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Between evil voices and innocent hearts

Weltenträume
von

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Ich bin ziemlich gut darin

Schnell waren die Tage zu Wochen herangewachsen, dann weiter zu Monaten. Endlich lagen der Sommer und die glühende Hitze für dieses Jahr hinter mir. Inzwischen hatte der Herbst sich seine Herrschaft erfolgreich zurückerobert und brachte die ersten kalten Temperaturen mit sich, in Form von extrem launischem Wetter. Innerhalb eines Tages wechselten sich Regenschauer, ein paar klägliche Sonnenstrahlen, stürmischer Wind und eine letzte Spur hauchzarter Wärme in wirrer Reihenfolge miteinander ab. Ein totales Desaster für die, die sich deswegen morgens nur schwer entscheiden konnten, was sie anziehen sollten – ein schönes Luxusproblem.

Falls ich mich nicht irrte, war Freitag, im Oktober. Das Wochenende lockte immer eine Menge frustrierte Arbeiter und idiotische Jugendliche hervor, arme Seelen die sich ordentlich die Birne mit Alkohol zudröhnen wollten. Ehrlich, verübeln konnte ich es ihnen nicht. Wäre ich schon alt genug dafür und müsste keine Standpauke oder gar Strafe fürchten, täte ich es auch. Unter Betrunkenen nüchtern zu sein nervte nämlich höllisch, aber Ciar und ich waren sowieso nicht zu dieser späten Stunde unterwegs, um zu feiern, also lohnte sich der Gedanke daran eigentlich nicht.

Es war kurz vor Mitternacht. Ich hielt mich in einem Teil der Stadt auf, wo die Gegend um diese Uhrzeit wahrlich einem Friedhof gleichkam, weil es hier nichts Interessantes gab, nur geschlossene Läden. Kleinere, etwas ältere Gebäude, eng aneinander gereiht, in denen es nicht mal für Einbrecher viel zu holen geben dürfte. Höchstens Trödel und andere Kleinigkeiten.

Alleine saß ich auf dem Bordstein des Fußgängerweges, dem sein Alter anhand der Risse und des daraus wachsenden Unkrautes anzusehen war. Statt einer Zigarette hatte ich einen Lutscher im Mund, den ich mit der Zunge hin und her schob, während ich abwesend geradeaus ins Nichts starrte. Einige Straßenlaternen sorgten für Beleuchtung, nur eine von ihnen in meiner Nähe flackerte die ganze Zeit unruhig, stand kurz vor ihrem Ableben. Natürlich war es ausgerechnet die, in deren Schein ich mich aufhielt.

Seit ich gezielt nach Echos suchte, hatte ich etwas Entscheidendes festgestellt: Nicht nur ich, sondern die gesamte Welt schien verdorben und verloren zu sein.

Momentan musste ich nur abwarten, bis etwas geschah. Darum bemerkte ich die Stimmen wieder umso deutlicher. Nachts hörte man sie am besten, die dunklen Gelüste der Menschen. Horrorfilme kamen mir im Vergleich dazu inzwischen wie Kinderkram vor, selbst jene, in denen es nur darum ging, auf brutalste Weise zu morden. Die Gedanken solcher Leute lebten, auf ihre ganz eigene Art. Jeder, der insgeheim irgendein schmutziges Verlangen in sich trug, war oft von der Richtigkeit und sogar Schönheit dieser Dinge überzeugt. Richtig beängstigend.

Angefangen bei Kriminellen bis hin zu einfachen Personen, deren Herzen durch Betrug oder andere Gründe mit Enttäuschung und Hass zu zerplatzen drohten, war alles dabei. Alles. Auch unschuldig erscheinende Kinder konnten schon die hässlichsten Vorstellungen und Wünsche mit sich herumtragen. Mit den Stimmen übertrug sich auch der Drang danach, dem entsprechenden Verlangen nachzugehen oder man erlebte die negative Emotion mit. Ich hörte solche Gedanken jeden Tag, überall. Sie waren gefährlich hypnotisierend und versuchten einen zu locken.

