Between evil voices and innocent hearts von Platan (Weltenträume) ================================================================================ Kapitel 12: Ich brauche erst mal Abstand ---------------------------------------- „Du solltest wirklich lieber die Jacke überziehen“, bekam ich von der Seite zu hören. „Heute Morgen ist es überraschend kühl. Ich möchte nicht, dass du dich erkältest.“ „Und ich möchte das selbst entscheiden können“, wies ich diesen Rat ab. „Du bist mein Therapeut, nicht mein Vater.“ Vincent seufzte leise, einer seiner seltenen emotionalen Momente, das allerhöchste der Gefühle. „Diese Diskussion hatten wir schon oft genug, Ferris. Es ist nicht entscheidend, in welcher Form ein Mensch zu einer anderen Person steht. Der Titel ist nicht wichtig, wenn man sich um jemanden sorgt.“ „Erspare mir solche Vorträge, ich bin noch viel zu müde dafür.“ Ich ahmte sein Seufzen nach, reichlich genervt. „Ich bin nicht aus Zucker und will keine Jacke. Punkt.“ Anscheinend tat Vincent aber gerne so, als wäre er mein Vater, oder vielmehr eine übertrieben fürsorgliche Mutter. Obwohl ich ihm vor unserem Aufbruch klar und deutlich gesagt hatte, dass ich keine Jacke bräuchte, trug er sie trotzdem bei sich, nur um sie mir eventuell doch noch andrehen zu können. Sie hing über Vincents rechter Schulter, beinahe peinlich lässig. Manchmal kam er mir um einiges sturer vor als ich. Ironischerweise war Vincent, wie gewohnt, in seinem Anzug unterwegs. Ohne Jacke, wohlgemerkt, als könnte dieses Business-Outfit ihn bereits ausreichend vor Kälte schützen, mein langärmeliges Shirt aber nicht. Mittags käme ohnehin die Sonne wieder heraus und würde versuchen mich wie ein Spiegelei zu brutzeln, also war dieses Theater vollkommen überflüssig. „Ich trage die Verantwortung für dich.“ Vincent redete weiter, dabei hatte ich das Gespräch eigentlich schon für beendet erklärt. „Darum-“ „Mein Beileid.“ „Ferris ...“ „Ich sag schon Bescheid, wenn mir kalt ist, okay?“, wehrte ich ab. „Sei damit zufrieden, mehr biete ich nicht an.“ Mir war bewusst, wie frech ich mich gerade verhielt. Damit folgte ich nicht sonderlich erfolgreich Ciars Forderung, mich gegenüber Vincent möglichst normal zu verhalten. Für den war ich nur ein lästiger Job von vielen, den er vergessen konnte, sobald er ihn erledigt hatte. Wie sollte ich mit diesem Wissen bei seiner heuchlerischen Fürsorge nicht zickig reagieren? Völlig unmöglich. Wenigstens blieb Vincent vorerst still, so dass wir den restlichen Weg halbwegs entspannt hinter uns bringen konnten. Er begleitete mich an diesem Tag zu Faren. Vor genau einer Woche war es das letzte Thema in meiner Unterhaltung mit Ciar gewesen, bevor er mich endlich ziehen gelassen hatte. Ich sollte versuchen meinen Kontakt zu Faren einigermaßen wieder zu stabilisieren, um dem Echo-Institut keinen Grund zu geben, mich noch gründlicher im Auge behalten zu müssen. Da ich derjenige gewesen war, den Faren nach seinem Gedächtnisverlust als erstes zu Gesicht bekommen hatte, bot das natürlich den perfekten Nährboden für Misstrauen, was meine Person betraf. Mich interessierte es sowieso, wie es Faren inzwischen ging, deshalb störte es mich nicht, ihn zu besuchen. Vincents Begleitung kam mir um einiges schlimmer vor. Laut ihm konnte ich frische Luft und etwas Bewegung gut gebrauchen, darum waren wir zu Fuß unterwegs. Auch mein Schlafrhythmus musste langsam in Ordnung gebracht werden, behauptete er, darum hatte ich mich früh morgens aus dem Bett quälen müssen. Dabei schlief Faren an seinen freien Tagen auch immer bis zum Mittag. Welcher Wochentag war überhaupt? Keine Ahnung, mein Zeitgefühl war total im Arsch. Wenn man keinen Pflichten nachgehen musste, wie Schule oder Arbeit, verlor