Between evil voices and innocent hearts von Platan (Weltenträume) ================================================================================ Kapitel 17: Du hast mich gerettet --------------------------------- Ich kam zwar vor Kieran auf die Welt, aber ich starb schon bei der Geburt. Mein Herz hatte aufgehört zu schlagen, einfach so. Kieran dagegen war rundum gesund und quicklebendig. Er schrie, strampelte und atmete. Mir konnte nicht mehr geholfen werden. Mich aufzugeben war für meine Eltern aber nicht drin, den Verlust wollten sie nicht akzeptieren. In dem Punkt sind wir uns erstaunlich ähnlich. Als Mitglieder des Echo-Instituts stand ihnen eine fragwürdige, jedoch besondere – und einzige – Option zur Verfügung: Würfel, voller vitaler Energie, die gut verschlossen zu Forschungszwecken im Labor lagerten. Sie nahmen einen davon und wagten das Experiment, ihn mir einzupflanzen. Zur Überraschung aller mit krönendem Erfolg. Plötzlich zeigte ich Lebenszeichen und mein regloses Herz kam dank der Kraft des Würfels endlich in Bewegung. Allerdings blieb ich anfangs extrem kränklich und musste sogar künstlich beatmet werden. Die ersten Monate meines Lebens saß ich daher auf der Krankenstation im Institut ab – vielleicht ist mir deshalb das Konzept Heimat auch heute noch fremd –, bis ich irgendwann mal stabil genug war und mit meiner Familie nach Hause gehen durfte. Ähnlich wie du stand ich weiterhin unter strenger Beobachtung. Jeder wartete geradezu angespannt darauf, welche Auswirkungen das Herz eines Echos in einem kleinen Kind auslösen würde. Anders als bei Kieran sahen meine Eltern mich stets mit einer gewissen Furcht in den Augen an und behandelten mich auch ganz anders. Im Umgang mit mir blieben sie übertrieben vorsichtig, berührten mich nicht zu innig und sprachen nicht allzu emotional mit mir, vermutlich weil sie verhindern wollten, dass der Würfel in irgendeiner Form an Macht gewann. Ciar, du musst dich kontrollieren, hieß es andauernd. Bewahre in jeder Lage Ruhe, dann wird alles gut. Mit anderen Worten: Wage es ja nicht, in irgendeiner Art und Weise Lebensfreude zu entwickeln. Für mich hatte es sich genau so angefühlt. Jedes Mal musste ich mich zusammenreißen, sobald ich glücklich oder traurig war, mir etwas gefiel oder mich ärgerte. Letzteres geschah ziemlich oft, Frust war bei so einem Druck halt abzusehen. Von Anfang an hatten ich und mein Umfeld mit meinen unkontrollierbaren Wutausbrüchen zu kämpfen, die meistens aus dem Nichts kamen. Natürlich wussten aber doch alle, woran das lag. Böses, unreines Herz des Echos – aber hey, lieber im Namen der Wissenschaft Leben retten und gleichzeitig neue Erkenntnisse gewinnen! Zu diesem Übel kam obendrein die Wirkung meiner Stimme hinzu. Gerade in Rage konnte das unangenehme Folgen haben. Damals begriff ich nicht, wieso manche Dinge, die ich sagte, aber nicht so meinte, Realität wurden. Wenigstens war es in diesem Fall bei Kieran genauso. Dieses Problem war unsere einzige Verbindung zueinander und gleichzeitig der größte Auslöser für Auseinandersetzungen zwischen uns. Auch für ein Kind vergingen die Jahre nur langsam, wenn man so langweilig leben musste wie ich. Ein bisschen bilde ich mir ein, dass ich deswegen wesentlich früher an Reife gewann als Kieran, sofern man von den Wutausbrüchen absah. Mutter blieb überwiegend auf ihrem Arbeitsplatz im Labor und Vater brachte Echos unter Kontrolle, also kümmerte sich größtenteils unser Onkel – als Arzt war seine Zeit aber auch stark begrenzt – oder jemand aus dem Institut um uns. Eine richtige Bezugsperson hatte ich nicht. Zu keinem konnte ich eine enge Beziehung aufbauen, woran mein aggressives Wesen schuld war. Manchmal zerstörte ich in meiner Wut einen Teil der Inneneinrichtung unseres Hauses und machte meinem Bruder sowie unseren jeweiligen Babysittern Angst. Obwohl ich von allen immer und überall genau im Auge behalten und möglichst nicht unbeaufsichtigt gelassen wurde, blieb ich unbeschreiblich einsam. Auf mich wirkte die Welt kalt, leer