Between evil voices and innocent hearts von Platan (Weltenträume) ================================================================================ Kapitel 5: Du hast jede Strafe verdient --------------------------------------- „Sie wird ihre Wirkung niemals entfalten, solange du sie nur weiterhin so ausgiebig unter die Lupe nimmst“, wies Vincent mich auf eine wesentliche Tatsache hin. „Hm“, kommentierte ich darauf knapp, halb abwesend. Zwischen Daumen und Zeigefinger hielt ich eine kleine, blau-weiße Kapsel in der Hand, die ich schon seit einer Weile schweigend betrachtete. Es handelte sich um ein Arzneimittel, das Vincent mir gegeben hatte, um mir zu helfen, mich wieder zu stabilisieren. Wann war ich das überhaupt jemals gewesen? Egal, jedenfalls erreichte ich hiermit also endgültig den Status als verzweifelter Irrer. Da ich Vincents bedrängenden Blick auf mir spürte, brachte ich es endlich hinter mich und ließ die Kapsel in meinen Mund wandern, bevor ich mit etwas Wasser nachspülte. Nur ein Schluck, schon war das Ding weg. Selbst wenn es nichts weiter als ein Beruhigungsmittel war, musste ich zugeben, dass ich es begrüßen würde, sollte ich dadurch nicht mehr von irgendwelchen Halluzinationen heimgesucht werden. Schon im Auto, während der Fahrt hierher, hatte ich das bereits gedacht. „Zufrieden?“ „Du weißt, dass ich dir nur helfen will, oder?“, konterte Vincent mit einer Gegenfrage. Falls er sich gerade gekränkt fühlte, weil ich so klang, als würde er mich nur mit Medikamenten ruhigstellen wollen, hielt er seine emotionslose Maske wahrlich erfolgreich aufrecht. Seine Worte ließen mich erschöpft seufzen. „Das hab ich heute schon mal gehört.“ An diesen Ciar wollte ich nicht mehr denken, also sprach ich sofort weiter, ehe Vincent darauf eingehen konnte. „Ist dieser Hiwa etwa schon wieder weg?“ „Mr. Belfond“, korrigierte Vincent mich und antwortete mit einem Nicken. „Er hatte nicht viel Zeit, weil er noch dringend etwas erledigen muss.“ „Aha“, gab ich verstehend von mir. „Kann es sein, dass ihr euch kennt?“ „In der Tat, wir sind alte Freunde.“ Wie erstaunlich, er verriet mir endlich mal etwas über sich, statt darauf hinzuweisen, dass es nicht um ihn ging. Wirklich ins Detail schien Vincent aber nicht gehen zu wollen, denn er beließ es nur bei diesem einen Satz. Typisch, selber sprach er nur das Nötigste. Ob viele Therapeuten so waren? Meine Hand fuhr langsam über meinen Nacken, bis ich mich wagte, zögerlich weiter nachzuhaken. „Hat er etwas gesagt?“ „Wozu?“, wollte Vincent genauer wissen. „Über mich.“ Irgendetwas musste Hiwa bezüglich meiner Person geäußert haben, dessen war ich mir absolut sicher. Vielleicht hatte er es nicht deutlich ausgesprochen, aber Vincent war intelligent genug, auch solche Aussagen zu erkennen, die ihm durch die Blume mitgeteilt wurden. Andernfalls müsste ich seinen Titel als Therapeut anzweifeln. Aufmerksam ruhte Vincents Blick immer noch auf mir. „Ist es dir wichtig, was er über dich denkt?“ „Oh, komm, Vincent“, reagierte ich zutiefst genervt und warf dabei den Kopf zurück. „Er ist Kierans Vater! Natürlich interessiert es mich, was er von mir hält.“ „Interesse ist normal, jedem Menschen geht es so.