Between evil voices and innocent hearts von Platan (Weltenträume) ================================================================================ Kapitel 18: Warum hast du nichts gesagt? ---------------------------------------- Ich war sprachlos. Mein gesamter Wortschatz floss davon wie Wasser und ließ mich mit dieser bildgewaltigen Geschichte von Ciar alleine. Dank seines ersten Satzes, laut der er eine Totgeburt gewesen sein sollte, hatte er sich meine Aufmerksamkeit direkt zu Beginn gesichert. Schweigend dazusitzen und zuzuhören, ohne ihn zu unterbrechen, war mir unbeschreiblich schwer gefallen. Nahezu jedes Detail löste den unstillbaren Drang in mir aus Fragen zu stellen. Ganz genau nachzuhaken, bis ich es wirklich richtig in meinen Kopf hinein bekäme und verstehen könnte. Unentwegt wiederholte sich Ciars letzter Satz in meinem Kopf und blieb lebendig, aber ich konnte das alles trotzdem noch nicht begreifen. Was er mir erzählt hatte, war mehr gewesen, als ich jemals geahnt hätte. Bei dieser Vielfalt an Enthüllungen war es mir unmöglich zu entscheiden worauf ich mich zuerst konzentrieren sollte – oder was ich jetzt überhaupt tun wollte. Ciar sagte nichts mehr und sah mich auch nicht an, sondern hatte sich im Sitz zurückgelehnt, den Blick nach vorne gerichtet. Er gab mir die Zeit, die ich brauchte, ohne mich zu bedrängen. Obwohl er mich nicht zu beachten schien, glaubte ich, dass er sofort wieder auf mich fixiert wäre, sobald ich die Stille brach. Für mich war dieser Gedanken überaus beruhigend. Draußen war es inzwischen stockdunkel geworden und der Sturm hatte sich gelegt. Jedenfalls hörte ich das Rauschen des Windes nicht mehr. Das Industriegebiet war nicht so gut beleuchtet wie die Innenstadt, fiel mir auf. Um diese Uhrzeit sollte sich hier niemand mehr herumtreiben, dazu gäbe es keinen Grund. Es sei denn, man wollte wortwörtlich von der Dunkelheit verschlungen werden. Je länger ich nur herumsaß und versuchte mir die ganzen Szenen nochmal durch den Kopf gehen zu lassen, desto schlimmer wurde das Chaos. Eigentlich gab es nur drei Dinge, die mich in diesem Moment interessierten. Über die ich reden und etwas mehr erfahren wollte. Also sollte ich einfach mit diesen Punkten anfangen. Statt die Stille durch Sprechen zu beenden, verbannte ich vorher die leere Verpackung des Müsli-Riegels zurück ins Handschuhfach, was ein leises Knistern verursachte. Somit war die Stimmung schon etwas gelöster. Nur die Dose Cola behielt ich in den Händen, so konnte ich meine Unruhe ein wenig mehr auf das Drehen dieses Gegenstandes lenken. „Und was ist jetzt mit Faren?“, wollte ich wissen, nach wie vor seltsam nervös deswegen. „Du interessierst dich also nicht für ihn?“ Von Ciar folgte darauf ein unterdrücktes Prusten. „Nach allem, was ich dir erzählt habe, ist es ausgerechnet das, wonach du mich zuerst fragst?“ „Schön, dass du das so witzig findest“, sagte ich entmutigt – hätte ich besser doch nichts gesagt. „Ich finde das nicht witzig, sondern einfach richtig süß von dir.“ Süß? Wenn er niedlich gesagt hätte, wäre das die verspottende Variante gewesen, aber so klang es tatsächlich ernst gemeint. Dennoch kam ich mir eher veralbert vor, statt mich geschmeichelt zu fühlen. Diese Beschreibung passte ganz und gar nicht zu mir. Ich war alles andere als süß. „Spare dir jede Widerrede“, schob Ciar hinterher, bevor ich mich dagegen äußern konnte. „Ich würde mir gerne einbilden, dass du eifersüchtig bist, aber das ist es sicher nicht. Hast du Angst, nur die zweite Wahl zu sein, weil Kieran sich schon die bessere Version von dir geschnappt hat?