Between evil voices and innocent hearts von Platan (Weltenträume) ================================================================================ Kapitel 3: Ich will dir nur helfen ---------------------------------- Ich sah noch dieses grelle, penetrante Licht vor mir und spürte das Brennen in meinen Augen, als ich diese langsam öffnete. Plötzlich hatte sich meine gesamte Umgebung verändert. Auf dem Rücken liegend, starrte ich die Deckenpaneelen aus hellem Holz über mir an, und war völlig ratlos. Wo war ich? Das alles konnte kaum ein Traum gewesen sein, so etwas passierte den Protagonisten nur in schlechten Fiktionen – wo ich wahrscheinlich eher der Antagonist wäre, statt ein Held. Wenigstens war die Helligkeit wieder normal und blendete nicht mehr wie eine Supernova. Es schien schwaches Tageslicht zu sein, das den Ort erfüllte, kein künstliches. Mein Kopf sackte von einer Seite zur anderen, damit ich mir einen ersten Überblick verschaffen konnte. Hierbei handelte es sich nicht um einen Raum aus dem trostlosen Waisenhaus oder von Vincents Bleibe in Spießerhausen, wie ich sofort erkannte. Meine Wenigkeit lag auf einem großen, protzigen Ledersofa in Türkis, mitten in einem geräumig wirkenden Wohnzimmer. Ein Deckenventilator sorgte für einen angenehmen Luftstrom, ohne Lärm zu verursachen. Vor mir stand ein Glastisch, der noch mehr Platz einnahm, als der von Vincent, und sogar über eine weitere Platte unter der oberen verfügte, wo man etwas ablegen konnte. Nur wenige Schritte weiter lächelte mir verführerisch ein Flachbildfernseher entgegen, im Kinoformat. Schon diese ersten Eindrücke genügten mir, um sagen zu können: Ich musste irgendwie in Ober-Spießerhausen gelandet sein, bestimmt nur eine Verwechslung. Vielleicht hatte ich doch nur geträumt und war dabei schlafgewandelt. Obendrein musste ich auch noch Einbruch und Hausfriedensbruch begangen haben – oder war beides das gleiche? Vorsichtig richtete ich mich auf und konnte direkt auf meiner linken Seite durch eine Fensterfront nach draußen schauen. Dort ging gerade die Sonne auf, was erklärte, warum das Tageslicht noch so kläglich ausfiel. Vom Wohnzimmer aus konnte man durch eine Tür in den Garten hinausgehen, den ich ebenfalls durch das blitzblanke Glas bestaunen durfte. Peinlich genau geschnittenes Gras und eine Menge gepflegte Pflanzenpracht, zwischen der man es sich auf weißen Liegestühlen gemütlich machen konnte. „Alter, ich bin erledigt“, flüsterte ich angespannt. „Jetzt lande ich garantiert im Knast.“ Alles nur, weil ich zu unfähig für das Leben war und auch noch das Schlafwandeln angefangen habe. Würde mich nicht wundern, wenn ich hier in der Villa des Bürgermeisters oder so gelandet war. Hoffentlich war ich nicht im Schlaf über jemanden hergefallen oder hatte einen umgebracht, dann konnte ich mich wirklich endgültig erschießen. Ein kurzes Klacken ließ mich erschrocken zusammenzucken und schlucken. Da das Geräusch hinter mir ertönt war, blieb mir keine andere Wahl, als einen Blick über die Schulter zu werfen. Theoretisch könnte ich auch einfach aufspringen und wegrennen, so wie ich es in letzter Zeit öfter tat, aber diesmal könnte der Besitzer dieses Anwesens mich mit einer Schrotflinte abknallen. Nicht, dass es schlimm wäre oder schade um mich, nur wollte ich nicht unbedingt auf diese Weise sterben. „Deine Anspannung nervt“, seufzte jemand. „Du solltest weniger nachdenken.