“ Als ob ich das nicht schon vorher gewusst hätte. Worauf wollte er jetzt wieder hinaus? „Wie wichtig einem die Meinung eines anderen über sich ist, geht dagegen in eine ganz andere Richtung“, sprach Vincent weiter, seine Tonlage blieb dabei die ganze Zeit konstant. „Für dich wäre es wichtiger, zu ergründen, was du selbst von dir denkst. Davon hängt deine Wirkung auf andere ab.“ In einem Comic wäre mein Kopf in dieser Sekunde von etlichen hervorstehenden Äderchen übersät, die darstellen sollten, wie verärgert oder genervt eine Figur sich fühlte. Anscheinend durfte man von einem Therapeuten keine simple Antwort auf eine Frage erwarten, nicht von Vincent. Manchmal wünschte ich mir nur ein normales Gespräch mit ihm, bei dem ich nicht dauernd befürchten musste, von ihm analysiert oder beraten zu werden. Darauf wartete ich vermutlich vergeblich ... Deswegen würde unser Verhältnis zueinander stets eine gewisse Distanz beibehalten. Aus uns konnten keine Freunde werden, doch darüber sollte ich vielleicht froh sein. So blieb ihm einiges an Kummer wegen mir erspart. „Ich komm auf so ein Gerede jetzt echt nicht klar“, sagte ich offen heraus. „Und kannst du dich nicht mal mit an den Tisch setzen, statt da rumzustehen und mich zu beobachten? Das macht mich nervös.“ Wir befanden uns in der Küche, wo ein hölzerner Esstisch stand, an dem ich seit meiner Ankunft herumsaß. Anfangs war ich noch zu durcheinander und neben mir gewesen, wegen diesen Stimmen und der Erscheinung, darum hatte Vincent mich zuerst hierher gebracht. Nach einigen Gläsern Wasser und Ruhe konnte ich wieder etwas klarer denken, unterdessen hatte er nach einem geeigneten Medikament für mich recherchiert. Irgendwann dazwischen musste Hiwa gegangen sein. Mir fiel ein, dass ich ihn in meiner Panik auch noch ungefragt geduzt hatte. Sollte er sich über mich bei Kieran beschweren, könnte ich mir das niemals verzeihen. Besonders ihn wollte ich nicht in Verlegenheit bringen, aber dabei hatte ich nach dieser Autofahrt höchstwahrscheinlich ebenfalls versagt. Nächstes Mal, sollte es erneut so weit kommen, tat ich besser alles, um zu Fuß gehen zu können. Meinetwegen alleine, wenn Kieran einen anderen Termin hatte, wie es heute der Fall gewesen war. Was mochte das für einer sein? Natürlich hatte er mir das nicht verraten und ich wusste aus eigener Erfahrung wie lästig es sein konnte zu etwas gedrängt zu werden, also war diesbezüglich kein einziges Wort über meine Lippen gekommen. „Du solltest ins Bett gehen“, schlug Vincent unvermittelt vor, obwohl er gerade erst eine Minute mit mir am Tisch saß. „Das Medikament wird dich gut schlafen lassen.“ Träge erhob ich mich von meinem Platz und hob schlaff die Arme nach oben. „Yay, also eine richtig harte Droge.“ „Ferris ...“ „Ja, ja, schon gut. Ich krieg heute eh nix mehr zustande.“ Nicht, dass es ohne Halluzinationen anders gewesen wäre. Jeder Tag endete bei mir ohne Erfolge, ich schöpfte das volle Potenzial der Verschwendung meisterhaft aus. Vincent blieb sitzen und ich glaubte, mir einzubilden, wie er kurzzeitig ein wenig die Stirn runzelte, doch das musste abermals nichts als Einbildung sein. „Du kannst mich jederzeit rufen, falls du etwas brauchst.“ Mir schwirrte ein Spruch durch den Kopf, der das Thema Butler beinhaltete, behielt das jedoch für mich. Unnötig reizen wollte ich Vincent nicht, zumindest nicht außerhalb der Sitzungen. Außerdem hatte er mich bislang noch nicht vorwurfsvoll mit einer Predigt bestraft, weil ich nachts ohne ein Wort verschwunden war. Einerseits erleichterte mich das, andererseits ... „Was ist los?