Zeit schnell an Bedeutung. Jeder Tag gehörte voll und ganz mir, was auch dem Wochenende die sonstige Wertschätzung nahm. In meinem Leben herrschte absoluter Stillstand. Dank Ciar und der Jagd nach Echos bald vielleicht nicht mehr, wie ich insgeheim hoffte. Ciar … dieser Penner, dachte ich halbherzig. Vor einer Woche, noch am selben Tag unserer Unterhaltung, war ich von ihm an der Haustür mit einem weiteren Kuss – ohne Absprache oder Vorwarnung – verabschiedet worden, vor den Augen aller Anwesenden. Kieran, seine Schwester Reni und Vincent, sie hatten es alle gesehen. Wir waren also seitdem offiziell ein Paar, bevor ich darüber nochmal in Ruhe hätte nachdenken können. Ausgerechnet von jemandem wie Ciar hätte ich solch eine absurde Tarnung nicht erwartet. Ab jetzt konnte er als schwul abgestempelt werden, worunter seine Männlichkeit mit Sicherheit furchtbar leiden dürfte. Wahrscheinlich hatte er das nicht weit genug durchdacht, aber es war zu spät. Nun musste er mit diesem Stempel und dem Spott anderer Leute leben, so wie ich mit meinem verkümmerten Zeitgefühl. „Wir sind da“, merkte Vincent an, weil ich tief in Gedanken versunken war. Tatsächlich, wir standen vor dem gut gepflegten Gebäude, in dem Faren mit seiner Familie in einer der recht günstigen Wohnungen lebte. Traurigerweise fühlte es sich so an, als wäre ich zum ersten Mal hier, aber dem war nicht so. Vor wenigen Monaten hatte ich noch ziemlich oft bei Faren übernachtet, doch das kam mir in diesem Augenblick alles nur noch wie eine Illusion vor. Hatten wir uns wirklich nicht nur draußen verabredet und zusammen etwas unternommen? An meiner Stelle übernahm Vincent das Klingeln, vermutlich damit ich es mir nicht einfach anders überlegte und plötzlich kehrt machte. Kurz darauf gab uns ein schriller Ton zu verstehen, dass wir eintreten konnten. Ciar und alles andere waren sofort vergessen, nachdem ich den ersten Schritt ins Innere wagte. Einige Treppenstufen mussten noch überwunden werden, bis dahin hatte ich also Zeit, mich innerlich auf das Folgende vorzubereiten. Wäre Faren genauso wie sonst? Hatte er sich wegen meines dummen Fehlers verändert? Falls ja, wüsste ich nicht, wie ich damit zurechtkommen sollte. Deswegen wurde ich ungewohnt nervös, je näher ich der Wohnung der Howes kam. Schon vor meinem ersten Wortwechsel mit Faren schien nichts mehr so zu sein wie vorher. Meine vorgetäuschte Beziehung mit Ciar und die Echos … womöglich war eher ich selbst dadurch so anders, dass Faren mich nicht mehr leiden könnte – genau das wäre ideal. Unbewusst lief ich langsamer, um Vincent vorgehen zu lassen, und mich hinter ihm verstecken zu können. In diesem Moment war seine beachtliche Körpergröße wahrlich praktisch. Im dritten Stockwerk angekommen, erwartete uns bereits Faren persönlich an der Wohnungstür. Mit einer Hand hielt er sich am Rahmen fest und lehnte sich weit nach draußen, als wollte er auf keinen Fall etwas verpassen. „Ah, da seid ihr ja!“, begrüßte Faren uns munter, voller freudiger Erwartung. Seine Haare waren noch offen und sahen zerwühlt aus, er war sicherlich gerade eben erst aus dem Bett gefallen. Durch sein positives Strahlen gelang es ihm dennoch fit und unverschämt gut auszusehen. Dieser Zauber verblüffte mich jedes Mal. „Guten Morgen, Faren“, erwiderte Vincent den Gruß. Behutsam schob er mich etwas mehr nach vorne, so dass ich besser sichtbar war. „Das hier ist-“ „Ferris!“, platzte es aus Faren heraus, der sofort meine Hände nahm und sie enthusiastisch schüttelte. „Alter, ich hab haufenweise Fotos und Nachrichten von dir auf meinem Handy! Ich konnte es kaum erwarten, dich endlich wiederzusehen. Letztes Mal bist du ja abgehauen, aber diesmal ist alles cool, ja?