und das Leben sinnlos. Wie in einem bitter traurigen Drama. Bis ich zehn Jahre alt war, hatte ich, trotz meiner Wutausbrüche, bisher niemals jemanden ernsthaft verletzt. Klar, dass es eines Tages auch dazu kommen musste. Es geschah, als meine Familie im Frühling nach Ewigkeiten wieder einen dieser seltenen Ausflüge unternahm, für die Stärkung unserer Bindung zueinander. Warum ich mitgenommen wurde, verstand ich nicht. Mich hätte man besser zu Hause, bei einer Aufsichtsperson, lassen sollen. Was hatte ich davon, mir anzusehen, wie harmonisch die Beziehung meiner Eltern zu Kieran war und ich stand nur als Störfaktor daneben? Eskalation vorprogrammiert. Bei diesem Ausflug brachte mich dieses familiäre Bild, zu dem ich nicht dazugehörte, zur Weißglut. Mitten bei diesem schönen – öden – Picknick in der Natur ging ich Kieran wortwörtlich an die Gurgel, ohne jeglichen Verstand. Ich wünschte mir so sehr, dass mein Bruder leidet, so wie ich, darum ging ich etwas zu weit und hätte ihn fast erwürgt. Meine Mutter bekam einige Hiebe von mir ab, als sie versuchte uns zu trennen. Erst meinem Vater gelang es letztendlich, indem er zum ersten Mal handgreiflich mir gegenüber wurde. Du kennst ihn inzwischen, normalerweise bleibt er die Ruhe in Person und trägt keinen Funken Gewalt in sich. Dieser sonst so friedliche Mann war wegen meiner Tat auf einmal so aufgebracht und laut gewesen, es jagte mir einen riesigen Schrecken ein. Seinen Blick werde ich niemals vergessen können. Nachdem Kieran gerettet und ich auf Abstand gebracht worden war, sah er mich verzweifelt an, ratlos, warum ich so etwas tat. Kieran heulte wie ein Wasserfall. Mutter starrte aufgewühlt vor sich hin und war sprachlos, was absolut untypisch für sie war. Keiner von ihnen sagte es laut, aber ich konnte es mir durchaus selbst zusammenreimen. Ich war ein Monster. Mein mangelndes Mitgefühl für Kieran, dem ich grundlos Gewalt angetan hatte, war das eindeutige Zeichen dafür. Was meine Familie fühlte ging mir am Arsch vorbei. Alles war mir egal. Also tat ich etwas, das dir bekannt vorkommen dürfte: Ich rannte weg. Ja, ich ergriff die Flucht und beschloss, diese Familie zu verlassen. Alleine war ich besser dran, dachte ich. Niemand folgte mir. Schritt für Schritt kam ich schließlich der Ortschaft Limbten näher, deinem Heimatdorf. Da Erwachsene dazu neigten, Kindern ohne elterliche Aufsicht in der Nähe unbedingt helfen zu wollen, blieb ich bevorzugt im Gestrüpp und hinter Bäumen versteckt – so jung und schon so gerissen. Schließlich verließen mich meine Kräfte und ich sackte irgendwo zwischen abgebrochenen Ästen und einigen Blumen auf dem Gras zusammen. Dort blieb ich sitzen und tat einfach nichts. Zahlreiche Gesichter kamen mir in den Sinn, denen ich bislang begegnet war, und ich realisierte, dass alle eines gemeinsam hatten: Die stille Erwartung, etwas Schlimmes müsste jede Sekunde passieren, sobald sie mich ansahen. Wenn jeder mir mit dieser Einstellung begegnete, musste es der Wahrheit entsprechen, dachte ich. Anscheinend war ich wirklich ein gefährliches Monster. Ich wollte keines sein, aber ich wusste nicht, was ich dagegen tun sollte. Okay, so super war ich in dem Alter dann leider doch noch nicht. Kind bleibt eben Kind. Wehe, du kommentierst das jetzt, doch ich fing an zu … weinen. In der Tat, selbst der legendäre mächtige Ciar verdrückte als Kind mal ein paar Tränchen. Erfreue dich an dieser einen Peinlichkeit, mehr als diesen einen Punkt wirst du an mir nicht entdecken können. Schwäche gehört nicht mal mehr zu meinem Wortschatz. Was? Spare dir bitte jede Anmerkung auf Logik. Nur weil ich es sage, kenne ich das trotzdem nicht! Nun saß ich also da. Allein, schluchzend und verloren. Ein Häufchen Elend. Achtung, hier kommt das Klischee: Ein Kätzchen. In einem Gebüsch, nur wenige Meter entfernt, raschelte es und ein leises Miauen lenkte mich von meiner Trauer ab. Blinzelnd hob ich den Kopf und starrte irritiert in die Richtung, aus der dieser Laut gekommen war. Kindliche Neugierde trieb