“, hörte ich Vincent fragen. Auf einmal war ich derjenige, der dastand und ihn schweigend anstarrte. Beinahe hätte ich ihn gefragt, ob er wütend auf mich war, doch ich winkte nur rasch ab. „Nichts, ich brauch wohl nur echt etwas Schlaf.“ Ich wandte mich von ihm ab und ging zur Tür, nachdem ich ihm verfrüht eine gute Nacht gewünscht hatte – Vincent würde sowieso nicht schlafen. Auf dem Weg in mein Zimmer gähnte ich mehrmals vor mich hin, mit jedem Schritt stieg die Müdigkeit. Entweder lag das an der Kapsel oder an den letzten Ereignissen, möglicherweise auch an beidem. Schlimmer war aber die Ungewissheit darüber, was Vincent dachte. Noch mehr als bei Hiwa, bei dem ich mich tierisch blamiert hatte. Nicht sagen zu können, ob der Mann, der einem ein Dach über dem Kopf bot und versuchte, aus einem Wrack noch etwas herauszuholen, wegen meiner Flucht wütend war oder gar enttäuscht, machte mich am meisten unruhig. *** Es vergingen drei Tage, an denen ich überwiegend schlief und in meinen Wachphasen so benebelt war wie ein Zombie. Angeblich sei das normal, laut Vincent. So oft wie in letzter Zeit hatte ich diese Bezeichnung noch niemals in meinem Leben gehört, erst recht nicht in Kombination mit mir. Von Normalität war ich endlos weit entfernt. In den nächsten Wochen mussten mein Körper und das Medikament sich zunächst richtig aufeinander einspielen, danach würde ich dann nicht mehr mit dieser furchtbaren Trägheit und Benommenheit zu kämpfen haben. Ehrlich gesagt glaubte ich nicht daran, weshalb ich die Kapsel am vierten Tag bereits nicht mehr herunterschluckte, sondern heimlich unter meiner Zunge versteckte und später aus dem Fenster warf. Wieder mal konnte ich etwas nicht durchziehen, aber: Wer wollte sich freiwillig rund um die Uhr derart abgeschossen fühlen, dass einem wirklich nur noch herumliegen und pennen im Leben blieb? Dann könnte ich mich genauso gut direkt vor den nächsten Zug stürzen, diese Option versprach mehr Erfolg gegen all meine Probleme. Nur auf diese Stimmen und das Wesen beschränkt konnte ich glücklicherweise nicht mehr klagen. Seit dem letzten Mal hatte ich nichts mehr gehört oder gesehen, nichts das verstörend und übernatürlich wäre. An diesem Tag – Sonntag – lungerte ich wie üblich auf meinem Bett herum, in mein Handy vertieft. Kieran hatte sich inzwischen nochmal aufrichtig dafür entschuldigt, dass er nicht mitfahren konnte, um mich nach Hause zu bringen. Natürlich versicherte ich ihm, er müsse sich deswegen keine Gedanken machen und bekam es über eine Textnachricht endlich doch noch hin, ihn zu fragen, zu was für einen Termin er gegangen war. Auf eine Antwort darauf wartete ich noch. Auch Faren hatte mir mehrmals geschrieben, ziemlich besorgt um mich. Er bestand darauf, unbedingt etwas mit mir zu unternehmen, sobald ich mich dafür fit genug fühlte, und erinnerte mich daran, dass ich nächstes Mal zu ihm kommen sollte, statt mich auf einer Parkbank zu räkeln – seine unbeschwerte Art war immer überraschend erheiternd. Faren sollte aber die Zeit besser mit Kieran verbringen, nicht mit mir. Genau das wollte ich ihm gerade schreiben, doch mittendrin verließ mich jeglicher Antrieb dazu. Auf dem Profilbild von Faren