“ Auf einmal kam ich mir wie ein unbeholfenes Kind vor. „Ähm, ich weiß nicht. Ich meine, ja, ich denke schon ...“ „Awesome, dann kommt mal rein~“, bat Faren lächelnd. Vorsichtig zog er mich direkt mit sich und überließ es Vincent, die Tür hinter sich zu schließen, nachdem er ebenfalls dankend eingetreten war. Zielstrebig führte Faren mich durch die Wohnung, geradewegs zu seinem Zimmer, wie mir auffiel. Unterwegs kamen wir an der Küche vorbei, wo er kurz innehielt und sich an Vincent wandte. „Du lässt mir doch sicher etwas Zeit alleine mit meinem Bro, oder? Setz dich ruhig solange zu Mum und Dad, die geben dir bestimmt auch einen Kaffee.“ Ich beugte mich ein wenig zurück, um einen Blick in die Küche erhaschen zu können. Am Essenstisch saß eine Frau mit langen, schwarzen Haaren und blasser Haut, sie wirkte etwas zu mager. Vor ihr lag eine aufgeschlagene Zeitung, auf der ihr Blick ruhte, während sie genüsslich hin und wieder einen kleinen Schluck aus ihrer Tasse nahm. Das war Luna, Farens Mutter. Sie war keine Freundin vieler Worte, strahlte dafür jedoch eine harmonische Ruhe und Gelassenheit aus. Darren, Farens Vater, redete dagegen immerzu. Äußerlich sah er seinem Sohn ziemlich ähnlich, hatte ebenso braunes Haar, aber grüne Augen, in denen das Leben selbst zu leuchten schien. Von ihm musste Faren diesen unerschütterlichen Optimismus geerbt haben, denn Darren war der Inbegriff von Positiv. Lebensfroh, aber ein bisschen tollpatschig. Jedes Problem und alle schweren Zeiten lächelte er einfach glücklich weg. „Komm schon, Richard, bitte, bitte, bitte, tu mir den Gefallen“, sprach Darren lebhaft ins Telefon. „Wir hatten schon so lange kein Familientreffen mehr. Hm? Wie? Ja, sag ich doch, das letzte Mal war vor genau zehn Tagen, das ist viel zu lange her. Ich bemühe mich auch, diesmal beim Kochen nicht die Küche in die Luft zu ja-, oh, warte mal eben einen Moment.“ „Hey, Dad~“, warf Faren ein, kaum dass Darren das Telefon senkte. „Kann ich den guten Vince bei euch abladen?“ Ein zustimmendes Nicken folgte. „Aber sicher~. Schön, euch zu sehen. Ich freue mich echt, dass du Faren besuchen kommst, Ferris. Das hilft seinem Gedächtnis sicher auf die Sprünge.“ „Garantiert“, bekräftigte Faren und zwinkerte seinem Vater schmunzelnd zu. „Und sag Onkel Richard, dass es mir nach meinem Unfall total gut tun würde, meine ganze Familie zu sehen. Dann kann er gar nicht mehr Nein sagen.“ „Gute Idee!“ Kindliche Freude erhellte Darrens Gesicht noch mehr, ließ es geradezu strahlen. „Schatz, kannst du für Vincent einen Kaffee machen? Du lässt mich ja nicht mehr an die Maschine.“ Weil Darren das Talent hatte, sich bei jeder kleinen Tätigkeit in der Küche zu verletzen, konnte ich mir denken. Daher erhob Luna sich sofort nickend, um ihrem Mann weitere Unfälle zu ersparen. Vorher lenkte sie den Blick aber fragend zu mir. Ich schüttelte gleich den Kopf und sagte, dass ich keinen Durst hätte. Verstehend kümmerte Luna sich anschließend um den Kaffee, Vincent hatte sich derweil an den Tisch gesetzt. „Meldet euch, wenn ihr etwas braucht“, sagte Darren, bevor er sein Telefonat wieder aufnahm. Zufrieden ging Faren mit mir weiter. Hier hatte sich, entgegen meiner Befürchtung, nichts verändert, die Herzlichkeit der Familie füllte die Wohnung gänzlich aus. Trotzdem wirkte sie auf mich nach wie vor zu klein für vier Personen. Obendrein besaßen sie auch noch eine Menge Zeug. Gefühlt schien jeder freie Fleck mit Möbeln, Dekorationen oder anderem Kram besetzt und gefüllt zu sein. Ein seltsam geordnetes Chaos, wie eine eigene Welt. Auf eine Art beneidenswert. Sein Zimmer teilte Faren sich mit seiner jüngeren Schwester, Luana. Sie lag auf dem Bett, als wir den Raum betraten, umgeben von unzähligen Zeichenmaterialien. Summend malte sie an einem Bild. Viele fertige Werke hingen schon an den Wänden in ihrem Bereich des Zimmers, und es kamen immer mehr hinzu. Luana löste den Blick vom Papier und hob den Kopf. „Oh, hallo, Ferris.