mich dazu aufzustehen und dem auf den Grund zu gehen. Das Gebüsch hatte Dornen und ich stach mich einige Male, als ich mir mit den Händen ein Guckloch durch das grüne Geäst schuf. Überrascht stellte ich fest, dass sich wirklich ein Kätzchen dort drin versteckte. An die Fellfarbe erinnere ich mich nicht mehr, nur an die blutende Verletzung am Hinterbein, wegen der es sich nicht mehr richtig bewegen konnte. Nein, es tat mir nicht leid. Der Anblick löste überhaupt nichts in mir aus, mein Herz blieb kalt wie Eis. Dennoch war mir klar, dass es Hilfe benötigte und vielleicht sterben würde, bliebe es dort sich selbst überlassen. Vorsichtig beugte ich mich etwas vor und griff mit einer Hand nach dem Kätzchen. Statt mir dankbar entgegen zu kommen, begann es plötzlich bedrohlich zu fauchen und versetzte mir einen Schlag mit der Pfote. Erschrocken riss ich die Hand zurück und ließ von dem Gebüsch ab, stolperte einige Schritte zurück. Aus den feinen Kratzern tropfte ein wenig Blut. Wie hypnotisiert fixierte sich mein Blick darauf. Dieser leicht ziehende Schmerz und das kräftige Rot reizten meine Sinne mehr, als sie sollten. Da spürte ich es dann deutlich. Meine Brust schien vor Hitze anzuschwellen und das rasende Herzklopfen rauschte in meinen Ohren, es schmerzte weitaus mehr als diese blutenden Kratzer an meiner Hand. Sie zitterte wie verrückt, mein ganzer Körper bebte regelrecht. Dann verlor ich schlagartig die Beherrschung. Etwas in mir brannte so stark, dass ich es nicht aushielt. Mein Gehirn setzte aus. „Blödes Mistvieh!“, schrie ich heiser und meine Hand fuhr zurück in das Gebüsch. „Du greifst mich an?! Schön, dann bin ich halt dein Feind! Ich bin das Monster, wenn ihr das alle so sehr wollt!“ Weitere Schnitte kamen hinzu, durch die Dornen, worauf ich aber nicht achtete. Gewaltsam riss ich einige Äste aus, die mir im Weg waren, um die Katze packen zu können. Erneut fauchte sie auf und zappelte wie unter Strom, als ich sie mit einem festen Griff am Rückenfell grob hervorholte. Ohne nachzudenken warf ich sie kräftig zu Boden und klemmte ihren Schwanz unter meiner Schuhsohle ein, so dass sie mir nicht entkommen konnte. Schreiend schlug ich auf sie ein. Die Welt um mich herum ergraute und verschwamm, wurde bedeutungslos. Jeder Fausthieb entfachte das Feuer in mir noch mehr. Bald kreischte das hilflose Wesen am Boden nur noch vor Panik und Schmerzen, während meine Stimme allmählich versagte. Mir wurde schwindelig. So heiß, dass ich innerlich verbrannte. „Hey, hör auf!“, mischte eine fremde Stimme sich aus heiteren Himmel ein. „Hör auf die Katze zu schlagen!“ Jemand schlang von hinten die Arme um mich und riss mich ruckartig zurück, wodurch wir das Gleichgewicht verloren. Wir fielen rückwärts zu Boden. Nach wie vor brannte mein Verstand lichterloh in den Flammen, weshalb ich mich wie ein wildes Tier loszureißen versuchte und brüllte: „Lass mich los! Misch dich nicht ein!“ „Mach das nicht!“, bat der Fremde eindringlich. „Das darfst du nicht tun! Du wirst das total bereuen!“ „Ich mache nur das, wofür ich geboren wurde!“, platzte es verzweifelt aus mir heraus. Erfolgreich riss ich mich los, fuhr herum und schlug als nächstes auf die Person unter mir ein, von der ich unterbrochen worden war. Sie wehrte sich nicht. Sie schrie nicht. Vielleicht war sie schon tot, bevor ich es wahrnehmen konnte, doch ich machte einfach weiter. Schlug zu, bis die Erschöpfung meine Glieder schwer werden und erschlaffen ließ. Abrupt verlor ich sämtliche Kraft und brach beinahe keuchend zusammen. Schweiß tropfte von meiner Stirn und ich schnappte hastig nach Luft, mein Herz war immer noch unerträglich laut. Selbst wenn ich gewollt hätte, könnte ich nicht mehr zuschlagen. Ich war am Ende. „... Geht es dir jetzt wieder besser?“, fragte mein zweites Opfer, auf dem ich saß, mich besorgt. „Du siehst nicht gut aus.