Between evil voices and innocent hearts von Platan (Weltenträume) ================================================================================ Kapitel 16: Ich bin nicht so gut mit Worten ------------------------------------------- Ein Lastwagen fuhr mit erhöhter Geschwindigkeit über die Brücke. Das dröhnende Motorengeräusch kam dem Brüllen eines Löwen gleich, der aufgrund seiner Stärke jedes andere Tier zurückschrecken ließ. Sogar die Umgebung erzitterte leicht unter diesem massiven Gewicht. Die Tierwelt gab wirklich einen guten Vergleich für den hektischen Verkehr in einer Stadt ab, besonders wenn die große Stunde des Feierabends schlug. Wie bei einer Stampede strömten die Fahrzeuge stetig von einer Seite zur anderen, folgten dem schnellen Strom. Immerzu hörte ich das Rauschen von oben und ließ es zu, dass dieses Geräusch meine Gedanken mit sich in die Ferne trug. Entsprechend geistesabwesend saß ich in der Unterführung der Brücke, außer mir war niemand hier. An diesem Tag wütete ein Herbststurm. Ständig fröstelte es mich durch den eisigen Luftzug. Seit meiner Flucht aus dem Fast-Food Restaurant hatte ich nichts mehr gegessen oder getrunken, ich fühlte mich schwach und mein Körper lief nur noch auf Sparflamme. Kein Wunder, dass ich so empfindlich auf die Kälte reagierte. Also hockte ich hier reglos herum und tat nichts mehr, außer abzuwarten. Manchmal wehte der Wind einige bunte Blätter an diesen einsamen, dunklen Ort, wo sie zu Boden sanken und dann zurückgelassen dalagen. Ihre herbstlichen Farben lenkten etwas von dem Müll und den Dreck ab, von dem sich einiges angesammelt hatte. Wahrscheinlich war ich nicht die erste Person, die ihre Zeit unter dieser Brücke verstreichen ließ. Bislang blieb ich aber ungestört. Das Rot, Orange und Gelb der Blätter harmonierten nahezu perfekt mit meinem Blut. Es tropfte aus einer frischen Schnittwunde am Handgelenk zu Boden. In dem ganzen Müll hatte ich eine alte, leere Glasflasche gefunden und zerschlagen, um die Scherben benutzen zu können. Mein Ziel war es nicht, mich damit umzubringen. Jedenfalls noch nicht. Mir ging es vielmehr um den Schmerz, die Ablenkung. Irgendwann hatte ich die Gedanken von den Menschen in der Nähe und auch meine eigenen einfach nicht mehr ausgehalten, sogar zum Heulen war ich mittlerweile zu erschöpft. Darum hatte ich mir die Haut aufgeschnitten, was mit einer stumpfen Glasscherbe etwas Nachdruck erfordert hatte. Durch das schmerzhafte Pochen im Handgelenk und das stechende Ziehen bei jeder kleinsten Bewegung fühlte ich mich um einiges besser. Wenigstens im Moment konzentrierte ich mich nur darauf, wodurch alles andere ausgeblendet wurde. Auch die Kälte spürte ich langsam nicht mehr so deutlich wie zuvor. Wie erlösend musste dann der Tod selbst sein? Diesen einen Gedanken konnte nicht mal der Schmerz von mir nehmen, gerade dieser löste ihn aus. Irgendwann zog sich das Blut in mehreren feinen Rinnsalen über den Boden, bildete ein eigenes Netz. Nach und nach beanspruchte es mehr Fläche für sich, es wagte sich weiter vor. Bald müsste ich mir weitere Schnitte zufügen. So erleichtert, wie das Blut darüber wirkte endlich frei zu sein, blieb mir kaum eine andere Wahl. Betrübt stieß ich einen Seufzer aus, doch der Verkehrslärm verschluckte den Laut sofort, so bedeutungslos war er. Zögerlich drehte ich die dunkelgrüne Scherbe in der Hand, fuhr mit den Augen über meinen Arm, auf der Suche nach der nächsten geeigneten Stelle. Eigentlich war es egal, wo ich ansetzte, aber ich konnte mich trotzdem nicht entscheiden. Besonders