“ Volltreffer, Ciar – unglaublich. „Du hältst mich für so niveaulos?“ Seufzend griff Ciar sich mit einer Hand an die Stirn und tat besonders gekränkt. „Faren geht mir sowas von am Arsch vorbei.“ Daran zweifelte ich noch stark. „Warum hast du ihn dann angemacht?“ „Woher willst du denn wissen, ob ich das mal getan habe?“ Wir sahen uns einige Sekunden eindringlich an, bis Ciar nachgab, allerdings sichtlich widerwillig. „Na schön, ja, ich hab ab und zu in der Vergangenheit mit Faren geflirtet.“ „Aha.“ Also doch. „Verstehe.“ „Tust du nicht.“ Ciar lehnte sich etwas nach vorne und starrte wieder geradeaus in die Dunkelheit. „Hast du mir etwa überhaupt nicht zugehört? In meinem Leben gibt es seit Jahren nur noch dich. Als ich sagte, dass derjenige, den ich liebe, wie du aussieht, meinte ich auch dich. Den Ferris in dir, der seine Erinnerungen damals gelöscht hat.“ Er schloss die Augen. „Zehn Jahre können verdammt lang sein. Ich hatte Sehnsucht nach dir. Sogar jemand wie ich kann dann mal schwach werden und da Faren dir ähnlich sieht, hab ich ihn eben als Dummy benutzt.“ „Huh?“ Das verwirrte mich etwas. „Wie, als Dummy?“ „Um schon mal für den Ernstfall zu üben, ein Crashtest-Dummy halt.“ Ciar öffnete nur ein Auge, mit dem er in meine Richtung schielte. „Wie gesagt, ich bin nicht gut mit Worten und Gefühlen. Und offenbar hab ich am Ende doch kläglich versagt, als ich dir ein Liebesgeständnis machen wollte.“ Endlich verschwand dieses erdrückende Gefühl in der Brust, mein gesamter Körper schien auf einmal wesentlich leichter zu werden. Es gab eigentlich keine Gründe mehr, wegen denen ich daran zweifeln könnte, dass jemand wie Ciar, ausgerechnet er, in einen hoffnungslosen Typen wie mich verknallt sein sollte. Ihm war es ernst. Das freute mich sogar irgendwie, was mich jedoch gleichzeitig verunsicherte. Was empfand ich denn für Ciar? Klar, inzwischen wusste ich, dass ich ihn mochte und mich seine Anwesenheit mit Sicherheit erfüllte. Trotzdem konnte ich noch nicht mit Gewissheit sagen, ob ich über Kieran hinweg war. Irgendwie kam ich mir schäbig vor, selbst nicht zu wissen, ob ich in Ciar einen Ersatz für Kieran sah, aber ihm mit Faren genau das vorgeworfen hatte. Mein inneres Dilemma musste offensichtlich sein, denn Ciar kam mir entgegen: „Ich erwarte keine Antwort von dir, also zerbrich dir darüber erst mal nicht den Kopf. Warten ist inzwischen eine meiner Spezialitäten. Willst du jetzt gerade nicht lieber etwas über das andere große Thema wissen?“ Erst musste ich darüber nachdenken, worauf er damit hinaus wollte, doch dann fiel es mir schnell ein. „Ah, ja … ist es wahr, dass mein Vater noch lebt?“ Zumindest hatte Ciar das in seiner Erzählung erwähnt und er wirkte nicht wie jemand, der über so etwas scherzte. Außerdem konnte ich mir gut vorstellen, dass ich nach dieser Nachricht vor zehn Jahren wirklich lieber alles vergessen wollte. Das klang ganz nach mir. „Natürlich“, bestätigte Ciar, plötzlich viel gefasster als vorher. „Er ist auch heute noch gesund und munter. Mehr oder weniger, ist Ansichtssache.“ Wie er das meinte, kapierte ich nicht, genau wie etwas anderes: „Also kann man sich durch seine eigene Stimme echt selbst so krass beeinflussen?“ Kaum zu glauben. Mir kam das unmöglich vor, aber wenn man andere Menschen manipulieren konnte, lag es vielleicht doch nahe, dass es auch auf diese Weise funktionieren könnte. Echos waren immerhin ebenfalls Wesen, an deren Existenz ich nicht mal zu träumen gewagt hätte. Im Leben schien mehr möglich zu sein, als man ahnte. „Unter bestimmten Umständen, ja.