Auch aus der Ferne schien der Wind die Stimmen stets zu mir zu tragen. Einige nahm ich nur als unheilvolles Flüstern wahr, andere schrien mir regelrecht mein Innenleben aus dem Leib und ließen mein Gehirn taub werden. Täglich hatte ich mit abnormalen Ohrenschmerzen zu kämpfen und kontrollierte zu Hause jedes Mal, ob wirklich kein Blut aus ihnen floss, so schlimm fühlte es sich an. Tabletten halfen leider überhaupt nicht dagegen. Bislang wagte ich nicht, Ciar zu fragen, ob es bei ihm genauso war oder ich nur zu wehleidig reagierte.

Einen Vorteil hatte das Ganze aber durchaus: Dank all dieser Gedanken kam ich so gut wie gar nicht mehr dazu, mich mit mir selbst zu beschäftigen. Das war ein angenehmer Nebeneffekt, fand ich. So konnte ich erfolgreich Abstand zu mir selbst und meinen Problemen halten. Laut Vincent wirkte ich dadurch seit einiger Zeit erschreckend leblos. Wow, endlich bemerkte er das auch mal. Als wäre es nicht schon immer so gewesen.

Plötzlich begann der Boden spürbar zu zittern, ähnlich wie bei einem Lastwagen, der mit hoher Geschwindigkeit über die Straße rauschte. Schritte waren zu hören und übertönten bald schon jeden anderen Gedanken. Zu sehen war nichts, doch es hörte sich an wie eine große Herde aufgescheuchter Tiere auf der Flucht. Ihre Panik spiegelte sich in dem eisigen Gefühl wider, das wie ein feiner Windhauch um mich herum schlich und mich frösteln ließ.

„Halleluja“, murrte ich leise, leicht schmatzend, wegen dem Lutscher im Mund. „Das hat diesmal ganz schön lange gedauert.“

Während ich aufstand, erklang ein gleichmäßiges Ticken, gefolgt von einem Knall. Sekunden später regnete Licht von oben herab und schloss den Großteil der Umgebung in sich ein, wie ein schützender Vorhang, sanft und doch unerschütterlich – es blendete mich schon lange nicht mehr. Dies war mein Zeichen, nun konnte ich unbemerkt handeln. Da nur Ciar die nötige Waffe dafür besaß, um so einen stillen Raum zu erschaffen, musste ich stets darauf warten, bis er dies tat, und das Echo direkt in meine Arme trieb.

Mitten auf der Straße blieb ich stehen und wandte mich in die Richtung, aus der ich den Feind erwartete. Wenige Meter hinter mir hatte der Asphalt sich zu einer zähen, gräulichen Flüssigkeit gewandelt, die in einen endlos tiefen Abgrund hinabfloss, wie ein Wasserfall mitten im Nirgendwo. Je mächtiger das Echo, desto mehr verzerrte ihre bloße Anwesenheit die Welt um sie herum. Zumindest die Ebene, die normale Menschen nicht sehen konnten.

Diesmal schien es sich zur Abwechslung wieder um ein stärkeres Exemplar zu handeln. Aus den Laternenpfählen waren eiserne Ketten geworden, an deren Ende ein runder Gitterkäfig nach oben baumelte, als stünde die Welt gerade auf dem Kopf. Darin waren übergroße Augäpfel eingesperrt. Trotzdem blieb die Funktion als Lichtquelle erhalten, denn aus ihren Pupillen drang ein konzentrierter Lichtstrahl hervor, wie bei einer Taschenlampe. Sie drehten sich nervös im Kreis, wodurch sich auch die Beleuchtung ständig änderte. Interessant war, das sich das Licht farblich jeweils der Iris der Augen anpasste. Grün, blau, braun, rot … ich kam mir ein bisschen so vor wie in einer Disco, nur ohne Musik.

Aus den zahlreichen Schritten wurde ein schweres Stampfen. Am Ende der Straße vor mir erschien das Echo, ein klobiger Riese, dessen Körper und Gliedmaßen nicht wie gewohnt dürr, sondern dick und kräftig aussahen. Durch den Teer, aus dem er bestand, wirkten seine Bewegungen jedoch so gummiartig, dass es eher lächerlich als einschüchternd war. Glühendes Feuer brodelte in den zwei Augenhöhlen. Heißer Dampf stieg vom Körper des Echos in die Luft auf und brachte sie so sehr zum Flimmern, dass der Himmel Risse bekam und zu zerbrechen drohte.