im Messenger, über den wir uns gegenseitig texteten, war er zusammen mit Kieran zu sehen. Beide wirkten so harmonisch und glücklich, obwohl Kieran nicht lächelte. Dafür sah ich es deutlich in seinen Augen. Irgendwann vibrierte das Handy stark und riss mich dadurch zurück in die Realität. Mir liefen Tränen über die Augen, wie ich nebenbei bemerkte, als ich überprüfte, ob ich von Kieran eine Antwort bekommen hatte. Grob wischte ich mit einer Hand mein Gesicht halbwegs trocken und ging meine Kontakte durch. Keiner von ihnen hatte mir geschrieben. Dafür wartete eine Nachricht von einer unbekannten Nummer darauf, von mir geöffnet und gelesen zu werden. Misstrauisch war ich deswegen nicht, sicher war es nur irgendeine Werbung. Entsprechend genervt tippte ich die Sprechblase an und ein neues Chatfenster erschien auf dem Display. Grummelnd setzte ich mich aufrecht hin und las mir flüchtig den Text durch, der als erstes zu sehen war: Na, vegetierst du vor dich hin? Mach lieber etwas Sinnvolles und treffe dich mit mir, dann zeige ich dir, wie man Schmerzen und Probleme ganz leicht verschwinden lassen kann. Komm heute Abend gegen 20 Uhr zu diesem Haus, den Weg dorthin dürftest du nur zu gut kennen. Ich warte dort auf dich, aber nicht ewig, also komm nicht zu spät. Ciar? Vom Inhalt her klang es nach ihm. Immerhin hatte er angedroht, sich zu melden. Ich konnte noch nicht so recht glauben, dass er das ernst meinte. Woher hatte er meine Nummer? Von Kieran? Freiwillig würde er niemandem so etwas Persönliches ohne Erlaubnis weitergeben, also musste Ciar sie sich bei ihm abgelesen und somit geklaut haben. Unter der Textnachricht folgte ein Foto. Eigentlich wollte ich es mir nicht ansehen, aber diese verdammte Neugier war stärker. Leider. Kaum erfassten meine Augen das Gebäude, zu dem ich kommen sollte, wünschte ich, dass ich diese Einladung einfach ignoriert hätte. „Nein, das kann nicht sein.“ Meine Stimme zitterte. „Woher hat er das?“ Dieses Foto. Das Haus. Ewig hatte ich es nicht mehr gesehen, nicht in diesem unbeschädigten Zustand. Beinahe wie eine unschuldige Erinnerung, die zum Leben erwachte, bevor alles ins Chaos gestürzt war. Seitdem hielt ich diese Geschichte bewusst in meinem Inneren verschlossen und erzählte niemandem davon. Was in der Vergangenheit passiert war, wollte ich vergessen, doch es ließ sich nur bis zu einem gewissen Grad verdrängen. Ich atmete viel zu schnell, während ich ungläubig das Foto ansah. Ein böser Fluch, der mich gefangennehmen und quälen wollte. Verkrampft hielt ich das Handy fest und hörte es leise durch den Druck, den ich ausübte, knacken. Keine Ahnung, wie lange dieser Zustand anhielt, doch es gelang mir schließlich, eine Antwort an Ciar zu verfassen. Eine Sprachnachricht, weil mir zum Tippen die Geduld fehlte. Zudem wollte ich ihn deutlich spüren lassen, was ich von seinem Spielchen hielt. „Was bist du für ein kranker Psycho?!“, schrie ich aufgebracht, während die Aufnahme lief. „Woher hast du dieses Foto?! Du willst mir doch nicht helfen, sondern mich fertig machen! Denkst du echt, das lasse ich so leicht mit mir machen?! Glaub ja nicht, dass ich nicht zurückschlagen könnte! Lass mich in Ruhe, kapiert?! Das geht dich nichts an!