weil ich keine alten Narben nochmal aufreißen wollte – ich verletzte mich nicht zum ersten Mal. Jeder verheilte Schnitt besaß seine eigene Geschichte. Dämlich, aber ich befürchtete, diese vergangenen Leiden wieder wecken zu können. Als mein Blick zurück zu dem Blut am Boden wanderte, übermalte Verwirrung kurzzeitig das befreiende Gefühl des Schmerzes. Was ich dort sah, konnte unmöglich real sein. Vorsichtig beugte ich mich ein Stück vor und hielt den Atem an. Irgendwie hatte das Blut durch dessen Verlauf Buchstaben gebildet. Sie sahen krakelig aus, wie von einem Kleinkind geschrieben, und standen auf dem Kopf, doch ich könnte es sicher lesen, auch von dieser Position aus. Groß genug waren die einzelnen Buchstaben dafür. Außerdem war es nur ein Wort. In mir wuchs Panik heran und ich schnappte erfolglos nach Luft, während ich wie versteinert auf den Boden starrte. M, hauchte eine emotionslose Stimme in meinem Kopf. Zuerst spürte ich nur eine Art Kribbeln auf meiner Haut. Etwas regte sich in meiner Brust, es löste eine Hitzewelle aus. Sofort ahnte ich, was es sein könnte. Die Herzen der Echos. Jeder Würfel, den ich bislang geschluckt hatte. Auf einmal wurde das schreckliche Brennen im Hals wieder lebendig. Meine Panik schoss sprunghaft in die Höhe. O, führte eine andere Stimme das Vorlesen fort. Hastig schüttelte ich den Kopf, wobei die ersten Schweißperlen abgeschüttelt wurden. Ich wollte es nicht hören. Vergeblich versuchte ich das laut auszusprechen, aber ich brachte keinen Ton zustande. In meiner Panik kämpfte ich bereits so sehr mit dem Atmen, das es mir nicht möglich war. N, flüsterten sie gnadenlos weiter. Schadenfrohes Gelächter drang leise an meine Ohren. Unförmige Schemen huschten über die nackten Steinwände der Unterführung und verdunkelten durch ihr Erscheinen den Ort noch mehr. Einige Schatten erkannte ich wieder. Jene Echos, deren Existenz von mir beendet worden war. Eingesperrt in den Würfeln, in mir. S, kicherten sie allmählich lauter. Zitternd hob ich die Hände und presste sie gegen meine Ohren, kniff fest die Augen zusammen. Was geschah hier gerade? Und warum? Konnte ich mir nicht mal mehr durch Schmerz für einen kleinen Augenblick Erleichterung verschaffen? Etwas anderes hatte ich nicht. Ich könnte es nur noch beenden, bevor es so schlimm werden würde, dass ich auch dazu nicht mehr käme. T, buchstabierten die Echos im Chor. Aufhören! E, grollte es in meinem Kopf. Schlagartig wurde mir schwindelig, ich drohte, einfach zusammenzubrechen. Zahlreiche Schatten färbten die Welt schwarz. So dunkel, dass ich nichts mehr sehen konnte, außer die blutigen Buchstaben. Knallig wie Neonlicht widerstanden sie der Finsternis. R!, kreischten sie den letzten Buchstaben so laut, dass ich zusammenzuckte und einen heiseren Schrei ausstieß. Ein leichtes Gewicht legte sich auf meine Schulter, was mich wie ein Zauberspruch aus diesem Zustand herausriss. Hektisch atmete ich ein und aus, blinzelte mehrmals. Leider war mein Sichtfeld anfangs verschwommen, weshalb ich nichts erkennen konnte, aber es war auf einmal wieder hell. Und warm. Kein Wind wehte. Autos hörte ich auch nicht. „Ferris war lange krank“, erklärte eine ältere Frauenstimme. „Ab heute geht er wieder in die Schule und gehört nun zu unserer Klasse. Bitte seid alle nett zu ihm und helft ihm, sich hier wohlzufühlen.