Der Riese hielt sich bei jedem Schritt mit den unförmigen Händen an den Dächern der Häuser fest, so groß war er. An den Fenstern erschienen nach und nach abgemagerte, splitternackte Menschen, aufgeweckt von den Erschütterungen. Panisch schlugen sie mit den Fäusten gegen das Glas, so lange, bis sie erschöpft zusammenbrachen oder es schafften, das Hindernis zum Zersplittern zu bringen und nach draußen zu stürzen, auf den Boden, wo sie anschließend von den Füßen des Echos zerdrückt wurden. Nur eine Illusion, diese Wesen waren ein Bestandteil der Verzerrung.

Du bist ein Nichts!, brüllte das Echo laut, grub sich in meinen Kopf hinein, wie ein Hammerschlag. Zu nichts imstande! Zu nichts zu gebrauchen! Niemand will so jemanden wie dich! Wenn du reumütig darum bettelst, zerquetsche ich dich schnell und schmerzlos.

Gelangweilt rollte ich mit den Augen und nahm den Lutscher aus dem Mund. „Bla bla bla. Da habe ich schon weitaus schlimmere Dinge gehört, die meinen Kopf gefickt haben. Also gib dir keine Mühe.“

Erneut fing das Echo an zu brüllen, was diesmal nur zu einem bestialischen Laut führte, der mit einem heftigen Windstoß einherging und mich tatsächlich von den Füßen fegte, über den Abgrund hinweg. Der Lutscher wurde mir aus der Hand gerissen und flog davon. Wie ein Virus breitete sich der pochende Schmerz in meinen Ohren aus und drang weiter vor, brachte in mir alle verzweifelten Gedanken zum Blühen. Darüber konnte ich aber nur müde lächeln.

„Ich hab eh schon aufgegeben, da bringt dir auch das nicht mehr viel. Aber den Verlust meines Seelenfutters verzeihe ich dir nicht. Cola ist verdammt schwer zu bekommen, weil es oft ausverkauft ist, weißt du?“

Obwohl ich wie ein Stein ins Ungewisse stürzte, spürte ich keinerlei Wind mehr, nichts. Mein Haar und meine Kleidung bewegten sich nicht mal, schienen steif geworden zu sein. Der Wasserfall sollte offenbar wirklich ins Nichts führen und löschte jegliche Existenzen aus. Jedenfalls begann meine Haut unangenehm zu kribbeln und zu brennen, was mich zum Handeln zwang, statt noch mehr Small-Talk zu betreiben.

Echo!“, rief ich nach oben. „Ich will dein Herz!

Druck entstand auf meinem Körper. Hier sollten vermutlich auch keinerlei Töne entstehen können, doch dank meiner Fähigkeiten hatte ich dieses Hindernis überwunden und somit die Gesetze dieses Ortes ins Schwanken gebracht, die Welt verkrümmte sich. Zeit genug blieb mir noch.

Blaue Energie strömte aus meinem Körper und formte geschwind das Schwert, mit dem ich mein erstes Echo vernichtet hatte. Da ich den Griff schon in meiner rechten Hand spürte, noch bevor die Waffe vollständig erschienen war, führte ich einen kräftigen Hieb nach unten aus, woraufhin ein Teil der Energie wie Funken von der Klinge absprang und mich dieser Rückstoß wieder nach oben katapultierte.

Am Rande des Abgrundes erwartete mich der Riese aus klebrigem und kochendem Teer, der mich zu packen versuchte, als ich wie ein Pfeil zurückgeschossen kam, doch er war zu langsam und unkoordiniert. Seine Hände streiften mich nicht mal.

Schweig!“, befahl ich, ehe das Echo auf die Idee kommen könnte, mich mit irgendwelchen Tricks doch noch beeinflussen zu wollen. „Und halt still!

Mit den Füßen sprang ich vom Himmel ab, der gläsernen Decke dieser verzerrten Welt, und hinterließ neue Risse, als ich mich auf das Echo stürzte. Meine Klinge bohrte sich zuerst in die Stirn des Echos hinein und glitt durch die Substanz wie durch Butter. Kurz darauf versank auch mein eigener Körper komplett im Teer. Sofort bekam ich keine Luft mehr, die Hitze versuchte mich zu zerfressen. Wie ein Magnet zog es mein Schwert zum Herzen, weshalb es gierig tiefer vordrang, zusammen mit mir, denn ich ließ den Griff nicht los.

