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I still miss you

~ even after all those years ~
von

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Like in the good old days?

„Hey, was hockt ihr hier herum, wie kurz vorm Einschlafen?“ Tsukasas überdrehte Stimme riss ihn aus seinen Überlegungen und ein Blick zu Hizumi bestätigte ihm, dass er wohl nicht der Einzige war, den soeben die Erinnerungen übermannt hatten. „Nun kommt schon! Unser Bier steht im Karaoke-Zimmer, wird warm und Zero ist auch schon wieder da, ganz allein mit dem Alkohol, das kann nicht gutgehen!“, regte sich der Drummer weiter künstlich auf, während er Hizumi am Arm packte, um ihn ungeduldig erst auf die Beine und dann hinter sich herzuziehen. Der Kleinste ihrer Runde quittierte diesen Übereifer lediglich mit einem heiteren Lachen und hatte sichtlich Mühe, mit Tsukasa Schritt zu halten.
 

Auch Karyu erhob sich nun, klaubte noch Zeros und seine eigene Zigarettenschachtel, sowie die Feuerzeuge vom Tisch, und folgte den beiden dann weitaus langsamer. In den Wochen, die seit dem Gespräch mit Hizumi vergangen waren, hatte er immer und immer wieder daran denken müssen, was er tun sollte, würde die Operation und die darauf folgende Rehabilitation tatsächlich erfolgreich verlaufen. Man mochte meinen, es gäbe nicht viel darüber nachzudenken. Ganz im Gegenteil – hätte nicht allein die Vorfreude darauf, mit seinen Jungs wieder auf der Bühne stehen zu können, nicht ausreichen müssen, um ihm gar keinen Spielraum für Zweifel und Bedenken zu lassen? Dennoch plagten ihn genau diese Gefühle beinahe täglich. Hizumi hatte ihn richtig eingeschätzt. Er war bereits zu tief in Angelo verstrickt, um sich nun einfach nur freuen und einer vollständigen Heilung, einer Reunion von D'espairsRay entgegen fiebern zu können. Er hatte Kirito zu viel zu verdanken, um unbedacht alles hinwerfen zu können, nur weil Hizumi ihn lockte. Vor allem, was wäre, wenn sie tatsächlich wieder vereint wären? Wie lange würde Hizumis Gesundheit diesmal den Strapazen standhalten? Karyu würde eine weitere Trennung nicht überleben … ebenso wenig wie der Älteste selbst.

 

Leise seufzend legte er die Zigarettenschachteln und die Feuerzeuge auf dem niedrigen Tisch im Separee ab, bevor er sich in die Polster der roten Couch neben Zero fallen ließ. Hizumi und Tsukasa waren bereits auf der leicht erhöhten, kleinen Bühne mit der Karaokemaschine zugange und hatten selbst die kitschige Mini-Discokugel, welche über dem ganzen Szenario schwebte, schon zum Leben erweckt.

 

„Du siehst aus, als wäre dir eine Laus über die Leber gelaufen“, stellte Zero leise fest, beugte sich vor und nahm eines der Biergläser vom Tisch, um es ihm in die Hand zu drücken.

 

„Danke“, murmelte er, trank einen großen Schluck und seufzte leise. „Mir ist nur gerade in den Sinn gekommen, dass es bis zu Hizumis Operation nur noch ein paar Wochen sind.“ Heiteres Lachen erregte seine Aufmerksamkeit und automatisch wanderte sein Blick zu ihren, augenscheinlich wieder zu Kleinkindern mutierten, Freunden hinüber. Offensichtlich fanden die beiden es gerade mehr als witzig, nach den ältesten Kinderliedern in der Songdatei Ausschau zu halten. Er schnaubte und fragte sich nicht zum ersten Mal, ob Hizumi und Tsukasa jemals wirklich erwachsen werden würden. „Er scheint das Ganze eher locker zu sehen, was?“

 

„Glaube ich nicht.“ Verwundert drehte Karyu den Kopf zur Seite und sah sein Gegenüber fragend an. „Ich denke, momentan überwiegt einfach die Hoffnung“, erklärte Zero weiter, schaute kurz zu den beiden und dann wieder in Karyus Gesicht. „Außerdem weiß er vermutlich, dass du dir eh genug Sorgen für zwei machst.“

 

„Das hört sich ja fast nach einem Vorwurf an“, murrte Karyu und blies ein wenig eingeschnappt die Backen auf.

 

„Ach Quatsch. Wir wissen doch alle, wie du bist“, neckte ihn der Bassist, mit diesem halben Schmunzeln auf den Lippen, welches es immer wieder schaffte, ihm ganz weiche Knie zu bescheren. Flüchtig tätschelte er ihm noch den Oberschenkel, bevor er aufstand und zu ihren Freunden auf die Bühne ging.