“ Aufgeregtes Getuschel war zu hören. Ich rieb mir kräftig die Augen und hoffte, dass ich danach besser sehen könnte. Dabei wischte ich einige Tränen weg, die sich angesammelt hatten. Schließlich verbesserte sich meine Sicht wirklich ein wenig und ich konnte erkennen, wo ich war. Irritiert starrte ich in die Runde. Ein Klassenzimmer, gefüllt mit Schülern, deren Blicke mich neugierig musterten. Meine damalige Grundschule. „Er muss die zweite Klasse wiederholen.“ Neben mir stand meine neue Klassenlehrerin. „Aber er kann euch bestimmt schon bei einigen Dingen helfen, die ihr noch nicht wisst. Oder, Ferris?“ Sprachlos blieb mein Blick auf die anderen Kinder geheftet, auf ihre Frage reagierte ich nicht. Keines der Gesichter kam mir bekannt vor, ich erinnerte mich nicht. Darum saßen nur Schattengestalten auf den Stühlen. Bestehend aus schwarzem Rauch und so flüchtig wie mein Gedächtnis. Am liebsten wäre ich weggelaufen – so wie immer. „Warum hat er blaue Haare?“, wollte einer der Schatten wissen, hörbar verwundert. Da ich nicht reden wollte, übernahm die Lehrerin für mich das Sprechen: „Ferris ist acht Jahre alt.“ Erneut war ich irritiert. So sollte die Antwort nicht lauten, die Frage war eine andere gewesen. Moment, acht Jahre alt? Also nach dem Tod meiner Familie, nach dem Brand. Ab dem Zeitpunkt hatte ich oft darüber nachgedacht, mir die Haare zu färben, schwarz, um mich nicht mehr mit diesem Problem herumschlagen zu müssen. Falls ich mich nicht irrte, kam dieser Rat einst von irgendjemandem aus dem Waisenhaus. Wirklich durchgezogen hatte ich es aber nie. Seltsam. Faulheit? Kosten? Unfähigkeit? Ich zupfte an einer Haarsträhne und betrachtete sie. Tatsächlich war sie blau. Was sonst? Offenbar hatte ich schon fast vergessen, dass meine Haare doch nicht gefärbt waren. Wunschdenken konnte die Wirklichkeit leicht verfälschen. Darüber müsste ich mir keine Sorgen mehr machen, wenn ich mir nur etwas Haarfärbemittel besorgen würde. Nein. Der Verlust meiner Familie war wesentlich schlimmer, meine Haarfarbe dagegen war das kleinste Problem. „Setz dich doch dort drüben hin“, bat die Lehrerin mich und gab mir einen sanften Schubs. Unbeholfen tapste ich durch den Raum und kam mir so verloren vor wie ein ausgesetzter Welpe. Die ganze Zeit klebten die Blicke der anderen an mir, ließen nicht mehr von mir ab. Sie brannten sich geradezu in mich hinein. Jedes Mal, wenn ich an Feuer dachte, verkrampfte ich und bekam Übelkeit vor Angst. Sogar gebratenes Fleisch konnte ich nicht mehr essen. Haltlos versanken meine Füße bei jedem Schritt ein Stück im Boden, der viel zu weich war. Ein flüchtiger Blick und ich wusste, woran es lag. Ich lief über rohes, noch blutiges Fleisch. Dort, wo ich hintrat, brannten sich meine Fußspuren ein. Bei dem Geruch wurde mir übel, doch einige der anderen Kinder sogen ihn gierig ein. Kaum saß ich, fing die Lehrerin mit dem Unterricht an, vollkommen souverän. Anscheinend bemühte sie sich darum, die Aufmerksamkeit ihrer Schüler auf sich zu ziehen, was ihr jedoch nicht gelang. Ich blieb der Mittelpunkt. Warum fiel es ihnen derart schwer, mich zu ignorieren? Alles, was ich wollte, war meine Ruhe. Allein sein. Schule half mir nicht dabei. Als wollte eine höhere Macht die Lehrerin von ihrem Elend befreien, läutete die schrille Schulglocke die Pause ein. Bevor ich etwas tun konnte, hatten die anderen sich um mich versammelt und kreisten meinen Tisch – eine graue Metallplatte, auf der sich getrocknetes Blut befand – ein. Automatisch sank ich im Stuhl zusammen und senkte den Blick. Ihre Körper aus Rauch rochen unangenehm und in meinem Hals kratzte es, genau wie bei dem Brand vor knapp einem Jahr. Ich fühlte mich schlecht. „Stimmt es, dass du ein Monster bist?