“ Eindeutig Farens Schwester, das Kind von Darren. Braunes Haar, das zu zwei seitlichen Zöpfen hochgebunden worden war, und grüne Augen. Im Gegensatz zu ihrem Bruder kam Luana mehr nach ihrer Mutter, ruhig und sogar schüchtern. Ein sehr liebes Mädchen, das keinen Funken Dunkelheit in sich trug. Erinnerte ich mich richtig, war sie zehn Jahre alt. Faren ließ mich los, um seiner Schwester mit den Händen die Haare ebenso zerwühlen zu können wie es seine bereits waren. „Stör dich nicht an uns, zeichne einfach weiter~. Du musst doch später mal mit deinen Bildern berühmt werden und unserer Familie zu Reichtum verhelfen. Denk dran, ich will einen eigenen Whirlpool im Schlafzimmer.“ „Übertreib nicht so“, murmelte Luana verlegen, die sich nicht daran störte, dass Faren ihre Frisur ruinierte. „Ich kann unter Druck nicht arbeiten.“ Lachend ließ er von ihr ab. „Braves Mädchen, lass dich niemals von irgendwem stressen~.“ Etwas an dieser Szene schnürte mir die Kehle zusammen, ich spürte ein Stechen in der Brust. Genau wie Kieran war auch Faren ein liebevoller Bruder, dem seine kleine Schwester am Herzen lag. Es war rührend, so sollte ein gesundes Verhältnis zwischen Geschwistern aussehen. Beim besten Willen konnte ich mir nicht vorstellen, dass Kieran und Faren jemals mit Reni und Luana stritten. Ich dagegen … „Danke, dass du hier bist“, lenkte Faren meine Aufmerksamkeit auf sich. Schwungvoll warf er sich auf sein eigenes Bett, das an der anderen Wandseite stand, gegenüber von Luana. Ein Kissen lag auf dem Boden. Die gesamte Bettwäsche war zerknittert und durcheinander. So kannte ich Faren. Ohne Aufforderung ging ich zum Schreibtisch und nahm dort auf dem Bürostuhl Platz, statt mich neben meinem einst besten Freund auf das Bett zu setzen. Das kam mir unpassend vor. „Kein Problem“, versicherte ich zögerlich. „Das bin ich dir schuldig.“ Kopfschüttelnd lehnte Faren sich mit dem Rücken gegen die Wand. „Ist schon gut, du hast dich halt erschreckt. Ist auch ganz schön uncool, seinen Bro einfach zu vergessen. Das tut mir echt leid, Mann. Ich weiß nicht, warum das passiert ist.“ Wie ich mich schämte. Meinetwegen hatte Faren das durchmachen müssen, aber er gab sich selbst die Schuld daran. Am liebsten würde ich die Zeit zurückdrehen und mich vor diesem Besuch drücken. Was für eine erbärmliche Gestalt ich abgab. Dass er mich vergessen hatte, war durchaus eine gute Sache, auch wenn das für Faren leider gesundheitlich nicht das Beste war. Jedenfalls war das am Anfang der Fall gewesen. „Wie geht es dir denn jetzt?“, fragte ich besorgt. „Du … hast an diesem Tag plötzlich das Bewusstsein verloren und Nasenbluten bekommen. Hat man dich deswegen mal untersucht?“ Faren stieß ein theatralisches Stöhnen aus. „Und wie ich untersucht wurde, sag ich dir! Ich war nicht mal in unserem normalen Krankenhaus, sondern in diesem komischen Echo-Institut. Anscheinend haben die dort die bessere Technik und so. Da wurde ich so intensiv unter die Lupe genommen, dass ich mir wie der Träger einer lebensgefährlichen Krankheit vorkam, durch die die gesamte Menschheit aussterben könnte.“ Das Ganze erzählte er so amüsiert daher. Wollte er mich dadurch schonen oder nahm er das alles wirklich nicht sonderlich ernst? Nicht einschätzen zu können, was genau in anderen vorging, machte mich wahnsinnig. Warum konnten Vincent, Faren und alle anderen nicht einfach offen sagen, was sie dachten und fühlten? Würde einiges leichter machen. „Aber ich bin gesund“, fuhr Faren fort und zuckte mit den Schultern. „Ich war etwa zwei Tage lang zwar richtig fertig und hatte höllische Kopfschmerzen, doch das ließ dann zum Glück nach, so dass ich nach Hause gehen konnte.