“ Verwirrt über die Sorge in der Stimme wanderte mein Blick verschwommen zum Gesicht der Person. Etwas Blaues konnte ich erkennen, mehr noch nicht. Kurzzeitig erschien ein Meer vor meinem geistigen Auge, verwandelte das penetrante Rauschen in den Ohren zu einem sanften, wohltuenden Klang, der meine Seele hin und her wiegte, mich beruhigte. Bald sah ich, dass es sich um Haare handelte. Schulterlange, strahlend blaue Haare. So etwas Faszinierendes hatte ich noch nie gesehen. „Sorry, ich weiß, meine Haarfarbe ist komisch“, murmelte derjenige mit der blauen Haarpracht beschämt. Es war ein Junge, ein Kind. Offenbar jünger als ich, er war noch ein ganzes Stück kleiner. Blut lief aus seiner Nase und meine Schläge hatten ihm sichtbar zugesetzt. Und doch sah ich nicht den kleinsten Hauch von Angst in seinen Augen, wie ich es von anderen gewohnt war. Nur Sorge und Unsicherheit, so unschuldig, dass es mich panisch zurückschrecken ließ. Kaum saß ich nicht mehr auf ihm, richtete er sich keuchend auf und strich dabei einige Haarsträhnen aus dem Gesicht. So hatte ich dich kennengelernt. „Schon gut, du musst keine Angst haben“, beruhigtest du mich. „Ich bin Ferris. Wer bist du?“ „Angst?“, wiederholte ich ratlos. „Ich?“ Du nicktest. „Ja, du sahst echt richtig ängstlich aus.“ Nervös warf ich einen Blick über die Schulter, aber das Kätzchen war fort. Bestimmt war sie geflohen, als ich von ihr abgelassen und mich auf dich konzentriert hatte. Blutspuren waren alles, was von ihr geblieben war. Jetzt kroch sie vermutlich noch schwerer verletzt durch die Gegend und überlebte ohne Hilfe mit Sicherheit nicht mehr lange. Nur wegen mir. „Wir gehen sie suchen“, schlugst du vor. „Dann bringen wir sie zu einem Arzt und sie wird wieder gesund, keine Sorge. Dafür sind Ärzte da. Ärzte sind wie Magier~.“ „Ich ...“ Tief gruben sich meine Finger in die Erde hinein. „Das wollte ich nicht ...“ Anfangs hatte ich nichts empfunden, ihre Verletzung war mir nicht nahe gegangen. Auf einmal war das anders. Sie tat mir leid. Eigentlich war sie genau wie ich nur verzweifelt gewesen, weil sie verletzt war und nicht wusste, was sie tun sollte, außer anderen zu misstrauen und sich zu verteidigen. Ging ich nach ihr suchen, schlug ich sie womöglich nochmal. Davor fürchtete ich mich. Während ich zitternd dasaß, kamst du näher, bemüht darum, nicht dabei bemerkt zu werden – du warst schlecht darin. Bei mir angekommen legtest du ungefragt die Arme um mich und drücktest mich an dich. „Papa sagt, Umarmungen sind die beste Medizin. Bei meiner kleinen Schwester hilft das auch immer. Geht es wieder?“ Wie warm sich so eine Umarmung anfühlte. Du hattest noch keine Ahnung davon, was für eine unheimliche Bosheit in mir ruhte, in Form dieses Würfels. Das konnte aber nicht der Grund für deine Fürsorge sein, du wolltest mir wirklich helfen. Vor deinen Augen hatte ich auf ein wehrloses Wesen eingeschlagen, danach auch auf dich, und trotzdem warst du so nett zu mir. Als wüsstest du, dass ich eigentlich gar nicht so sein wollte. Mir kam es so vor, als hätte mein Herz erst an diesem Tag endlich angefangen richtig aus eigener Kraft zu schlagen, kaum dass ich die Umarmung erwiderte und mich verlegen – ja, ich war da noch jung – bei dir bedankte. Der Würfel rückte in den Hintergrund und nahm auch die letzten Funken Hitze mit sich.   ***   Leider konnten wir das Kätzchen nicht mehr finden, wir sahen es niemals wieder. Zum Trost sagtest du, dass es garantiert von einer anderen Person zum Arzt gebracht worden war und es ihr gut ging. Derart hoffnungsvoll war ich nicht, doch mir gefiel diese Vorstellung mehr als ihr kläglicher Tod durch die Einwirkung meiner Schläge. Falls sie gestorben sein sollte, kam sie sicher in den Himmel. Nach diesem Vorfall warst du der erste Freund, den ich je hatte. Du brachtest quasi Licht in mein Leben. So oft wie möglich bemühte ich mich darum, dich in Limbten zu besuchen, was schwierig war. Meine Eltern schöpften Verdacht, weil ich oft um weitere Ausflüge bat, was mir nicht ähnlich sah, aber sie gingen darauf ein. Bald konnte ich mich nicht mehr einfach wegschleichen, also brachte ich mir bei, sie gezielt mit der Wirkung meiner Stimme abzulenken – da wird wieder mein Genie deutlich. Niemand sollte wissen, dass du mein Freund warst. Zu groß war die Angst, sie könnten mir das verbieten, weil ich eine Gefahr darstellte. Eine tickende Zeitbombe für jeden, der nicht mit mir umzugehen wusste. Allerdings fühlte ich mich in deiner Nähe stets so lebendig und klar im Kopf, es gab keine bösen Gedanken oder Stimmen mehr, von denen ich beeinflusst wurde. Dich zu sehen war für mich lebenswichtig geworden. „Ciar!