Bald entstand ein aufgeregtes Tuscheln in meinem Inneren, das von den Herzen ausging, die ich bereits in mir trug. Sie verkündeten, ich sei ganz nahe dran. Tatsächlich stieß die Klinge auf einmal gegen einen festen Widerstand. Gleichzeitig gab der Riese ein leidvolles Stöhnen von sich und verkrampfte, was ich daran merkte, dass der Teer sich etwas verhärtete.

Dadurch wurden meine Bewegungen etwas eingeschränkt, doch ich sammelte einen kurzen Augenblick Energie an, bevor ich mit aller Kraft blind zuschlug. Ein seltsam melodisches Klirren verriet, dass ich Erfolg hatte. Erfüllt von Energie vibrierte der Griff in meinen Händen lebhaft und löste einen wohligen Schauer bei mir aus. Langsam verlangten meine Lungen wieder nach Luft. Noch einmal holte ich mit dem Schwert aus und zerstörte mit dem nächsten Angriff das Herz endgültig.

Bunte, fluoreszierende Farben platzten hervor, sogen die schwarze Masse in sich auf, bis sie verschwunden war. Statt noch einmal zu fallen, stand ich bereits sicher mit beiden Füßen auf dem Boden, mitten auf der Straße. Genau dort, wo ich auf das Echo gewartet hatte. Langsam öffnete ich die Augen. Keine Spur von Teer war an mir zu entdecken und ich konnte problemlos atmen, als sei nichts passiert. Man könnte meinen, ich wäre nur kurz eingenickt und hätte einen Alptraum durchlebt, der sich real angefühlt hatte.

Das Schwert in meinen Händen sagte aber etwas anderes. Ruhig pulsierte es in der Klinge, bläulich schimmerte die Energie nach außen. Ein schöner Anblick, ebenso wie die unzähligen kleinen Würfel, die nach unten schwebten und jede einzelne Farbe dieser Welt zu zeigen schienen. Auch die Verzerrung der Welt hatte nachgelassen, alles sah wieder normal aus. Unspektakulär gewöhnlich und langweilig, nahezu friedlich. Nicht mal das Licht der einen Laterne flackerte mehr, weil die Glühbirne durchgebrannt sein musste.

„Du bist immer viel zu waghalsig“, kritisierte mich Ciar. Er tauchte hinter mir auf, seine Gestalt schälte sich aus der Dunkelheit hervor. „Ich habe dich doch darum gebeten, möglichst nicht mehr mit den Echos derart in Körperkontakt zu kommen.“

Ich ließ einfach das Schwert los, um unschuldig die Hände heben zu können. „Bist du eifersüchtig oder was? Beschwere dich mal nicht, ich gewinne jedes mal. Echos zu verkloppen liegt mir eben. Ich bin ziemlich gut darin.“

Während das Schwert sich in der Luft schwebend auflöste, trat Ciar neben mich und warf mir einen strengen Blick zu. „Da widerspreche ich dir nicht, du bist gut. Das ist aber kein Grund, übermütig zu werden.“

„Ha, das sagst ausgerechnet du?“, gab ich zurück. „Gerade du bist die Übermütigkeit in Person.“

Mir steht das ja auch.“

„Angeber.“

„Du bestreitest es nicht mal.“

Empört fing ich den ersten roten Würfel auf, der sich gebildet hatte, und wandte mich dabei von ihm ab. „Bringt bei dir eh nix.“

Echos wie dieser Riese hinterließen meistens mehrere Herzen, was bedeutete, dass mindestens zwei solcher Wesen miteinander verschmolzen waren, damit sie stärker und größer wurden. Mich erschreckten solche Exemplare nicht mehr. Wusste man, wo die Schwachstelle lag, ließen sie sich alle erstaunlich leicht fertig machen. Zusätzliche Ausbeute war aber gern gesehen.

„Fein, dann trennst du nächstes Mal das Echo vom Opfer, wenn du denkst, das sei einfacher, als der Kampf gegen sie“, stichelte Ciar, der einen anderen roten Würfel auffing.

„Du hast selbst gesagt, das geht ohne diese spezielle Waffe, die du hast, nicht.“

„Es ist nicht unmöglich, aber dann sehr riskant und gefährlicher.“

„Lass gut sein, ich mag es so, wie es ist“, gestand ich, den Blick auf das schwach glühende Herz gerichtet, das ich in der Hand hielt.