“, fragte einer von ihnen, so unschuldig und von Neugier getrieben, dass mich ein kalter Schauer packte. Erschrocken tuschelte der Rest miteinander. „Ein Monster?“ „Ja, ein paar aus der dritten Klasse haben das gesagt.“ „Kennen die ihn denn?“ „Er gehörte zu ihrer Klasse, dann blieb er krank und kam nicht mehr.“ Verschwinden. An etwas anderes konnte ich nicht mehr denken, außer verschwinden zu wollen. Anstelle meiner Familie. Weg von hier. Zur Schule hatte ich nicht mehr gehen wollen, aber die Erwachsenen zwangen mich dazu. Schickten mich in diese Hölle – war das meine Strafe? Laut den Ärzten und Erziehern könnte mir eine vertraute Umgebung helfen, wieder Stabilität zu bekommen. War denen klar, dass ich als Kind nicht mal wusste, was das Wort überhaupt bedeutete? „Die haben gesagt, dass sein Haus verbrannt ist“, erzählten sich die Schatten, ohne mich nach der Richtigkeit dieser Fakten zu fragen. „Er hat das getan. Jetzt sind alle tot.“ „Tot?“ „Was heißt das?“ „Also hat er keine Familie mehr?“ „Mama sagt, getötete Lebewesen kommen in den Himmel. Tötet man jemand, ist man ein Mörder!“ „Und Mörder sind Monster!“ „Haltet die Fresse!“, fuhr ich lautstark dazwischen und sprang von meinem Stuhl auf. Das war nicht die Wirklichkeit, meine Kindheit war schon lange vorbei. „Kümmert euch um euren eigenen Kram! Haut-“ Meine Stimme versagte, ich sprach nicht zu Ende. Beim letzten Mal, als ich vor einem Mitschüler zu laut geworden war, verbrannte dieser. Auf keinen Fall wollte ich, dass noch mehr starben. Nicht durch mich. Sie hatten recht. Monster war genau die richtige Bezeichnung für mich. Aber … „Aber das mit meiner Familie … war ich nicht“, haspelte ich, weil ich mir selbst nicht sicher war. „Das Echo war es.“ „Und warum war es wohl überhaupt erst da?“ Stille kehrte ein, von einer unheimlichen Spannung durchzogen. Elektrische Funken schienen in der Atmosphäre zu schweben und drohten, sie jederzeit in Stücke zu reißen. Keiner sagte etwas, doch ich wusste, was sie dachten, und dass ich mich nicht herausreden könnte. Diese Erkenntnis nahm mir den Mut wieder und katapultierte mich emotional tatsächlich in diese Situation zurück. Plötzlich fühlte ich mich so wehrlos wie ein Säugling. Aus Reflex fuhr ich herum und versuchte mich durch die Schatten hindurchzudrängen, zu fliehen. Natürlich gelang mir das nicht. Allesamt hielten sie mich fest und zerrten mich zurück, drückten mich mit dem Rücken auf den Tisch. Klappernd fielen meine Schulsachen herunter. Schreiend versuchte ich mich mit aller Kraft zu befreien und strampelte wie verrückt. Zahlreiche Hände ketteten mich fest. Ich hatte keine Chance. „Gib es zu!“, verlangten sie von mir. „Gib es zu!“ „Gib zu, dass du ein Monster bist!“ „Ja, du bist eins!“ „Warum sind deine Eltern sonst tot?“ „Wenn du es nicht sagst, machen wir das.“ „Genau, wir machen das.“ Aus ihren rauchigen Bäuchen zogen sie Filzstifte hervor, in verschiedenen Farben. Zuerst nahmen sie sich meine Arme vor. Jeder Strich fühlte sich an wie ein Brandmal und brachte mich zur Verzweiflung. Schluchzend flehte ich sie an aufzuhören, aber sie beachteten mich nicht. Eine Warnung nach der anderen zierte bald meine Haut. Zeichnungen von Flammen und Totenköpfen dienten als Symbole für mein Verbrechen. „Du solltest tot sein“, behauptete einer. Der Einwand bekam von allen Seiten Zuspruch: „Sonst tötet er als nächstes uns!