“ Erleichtert atmete ich auf, viel zu offensichtlich. Ich war so beruhigt, dass Faren doch keine dauerhaften Schäden davongetragen hatte. Vielleicht war das dem Echo-Institut zu verdanken, weil ihm dort spezielle Medizin oder etwas dergleichen verabreicht worden war. Mehr musste ich nicht wissen, so konnte ich Faren mit gutem Gewissen ein Leben führen lassen, in dem ich keine große Rolle mehr spielte. Hoffentlich nicht mehr so sehr wie vorher. „Niemand konnte sagen, was genau mit mir los war“, erzählte Faren weiter. „Böse Zungen behaupten sogar, ich hätte an dem Abend nur zu viel getrunken und mit dem Auto fast einen Unfall gebaut, was einen Schock verursacht hat. Kannst du dir das vorstellen?“ Ein Schmunzeln konnte ich mir nicht verkneifen. „Ist halt schon mal vorgekommen, dass wir richtig dicht waren. Klar vermuten manche dann so etwas.“ Was hatte ich mir für eine ellenlange Predigt anhören dürfen, weil ich noch zu jung dafür gewesen war. Streng genommen hatte ich sogar etwas Illegales getan. Seitdem hatte ich keinen einzigen Tropfen Alkohol mehr angerührt, weil ich mir diesen Stress mit den Erwachsenen nicht nochmal antun wollte. Nächstes Jahr war ich alt genug, um so viel zu trinken wie ich wollte. „Ich könnte niemals so dicht sein, dass ich meinen guten Vorsatz vergesse, mich mit Alkohol im Blut nicht mehr ans Steuer zu setzen“, tat er gespielt empört. „Mir so etwas zuzutrauen ist unerhört!“ „Wer Alkohol trinkt, dem ist alles zuzutrauen.“ „Autsch. Ich dachte, du bist auf meiner Seite?“ „Wie kommst du darauf?“ „Meine Unterhaltungen mit dir in Social Medias verraten mir das. Ich habe eine Menge nachgelesen, wir sind total eng miteinander.“ Ich setzte ein finsteres Gesicht auf und sprach möglichst hinterhältig daher. „Oh? Sei dir da mal nicht zu sicher, ich könnte das alles nur geschickt eingefädelt haben, um dich aus dem Verkehr zu ziehen, damit ich deinen Platz einnehmen kann.“ „Das ist extrem, Bro. Sehr extrem.“ Während Luana uns unsicher anstarrte, mussten wir anfangen zu lachen. Eigentlich war dieses Wortgefecht nicht mal halb so witzig wie andere, die wir in der Vergangenheit bereits geführt hatten, aber für uns genügte das schon. Sogar nach meinem Wunsch, von Faren vergessen zu werden, konnte ich noch Spaß mit ihm haben. Verdient hatte ich mir das nicht. „Okay, aber mal im Ernst“, begann Faren, der mich erwartungsvoll ansah. „Du warst doch an dem Abend mit mir unterwegs. Kannst du mir sagen, was passiert ist?“ Der Moment war gekommen. Ab hier musste ich ihm die Lüge auftischen, die Ciar mit mir ausgearbeitet hatte. Kein Problem, das bekäme ich hin. Erst recht weil ich sie in den letzten Tagen schon üben konnte, Vincent und Kieran hatten mich darüber nämlich längst ausgefragt, um das Geschehen bestmöglich nachvollziehen zu können. Und sicher auch, um zu prüfen, ob irgendetwas Übernatürliches, wie ein Echo, damit zu tun hatte. „Also, ich hab dich an dem Tag gebeten, mich abzuholen.“ Hiermit setzte ich das Lügenkonstrukt erneut zusammen. „Von dem Ort, an dem ich mich heimlich mit Ciar getroffen habe, weil … wir wollten nicht, dass ihr etwas davon mitbekommt. Wir hatten Sorge, man könnte unsere Gefühle nicht ernst genug nehmen.“ Plötzlich wurden Farens Augen groß, unbändige Neugier funkelte in ihnen. „Aha, also ist es tatsächlich wahr?! Du und Ciar, ihr seid jetzt ein Paar? Kieran hat mir davon erzählt.“ „Er ist nicht so begeistert davon, meinte Ciar zu mir“, blieb ich meisterhaft in meiner Rolle. „Aber ja, wir sind ein Paar.