Insgesamt konnten wir durch dieses Echo vier Herzen einkassieren, nachdem wir eine Weile darauf warten mussten, bis auch der letzte Würfel sich stabilisiert hatte und von den restlichen absetzte. Für jeden zwei Stück, so blieb uns der Streit darum erspart. Meistens überließ ich es aber sowieso lieber Ciar, die Dinger zu schlucken. Mir war das Brennen im Hals auch nach all der Zeit noch zu unangenehm, derart scharf war ich auf die Macht also nicht.

„Soll ich es dir leichter machen?“ Der verführerische Unterton in Ciars Stimme machte mich sofort misstrauisch. „Ich kann dir die Herzen gerne über Mund-zu-Mund verabreichen~.“

„Wow“, reagierte ich trocken und schielte zu ihm. „Du stehst echt auf so etwas, wie?“

„Ja“, antwortete Ciar ungeniert ehrlich, ein verspieltes Grinsen auf dem Gesicht. „Beim Küssen gibst du wenigstens keine Widerworte.“

Enttäuschung flackerte in mir auf. Rasch löste ich den Blick von ihm und warf mir einen Würfel in den Mund, wobei ich schon die ersten Schritte nach vorne machte, weg von Ciar. Da er mir sogleich folgte, brachte diese unbeholfene Flucht nicht viel. Vorerst blieb das Gespräch aber beendet, denn Ciar schluckte beim Laufen ebenfalls seinen Anteil der Beute. Niemals verzog er das Gesicht dabei, obwohl es sich wie Feuer anfühlte, das die Speiseröhre verbrannte.

Im Gleichschritt gingen wir die Straße entlang, wie in vielen Nächten zuvor. So lief es in der Regel immer ab. Ciar war derjenige, der die Echos auswählte und sie von den Menschen trennte, um mich schließlich den Gnadenstoß ausführen zu lassen. Derweil glaubte unser Umfeld, ich würde schlicht bei Ciar übernachten und mit ihm im Bett liegen. Unser Schauspiel verlief besser, als ich damals erwartet hätte. Nicht jeder war von unserer Beziehung begeistert, doch sie kauften es uns ab.

Wahrscheinlich lag es daran, dass Ciar es sichtlich zu genießen schien, mich vor anderen wie die Liebe seines Leben zu behandeln. Manchmal glaubte ich ihm das sogar selbst. Er war nämlich jemand, dem es nicht zu peinlich war, sämtliche Gedanken laut auszusprechen, wofür ich ihn irgendwie zu schätzen gelernt hatte. An ihm könnte Vincent sich ein Beispiel nehmen. In Ciars Gesellschaft fühlte ich mich irgendwie … sicher.

Neben seiner direkten Art war dessen Selbstsicherheit wie ein Schild, von dem alles abprallte. Egal, wann uns jemand einen abschätzigen Blick zuwarf oder die Leute über uns tuschelten, ihm gelang es spielend, mich und sich in das bessere Licht zu rücken und den Rest der Welt dämlich dastehen zu lassen. Leugnen konnte ich es nicht: Ich mochte seine Nähe. Mir kamen die Tage, an denen ich ihn an meiner Seite hatte, nur noch halb so schlimm vor.

Fuck, hör auf durchzudrehen, zischte ich meinem Herzen zu, das etwas schneller schlug. Ich bin für ihn nur ein Mittel zum Zweck. Genau wie für Vincent. Niemand interessiert sich wirklich für mich.

Außerdem wollte ich nicht riskieren, in Ciar am Ende doch noch einen Ersatz für Kieran zu sehen – Himmel, hatte ich das in den Sitzungen schon oft mit Vincent durchkauen müssen. Jeder war besser dran, wenn ich mir keine Hoffnungen machte. Ciar wollte nur seine eigenen Ziele erreichen und genoss es dabei, mich nebenher zu ärgern. Mehr war nicht zwischen uns. Alles nur Schauspiel.