“ Erschöpft gab ich jegliche Gegenwehr auf und ließ sie weitermachen. Wieder konnte ich nur verschwommene Bilder wahrnehmen, so viele Tränen füllten meine Augen. Verdient hatte ich es. Wenn sie sagten, ich sei ein Monster, musste ich eins sein. Das Monster, das seine eigene Familie getötet hatte, und deren Gesichter mir ebenfalls nur als wabernder Rauch in Erinnerung waren. So früh waren sie aus meinem Kopf verschwunden. Ich spürte, wie noch einmal an mir gezerrt wurde und ich vom Tisch rutschte. Innerlich machte ich mich auf einen harten Aufprall gefasst. Zu meiner Überraschung wurde es stattdessen angenehm warm und etwas Weiches schlang sich um meinen Körper. Hielt mich schützend fest. Auf einmal fühlte ich mich vollkommen sicher, in dieser starken und standhaften Aura. Als sie mich anschließend behutsam schüttelte, hörte ich auch jemanden mit mir sprechen. Keines der Kinder aus der Klasse, sondern … „Ferris, hörst du mich?! Hey, komm zu dir“, bemühte sich die Person, mich aus der Trance zu holen. „Du willst hier sicher nicht so draufgehen, oder? Ich weiß, dass du doch mehr Stil hast. Jetzt mach schon, reiß dich zusammen.“ Keinen Zweifel, diese Selbstbeherrschung und greifbare Energie in der Stimme kannte ich nur von Ciar. Er war es, der mich festhielt. Also hatte er mich gefunden. Wie? Mühevoll kämpfte ich gegen den Schwindel an und hob den Kopf, die Augen zusammengekniffen. Tatsächlich erkannte ich sein Gesicht, nahe an meinem. Sein warmer Atem war seltsam wohltuend. „So ist gut“, lobte Ciar mich. „Bist du wieder ganz da?“ „Ich weiß nicht“, nuschelte ich angestrengt. „Mir ist schlecht ...“ „Das wundert mich nicht. Du hast sicher die letzten Tage nichts in den Magen bekommen.“ Müde runzelte ich die Stirn. „Tage?“ „Drei Tage, um genau zu sein.“ Ciar sah in der Tat ungewohnt … zerwühlt aus, sicher nicht nur von dem Sturm. Dunkle Augenringe zeigten, wie wenig Schlaf er in der letzten Zeit gehabt haben musste, wenn er sich überhaupt mal hingelegt hatte. Das schwarze Haare war das reinste Chaos, mehr als sonst. Besorgt betrachtete er mich genau, ohne mich loszulassen. „Seit drei verdammten Tagen laufe ich durch die Gegend und suche dich überall“, beschwerte er sich, merklich halbherzig. Anscheinend überwog die Sorge um mich mehr als der Stress, den er durchgemacht hatte. „Die anderen übrigens auch. Ich bin froh, dass ich es bin, der dich gefunden hat.“ Schließlich entdeckte Ciar die Schnittwunde an meinem Handgelenk und zog die Augenbrauen zusammen, wütend. Nicht auf mich, wie es schien. Und doch machte er den Eindruck, als würde er jemanden für diese Tat bestrafen wollen. Nur wegen meiner Verletzung? Für mich war das nichts, worüber man sich aufregen müsste. Ohne irgendeinen bissigen Kommentar zog Ciar den Schal aus, den er trug, und fing an mit diesem meinen Arm zu verbinden. Unerwartet vorsichtig, wie ich merkte. Nicht ein einziges Mal schmerzte es, während er mich notdürftig verarztete. Aufgewühlt biss ich die Zähne zusammen. Allmählich wurde ich wieder klar genug im Kopf, um zu realisieren, dass mich ausgerechnet derjenige gefunden hatte, für den ich bloß ein billiger Ersatz war. „Lass das“, wies ich ihn ab und zog den Arm weg. „Was willst du von mir?“ „Dir helfen?“, stellte Ciar eine Gegenfrage. „Ich brauche keine Hilfe.“ „Natürlich nicht, du bist nur halb dehydriert und ausgehungert.“ „Das geht dich nichts an.“ „In dem Zustand ist es klar, dass du für Echos leicht zu beeinflussen bist“, warnte Ciar ernst. „Du hast es echt mit den Wachträumen, was?“ Was sollte das? Hatte er wirklich vor, hier und jetzt mit mir eines dieser Wortgefechte zu starten? Dafür hatte ich weder die Nerven noch genug Kraft übrig, einen schlechteren Zeitpunkt könnte er sich wahrlich nicht aussuchen. Ihm ging es offenbar nur darum, was er wollte. Um seinen bescheuerten Plan. „Du nervst!