“ „Wie krass“, kommentierte Faren ungläubig, hob jedoch sofort entschuldigend die Hände. „Versteh das nicht falsch, aber Ciar ist halt eine Nummer für sich.“ Irgendwie klang das unterschwellig negativ, fand ich. Gut, ich war zu Beginn auch nicht wild darauf gewesen, etwas mit Ciar zu tun zu haben. Bisher hatte er mir aber nichts angetan, abgesehen von dem Kuss, und das war nur die Einführung in unser Schauspiel gewesen. Seine eingebildete und unheimliche Attitüde könnte er allerdings gerne ablegen. Nachdem Faren mich zu meiner Partnerschaft beglückwünscht hatte, dankte ich ihm nur flüchtig, bevor ich weitersprach: „Wir haben uns auf der Fahrt dann angefangen zu streiten, weil du kein gutes Haar an Ciar gelassen hast. Ich hatte dann eine Kurzschlussreaktion und hab dir ins Lenkrad gegriffen. Geistesgegenwärtig hast du eine Vollbremsung hingelegt, wir haben uns die Köpfe dabei angeschlagen, du mehr als ich, und das war es. Damit wir nicht mitten auf der Straße standen, hab ich noch an der Seite geparkt, was echt knifflig war, weil du ja noch den Fahrersitz in Anspruch genommen hattest.“ „Und als ich wieder aufgewacht bin, tat dir das so leid, dass du abgehauen bist?“, schloss Faren aus dieser Geschichte, genau wie geplant. Nickend bestätigte ich diese Schlussfolgerung. „Es ist voll dumm gelaufen. Sorry.“ Fertig. Das Lügenkonstrukt blieb erfolgreich bestehen, so wie Ciar es wollte. Da der Wagen bei der ganzen Sachen keinen Schaden genommen hatte, gäbe es diesbezüglich auch keine Probleme. Mir wäre es lieber gewesen, Faren keine unnötigen Schuldgefühle einreden zu müssen, aber eine bessere Idee hätte ich nicht parat gehabt. So nutzten wir den glücklichen Umstand, dass Kieran mit seinem Zwilling absolut nicht zurechtkam und Faren durch einige schlechte Erfahrungen ebenfalls kein gutes Bild von Ciar hatte – mich hätte interessiert, was genau zwischen ihnen vorgefallen sein mochte. „Fuck, nein, mir tut es leid“, betonte Faren, der beschämt eine Hand in den Nacken legte, als er sich etwas vorbeugte. „Ich würde auch ausrasten, wenn jemand schlecht über Kieran redet. Normalerweise ist das gar nicht meine Art. Das erklärt wirklich einiges.“ „Faren“, mischte Luana sich leise aus dem Hintergrund ein. „Fluch nicht so ...“ Lächelnd blickte er zu seiner Schwester. „Owww, entschuldige.“ Die ganze Zeit über hatte Luana schweigend weiter gezeichnet, ohne sich einzumischen. Für gewöhnlich war sie dabei sowieso stets so abwesend mit den Gedanken, dass sie dann nicht viel von dem mitbekam, was um sie herum geschah. Als sie aber auf einmal von ihrem Bett aufstand und zur Tür ging, klingelten bei Faren anscheinend sämtliche Alarmglocken. „Hey, hey, hey! Du musst doch nicht gleich bei Mum und Dad petzen.“ Schmollend schielte sie zu ihm. „Ich geh nur auf die Toilette ...“ „Oh, ach so. Gut, dann lass dich nicht länger aufhalten~.“ Mit einem leichten Schmunzeln verließ Luana das Zimmer, die Tür fiel beinahe lautlos zurück ins Schloss. Wir waren alleine. Schlagartig fühlte ich mich unwohl, ohne jeglichen Schutz vor tiefer gehenden Fragen. Davon ließ ich mir aber nichts anmerken. „Ist ja am Ende noch alles gut ausgegangen“, hielt Faren fest, wieder mal gewohnt optimistisch. „Außer, dass der Schlag auf den Kopf dich gleich gezielt aus meinem Gedächtnis verbannt hat. Was meinst du, biegen wir das zusammen wieder gerade? Ich habe das Gefühl, dass wir voll auf einer Wellenlänge sind. Wir können unsere Freundschaft einfach neu aufbauen, bis ich mich wieder erinnere.“ „Ich bin ungern der Spielverderber, aber das muss ich ablehnen.“ Sichtlich geschockt starrte Faren mich an. „Was? Warum denn?“ „Ich brauche erst mal Abstand“, erklärte ich. „Ciar und ich wollen eh ab jetzt mehr Zeit miteinander verbringen. Mir wäre unwohl dabei, mit Leuten herumzuhängen, die schlecht von ihm denken.