„Für heute machen wir Schluss“, kündigte er plötzlich an. „Gehen wir nach Hause, sonst schaffen wir es nicht mehr rechtzeitig. Wir bekommen Probleme, wenn man uns nicht zusammen bei mir im Bett auffindet.“

„Jaja, weiß ich.“ Unbewusst strich ich mir mit der Hand über den Hals. „Setz mich lieber pünktlich morgen früh zu Hause ab, sonst haben wir wirklich ein Problem.“

Und zwar mit Vincent. Seit meinem Ausbruch im Bad – wegen dem es dort keinen Spiegel mehr gab – vor einigen Monaten, war er strenger und aufmerksamer geworden als zuvor. Das Zusammenleben mit ihm war dadurch richtig anstrengend. In jeder Kleinigkeit entdeckte Vincent irgendwelche Hinweise auf meinen seelischen Zustand und bat mich mindestens an vier Tagen in der Woche ins Sprechzimmer. Kein Wunder, dass ich diese nächtlichen Streifzüge mittlerweile herbeisehnte.

„Stopft er dich immer noch mit diesen Tabletten voll?“

„Ja“, seufzte ich genervt. „Die machen manchmal echt groggy.“

„Super, Vincent ist also nicht besser als andere Therapeuten. Die stellen ihre Patienten einfach ruhig, sobald sie keinen anderen Ausweg mehr sehen.“

„Dabei hast du mal gesagt, man soll nicht so schnell über ihn urteilen.“

„Ich sagte, dass du das nicht tun sollst“, korrigierte Ciar mich. „Mich stört der Kerl trotzdem.“

„Egal, ich will nicht über ihn reden.“

Ich hatte Vincent mal gemocht, darum zerriss es mich innerlich nach wie vor, dass er zum Echo-Institut gehörte. Zum Glück waren die dort noch nicht auf uns aufmerksam geworden. Niemand hielt uns von der Jagd ab, weil keiner etwas davon mitbekam. Ciar wusste genau, was er dafür tun musste. Er durchdachte seine Taten unheimlich genau und wusste gut über seine Feinde Bescheid. Beeindruckend.

„Na schön: Was willst du morgen zum Frühstück essen?“, wechselte Ciar das Thema.

„Kakao und Joghurt reicht“, lautete meine Antwort.

Nur von Eis konnte ich mich nicht mehr ernähren. Seit einigen Wochen aß ich deshalb etwas mehr, vor allem auf Befehl von Ciar. Für den Kampf gegen Echos sollte ich anständig essen, nicht ausgehungert sein. Aß ich am Tag zuvor nicht genug, verweigerte er auf die darauf folgende Nacht die Jagd nach Echos mit mir. Wie gesagt, der Kerl dachte eben an alles.

„Nimm noch ein Weißbrot mit Nutella dazu, dann bin ich zufrieden“, forderte er.

„Meinetwegen.“ Ich schluckte den zweiten Würfel herunter, würgte ihn mir vielmehr zwanghaft in den Hals. „Aber keine Knutscherei am Tisch, nur um vor deiner Familie mit deinem erfüllten Liebesleben anzugeben.“

Ciar lachte amüsiert, kein bisschen verstellt oder hinterhältig. „Sorry, Ferris, das kann ich dir nicht versprechen.“

 
 

***

 

„Ich bin wieder da!“, rief ich monoton, als ich das Haus betrat.

Wie vereinbart war ich pünktlich am nächsten Morgen zurück an dem Ort, wo Vincent mich haben wollte. Zu Hause. Auf meinen Lippen verflog gerade noch das warme Gefühl von dem Kuss, den Ciar sich vor der Tür nicht hatte verkneifen können. Wie ernst konnte man so etwas eigentlich nehmen? Wir hätten uns ganz normal verabschieden können, niemand war da gewesen. Vielleicht war Ciar auf Nummer sicher gegangen, falls Vincent am Fenster gestalkt hätte.

Achtlos befreite ich mich von den Schuhen und der Jacke, noch bevor die Tür mit einem Knall ins Schloss fiel. Sinn für Ordnung hatte ich bislang noch nicht entwickelt, trotz Vincents Bemühungen, mir die Wichtigkeit davon klarzumachen. Solange ich das Zeug dort ließ, wo es hingehörte, war es in meinen Augen egal, ob sie chaotisch herumlagen. Kleinlich zu sein nervte mich.