“, keuchte ich. Wegstoßen könnte ich ihn auf keinen Fall, ich musste ihn anders loswerden. „Ich spiele nicht weiter den Lückenfüller für was auch immer in deiner kranken Welt. Verschwinde!“ Unberührt blieb Ciar vor mir auf den Knien sitzen und zeigte nicht die winzigste Reaktion auf meinen Befehl. Das musste bedeuten, ich konnte nicht mal meine Stimme benutzen. Ich war bereits eine halbe Leiche. Handlungsunfähig und nutzlos wie zu Lebzeiten, nichts änderte sich daran. „Ich habe gefühlt hunderte Kopfschmerztabletten genommen, während meiner Suche nach dir“, lautete Ciars Erklärung, mit einer unbeeindruckten, nahezu gelangweilten Mimik. „Und ich kann Schmerzen auch so gut wegstecken. Gib mir also ruhig so viele Befehle wie du willst, ich werde keinem einzigen von denen folgen.“ Verzweifelt lehnte ich den Kopf gegen die Wand hinter mir und atmete weinerlich aus. „Ich halt das nicht mehr aus. Ich kapiere dich einfach nicht. Macht dir das etwa so viel Spaß, mich zu verarschen?“ „Tja ...“ Nach dieser lächerlich kurzen Reaktion hielt er inne. „Ich bin nicht so gut mit Worten, erst recht nicht wenn es um Gefühle geht.“ Bevor ich mich dazu bringen konnte ihm einen spöttischen Blick zuzuwerfen, legte er schon beide Hände an meine Wangen und richtete sich etwas auf, in eine hockende Position. Erst dachte ich, er wollte mich küssen, was mich nur darin bestätigt hätte, dass er ein irrer Sadist sein musste. Seine Lippen berührten mich aber nicht, sondern er lehnte seine Stirn gegen meine und sah mich eindringlich an. Allerdings nicht mit diesem unheimlichen Blick, von dem man Schüttelfrost bekam. Zum ersten Mal konnte ich in seinen Augen Emotionen herauslesen, die ich niemals erahnt hätte. Tief verborgen in der Dunkelheit erkannte ich eine sanfte Regung. Sie galt mir, aufrichtig und offen. Ich hatte wahrhaftig das Gefühl, gerade in seine Seele blicken zu können. Könnte Ciar so etwas vorspielen? „Ich werde versuchen, dir alles zu erklären“, versicherte er, sprach ruhig und bedacht. „Gib mir die Möglichkeit dazu, okay? Ich bitte dich darum.“ Sacht strich er mit den Daumen über meine Wangen. „Ich hab mich bisher wohl zu plump ausgedrückt. Wie gesagt, ich habe es nicht so mit Worten. Aber es ist mir wirklich wichtig, dir zu helfen. Du bist mir wichtig. Lass es bitte zu.“ Ein Funke huschte über seine Augen, den ich selbst viel zu gut kannte: Angst. Allerdings in einer anderen Form. Alles an ihm flehte mich gerade an, ihm Glauben zu schenken und nicht für etwas zu verurteilen, das er in Wahrheit gar nicht war. Dachte ich an den Wachtraum von eben zurück, verstand ich es umso besser. So fühlte Ciar also. Ich konnte ihm diese Bitte nicht abschlagen, nicht mal wenn ich es gewollt hätte. Sich derart zu öffnen, fiel jemandem wie ihm mit Sicherheit nicht leicht. Das beeindruckte mich zutiefst – und auch mein Herz war bewegt, wie ich zugeben musste. Sämtlicher Ärger war vergessen, vorerst. Nach diesen Worten wollte ich mir unbedingt anhören, was er zu sagen hatte. „Okay“, stimmte ich daher zu. Flüsternd, was meiner Abgeschlagenheit zuzuschreiben war. „Auf das bisschen Zeit mehr oder weniger kommt es auch nicht mehr an.“ Sofort schloss Ciar die Augen und atmete erleichtert durch. „Danke.“ Er löste sich von mir und griff wieder gezielt nach meinem Arm, band den Schal weiter um meine Verletzung. „Mein Wagen ist nicht weit weg. Lass uns dort reden, dann kannst du auch was trinken. Einen Snack hab ich da sicher auch noch irgendwo rumliegen.