“ Für Ciar war das natürlich nichts Neues mehr, darum wirkte er dabei nicht sonderlich euphorisch. „Erfordert aber eine Menge Übung. Es sei denn, man trägt ein hohes Potenzial in sich, dann genügt meistens schon ein intensiver Gefühlsausbruch, wie bei dir. Die Gefahr, bleibende Schäden davonzutragen, ist dabei immens hoch – darum hat das Echo-Institut es verboten, sich selbst zu beeinflussen.“ „Wow. Das erklärt, warum ich so viele Macken habe. Ich muss damals einen heftigen Gehirnschaden davongetragen haben.“ „Das macht dich nur umso süßer“, betonte Ciar schmunzelnd. „Perfektion wäre total langweilig.“ „Wenn du meinst.“ Unbewusst rieb ich mir über den Arm, den er mit seinem Schal verbunden hatte. „Jetzt verstehe ich endlich, warum ich mich nicht mehr an die Gesichter oder Namen meiner Familie erinnern kann.“ Deswegen hatte ich oft ein schlechtes Gewissen gehabt. Meine Familie konnte nicht mal in meinen Erinnerungen weiterleben, obwohl sie es sicherlich verdient hätte. Letztendlich waren die Schuldgefühle niemals verschwunden, auch nicht durch den Gedächtnisverlust. Dumm gelaufen, Vergangenheits-Ich, aber du warst ja noch ein ahnungsloses Kind gewesen. „Willst du dich denn wieder an sie erinnern?“ Ciars Frage traf einen wunden Punkt. Sofort kehrte sämtliche Anspannung zurück und ließ meine Glieder zittern. Mir war bewusst, dass ich nicht länger weglaufen durfte. Mein Vater hatte es nach all den Jahren verdient, die Chance zu bekommen, mir ins Gesicht zu schauen und über mich urteilen zu können. Womöglich fand er seit dem Brand ebenso keinen Frieden im Leben mehr wie ich und bräuchte einen Schuldigen. Also mich. Diese Gedanken weckten die gleiche Angst in mir, die ich auch als Kind erlebt haben musste. Niemand wollte von seinem Vater, seiner Familie, gehasst werden. Nervös schluckte ich den Kloß im Hals herunter, der mich daran hindern wollte, Ciar eine Antwort zu geben. Eine Entscheidung war fällig. Zwar könnte ich es mir einfach von ihm sagen lassen, wer mein Vater war, aber ... „Ich bin nicht wirklich scharf darauf“, gestand ich. Ich atmete durch und sah Ciar fragend an. „Aber ich glaube, ich könnte es schaffen, wenn ich nicht alleine bin. Würdest du bei mir bleiben?“ Eine geradezu perfekte Vorlage für allerlei amüsierte Bemerkungen, um mich zu necken. Zu meiner Erleichterung nutzte Ciar das aber nicht aus, sondern nickte mir zu und hob die Mundwinkel sogar zu einem leichten Lächeln an, das eine Menge Wärme ausstrahlte – mir vorzustellen, dass nur ich diese Seite zu Gesicht bekam, ergriff mein Herz, genau wie schon zuvor unter der Brücke. „Ich bleibe bei dir, davon hält mich nichts und niemand ab. Erst recht nicht, wenn du es dir sogar wünschst.“ Beruhigt entspannte sich mein Körper wieder. „Dann möchte ich mich erinnern.“ An die Gesichter meiner Familie, damit ich mich nächstes Mal aufrichtig bei ihnen entschuldigen konnte, sobald sie mir erneut in einer Wahnvorstellung begegnen sollten. Ich wollte ihre Namen sagen und an sie denken können, so wie sie es verdient hatten. Wenn mich das zu sehr schmerzte, könnte ich den Druck ablassen, indem ich Echos jage. Und Ciar wäre auch bei mir. „In Ordnung.“ Kaum merklich atmete Ciar durch, als würde er sich innerlich auf etwas vorbereiten. „Ich brauche nur noch deine Erlaubnis.“ „Wofür?“ „Meine Stimme bei dir einsetzen zu dürfen.