“ Mir lief es sofort eiskalt den Rücken herunter, denn die Stimme kannte ich. Sie war das letzte gewesen, was ich gehörte hatte, kurz bevor ich das Bewusstsein verlor. Also handelte es sich hierbei um eine Entführung? Hastig drehte ich mich auf dem Sofa um und machte mich auf alles gefasst, nur nicht darauf, was ich zu Gesicht bekam, obwohl es kein furchtbarer Anblick war. „Du bist das“, stellte ich verwirrt fest. Das dunkelbraune Augenpaar des anderen fixierte mich fest, es versuchte mich geradezu zu verschlingen. Tatsächlich wirkte es wie ein schwarzer Abgrund, je länger ich den Blick erwiderte, ganz anders als bei Kieran. Trotzdem hatte dieser Mann Ähnlichkeit mit ihm, wirkte jedoch wesentlich reifer, weshalb ich ihn auch als Erwachsenen einstufen konnte. Er saß auf einem gepolsterten Holzstuhl an einem zweiten Tisch, der hinter dem Sofa stand. Wegen der Rückenlehne hatte ich diese Seite vorhin nicht einsehen können. Vermutlich handelte es sich um den Essbereich, ich zählte noch fünf weitere Stühle. Auf dem Tisch ruhte ein Laptop, den er eben geschlossen haben und somit das klackende Geräusch verursacht haben musste. Ungläubig schüttelte ich den Kopf. „Du bist nicht Kieran, oder?“ Sie sahen sich ähnlich, aber gleichzeitig auch nicht. Die etwas feminine Gesichtsform war die gleiche, genau wie das tiefschwarze, kurz geschnittene Haar, nur war die Frisur bei dieser Person etwas anders als bei Kieran. Beide Augen lagen frei, keine langen Strähnen verdeckten eines davon, sie fielen ihm dennoch weit über die Stirn. Seine Haare standen an manchen Stellen etwas ab, bei Kieran lagen sie überwiegend glatt und ordentlich. Von der Größe her glichen sie sich dann wieder, auch der Körperbau war ähnlich. Nur die Haltung dieses Jungen war erschreckend selbstbewusst, nahezu furchtlos. Diese Ausstrahlung unterstrich sein stechender, ernster Blick zusätzlich. Selbst sein Kleidungsstil verriet, dass er sich nicht zu verstecken versuchte, anders als Kieran. Fast kam er an den von Faren heran, nur eine Spur wilder. „Mitnichten“, betonte er, scheinbar abgeneigt von dieser Vorstellung. „Aber du bist nicht der Erste, der mich das fragt. Umgekehrt ist das seltsamerweise niemals der Fall.“ Aus irgendeinem Grund ließ mich seine Stimme schaudern. Etwas in ihr war derart eindringlich, dass es mich gefangen nahm. Richtig unheimlich. Sollte ich mich entschuldigen? Unsicher schwieg ich, ohne den Blick abzuwenden. Ich befürchtete, es bitter zu bereuen, wenn ich ihn auch nur eine Sekunde aus den Augen ließe. Was sollte ich sagen? Gerade kam ich mir wirklich hilflos vor, wie ein Kleinkind. Nicht mal soziale Interaktionen lagen mir. „Da du anscheinend deine Zunge verschluckt hast, liegt es wohl an mir, das Ganze aufzuklären“, fuhr der andere fort, diesmal ohne irgendeine emotionale Regung. „Mein Name ist Ciar.“ „Ciar?“, wiederholte ich mühevoll. „Das hast du richtig verstanden, Ciar Belfond.“ Belfond?! So lautete der Familienname von Kieran, aber das konnte nicht sein. Gab es etwa noch andere Leute in der Stadt, die so hießen? Eigentlich hatte mir Kieran nie sonderlich viel über seine Familie erzählt, fiel mir ein. Dieses Thema behagte ihm nicht, darum sprachen wir nicht darüber. „Verstehe, Kieran hat dir nichts von mir erzählt, hm?