 

‚Ach, Zero‘, seufzte Karyu innerlich. Diese kleinen Berührungen, die ihm der andere schon den ganzen Abend über schenkte, waren ihm auch nach all der vergangenen Zeit noch immer so vertraut, dass sich trotz der anhaltenden Gedanken und Sorgen um Hizumi ein kleines, wohlig warmes Gefühl in seinem Magen ausbreitete. Auch wenn er noch immer nicht ganz verstand, wie oder warum dieser plötzliche Sinneswandel zu Stande gekommen war. Denn, obwohl sie es nach dem Ende ihrer Beziehung irgendwie geschafft hatten, ihre Freundschaft aufrechtzuerhalten, war diese in den letzten Jahren doch deutlich kühler – nein, das war nicht das richtige Wort – platonischer geworden. Aber heute schien es beinahe so, als wäre alles wie früher.

 

„Hey Großer, schwing deinen nicht vorhandenen Hintern mal hier rüber. Ich will meinen Pflichtsong hinter mich bringen, damit ihr mir nicht ständig in den Ohren liegt.“

 

„Mensch Zero, sag nicht immer, dass ich keinen Hintern habe“, beschwerte er sich, allerdings mit einem kleinen Lächeln auf den Lippen und erhob sich.

 

„Warum denn? Ist doch nur die Wahrheit.“

 

„Pfff“, schnaubte er und stellte sich hinter den Kleineren. Mit eher mäßigem Interesse schaute er über dessen Schulter auf das Computerdisplay, auf dem die Songauswahl aufgelistet war, bevor er sich etwas näherlehnte. „Ich erinnere mich an Momente, da war dir mein nicht vorhandener Hintern mehr als nur recht“, raunte er anzüglich, aber leise genug, um Hizumi und Tsukasa nicht mithören zu lassen. Der intensive Seitenblick und vor allem wieder dieses halbe Schmunzeln, die ihm Zero daraufhin schenkte, ließen sein Herz gleich ums doppelte schneller schlagen.

 

„Du singst heut Bonnys Part, hab ich grad beschlossen“, ließ der andere ihn just in dem Moment an seinen Gedanken teilhaben, in dem sich ein freches und in Karyus Augen unheimlich anziehendes Grinsen auf seine Züge schlich. Himmel, wo sollte das alles hier heute noch enden? Er war sich hundertprozentig sicher, dass Zero diese Aussage nicht nur auf ihren standardmäßigen Karaoke-Song bezog und allein der Gedanke daran ließ seinen Magen nervös flattern.

 

„Aber die hat so viel Text. Ich bin doch aus der Übung“, jammerte er, auch wenn er eigentlich gar nicht wirklich bei der Sache war.

 

„Keine Ausreden, heute bist du dran.“

 

Dieses vielsagende Zwinkern musste er sich eingebildet haben. Ganz sicher. Alles nur Einbildung. Karyu schluckte schwer und richtete sich auf, nachdem Zero ‚ihren‘ schrecklich schmalzigen Song ausgewählt hatte.

 

Eigentlich hatte er ihn vor Jahren mit ‚The Ballad of Bonny and Clyde‘ nur necken wollen, nachdem sich Zero bis dato immer erfolgreich vorm Singen gedrückt hatte. Hizumi und ihr Bassist hatten damals gewettet –  er erinnerte sich schon gar nicht mehr daran, worum genau es eigentlich gegangen war – aber der Schuss war gehörig nach hinten losgegangen. Nachdem Zero also diese Wette verloren hatte, war er dem Sänger natürlich nur zu gerne damit behilflich gewesen, ein passendes Lied als Wettschuld auszusuchen. Womit er allerdings nicht gerechnet hatte, war Zeros großartige Idee, das Duett mit ihm, und NUR mit ihm, singen zu wollen. Tja, und seit dieser Zeit nötigte ihn der andere immer wieder dazu, ihm bei seinem Pflichtsong tatkräftig zur Seite zu stehen.

 

‚Ungeliebte Traditionen sind eben doch noch immer die besten‘, dachte Karyu schmunzelnd und wappnete sich innerlich, ihre Schnulze zum Besten zu geben.

 

~*~ 

 

Wie vermutet, waren sie mit ihrem Lied nicht weit gekommen. Karyu hatte sich ständig verhaspelt und hatte sich irgendwann auf den Boden setzen müssen, weil er vor lauter Lachen nicht mehr stehen konnte. Zero hatte es einige Sekunden länger als er geschafft, noch einigermaßen ernst zu bleiben, schlussendlich aber auch aufgegeben. Noch immer vor sich hin glucksend holte er erst einmal tief Luft und rappelte sich hoch, als Tsukasa spöttisch klatschend wieder auf die Bühne kam und sich vor dem Computerdisplay aufbaute.

 

„Nu aber ab mit euch. Lasst mal jemanden singen, der's auch kann“, feixte der Drummer, verzog aber im nächsten Moment seine Lippen zu einer Schnute, als sie ihm fast wie abgesprochen im dreistimmigen Chor entgegen grölten: „Aber bloß kein Enka!“

 

Daraufhin brach Karyu erneut in heiteres Gelächter aus und hängte sich an Zero, der es mit etwas Mühe schaffte, ihn zum Sofa zu bugsieren. Dort angekommen ließ er sich nur noch auf die Polster fallen, schnappte sich sein Bier und trank es auf ex aus, bevor er japsend Atem holte.