“ Dein Gesicht begann jedes Mal freudig zu strahlen, sobald du mich sahst. „Du bist echt gekommen~.“ Wir trafen uns stets heimlich, an dem Ort, wo wir uns zum ersten Mal begegnet waren. Auch du hattest deiner Familie nichts von mir erzählt, auf mein Bitten hin. Mit einem leichten Lächeln erwiderte ich deine herzliche Begrüßung. „Sicher, genau wie die ganzen letzten Male. Ich halte meine Versprechen.“ „Du bist toll“, schwärmtest du mir vor. Deine Hand griff nach meiner und du zogst mich mit dir durch die Natur von Limbten. „Komm, ich will dir was zeigen!“ Dein Griff war kein bisschen verkrampft, nicht wie bei anderen. Du hieltest mich ganz fest, ohne Gewalt auszuüben. Warst mir oft so ungewohnt nah und hast mich sanft durch die ersten Tage unserer Freundschaft geleitet. Umso schlimmer waren die Zweifel, die immer schnell in mir aufkamen, wegen jeder Kleinigkeit. Vorsichtig sprach ich etwas an, das mich beschäftigte: „Sag mal, vertraust du mir etwa nicht?“ „Hm?“ Ratlos blinzeltest du mich an. „Wie meinst du das?“ „Du hast doch gedacht, dass ich diesmal nicht komme, obwohl ich dich bis jetzt niemals versetzt habe ...“ „Oh!“, gabst du verstehend von dir. Kräftig fingst du an den Kopf zu schütteln – du hast echt viele niedlichen Gesten gemacht. „Nein, so ist das nicht. Ich vertraue dir total, ehrlich.“ Mein zweifelnder Blick ließ dich bedrückt zu Boden schauen. „Weißt du, Ciar … ich habe die ganze Zeit Angst, dass du irgendwann nicht mehr kommst, weil sonst nie jemand mit mir spielen will, außer meine Schwester.“ „Wieso glaubst du das denn?“ Mir war nicht klar, worauf du hinaus wolltest. „Du musst doch ganz viele Freunde haben.“ Wieder schüttelte dein Kopf hin und her, diesmal nicht mehr so enthusiastisch wie vorher. „Nein, hab ich nicht. Die anderen finden mich schräg, wegen meinen Haaren. Sie haben nur Spaß daran, mich zu ärgern, aber mehr nicht.“ „Sind die blöd“, sagte ich, zutiefst empört. „Deine Haare sind großartig, sie sehen aus wie das Meer. Ich mag sie.“ Meine Worte brachten das Strahlen zurück in dein Gesicht, sogar deine Augen glitzerten vor Freude. „Echt?! Also bleibst du ganz ehrlich immer mein fester, bester Freund, ja?“ „Immer“, stimmte ich schmunzelnd zu. Mir tat deine Offenheit wahrlich gut. „Du bist auch mein einziger, bester Freund, Ferris.“ „Wie cool~.“ Aufgeregt schwang deine Hand, mit der du meine nach wie vor festhieltest, munter vor und zurück. „Ich bin so froh, dass ich dich getroffen hab. Ich hab dich lieb.“ Etwas überrumpelt hob ich die Augenbrauen. „Äh, sagt man das nicht eher nur zu Mädchen? Oder zu seinen Eltern?“ „Mein Papa sagt, Gefühle kennen keine Regeln.“ Lächelnd nicktest du mir zu. „Wenn man jemanden gern hat, ist es egal, wer oder was diese Person ist. Oder was sie mal getan hat. Darum soll ich ruhig auf mein Herz hören, aber nicht mit fremden Erwachsenen in langen Mänteln mitgehen.“ „Da hat er recht“, lachte ich amüsiert – ich verstand die Sorge in dieser Warnung schon besser als du. „Dein Papa scheint ein guter Mann zu sein.“ „Du musst ihn mal treffen“, batest du mich. „Er wird dich verstehen, ganz sicher. So wie ich.“ Zufrieden sah ich dich an. „Mir reicht es, wenn nur du mich verstehst.