“ Meine Mundwinkel zuckten ein wenig nach oben. „Wichtiger als irgendein uralter Snack bin ich dir also dann doch nicht?“ „Zum Scherzen geht es es dir offenbar nie zu schlecht.“ Auch Ciar schmunzelte leicht. „Das gefällt mir echt gut an dir. So, fertig. Dann mal auf, ich stütze dich.“ Nickend ließ ich es zu, dass er mir auf die Beine half und stützend vorwärts führte. Immerzu ging er rücksichtsvoll mit mir um und bekam dafür nur Misstrauen von mir zurück. Ausnahmsweise wollte ich ihm vertrauen und sehen, wohin das führte. Zumal ich mich nach seiner Offenheit auch nicht mehr gegen den zarten Hauch der Freude wehren konnte, dass er mich die ganze Zeit über gesucht und gefunden hatte.   ***   In Ciars Auto arbeitete die Heizung auf Hochtouren, heizte den Innenraum ordentlich auf. Nur für mich, weil ich so durchgefroren war, meinte er. Mir tat die Wärme überraschend gut, darum beschwerte ich mich nicht. Vielmehr war ich damit beschäftigt die Dose Cola zu trinken und aß dabei einen Müsli-Riegel aus dem Handschuhfach. Jeder Winkel meines Körper schrie förmlich vor Glück auf, so nötig hatte er es gehabt. „Guck auf die Straße“, murmelte ich mittendrin, noch kauend. „Mir zu helfen lohnt sich nicht, wenn du dann einen Unfall baust.“ „Ich will mich nur davon überzeugen, dass du wirklich isst und trinkst.“ „Sehe ich aus wie ein Kleinkind, das du beaufsichtigen musst?“ „Wer von uns wäre denn beinahe unter einer Brücke eingegangen?“, konterte Ciar, mehr angespannt als stichelnd. Schwerfällig zuckte ich mit den Schultern. „Ich fand's schön da.“ „Du bist ein grauenvoller Lügner.“ Danach lenkte Ciar den Blick zurück auf die Straße. Er fuhr mit mir irgendwo hin, wo wir unsere Ruhe hätten. Laut ihm suchten einige nach mir und von denen wollte er nicht gestört werden, wenn er mir seine Erklärung für alles lieferte. Wer mochten diese anderen sein? Faren? Kieran? Vincent? Ob es ihm inzwischen wieder besser ging? „Okay, hier sollte es gehen“, riss Ciar mich aus meinen Gedanken. Träge hob ich den Kopf und sah mich um. Wir standen mit dem Wagen nun mitten in dem bescheidenen Industriegebiet der Stadt, zwischen irgendwelchen Fabriken, die ich nicht kannte. Ich fragte mich, welcher Wochentag sein mochte, denn es sah alles schon dicht und verlassen aus. Möglicherweise weil es abends war, die Sonne hatte sich fast gänzlich verabschiedet. Interessiert sah ich ihn an. „Warum sollte mich hier keiner suchen?“ Woher wollte er das wissen? „Weil diese Gegend nicht zu den üblichen Orten gehört, an denen du dich für gewöhnlich herumtreibst“, behauptete Ciar, während er den Motor ausschaltete – es dürfte für die nächste Zeit eh warm genug bleiben. Zwar hatte er schon mal erwähnt, dass er mich angeblich ziemlich gut kannte, aber mir war immer noch nicht klar woher. Vor meiner Begegnung mit Kieran hatte ich nichts mit ihm zu tun gehabt. Oder war dieser Teil auch Opfer des Vergessens geworden? Wenn ich mich nicht mal an die Gesichter meiner Familie erinnerte, warum sollte es bei Ciar anders sein? Ciars leises Lachen zog meine Aufmerksamkeit wieder auf sich. „Schade, dass du dein Gesicht gerade nicht sehen kannst.“ „So sieht man nun mal aus, wenn man verwirrt ist.“ „Schon gut, ich bemühe mich, das zu ändern“, versprach er und lehnte sich im Sitz zurück, ohne sich abzuschnallen. Kurz schwieg er und starrte in die Ferne, bevor er weitersprach. „Mal sehen, wo fangen wir am besten an? Wie wäre es damit: Ich war eine Totgeburt.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)