“ Erst öffnete Faren den Mund, in dem Vorhaben, etwas dagegen einzuwenden, doch er brachte keinen Ton heraus. Wie ich ihn kannte, wollte er mir vorschlagen, dass er Ciar womöglich nur mal von einer anderen Seite kennenlernen müsste, wobei ich ihm helfen könnte. Ihm lag selbst ohne seine Erinnerungen an mich etwas daran, die Freundschaft mit mir zu bewahren. Das verstand ich nicht. Konnten ein paar Textnachrichten und Fotos so viel bewirken? „In Ordnung“, gab Faren schließlich nach, etwas enttäuscht. „Irgendwann, wenn du genug Abstand hattest, treffen wir uns aber unbedingt wieder. Abgemacht?“ „Abgemacht.“ Noch eine dreiste Lüge. Von meiner Seite aus hatte ich nicht vor, mich nochmal bei Faren zu melden. Sein Seelenheil und seine Gesundheit waren ohne mich besser dran. Ohne die Sorge, dass ich mir etwas antun könnte, wenn es mir wieder schlecht ging. Und ich trug dieses Gefühl ununterbrochen mit mir herum, manchmal nur gut versteckt. Verzeih mir, Faren. Ich bin sicher, du wirst mit Kieran glücklich werden.   ***   „Möchtest du reden?“ „Worüber?“ „Über deine Aussprache mit Faren.“ Natürlich konnte Vincent es nicht sein lassen. Kaum waren wir mittags wieder zu Hause angekommen, musste er seine therapeutische Neugierde befriedigen. Nicht mal Schuhe und Jacke – die ich nur trug, um mir weiteres Betteln von Vincent zu ersparen – hatte ich mir ausziehen können, was ich als nächstes anging. „Nein“, antwortete ich dabei. „Wie du willst. Falls es doch etwas gibt, worüber du reden möchtest, du kannst jederzeit-“ „Ich gehe erst mal duschen“, unterbrach ich ihn, während ich mir achtlos die Schuhe von den Füßen streifte und die Jacke über den Kleiderständer warf, der im Eingangsbereich stand. „Danach penne ich noch etwas, du brauchst mir also nichts zu essen zu machen.“ Normalerweise wandte Vincent stets ein, dass es wichtig für mich wäre, anständig zu essen, diesmal sagte er jedoch nichts. Schweigend stand er da und beobachtete, wie ich zügig zur Treppe schritt, in den ersten Stock hinauf. Eine offensichtliche Flucht, aber das war mir egal. Nach diesem Gespräch mit Faren benötigte ich dringend etwas Ruhe, vor allem Schlaf. Lächerlich, wie ein bisschen reden einen komplett auslaugen konnte. Erst, als die Badezimmertür geschlossen und der Schlüssel im Schloss einmal gedreht war, konnte ich meine Anspannung etwas fallenlassen. Tief atmete ich ein und aus, schloss die Augen und legte den Kopf in den Nacken. Geschafft. Den letzten Schritt hatte ich hinter mich gebracht, alle Lasten von mir gelöst. Außer Echos gab es in meinem Leben nichts mehr, das mich interessierte. Echos und deren Herzen, für mehr Macht. Für Zerstörung. Für Ciars Plan. Ein solches Leben klang wunderbar simpel, zu schön um wahr zu sein. Den Haken an der Sache wartete ich noch eine Weile ab. Einen solchen gab es immer. Ich erwachte aus meiner Meditation und zog das Shirt aus, gefolgt von Socken und Hose. Die Kleidung warf ich jeweils blind in irgendeine Ecke des Badezimmers, bevor ich am Spiegel auch das Haargummi entfernte, um es dort auf die Ablage zu legen. Erst Sekunden später realisierte ich, dass ich lauthals schrie und regelrecht mit einem Sprung zurückgewichen war, wodurch ich einige Gegenstände von dem Regal an der Wand gerissen hatte. Polternde Laute drangen an mein Ohr, in dem ein schmerzvolles Splittern alles zu übertönen versuchte. Erfolglos wollte ich nach Luft schnappen, aber mein Schrei verhinderte jeden Atemzug. Im Spiegel vor mir sah ich ein Mädchen, statt mich selbst. Ein brennendes Mädchen. Ihre Haut schmolz wie Wachs, das lange Haar löste sich in feine Asche auf, ihre dürren Arme streckten sich mir entgegen und ihr Hilferuf löste dieses Splittern in meinen Ohren aus. Schwarzer Teer floss aus ihren leeren Augenhöhlen, der Mund war unmenschlich weit aufgerissen. Risse bildeten sich im Spiegel, sie schlug mit den Händen von der anderen Seite dagegen. Hitze staute sich im Bad. Das helle Flackern der Flammen blendete so stark, meine Augen fingen an zu tränen. Nach und nach wandelten sich die aggressiven Farben aus Rot, Orange und Gelb vollständig zu einem Blau. Rauch drang durch die Risse im Glas zu mir in den Raum. „D-du?