“ Wenn ich sage, dass es die schönste Zeit meines Lebens war, schäme ich mich überhaupt nicht dabei. An diesen Teil der Kindheit, zusammen mit dir, denke ich gerne zurück. Wir hatten uns, alles schien gut zu sein. Meinetwegen hätte das ewig so weitergehen können. Unsere gemeinsame Zeit hielt aber traurigerweise nicht lange an. Schon nach den ersten Treffen mit dir bemerkte ich diese unheimlichen Gestalten, von denen du verfolgt wurdest. Sie kamen nach und nach näher. Bevor ich in Erfahrung bringen konnte, worum es sich bei ihnen handelte und wie man gegen sie vorgehen musste, war es bereits zu spät. Plötzlich kamst du dann nicht mehr zu unserem Treffpunkt. Schuld war der Brand, der alles zerstört hatte. Dein Haus. Dein Leben. Unsere Zweisamkeit. Wieder wuchs diese unbändige Wut in mir, gefolgt von Panik. Außer deinem abgebrannten Haus hatte ich keinerlei Anhaltspunkte darüber, wo du abgeblieben warst, wie es dir ging und ob du noch lebtest. Du warst einfach weg. Von unserer Freundschaft war keinem etwas bekannt, wer hätte mir Bescheid geben sollen? Darum lief ich lange in Limbten umher und versuchte die Bewohner dort über dich auszufragen. Es war nicht leicht, aber dank meiner Fähigkeiten, die ich schon nahezu perfekt zu benutzen wusste, konnte ich herausfinden in welchem Krankenhaus du lagst – in unserer Stadt – und beschloss, dich dort zu besuchen. Lästige Anhängsel wie Aufsichtspersonen abzuwimmeln hatte ich mittlerweile gut drauf, da machte mir keiner etwas vor. Man war genervt von meiner rebellischen Phase, das war aber nicht mein Problem. Das Krankenhaus aufzusuchen war also nicht schwer gewesen. Aufgeregt rannte ich die Treppen hinauf in das Stockwerk, auf dem du lagst. Für den Aufzug hatte mir die Geduld gefehlt. Da gab es etwas, das ich dir unbedingt mitteilen musste und ich hoffte, dir etwas Hoffnung dadurch zurückgeben zu können. Diese Nachricht musste dich wieder ein bisschen glücklicher machen, darauf baute ich. Mit diesem Glauben klopfte ich an deine Zimmertür und trat ein, nachdem ich vergeblich auf eine Einladung gewartet hatte. Ich befürchtete, deine Verbrennungen könnten zu schlimm gewesen sein. Der Gedanke, du könntest doch nicht mehr da sein, schnürte mir die Luft ab und ließ meinen Hals trocken werden. Umso erleichterter war ich, als ich dich in einem der Krankenbetten sitzen sah. Übersät mit Verbänden und an irgendwelchem medizinischen Zeug angeschlossen, aber atmend und lebend. Mir fiel ein Stein vom Herzen. „Ferris?“, sprach ich dich an und trat zu dir ans Bett. „Ich bin's.“ Sämtliches Leben schien dich verlassen zu haben, deine Augen waren leer und glanzlos. Abgemagert sahst du auch aus. Blass wie eine Leiche. Das machte mich so traurig, ich wagte kaum dich zu berühren, weil du sonst gänzlich zerbrechen könntest. Ich hätte dir gerne geholfen, doch zu dem Zeitpunkt wusste ich noch nicht wie. Mühevoll wandtest du mir den Blick zu, nahmst mich jedoch kaum wahr. „Ciar?“ Dieser sterile Geruch im Krankenhaus war widerlich und fühlte sich an wie Gift in der Lunge. Auch das einheitliche Weiß trug nicht gerade zum Wohlbefinden bei, sondern zog einen erst recht in die Leere hinein, die in deinem Herzen ein Loch gerissen hatte. Nicht mal die bunten Blumen, klischeehafte Geschenke für Kranke, konnten etwas daran ändern. „Ja, genau.“ Mitfühlend sah ich dich an. „Ich habe gehört, was passiert ist. Es tut mir leid.“ Kraftlos sank dein Kopf nach unten. „Alle sind … tot.“ Ähnlich wie Feuer erfüllten die letzten Sonnenstrahlen des Tages den Raum mit einer bedrückenden Atmosphäre. Außer uns beiden war niemand da. Ein zweites leeres Bett stand einige Meter weiter neben deinem. Von irgendwo wollten Flüsterstimmen in meinen Kopf eindringen und mir ihr dunkles Verlangen mitteilen, was ihnen nicht gelang. Ich konzentrierte mich nur auf dich. „Das stimmt nicht!“, wandte ich rasch ein und legte beide Hände auf deine Bettdecke. „Weißt du noch, dass wir durch Zufall herausgefunden haben, dass unsere Väter beide beim Echo-Institut arbeiten? Ich hab meine Eltern heimlich belauscht und etwas Tolles erfahren: Nicht alle sind bei dem Hausbrand in Limbten gestorben! Du lebst, und dein Vater auch.