“ „Heißt das, du willst das machen? Mir die Erinnerungen zurückgeben?“, reagierte ich überrascht. „Ich habe diese Fähigkeit perfektioniert“, erklärte Ciar und wirkte dabei ziemlich stolz. So kannte ich ihn, seltsamerweise wirkte sich diese Attitüde mittlerweile beruhigend auf mich aus. „Dank der Würfel bekomme ich auch reichlich Intensität dafür zusammen, also hast du höchstens mit Kopfschmerzen zu rechnen. Machst du es selbst, zerschießt du dir vielleicht nur komplett dein Gehirn, das vermeiden wir besser.“ Verstehend nickte ich. Es wäre nicht das erste Mal, dass Ciar gezielt mit seiner Stimme einen Befehl auf mich wirkte. Bisher hatte er es stets mit Bedacht getan, um mich zu schützen, und wollte mich auch jetzt nicht einfach ohne Erlaubnis beeinflussen. Mein Vertrauen zu ihm gewann dadurch merklich an Stärke. An diesem Tag tat es mir leid, ihn anfangs für einen zwielichtigen Kerl gehalten zu haben, dem man nicht zu nahe kommen sollte. „Gut, ich erlaube es dir.“ Ich kniff die Augen zusammen und sank tiefer in den Sitz. „Mach schnell, bevor ich es mir wieder anders überlege.“ Das ließ er sich nicht zweimal sagen. „Wie du willst: Entspann dich.“ Ein wohliger Schauer erfasste meinen Körper. Eigentlich hatte ich erwartet, es wäre unangenehm, doch Ciars Stimme hallte sanft in mir wider und strich wie Balsam über meine Seele. Sie war stark und ungetrübt, weshalb ich mich ihr ohne Widerstand hingab. Ich ließ mich von ihr tragen. „Erinnere dich.“   ***   Ciar verabschiedete sich nicht, als er das Handy senkte und den Anruf beendete. „Er ist auf dem Weg und wird gleich hier sein.“ Nickend gab ich ihm zu verstehen, dass ich zugehört und verstanden hatte, während ich die Umgebung auf mich wirken ließ. Dank einer guten Kopfschmerztablette hatten wir diesen Schmerzen vorerst Einhalt gebieten können, also war es mir möglich, alles auf mich wirken zu lassen. Erstaunlich wie anders sich ein Ort plötzlich anfühlen konnte, obwohl er einem nicht fremd war. Nichts hatte sich verändert, hier war es noch genau wie vor wenigen Tagen. Einzig eine feine, kaum sichtbare Staubschicht zog sich über einige Möbel, doch das blieb die einzige Veränderung im Gesamtbild. Die Einrichtung, eine Mischung aus antiken und modernen Elementen, war gleich geblieben. Auch die Atmosphäre schenkte einem noch die Geborgenheit, dank der man sich automatisch wohlfühlte. An mir dagegen war einiges anders. Meine Erinnerungen waren zurück. Dank ihnen entdeckte ich nun die eine oder andere Kleinigkeit, die schon damals in meinem alten Zuhause da gewesen war. Zwar war unser sämtliches Hab und Gut verbrannt, aber anscheinend hatten mein Vater und meine Tante einiges neu gekauft und manches Hobby über die Zeit erweitert. Mein Vater … Wie auf Stichwort war ein hastiges Klimpern an der Haustür zu hören, was Ciar leise lachen ließ. „Sieh an, da hat er sich aber echt beeilt.“ „Er muss sich höllische Sorgen gemacht haben“, wurde mir reumütig bewusst. Aufmunternd klopfte Ciar mir auf die Schulter. „Hey, es wird schon gutgehen. Glaub mir, er wird sich wahnsinnig freuen.“ „Ich hoffe es ...“ Das nervöse Zittern in meiner Stimme zeigte, wie aufgewühlt ich war. „Er hat ganz schön viel auf sich genommen, ohne etwas zu sagen.“ „Da ist er eben wie ich: Du bist uns wichtig. Wir wollten dich nur nicht überfordern.