“, stotterte ich nervös. „Warum?“ Es konnte nur Einbildung sein. Warum sollte meine Schwester mich auf einmal derart verfolgen? Mit meinen eigenen Händen hatte ich das Echo vernichtet, den wahren Schuldigen. Der Tod meiner Familie war gerächt worden. Ich musste mir nichts mehr vorwerfen. Oder? Oder? „Hau ab!“, kreischte ich heiser. „Verschwinde! Lass mich in Ruhe!“ „Ferris!“, hörte ich Vincents Stimme, wie aus weiter Ferne, gefolgt von einem Klopfen. „Was ist los?! Mach die Tür auf!“ „Ich sagte, verschwinde!“, wiederholte ich überfordert. In mir entfachte etwas, das mich dazu antrieb zurück zum Spiegel zu stürmen und kräftig dagegen zu schlagen, wie es meine Schwester auf der anderen Seite tat. Aufgewühlt schrie ich sie an: „Ich will endlich meine Ruhe! Lass mich einfach in Ruhe, verdammt! Irgendwann reicht es mal! Geh weg! Geh! Verpiss dich!“ Rote Blutspuren verdeckten mir nach kurzer Zeit die Sicht auf meine Schwester, meine Hände schmerzten mehr als das Splittern in den Ohren. Einzelne Glasscherben waren in das Waschbecken gefallen, ohne dass ich es gemerkt hatte. Sie war fort. Jeder Schlag war zerstörerischer gewesen als das Feuer. In meiner Verzweiflung hatte ich den Ruf meiner Schwester abgewürgt, statt ihr zu helfen. Wie hätte ich das tun sollen? „Ferris, antworte bitte!“, blieb nur Vincents Stimme, während er vergeblich versuchte die Tür zu öffnen. Erschöpft sank ich keuchend auf die Knie und betrachtete meine zitternden Hände. Aus den Schnittwunden floss noch mehr Blut. Geistesabwesend stand ich schwankend auf, schnappte mir ein Handtuch aus dem Badezimmerschrank und wickelte meine Hände darin ein. Fluchend kniff ich die Augen zusammen, bemühte mich um Fassung. War das noch eine verspätete Nebenwirkung gewesen? So ein Wachtraum? „Ich bin okay!“, wollte ich Vincent beruhigen, damit er nicht die Tür eintrat – er könnte das bestimmt, wenn er wollte. „Ich hatte nur … lass mich einen Moment alleine ...“ Vincent sagte etwas, aber ich hörte ihm nicht zu. Seine Stimme erreichte mich ohnehin nicht wirklich, sie war nur wie ein fernes Rauschen. Er könnte nichts für mich tun, ich wollte ihn nicht sehen. Müde schritt ich verloren auf und ab, suchte irgendeine Lösung. Ciar hätte eine gehabt, selbst wenn es nur ein sarkastischer Spruch gewesen wäre. Könnte ich mehr sein wie er, müsste ich mich nicht mit so etwas herumschlagen. „Ich … ich brauche echt Abstand“, flüsterte ich zu mir selbst. „Eine Menge Abstand.“ Vorsichtig drehte ich mich nochmal zum Badezimmerschrank, wo ich diesmal eine der Schubladen öffnete. Nicht nur das Handtuch war inzwischen vom Blut rot verfärbt, auch die weißen Oberflächen des Schranks waren verschmiert. Schnell fand ich, wonach ich suchte: Eine Schere. Nur wenige Handgriffe später fielen einzelne Haarsträhnen hinab, immer mehr und mehr. Das freie Gefühl im Nacken verschafft mir für diesen kurzen Augenblick ein wenig Erleichterung. Meine letzte Last. Ich selbst. Solange ich der blieb, der ich jetzt war, konnte sich nichts verändern. Also schuf ich etwas Abstand, zu mir. „Alles gut“, hauchte ich angeschlagen. „Ab jetzt wird alles anders. Wir … löschen diese Schmerzen aus. Richtig, Ciar?“ Hosted by Animexx e.V. 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