„Hallo?!“, machte ich erneut auf mich aufmerksam. „Vincent?! Hast du gehört? Ich bin da!“

Keine Antwort. Toll, von mir verlangte er, mich ständig schön artig bei ihm an- und abzumelden, und detailliert zu diktieren, welche Aktion ich als nächstes durchführen wollte, aber er selbst konnte nicht mal eben bestätigen, mich gehört zu haben. Langschläfer war er nicht, er musste schon wach sein. Ich wollte mich gleich nochmal ins Bett legen und weiterschlafen, für mich war diese Uhrzeit viel zu früh zum Aufstehen. Erst recht wenn man nachts heimlich Echos jagte.

Vor Müdigkeit entsprechend genervt, suchte ich die Räumlichkeiten nach Vincent ab. Zuerst die Küche, dann das Wohnzimmer und schließlich das Sprechzimmer. Nichts. Nirgendwo war er zu finden. Stirnrunzelnd sah ich danach zur Vorsicht auch in seinem Schlafzimmer nach, wo das Bett leer war und gänzlich unberührt aussah, wie erwartet. War Vincent etwa gar nicht zu Hause?

Wahrscheinlich ist er schnell was einkaufen gegangen, vermutete ich, dennoch irritiert.

Also brach ich meine Suche nach ihm ab und steuerte das Badezimmer an, für einen kurzen Toilettengang, ehe ich mich ins Bett verzog. Erst dachte ich mir nichts dabei, dass die Tür halb offen stand, sondern schlüpfte gähnend in den Raum hinein und wollte sie hinter mir schließen, doch ich hielt inne. Sekunden verstrichen, in denen ich neben mir stand, weil ich nicht glauben konnte, was ich dort sah.

„Vincent?!“, stieß ich dann erschrocken aus.

Es sah so aus, als wäre er zusammengebrochen. Er lag halb auf dem Boden, neben der Dusche, wo er versuchte haben musste, sich beim Sturz festzuhalten, denn ein Arm lag zum Teil im Becken. Sein Kopf hing schlaff nach unten, dicht an seiner Brust. Auf dem Toilettendeckel lag zerwühlt die Jacke seines Anzuges, er trug nur noch das weiße Hemd, das durchnässt aussah. Als ich zu ihm eilte, bemerkte ich, dass er sehr stark schwitzte.

Überfordert kniete ich mich neben ihn und griff vorsichtig nach seiner Schulter, um ihn zu schütteln. „Hey, Vincent, was ist passiert? Wach auf.“

Keine Reaktion, er war bewusstlos. Sein schwerer Atem versicherte mir aber, dass er am Leben war, was mich beruhigte. Zögerlich berührte ich seine Stirn. Glühend heiß. Hatte er Fieber? Auf jeden Fall stimmte etwas nicht mit ihm, ich musste Hilfe holen. Am besten einen Krankenwagen. Lange ratlos zu versuchen, ihn aufzuwecken, brachte ihn womöglich sonst erst recht in Lebensgefahr.

„Okay, okay. Ich mach das schon, keine Sorge“, wollte ich mehr mich selbst zur Ruhe treiben, doch die Nervosität ließ meine Stimme zittern. „Einen Moment.“

Hastig bemühte ich mich, mein Handy hervorzuholen. Das von Vincent lag mitten auf dem Boden im Bad. Ob er versucht hatte, selbst Hilfe zu holen? Besorgt sah ich ihn an, nachdem ich fix die Nummer für einen Rettungswagen gewählt hatte und ungeduldig wartete, dass jemand meinen Anruf entgegen nahm. Jede Sekunde zog sich in die Länge, es machte mich wahnsinnig. Wie von selbst passte ich mich Vincents Atemrhythmus an.

Dann sah ich es. Der erste Knopf vom Hemd stand offen und entblößte etwas, von dem ich bislang nicht mal etwas geahnt hatte. Kein Wunder, Vincent trug niemals etwas mit kurzen Ärmeln oder weitem Ausschnitt. Sein Anzug diente dazu, etwas darunter zu verbergen, ohne es offensichtlich werden zu lassen. Es sprang nämlich sonst sofort ins Auge.

Verbrennungen.

Schwere Verbrennungen zogen sich über seine Brust.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Flordelis
2017-12-12T20:29:34+00:00 12.12.2017 21:29
Nachdem ich mein Eis gegessen habe, geht es mal weiter~.