“ Nach diesen Worten trat Ciar einige Schritte zurück, kaum dass die Haustür kräftig zurück ins Schloss geworfen wurde und das anschließende Rascheln die Person ankündigte, die kurz darauf schon eilig zu uns in den Raum stürmte. In das Behandlungszimmer, wo auch das Aquarium mit seinem blauen Leuchten die Stimmung untermalte. Dort, wo ich bereits etliche Stunden auf dem Sofa gegessen hatte und die Therapie über mich ergehen lassen musste, ohne gewusst zu haben, wer dabei jedes Mal in Wahrheit vor mir saß. „Ferris“, keuchte Vincent, verschwitzt von dem Sprint, den er hingelegt haben musste. Ihn zu sehen tat unbeschreiblich gut. Obwohl er gerade alles andere als der coole, stets gefasste Therapeut war, dessen Geduld endlos zu sein schien. Die Erschöpfung stand in seinen Augen geschrieben, seine Haltung war ungewohnt lasch. Was hatte er die vergangenen Tage über wohl durchgemacht? Ich wagte es nicht, mir das auszumalen. Jemand wie Vincent vergaß sich leicht selbst und steckte all seine Energie in das Wohl anderer. „Hey“, entgegnete ich zaghaft. „Ich bin wieder da.“ Nur einen Tag nach meiner Nachricht, die ich Vincent auf die Mailbox gesprochen hatte, war er entlassen worden. Zum Glück hatte er sich so zeitig wieder erholen können, aber mein Abschied musste ihn dann schwer getroffen haben. Sofort brach eine schwere Last aus Schuld über mir ein und begrub mich innerlich unter sich. So etwas hätte ich ihm niemals antun dürfen. Dachte ich an so manche Sätze zurück, die sich Vincent von mir hatte anhören müssen, traute ich mich kaum noch etwas zu sagen. Wie oft hatte ich ihn mit meinen Worten wohl verletzt? Hätte ich das früher gewusst, wäre ich anders mit ihm umgegangen. Weniger abweisend. Warum hatte ich ihm nicht mal wenigstens meine Dankbarkeit gezeigt, für all seine Mühen? Warum … „Warum hast du nichts gesagt?“, brachte ich nur mühevoll hervor. Vincents Erschöpfung wandelte sich zu Ratlosigkeit, mit der er mich ansah – in seinen Augen glaubte ich einen Funken Hoffnung zu erspähen, ein kurzes Aufleuchten. „Was genau meinst du?“ Eigentlich hatte ich mir vorgenommen mich zusammenzureißen und nicht gleich mit meinen Gefühlen auszubrechen, aber Vincents Anblick machte mir das unmöglich. Sein Gesicht, das schwarze Haar und seine Stimme … all das war so vertraut und versetzte mich in meine Kindheit zurück. Damals war Vincents Ausdruck weniger sorgenvoll gewesen, lebhafter. Ansonsten hatte er sich aber kein bisschen verändert. Vincent war genau so, wie ich ihn in Erinnerung hatte. Immerzu um andere besorgt, verständnisvoll und einfühlsam. Er war mein Vorbild gewesen. Ich hatte ihn richtig, richtig lieb gehabt. „Du hast nichts gesagt“, wiederholte ich weinerlich, beide Hände zu Fäusten geballt, weil ich nicht wusste, wo ich mit ihnen hin sollte. „Und ich hatte oft nur blöde Sprüche für dich übrig. Es tut mir so leid. Ich … ich ...“ Vincent sagte irgendetwas, doch seine Stimme erreichte mich gerade nicht und schien zu weit entfernt zu sein, als dass ich sie wahrnehmen könnte. Nichts weiter als ein Echo, das verstummte, bevor es mich erreichte. In meinen Ohren trommelte mein Herzschlag so laut, ich konnte mich nicht auf ihn konzentrieren. „Ich hatte Angst, dass du mich hassen wirst“, sprach ich einfach weiter und senkte den Kopf, um zu verbergen, dass ich anfangen musste zu weinen. „Ich dachte, du würdest mich abweisen. Aber du hast mich zu dir geholt und dich um mich gekümmert, ohne etwas zu sagen. Du hast mich nicht aufgegeben. Ich komme mir so dumm und undankbar vor, es tut mir wirklich leid.