“ Ciar rollte leicht mit den Augen. „Typisch, dabei sollte man zu seinem älteren Zwillingsbruder stehen, meiner Meinung nach.“ Jetzt setzte mein Gehirn aus. Zwillinge? Kieran hatte ernsthaft einen solchen Bruder? Dann wirkte dieser auch noch ganz anders als er, wie das genaue Gegenteil von ihm. Davon hatte ich bis zu diesem Zeitpunkt keine Ahnung gehabt. Ob Faren es wusste? Schlagartig begann meine Brust wieder zu schmerzen. Ich war nicht Kierans Partner, also sollte ich es mir nicht so sehr zu Herzen nehmen, doch es machte mich traurig. Es war verletzend, nur so wenig über Kieran zu wissen, obwohl ich mich ihm so nahe fühlte. „Ah, okay“, stammelte ich erst, räusperte mich aber dann, um endlich etwas mehr Haltung anzunehmen und durch seinen festen Blick nicht gänzlich unterzugehen. „Nett, dich kennenzulernen.“ „Nett.“ Etwas daran ließ Ciar schmunzeln. „Schon klar.“ Ich ließ mich davon nicht beirren und stellte eine wichtige Frage: „Wo bin ich hier?“ „Oh, das dürfte dir gefallen.“ Theatralisch breitete Ciar die Arme aus. „Willkommen im Hause der Belfonds, wo auch der werte Kieran sein Leben fristet, in seinem Zimmerchen.“ „Kieran wohnt hier?“ Sollte Ciar wirklich dessen Zwillingsbruder sein, wäre das nicht verwunderlich. Bis zu einem gewissen Alter lebte man in der Regel mit der Familie zusammen, auch noch einige Jahre über die Volljährigkeit hinaus – ja, Kieran war bereits erwachsen, ebenso wie Faren. Was mich so sehr schockte, war die Tatsache, dass jemand wie Kieran in solch einem prunkvollen Schloss hauste. Sicher mochte ich übertreiben, doch wer lange Zeit im Waisenhaus leben musste, der konnte das hier nur als edel betrachten. Schon das Wohnzimmer bot eine Menge Lebensraum. Wie viele Zimmer gab es noch? Wie viele Stockwerke? Wie viele Personen genau lebten hier? Das wollte ich alles zu gern wissen. „Er hält das geheim, weil ihm das unangenehm ist“, erklärte Ciar und winkte dabei über die Schulter. „Kieran will nicht für einen reichen, eingebildeten Schnösel gehalten werden, der sich deswegen von anderen distanziert, weil er sich für etwas Besseres hält. Ziemlich albern, oder?“ „Finde ich nicht“, rutschte es mir heraus, wie von selbst. Das klang ganz nach Kieran. Jemand wie er würde niemals mit dem angeben, was er hatte, weil ihm solche Werte nicht wichtig waren. Faren würde vor Begeisterung ausflippen, könnte er diese Bude sehen. So weit waren sie in ihrer Beziehung bestimmt noch nicht gekommen, Kieran blieb bei solch persönlichen Enthüllungen verschlossen und konnte dabei erstaunlich stur bleiben. „Ciar, musst du Ferris diese Dinge über mich unbedingt erzählen?“, beklagte sich auf einmal das Gesprächsthema persönlich. Aus einem der anderen Räume kam in diesem Augenblick Kieran zu uns ins Wohnzimmer, mit einem Tablett in der Hand, das mit einem ordentlichen Frühstück gedeckt war. Zum ersten Mal sah ich ihn in Alltagskleidung, die man nur zu Hause trug. Zwar handelte es sich dabei nur um ein einfaches Shirt und eine lockere Hose, aber es brachte mich sofort in Verlegenheit, die ich mühevoll zu unterdrücken versuchte. „Sorry, Kieran“, warf ich rasch ein. „Du musst dich nicht entschuldigen“, beruhigte er mich und lenkte den Blick vielsagend zu Ciar. Dieser zuckte unschuldig mit den Schultern und wandte sich wieder dem Laptop zu, den er öffnete. „Ich hab doch nur die Wahrheit gesagt. Anders als du sehe ich keinen Grund darin, krampfhaft alles geheimzuhalten, Bruderherz.