen fällt es ihm aber oft unverständlich schwer, sich an die Regeln zu halten.“ Mit dieser anderen Person musste Ciar gemeint sein. Faren war sicher total aus dem Häuschen gewesen, als er erfahren hatte, dass er besondere Fähigkeiten besaß und keine langweiligen, gewöhnlichen Jobs mehr ausüben musste. Was konnte er wohl getan haben, dass Jii auch auf ihn nicht so gut zu sprechen war? Wenn man im Echo-Institut offenbar doch wusste, dass ich derjenige war, der Faren mit einem Befehl belegt hatte und ich Eins und Eins richtig zusammenzählte … „Er konnte sich erinnern“, murmelte ich. „Er wusste, dass er mich schon mal auf dieser Brücke gerettet hat.“ „Weil er sich selbst befohlen hat, sich an dich zu erinnern“, erklärte Jii genervt. „Er kann genauso froh sein wie du, dass er sich nicht selbst auf ewig mit einem Gehirnschaden belastet hat. Wobei Spätfolgen immer noch nicht ausgeschlossen werden können, ebenso wie bei dir. Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass sich eure geistige Gesundheit wegen solcher Aktionen in einigen Monaten oder auch noch nach Jahren plötzlich drastisch verschlechtert.“ Meine geistige Gesundheit war sowieso schon am Boden, darüber machte ich mir also keine Sorgen. Mir wurde vielmehr bewusst, wie falsch ich gelegen hatte. Anfangs war ich davon überzeugt gewesen, Faren würde es nicht bemerken, wenn ich aus seinem Leben verschwand. In meinem Kopf war er so glücklich mit Kieran, weshalb es für mich keinen Platz mehr gab. Da hatte ich ihm wohl unrecht getan. Trotz allem konnte Faren mich nicht vergessen … Und doch lag nur seinetwegen alles in Trümmern. „Warte“, sagte ich zu mir selbst, fixierte meinen Blick jedoch weiterhin auf Jii. „Seit wann wisst ihr denn dann schon davon, dass ich auch Fähigkeiten habe?“ „Länger, als du – und auch Ciar – erahnen könnt.“ Ich blickte gar nichts mehr. Hätte das Echo-Institut mich demnach nicht schon längst aufsuchen und unter seine Fittiche nehmen müssen? Meine Ratlosigkeit stand mir scheinbar ins Gesicht geschrieben, denn sein stechender Blick bekam eine etwas sanftere Note, aber nur kurz. „Lass mich los.“ Kraftlos lösten sich meine Hände von seinem Mantel. „Und was ist mit den versprochenen Antworten auf meine Fragen?!“ „Ich habe nie erwähnt, wann du diese Antworten bekommst.“ „Na klar ...“ Mir entglitt ein freudloses Lachen. „Was auch sonst.“ Einen Augenblick lang stand Jii wieder nur schweigend da und sah mich an. Ich bemühte mich, gerade zu stehen und nicht so armselig auszusehen, wie ich mich gerade fühlte. Stur starrte ich auf den Boden. Ich konnte diesen Blick von Erwachsenen nicht ertragen, mit dem Jii mich ansah. Diesen Blick, wenn Erwachsene zwar bemerkten, wie furchtbar es einem ging, sie aber an ihrer Vernunft festhielten und das Richtige tun wollten, weshalb sie umso mehr Mitleid mit einem bekamen. Behutsam legte Jii mir eine Hand auf die Schulter. „Es tut mir leid, Ferris.“ Angespannt biss ich die Zähne zusammen und kämpfte gegen die Tränen an, wie so verdammt oft in meinem Leben. Derweil setzte Jii seinen Weg fort und entfernte sich von mir. Seine Schritte klangen für mich so erdrückend laut, besonders das Knarren der Tür, als sie sich öffnete. Alles schien so endgültig, dass mir der Wille fehlte, etwas zu tun. Ich konnte nichts tun. „Armer Ferris“, flüsterte eine Mädchenstimme. Ganz plötzlich, wie aus dem Nichts, schlangen sich von hinten ein Paar verbrannter Arme um mich. Eri. Ihre verzerrte Stimme übertönte die Tür, die zurück ins Schloss fiel. „Ich bleib bei dir. Dann bist du nicht so einsam.“ „Wie ...“ Müde schloss ich die Augen. „Wie kannst du sogar hier auftauchen?“ „Ich bin immer da.“ Sie drückte etwas zu fest zu, weshalb ich den Halt verlor und zu Boden fiel, aber das störte mich nicht. Dieser Wahnsinn, durch den Eri überhaupt hier sein konnte, war in diesem Moment der einzige Trost, den ich noch hatte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)