“ Eine weitere Person schwebte angeblich noch in Lebensgefahr, ich wusste nur nicht wer genau. Im Moment wollte ich dir lieber nur die guten Nachrichten mitteilen. Sicher täten es sonst in nächster Zeit die Ärzte aus dem Krankenhaus, aber so lange durfte ich dich auf keinen Fall warten lassen. Hoffnungsvoll wartete ich auf eine positive Reaktion deinerseits und lehnte mich etwas vor, lag schon halb auf dem Bett. „Hörst du? Dein Vater le-“ „Nein!“, unterbrach deine zitternde Stimme mich. „N-nein. Das ist ...“ Unsicher wich ich ein bisschen zurück. „Ist das etwa nicht … gut?“ Innerhalb von Sekunden wurden deine Augen glasig. „Doch, es ist gut, aber … aber ...“ „Aber was?“ Mit meinen zehn, zu dem Zeitraum fast elf, Jahren verstand ich noch nicht sonderlich viel von Traumata oder den Folgen eines Schocks. Ich war mir sicher gewesen, dich aufbauen zu können. Warum du so unerwartet verängstigt reagiert hattest, war mir ein Rätsel. Dein Zustand verschlimmerte sich drastisch. „Dad wird mich hassen“, brachtest du schluchzend hervor. Heftig schütteltest du den Kopf. „Wenn er hört, dass ich es war … dass ich schuld bin, warum alles abgebrannt ist, wird er mich hassen!“ „Bestimmt nicht!“, wollte ich optimistisch sein, dabei kannte ich deinen Vater noch gar nicht persönlich. Schnell stieg ich zu dir auf das Bett und legte die Arme um dich, so wie du es bei mir gemacht hattest. „Du hast das sicher nicht absichtlich getan, so wie ich nicht wirklich das Kätzchen verletzen wollte. Weißt du noch? Alles wird gut, dein Vater wird-“ „Wird er nicht!“, donnerte deine Stimme durch das Krankenzimmer. Wie ein Schlaghammer, der alles auseinanderreißen wollte. „Es wird nicht aufhören! Nichts wird gut werden! Ich will nicht, dass noch mehr meinetwegen verbrennen! Ich will das nicht!“ Erst verstand ich nicht, was das bedeuten sollte. Dann traf mich die Erkenntnis mit Entsetzen. Deinen Worten nach musste schon irgendwann vorher mal ein Feuer in deiner Nähe ausgebrochen sein und jemanden verletzt haben. Als ich mir vorzustellen versuchte, wie viel Leid und Schuldgefühle du mit dir herumschleppen musstest, hielt ich das kaum aus. Behütend drückte ich dich noch fester an mich und betete dafür, dass Umarmungen wirklich die beste Medizin waren, so wie du gesagt hattest. „Bitte, Ferris, sag das nicht“, suchte ich nach Worten. „Du bist ein guter Mensch, du brauchst nur Hilfe. Ich kann dir helfen. Du hast mich gerettet, als du mein Freund geworden bist. Lass mir Zeit herauszufinden was ich tun kann, um dich zu retten.“ Es kam mir vor, als würdest du dich in Rauch verwandeln und mir durch die Finger gleiten. Einfach verschwinden. Deine Verzweiflung besaß solch große Ausmaße, ich nahm sie so wahr als wäre es meine eigene. Zu allem Überfluss wurden die Stimmen um uns herum lauter und wollten beachtet werden, die Echos labten sich an der offenen Wunde in deinem Herzen. Nutzten meine Hilflosigkeit, um mich genauso zu übernehmen. „Ich kann nicht“, entschuldigst du dich, plötzlich ganz leise. Aus deiner Stimme war eine hauchzarte Emotion geworden, deren Zerbrechen nicht mehr aufzuhalten war. „Sie sind überall. Ich höre sie. Das halte ich nicht aus. Ich will das nicht mehr hören.“ „Ich finde einen Weg, dass sie weggehen“, versprach ich. „Und wie?“ „Ich weiß nicht.“ Mir fehlte eindeutig ein Plan. „Gib mir Zeit!“ „Warum kann ich das alles nicht einfach vergessen? So dass es niemals da war?“ Mit einem lautstarken Splittern zerbrach die Emotion und deine Stimme gewann eine ungeheure Intensität. „Ich will das alles vergessen.“ Kaum ausgesprochen, erschlaffte dein Körper in meinen Armen und dein Atem setzte aus. Sofort löste ich mich nervös von dir und sah dich an. Blut lief aus deiner Nase. Eine Menge davon. Erstarrt vor Schreck konnte ich im ersten Augenblick nur dasitzen und dem siegreichen Gelächter der Echos lauschen. Dann gewann ich die Kontrolle zurück und fing an dich zu schütteln. „Ferris?! Ferris! Was hast du?! Wach auf! Ferris!