“ Kierans Brustkorb hob und senkte sich sichtbar, was mir seinen stummen Seufzer enthüllte, den er daraufhin ausstieß, statt etwas zu sagen. Er brachte das Tablett zu mir an den Tisch und stellte es dort ab, mit der Erklärung, dass ich mich stärken sollte. Darauf waren mehrere Brötchen und Belag angerichtet, so dass ich mir selbst etwas zusammenstellen konnte. Als Alternative stand auch noch Müsli mit Milch dabei und Wasser. Der Gedanke daran, dass Kieran dieses Frühstück vielleicht sogar selbst für mich gemacht hatte, weckte einen gigantischen Kohldampf in mir, wie ich ihn ewig nicht mehr hatte. Oder es gab hier einen Butler, der solche Arbeiten erledigte, aber mir gefiel die andere Option besser. Dieses warme Gefühl milderte vorerst den Schmerz in meiner Brust. Ich wandte mich lächelnd an Kieran. „Vielen Dank, das wäre nicht nötig gewesen.“ „Das Frühstück ist eine wichtige Mahlzeit, deshalb ist das selbstverständlich.“ „Sagt der, der von uns allen hier am wenigsten isst und immer dazu angetrieben werden muss“, mischte Ciar sich aus dem Hintergrund ein. Gekonnt ignorierte Kieran ihn. „Wie geht es dir, Ferris?“ „Ganz gut“, log ich. „Ich bin nur etwas verwirrt. Wie bin ich hierher gekommen?“ Mir war noch nicht ganz klar, ob ich diesem skurrilen Wesen letzte Nacht wirklich begegnet war oder nicht. Am liebsten wäre es mir, es gäbe eine andere Erklärung dafür. Sonst würde Ciar mir nur sofort noch unheimlicher werden. Kein normaler Mensch könnte gegen so ein seltsames Geschöpf gewinnen, falls überhaupt ein Kampf stattgefunden hatte. Erinnern konnte ich mich an keinen, aber mit meinem Kopf stimmte sowieso einiges nicht. „Ich habe dich gefunden“, antwortete Ciar mir, der aufgestanden war und sich neben mir mit den Armen auf der Rückenlehne des Sofas abstützte. „Nach meinem Feierabend habe ich dich auf dem Weg nach Hause zufällig im Park entdeckt, wo du auf einer Bank geschlafen hast.“ Ich starrte ihn verblüfft an. „Bitte?“ „Und da ich nicht so schwach bin wie Kieran“, stichelte Ciar, während er weitersprach, „habe ich dich kurzerhand über meine Schulter geworfen und mitgenommen. Mein Auto parkte ganz in der Nähe.“ Im Vergleich zu der Version mit diesem grässlichen – mir gehen die Adjektive dafür nicht aus – Monster aus Teer, klang diese erschreckend lahm. Nahezu so peinlich, dass ich im Erdboden versinken wollte. Erst recht als Kieran auch noch einen naheliegenden Verdacht äußerte, in Form einer weiteren Frage: „Hast du Alkohol getrunken?“ Hätte nur noch der elterliche, vorwurfsvolle Tonfall gefehlt, doch Kieran klang zum Glück nur besorgt. Allerdings war das auch schon schlimm genug, denn ich wollte ihm keine Last sein. Wenn ich nicht mit ihm zusammen sein konnte, wollte ich zumindest eine sorglose Freundschaft mit ihm führen, in der er sich keine Gedanken um mein Wohl machen musste. Wir sollten beide einfach Spaß zusammen haben. „Ja, mir war mal danach, mich endlich abzuschießen“, scherzte ich, gespielt heiter, winkte jedoch sofort ab. „Nein, habe ich natürlich nicht. Echt.“ Skeptisch musterte Kieran mich genauer. „Was hast du dann nachts draußen auf einer Parkbank gemacht?