“ Gegen Ende verließ mich meine Stimme und erstickte nahezu, darum musste das vorerst genügen. Während die Sprachnachricht gesendet wurde, bemühte ich mich, meinen Atem wieder unter Kontrolle zu bekommen. Schwindel wollte mich zurück ans Bett fesseln, alles drehte sich. Gab es den Hauch einer Chance, dass ich mir diese Nachricht nur einbildete? Möglich wäre es. Vielleicht weil ich heute diese Kapsel nicht genommen hatte, womöglich wirkte sie doch besser als erwartet. Sollte ich in den Garten hinausgehen und sie suchen? Oder Vincent meinen Fehler gestehen und mir von ihm eine neue geben lassen? Das Handy vibrierte erneut und zog sofort meine Aufmerksamkeit auf sich. Offenbar hatte Ciar mir diesmal ebenfalls eine Sprachnachricht geschickt, die ich angespannt abspielte. „Wir können gern heute Abend diskutieren, wenn du so wild darauf bist. Komm einfach um 20 Uhr zum Treffpunkt, mehr gibt es nicht zu sagen.“ Unterkühlt und ohne Mitgefühl. Sogar durch das Gerät hindurch spürte ich, wie seine Stimme mich zum Frösteln brachte. Er zeigte keinerlei Reaktion auf meinen emotionalen Ausbruch, sondern wollte nur, dass ich seiner Einladung folgte. Alles, was er wollte, war Gehorsamkeit. „Ferris?“, drang Vincents Stimme durch die geschlossene Tür, an die er klopfte. „Ist etwas passiert? Ich habe dich schreien hören.“ Auch das noch. Hastig warf ich das Handy achtlos zur Seite und schüttelte meinen gesamten Körper, in einem Versuch, meine Anspannung ein bisschen zu lösen. Davon, was damals geschehen war, durfte Vincent nichts erfahren. Niemand. Schon deswegen hatte ich keine andere Wahl, als mich mit Ciar zu treffen und ihn zur Rede zu stellen. „Alles gut, komm rein.“ Mit dieser Erlaubnis öffnete Vincent die Tür und betrat das Zimmer. „Hast du nach mir gerufen?“ „Ach, nein“, lachte ich halbherzig und tischte ihm eine Lüge auf. „Ich habe nur gerade eine Stelle von einem Song laut mitgesungen, den ich gehört habe. Sag mal, Vincent? Darf ich dich um was bitten.“ Sein Gesicht zeigte es nicht, doch er musste überrascht sein. Solch eine Initiative kannte er nicht von mir. Einzig an seiner Stimme bemerkte ich, wie sehr ich ihn überrumpelt haben musste, denn sie klang auf einmal etwas unsicher. „Sicher, was kann ich für dich tun?“ *** Erfolgreich war es mir gelungen, Vincent davon zu überzeugen, mir einen abendlichen Spaziergang zu gewähren. Etwas frische Luft konnte niemals schaden, besonders nachdem man das Haus die letzten Tage nicht mehr verlassen hatte. Mit dem Versprechen, jederzeit über mein Handy erreichbar zu sein und zurück nach Hause zu kommen, sobald mir unterwegs schlecht werden sollte, durfte ich gehen. Klar, ich hätte einfach nochmal abhauen können, ohne ihm etwas zu sagen. So oft, wie Vincent seit meiner ersten Flucht nach mir sah, wäre das aber nicht lange unbemerkt geblieben. Ihm fiel es sogar auf, wenn ich zwischendurch nur kurz in die Küche oder ins Bad ging. Er wachte wie ein Luchs, dabei war er mein Therapeut, nicht mein Vater. Dank seiner Erlaubnis konnte ich gegen Abend ohne schlechtes Gewissen und professionelle Stealth-Einlagen das Haus verlassen. Durch die Einnahme des Medikaments gestern fühlte ich mich etwas schwach auf den Beinen, aber da ich auf die letzte Kapsel verzichtet hatte, war es recht erträglich. Seltsamer Zufall, dass Ciar mit dieser Einladung genau zum richtigen Zeitpunkt um die Ecke kam. Beim Gedanken an ihn begann Wut in mir aufzukochen, mein Blick verfinsterte sich. Was auch immer der Kerl plante, ich ließ mich nicht als Spielzeug missbrauchen. „Du hast es verdient“, hauchte eine Stimme anklagend. „Du hast jede Strafe verdient.