> Endlich lagen der Sommer und die glühende Hitze für dieses Jahr hinter mir.
Das ist immer die schönste Zeit. Man lernt, die Kühle und den Regen wirklich zu schätzen. <3

> ein schönes Luxusproblem
Mann, Ferris. >_>
Jeder geht halt anders mit Problemen um. Oder hast du dich schon um die hungernden Kinder in Afrika gekümmert? ಠ_ಠ

> Unter Betrunkenen nüchtern zu sein nervte nämlich höllisch
Deswegen halte ich mich stets von Betrunkenen fern.
Kieran: Versuche ich auch meistens, aber es funktioniert nicht immer.
Faren: *setzt sein Bier ab* Was? °_°

> Höchstens Trödel und andere Kleinigkeiten
Wenn du genug davon zusammen hast, kannst du den Trödeltrupp anrufen.
Deswegen lohnt sich das immer. :3
Faren: Hoffentlich kommt Sükru. =D

Jetzt hätte ich auch gern einen Lutscher. :,D

> Nicht nur ich, sondern die gesamte Welt schien verdorben und verloren zu sein.
Das war die Welt schon immer, hat noch nie jemanden davon abgehalten, Nachwuchs zu bekommen.
Ciar: Tss, was ist das denn für eine Argumentation?
Faren: Was ist denn "zerstören wir alles" für eine?
Ciar: Wenigstens eine definitive. Nicht so wischi-waschi wie eure liberale Einstellung.
Faren: Du bist ein echter Vollidiot.

Precious tut mir voll leid. Er hört dauernd diese Stimmen, das muss voll anstrengend sein.

> Dank all dieser Gedanken kam ich so gut wie gar nicht mehr dazu, mich mit mir selbst zu beschäftigen.
Wenn man das ganze in einem anderen Kontext betrachtet, klingt das voll ... zweideutig. :,D
Kieran: Dir ist nicht mehr zu helfen.
Alo: Doch, klar. Mit Eis ist mir z.B. immer geholfen. ^^
Kieran: *seufz*

Das hier ist das Kapitel, in dem ich mir immer voll Sorgen um Precious machen muss. >_<
Dabei muss man sich eh schon oft Sorgen um ihn machen. Man hat es nicht leicht mit ihm. D;
Faren: Ist das aber nicht das Schöne an ihm? <3

Ich finde den gesamten Kampf, von Ciars Skill bis zum Ende einfach nur super-awesome. <3
Ferris ist einfach total edgy in dieser Szene und da ist er so ultra! <3
Ich liebe ihn ja immer, aber in diesem Kampf ist er auch noch anbetungswürdig. <3
Faren: *grummelt leise*

Awwww, dieser Schlagabtausch zwischen Ciar und Ferris ... Liebe! <3
Faren: *grummelt noch mehr* >_<
Kieran: *tätschelt Faren*

> „Ich kann dir die Herzen gerne über Mund-zu-Mund verabreichen~.“
Hrhrhrhrhrhrhrhrhrhr~
Ich liebe deinen Ciar total. X3

> „Beim Küssen gibst du wenigstens keine Widerworte.“
Das ist auch mal eine interessante Ansicht. XD
Kieran: *schaut misstrauisch zu Faren*
Faren: Ich finde es auch besser, wenn du da keine Widerworte gibst. ;3
Kieran: ...
Faren: Oh Gott, ich stimme mit Ciar überein. >_>

> Er war nämlich jemand, dem es nicht zu peinlich war, sämtliche Gedanken laut auszusprechen
Na ja, vermutlich gibt es doch einige Dinge, die Ciar nicht aussprechen will. :,D
Ciar: Das verrate ich aber sicher nicht.
Alo: Sage ich doch. XD

Awwwwwwwww, Ferris ist in Ciar verknallt. <3

Ich liebe es, wenn Ferris und Ciar miteinander interagieren. So schön. <3
Faren: ~_~

Und dann die Sache mit Vincent ... TT_____TT
Du weißt wirklich, wie man Cliffhanger setzt.

In diesem Kapitel hast du schön gezeigt, wie man Aktion und Telling sehr schön miteinander verbinden kann, damit man auch etwas von den Hintergründen erfährt, die vor sich gehen, aber ohne sich zu langweilen.
So ist der Leser darüber aufgeklärt, was in den letzten Wochen geschehen ist und wie das Leben der beiden gerade verläuft, ohne einfach nur einen Flashback einzusetzen.
Gute Arbeit, Liebes. <3


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