“ Spontan wollte mir keine logisch nachvollziehbare Lüge einfallen und lange warten durfte ich mit der Antwort auch nicht, sonst weckte ich Kierans Misstrauen nur noch mehr. Blieb mir also nur die Wahrheit, um mich davor zu bewahren, mich in irgendwelche wirren Geschichten zu verzetteln. „Ich hatte eine kleine Auseinandersetzung mit Vincent“, gestand ich. „Darum bin ich später dann einfach abgehauen. Das ist so im Affekt passiert.“ Den Teil mit dem außerirdischen Wesen ließ ich bewusst aus, schon weil ich von Kieran nicht für verrückt erklärt werden wollte. Sonst ging er nur auf Abstand. Im Moment wusste ich nicht mal selbst, ob das überhaupt ein reales Geschehen war. Außerdem hatte ich Kieran schon gebeichtet, dass ich aktuell bei einem Therapeuten wohnte, was Überwindung genug gewesen war. Zu meiner Erleichterung verurteilte er mich deswegen nicht, wahrscheinlich weil Kieran selbst regelmäßig bei Vincent in Behandlung war – dort hatten wir uns kennengelernt. „Zum Glück ist dir nichts passiert“, kommentierte Kieran das Ganze, sprach aber etwas strenger weiter. „Nachts draußen auf einer Parkbank zu schlafen ist gefährlich. Es gibt genug Leute, die dich als leichtes Opfer gesehen hätten, um dich zu überfallen oder einfach nur Frust an dir auszulassen.“ Lachend versuchte ich, die Stimmung zu entspannen und vor allem Kieran zu beruhigen. „Überfallen? Ich hab doch gar nichts, bin ein armer Schlucker. Und hey, mir ist ja nichts passiert. Im Notfall hätte ich mich schon wehren können.“ Zweifelnd hob Kieran eine Augenbraue. „Nicht, wenn du betrunken warst.“ „Ey, jetzt sei mal nicht so misstrauisch. Das war ich nicht“, versicherte ich ihm und legte bedeutungsvoll eine Hand auf die Brust. „Ich schwöre es dir, hoch und heilig! Bestimmt war ich nur kaputt von Vincents Sitzung. Du kennst das doch.“ Das hätte ich vor Ciar besser nicht sagen sollen, denn Kieran warf unauffällig einen Blick zu diesem. Ihm stand ins Gesicht geschrieben, wie unangenehm ihm das war und dass er unter diesen Umstand litt. Da ich Ciar bislang nicht bei Vincent gesehen hatte, ahnte ich, dass Kieran sich dafür schämen musste, als einziger von ihnen psychische Probleme zu haben. Niemand war stolz darauf, zu einem Therapeuten gehen zu müssen. Ich verstand das nur zu gut. Ciar schien das Thema aber überraschend kalt zu lassen, er verzog keine Miene. Etwas an ihm strahlte sogar Langeweile aus. Warum ging er dann nicht zurück an den Laptop? Ob er Dank erwartete? Eigentlich wäre das in der Tat angebracht, nur wollte ich das nicht gerade jetzt erledigen. Mir war dieser Typ nicht ganz geheuer. Seine Anwesenheit beunruhigte mich, doch dank Kierans Nähe wurde dieses Gefühl ein wenig abgeschwächt. „Am besten isst du erst mal“, bat Kieran mich und deutete in eine Richtung, aber da ich mich hier nicht auskannte, wusste ich nicht, wohin genau. „Ich werde Vincent anrufen und ihm Bescheid sagen, dass du bei uns bist. Er wird sich Sorgen um dich machen.