“ Auf der Stelle erstarrte ich zu Eis. Nein. Nein, bitte nicht. Nicht schon wieder. Mein Kopf war schwer wie Blei, als ich ihn anhob und meinen Blick vom Boden löste, um geradeaus zu schauen. Einige Meter vor mir kam eine Person auf mich zu, eine Frau, umschlungen von den pechschwarzen Strängen aus Tränen, von denen sie allmählich in einen Kokon eingewickelt wurde. Ihr Mund besaß noch eine halbwegs gewöhnliche Form und war nur etwas langgezogen, die leeren Augenhöhlen schienen mich einsaugen zu wollen. Unfähig, mich zu bewegen, stand ich da, und ertrank innerlich in Schuldgefühlen. Schritt für Schritt kam sie näher, ihr langes Haar wehte wie ein Schleier hinter ihr her. Unentwegt wiederholte sie ihre Sätze, von denen ich mich angesprochen und verurteilt fühlte. Sie konnte nur mich damit meinen, weil es der Wahrheit entsprach. In der Tat hätte ich das alles verdient, daran hatte ich bis jetzt noch gar nicht gedacht. Bedeutete das, ich wurde bestraft? Für das, was ich damals getan hatte? In dem Fall wäre Ciar eher ein gerechter Richter, als ein Psycho. Kurz bevor die Frau, dieses Wesen, nur noch einen Meter von mir entfernt war, kniff ich die Augen zusammen und murmelte reumütig eine Entschuldigung. Jede Sekunde erwartete ich Schmerzen oder etwas anderes, mit dem das Leid, verursacht durch meine damalige Tat, ausgeglichen werden sollte. Ich wartete, aber nichts geschah. Gar nichts. Nach einer Weile wurde die Stimme leiser, bis sie gänzlich verstummte. Verwirrt öffnete ich die Augen wieder und warf einen Blick über die Schulter. Unbeirrt lief die Frau weiter, folgte ihrem Weg. War sie soeben nur an mir vorbeigegangen, ohne etwas zu tun? Hatte sie am Ende gar nicht mich gemeint? Ich stolperte zur Seite und sackte zusammen, weil meine Knie weich wurden. Weit war ich noch nicht gekommen, nur eine kleine Strecke durch Spießerhausen hatte ich bisher zurückgelegt. Demnach hielt ich mich noch in dieser Umgebung auf, wo Ruhe und Frieden herrschte. Gegen diese Uhrzeit spazierten nicht mehr viele Leute herum, im Moment war ich der einzige Mensch in Sichtweite und hockte wie ein Penner am Rande des Gehweges. Mir blieb aber nichts anderes übrig, als bald wieder aufzustehen und weiterzugehen, sonst käme ich zu spät zum Treffpunkt. Solange mich diese Wesen ignorierten, gelang mir das sicher auch. Trotzdem ließ mich dieser Gedanke nicht mehr los. Die Befürchtung, dass ich von einer höheren Macht bestraft wurde und das wehrlos über mich ergehen lassen sollte, wenn in mir noch etwas Menschlichkeit steckte. Mein restlicher Weg verlief nicht sonderlich ruhiger, denn hier und da nahm ich noch mehr Stimmen wahr oder sah halb eingewobene Menschen, denen ihr Unheil gar nicht auffiel. Anscheinend musste ich von nun an mit dieser Fähigkeit leben – mir wurde ständig geraten, alles etwas positiver zu sehen. Für mich traf es aber mehr, dass es sich um eine Strafe in Form eines Fluches handelte. Seltsamerweise schien dieser Fluch mich nicht direkt angehen zu wollen, jeder lief an mir vorbei und diese klebrige Masse aus Tränen blieb ebenfalls an der jeweiligen Person haften. Also genügte es