“ Aus heiterem Himmel strömten Krankenschwestern und Ärzte herbei, angelockt von meinen Schreien. Unaufhörlich rief ich deinen Namen, doch das brachte dich nicht zurück. Von der Körperkraft her waren die Erwachsenen mir überlegen, also wurde ich kurzerhand nach draußen gezerrt und konnte nichts mehr tun. Das Warten begann. Warten auf die Nachricht, ob sich das Leben für mich überhaupt noch lohnte oder ich gleich hier aufgeben konnte. Ärzte, die sogenannten Magier, konnten dich wieder stabilisieren, du warst am Leben. Aber deine Erinnerungen waren nicht mehr vollständig. Du konntest dich weder an den Brand, noch an deine Familie erinnern. Durch diese Lücke im Gedächtnis hatten sich auch deine Emotionen gelegt und du warst vorerst nicht mehr sonderlich interessant für die Echos. Also verstummten auch die Stimmen. Ich manipulierte mit meiner Stimme eine Krankenschwester, um mich unbemerkt aus dem Krankenhaus schleichen zu können, nachdem ich sicher sein konnte, dass du zumindest weiterleben würdest. Mir war bewusst, auf Dauer könnte diese Lösung dich nicht schützen. Mit meinen fast elf Jahren gab ich die Kindheit endgültig auf, und fing an ernsthaft zu planen. Planen, lernen, trainieren … besessen bemühte ich mich darum, stärker zu werden. Jemand zu sein, der dich beschützen und nächstes Mal wirklich retten könnte, statt tatenlos daneben sitzen zu müssen. Dafür beschloss ich, dich nicht mehr persönlich zu sehen. Der direkte Kontakt zu mir hätte dir noch nichts gebracht, außer möglicherweise das Erwachen deiner vergessenen Erinnerungen. Aus dem Grund blieb ich auf Abstand – und entwickelte mich über die Jahre zum erstklassigen Stalker. Natürlich wollte ich wissen, wie dein Leben verlief und ob du weiterhin vor Echos sicher warst. In unregelmäßigen Abständen suchte ich unbemerkt deine Nähe oder beobachtete dich aus der Ferne, hielt alles Wissenswerte über dich aktuell. Ich konnte nur an dich denken. Du hast keine Ahnung, wie unerträglich die Sehnsucht nach dir wurde, vor allem als du Kieran kennenlerntest. Vor Eifersucht kehrten die Wutausbrüche zurück. Sie ließen aber schnell nach, als ich feststellen musste, dass die Echos ihr Interesse an dir zurückgewannen, kaum dass du mitten in der Pubertät ankamst. Im Echo-Institut wird niemand ausgebildet, dessen Emotionen nicht kontrollierbar sind. Eine Menge Arbeit stand mir bevor. Kurz gesagt: Zehn ewig lange Jahre verbrachte ich damit, mich zu stärken und darauf vorzubereiten, dich zu beschützen. Und was bin ich heute? Nicht nur der beste Stalker weltweit, besser sogar als Faren, sondern ein geübter und talentierter Jäger, fest angestellt im Echo-Institut. Während meiner nächtlichen Schichten kümmerte ich mich gezielt darum, dein Umfeld von diesen Wesen rein zu halten. Jeder Würfel, den ich in mir aufnahm, verriet mir alles, was das jeweilige Echo durch Beobachtung über dich erfahren hatte. Wie du weißt, stolperte ich schließlich über jenen, durch den der Brand damals verursacht worden war, und nahm das als Anlass dafür, mich dir endlich wieder zu nähern. Den Rest hast du ab der Stelle selbst miterlebt. Ehrlich gesagt kam mir das gelegen, denn ich wollte nicht, dass du dein Herz mehr und mehr an Kieran verlierst. Nicht nur, dass er dich sowieso verletzte, indem er sich für Faren entschied, ich will derjenige an deiner Seite sein, Ferris. Zehn Jahre habe ich nur für dich gelebt, ohne das du es wusstest. Zehn Jahre lang konntest du dich nicht mal daran erinnern, dass es mich gibt. Zehn Jahre plante ich, wie ich dich von deinen Leiden und der Verzweiflung befreien kann. Jetzt sitze ich hier, mit dir zusammen, möchte dir mein Herz öffnen, kann es aber nicht. Seit du dir im Krankenhaus selbst die Erinnerungen gelöscht hattest, wollte ich nicht riskieren, so etwas erneut heraufzubeschwören. Letztendlich ruht in mir nämlich immer noch ein schlafendes Monster, mit dem man nicht gerne Zeit verbringt. Darum behielt ich meine wahren Gefühle für mich und spielte das, was sowieso jeder in mir sah. Hass war leichter zu handhaben als Liebe und Vertrauen. Wie einst möchte ich dich hiermit aber ein weiteres Mal darum bitten: Gib mir die Chance, dich zu retten. Ich will dich unbedingt retten, Ferris. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)