“ Ich biss die Zähne zusammen und musste mich bemühen, ihn nicht lauthals davon abzuhalten. Durch diesen Anruf ging das alles nur wieder von vorne los und endete irgendwann erneut genau wie gestern, das hatte keinen Sinn. Schlimmstenfalls schloss Vincent ab heute stets gründlich sämtliche Türen und Fenster ab, damit ich nicht mehr so leicht weglaufen konnte. Wir alle würden uns nur ewig im Kreis drehen und keinen Ausweg aus diesem Elend finden. Leider konnte ich das vor Kieran nicht zeigen. Ihm war es wichtig, dass ich zurück zu Vincent ging und nicht auf der Straße lebte. Er glaubte mehr an meine Heilung als ich selbst, gerade ihn wollte ich nicht enttäuschen. Vincent käme damit zurecht, aber Kieran wollte ich keine Sorgen bereiten. Also musste ich diese Spirale offenbar vorerst weiter in Kauf nehmen und aushalten. „Gute Idee~“, sagte ich widerwillig. „Danke, Kieran.“ Nickend wandte er sich von uns ab und ging wieder davon, verschwand durch eine der Türen. Sofort kehrte der Schmerz in meiner Brust zurück und das Loch in meinem Herzen riss noch weiter auf. Wie verlassen und einsam ich mir vorkam. Andere würden es bestreiten und behaupten, ich sei noch jung, aber ich wusste bereits, dass ich diesen Schmerz niemals mehr in meinem Leben loswerden könnte. Ebenso wenig wie meine Unfähigkeit, mit der ich keinen Anschluss in der Gesellschaft fand. Ich bin nicht perfekt. Ich bin nicht mal halbwegs annehmbar. Ich bin ein absolutes Wrack – seht das doch endlich mal ein! „Willst du deinen Schmerz loswerden?“, riss mich Ciars Stimme aus meiner Trance. Erschrocken fuhr ich zur Seite. „Was?“ Den hatte ich schon vollkommen verdrängt, er war auch noch da. Ausgerechnet dieser Kerl, den man glatt als bösen Zwilling von Kieran bezeichnen könnte. Ehrlich, etwas an ihm machte mir Angst, ich konnte es nur nicht benennen. Woher kannte er überhaupt meinen Namen und wusste, wie ich aussehe? Kieran plauderte mit ihm sicherlich nicht über seine wenigen Freunde, dafür war er nicht der Typ. „Ich weiß, wie du deine Schmerzen spielend einfach loswerden könntest“, fuhr Ciar verheißungsvoll fort. „Oder leidest du so gerne?“ Wie auf Stichwort fuhr ich vom Sofa hoch. „Nein, tue ich nicht!“ „Dachte ich mir.“ Seltsam zufrieden kehrte Ciar zu seinem Laptop zurück und nahm diesen vom Tisch. „Ich melde mich bei dir, wenn es so weit ist.“ „Wovon redest du da? Was willst du eigentlich von mir?“ „Ich will dir nur helfen“, erwiderte Ciar, derart ernst, dass es wie eine Drohung klang, sollte ich ihn weiter nerven. „Wir können uns gegenseitig helfen. Lass dich überraschen.“ Ohne mich noch eines Blickes zu würdigen, ging er daraufhin ebenfalls auf eine der Türen zu und verließ das Wohnzimmer. Nun stand ich alleine da, perplex und überfordert. Kein Wunder, dass Kieran nie von ihm erzählt hat, dachte ich für mich. Der spinnt doch total! Seltsam, so etwas zu denken, wenn man selbst nicht ganz normal war. Egal, ich sollte Ciar so schnell wie möglich vergessen. Bald musste ich mich doch wieder mit Vincent auseinander setzen, was um einiges anstrengender werden dürfte. Darum nahm ich Platz, um mich dem Frühstück widmen zu können und mich dafür entsprechend zu stärken. Vielleicht konnte ich Vincent ein wenig beschwichtigen, wenn er wusste, dass ich anständig gegessen hatte. Es wäre schön, den restlichen Tag über möglichst friedlich verbringen zu können. Besonders nach dieser Nacht wollte ich die letzten Stunden nur noch vergessen und versuchen, weiterhin zu überleben. Wenigstens noch eine Weile, für Kieran. Hosted by Animexx e.V. 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