vorerst, zu versuchen, sich nicht von den düsteren Aussagen dieser Stimmen erdrücken zu lassen und wegzuhören. Kein leichtes Unterfangen, dagegen kam mir eine Abschlussprüfung an einer elitären Universität wie ein Kinderspiel vor. Ich legte einen Teil der Strecke zu Fuß zurück und den anderen mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Lag dieses Haus wirklich so weit entfernt? Mir war stets so, als müsste ich nur kurz um die nächste Straßenecke biegen, um wieder dort anzukommen. In Wirklichkeit musste ich sogar die Stadt verlassen, weil es ein Stück außerhalb davon lag. Abgelegen in einer landwirtschaftlichen Gegend, wo es auch einige wenige Bauernhöfe gab. Der Bus, in dem ich inzwischen saß, ruckelte ein wenig. Wir fuhren gerade an dem Ortsschild der Stadt vorbei, das Besucher herzlich in Cherrygrove willkommen hieß, die immerzu blühende Stadt. Damit waren die vielen Kirschblütenbäume gemeint, dank denen der Ort einen gewissen Bekanntheitsgrad genoss. Sie blühten wesentlich länger als gewöhnlich, aber niemand konnte sich so recht erklären warum. Mir war das ziemlich egal. Aufgrund der Sommerzeit hatte ich das Gefühl, es wäre noch Mittag, doch das täuschte. Nach einigen Minuten Busfahrt stieg ich an der einzigen Haltestelle von Limbten aus, ein winziges Dorf, das neben Cherrygrove existierte und noch zu dieser Ortschaft gehörte. Hier gab es nicht viel zu sehen, nur einige Wohnhäuser, die sich an zwei Händen abzählen ließen, einen Supermarkt und ein Gebäude, in dem Kindergarten und Grundschule vereint wurden. Das größte Highlight dürfte der Friedhof sein, der einiges an Fläche einnahm und zur Hälfte Limbten ausmachte. Dazu gehörte eine Kirche, natürlich übertraf sie jedes andere Gebäude im Dorf. Mehr gab es aber schon nicht zu erzählen, außer, dass ich hier einst lebte. Genauer gesagt bis zu meinem siebten Lebensjahr, dann geschah etwas Schlimmes, mit dem ich mich jetzt wieder konfrontiert sah. „Es ist immer noch ein Trümmerhaufen“, stellte ich betrübt fest. Ich war da, genau dort, wo Ciar mich haben wollte. Bei dem Haus auf dem Foto, doch lagen vor mir nur noch traurige Ruinen. Seit zehn Jahren unberührt und vergessen, auch von mir. Niemand schien sich dafür verantwortlich gefühlt oder es aufgekauft zu haben, um hier etwas Neues aufzubauen. Vor mir sah ich noch die dichten Rauchschwaden, von denen der Himmel zum Zeitpunkt des Brandes verdunkelt worden war. Ein Feuer hatte das Bauwerk beinahe gänzlich zerstört, bevor es endlich gelöscht werden konnte. Wie sich diese unerträgliche Hitze angefühlt hatte, wusste ich auch heute noch zu gut. Schon der Gedanke daran machte mir das Atmen schwer. Hier wollte ich nicht sein, es schmerzte zu sehr. Laut der Uhrzeit, die mir mein Handy zeigte, war ich zehn Minuten zu spät dran. Das ließ mich freudlos lachen. Zu ironisch. Jetzt, als ich wieder davor stand, kamen mir die letzten zehn Jahre meiner Abwesenheit wirklich nur wie Minuten vor. Lange wollte ich nicht bleiben, nur mit Ciar sprechen und danach das Ganze erneut vergessen. „Mal sehen, ob der Kerl sich fein genug dafür war, auf mich zu warten“, flüsterte ich und steckte das Handy zurück in die Hosentasche, ehe ich mich mit einem tiefen Atemzug dem verbrannten Haus näherte. „Wehe, du bist nicht da.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)