“ „Entschuldige dich nicht“, hörte ich Vincents Stimme auf einmal wieder ganz deutlich. Plötzlich schlang er die Arme um mich und hielt mich fest, war mir so nahe. „Du musst dich für nichts entschuldigen, Ferris. Es ist nicht deine Schuld.“ „Es tut mir trotzdem leid!“, stieß ich laut aus. Ich vergrub das Gesicht in dem Mantel, den Vincent trug und legte auch meine Arme um ihn. „Es tut mir leid, Papa!“ „Ist schon gut“, versuchte er, mich zu beruhigen, und fuhr mir mit einer Hand durch die Haare. Sie mussten furchtbar fettig sein, doch er störte sich nicht daran. „Ich bin einfach froh, dass es dir gut geht. Danke, dass du zurückgekommen bist.“ Ich konnte nicht mehr reden, weil ich so sehr weinen musste. Er war viel zu gut für diese Welt – und zu mir. Nichts als Ärger und Sorgen hatte ich ihm bereitet, aber trotzdem bedankte Papa sich bei mir, statt mich zurechtzuweisen oder mir Vorwürfe zu machen. Wie ein Jugendlicher, fast Erwachsener, kam ich mir in diesem Augenblick nicht vor, vielmehr wie das kleine Kind von damals. Vielleicht war es in Ordnung, das für diesen Moment einfach zuzulassen. Wir hatten viel Zeit verloren, da war für Scham keinen Platz. „Ich weiß nicht, warum du dich wieder erinnerst, aber ich freue mich darüber“, teilte Papa mir mit, seine Stimme war so gefühlvoll wie noch nie. „Es wird alles wieder gut.“ Normalerweise hätte ich dem widersprochen, diesmal tat ich es nicht. Ob sich mein Leben von jetzt an bessern würde, wagte ich noch nicht zu glauben. Vorerst wollte ich es aber Papa endlich leichter machen und mich für ihn öffnen, um ihm keinen Kummer mehr zu bereiten. Zwar könnte ich ihm weiterhin nicht alles verraten, denn Ciar wollte nicht, dass bestimmte Details an Licht kamen, doch unser Zusammenleben dürfte zukünftig harmonischer ablaufen. Hoffentlich. „Hast du dich verletzt?“, hörte ich Papa fragen, der sich bemühte ruhig zu klingen. Mein Arm. Er musste den Schal bemerkt haben, den Ciar als Verband zweckentfremdet hatte. Erst nachdem Papa es erwähnte fiel es auch mir wieder ein. Daran, dass ich mich verletzt hatte, habe ich gar nicht mehr gedacht. Kaum vereint brachte ich einen neuen Grund zur Besorgnis mit – verdammt. „Es ist nicht so schlimm, dass es genäht werden müsste“, mischte Ciar sich aus dem Hintergrund ein. „Wenn wir es ordentlich desinfizieren und verbinden, genügt es, morgen einen Arzt aufzusuchen.“ Wäre ich nicht mit weinen beschäftigt gewesen, hätte ich mich bei ihm für diese Unterstützung bedankt. Durch einen Arztbesuch wollte ich mir dieses Wiedersehen nicht schon frühzeitig ruinieren lassen, sondern einfach mit Papa hier bleiben. Zu Hause. „In Ordnung, das klingt nach einem guten Plan“, fand Papa. Ciar gab einen triumphierenden Laut von sich. „Der ist ja auch von mir. Meine Pläne sind immer genial~.“ Seine selbstverliebte Art brachte mich zum Lachen, weshalb ich mich etwas von Papa lösen musste, um anständig Luft zu bekommen. Den Abstand nutzte er dafür, mir einige Tränen aus dem Gesicht zu wischen und mich zu mustern. Auch in seinen Augen glänzte etwas, das seine Gefühle widerspiegelte. Aber er konnte sich besser zusammenreißen als ich. „Komm, päppeln wir dich erst mal auf. Danach reden wir in Ruhe.“ Während er das sagte, schlich sich auch bei Papa ein Lächeln ins Gesicht. „Und essen etwas Eis.“ Das Angebot konnte ich nur freudig annehmen. „Oh ja, awesome~.“ Bevor wir dieses Vorhaben aber in die Tat umsetzten, musste ich ihn unbedingt nochmal ausgiebig umarmen und seine Nähe genießen. „Ich hab dich vermisst, Papa.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)