 

„Ich sterbe“, schnaufte er und grinste Zero von unten her schief an, während dieser noch stehengeblieben war und sich gemächlich eine Kippe ansteckte.

 

„Das glaub ich nicht.“

 

„Nein?“

 

„Nein.“ Zero schüttelte den Kopf, zog an der Zigarette und entließ den Rauch nur langsam wieder, während er sich neben ihn auf die Lehne des Sofas setzte. „Immerhin brauche ich dich noch“, stellte er wie beiläufig fest, den Blick auf die Minibühne gerichtet, wo Tsukasa gerade ‚Love Story‘ von Miyuki Ishikawa zum Besten gab, während ihn Hizumi tatkräftig beim Refrain unterstützte.

 

Im Regelfall hätte sich Karyu nun köstlich über die Auswahl des Drummers amüsiert, die um einiges schnulziger war, als der Song, den Zero und er eben noch verbockt hatten. Aber um ehrlich zu sein, war er im Moment eher damit beschäftigt, den Kleineren neben ihm noch immer mit großen Augen anzugucken. Nicht zum ersten Mal an diesem Abend fragte er sich, ob ihm seine Ohren einen Streich spielten. Dem verstohlenen, kaum sichtbaren Lächeln auf Zeros Lippen nach zu urteilen, war dem jedoch keineswegs so. Noch immer schwirrte ein großes WARUM mit einem nicht minder großen Fragezeichen in seinem Kopf herum, aber er würde sich hüten, dieses auch laut auszusprechen. Viel zu gut fühlte es sich an, Zeros Aufmerksamkeit und Interesse auf sich gerichtet zu wissen.

 

Blinzelnd löste er sich endlich aus seiner vorübergehenden Starre, beugte sich vor und tat es dem anderen gleich, stattete sich mit einer Kippe aus, obwohl ihm gerade eher der Sinn nach einem Kurzen oder auch zweien stand. Besonders als er Zeros warme Hand an seinem Rücken spüren konnte, nachdem er sich wieder zurückgelehnt hatte. Sein schneller Blick zur Seite wurde von dunklen Augen erwidert und brachte ein verheißungsvolles Kribbeln mit sich. In diesem Moment beschloss Karyu endgültig, dem WARUM einen Arschtritt zu geben und einfach anzunehmen, was ihm so bereitwillig angeboten wurde. Lächelnd lehnte er sich also leicht gegen die Schulter des Bassisten und schaute die nächsten Minuten einfach nur versonnen in Richtung Bühne, ohne aber wirklich etwas anderes als Zeros Nähe und Körperwärme wahrzunehmen.

 

„Beinahe so schlimm wie Enka“, nuschelte der andere schließlich um den Rest seiner Kippe herum und holte ihn damit wieder ins Hier und Jetzt zurück.

 

„Uh, sag das nicht zu laut, sonst versucht er uns noch vom Gegenteil zu überzeugen.“

 

„Ich bin schon still, das will ich nicht riskieren“, erwiderte der Kleinere schnell und machte eine abwehrende Handbewegung, ganz so, als könnte er damit das drohende Enka-Drama von ihnen abwenden.

 

„Ich glaube, wir haben's gleich geschafft. Der Song müsste jeden Moment zu Ende sein.“

 

„Hoffentlich, sonst rollen sich meine Ohren noch nach innen.“

 

Karyu schmunzelte amüsiert, hob seine Hand und strich über Zeros Haare, legte sein Ohr frei.

 

„Sieht noch gut aus. Es hält sich tapfer“, neckte er. Wie gerne würde er nun dieses verlockende Läppchen mit den Lippen liebkosen, doch leider musste er sich aus offensichtlichen Gründen zusammenreißen und darauf verzichten, was ihm nicht gerade leichtfiel. Doch so ganz konnte er es einfach nicht lassen und fuhr sacht mit den Fingerspitzen hinter dem Ohr des anderen entlang, genoss das Gefühl der weichen Haut dort. Gebannt beobachtete er, wie die dunklen Strähnen in ihre Ausgangsposition zurückfielen und konnte Zeros leichte Gänsehaut spüren, als er weiter am Hals hinabstrich.
 

Nicht zum ersten Mal in den letzten fünf Jahren wünschte er sich, er wäre damals nicht so ein verbitterter Idiot gewesen und hätte alles anders gemacht. Aber die Vergangenheit und begangene Fehler ließen sich nicht rückgängig machen, also blieb ihm nichts weiter übrig, als mit den Konsequenzen zu leben. Karyu schluckte erneut schwer, das Gefühl von Zeros warmer Haut unter seinen Fingerspitzen war so vertraut, dass er förmlich spürte, wie die Erinnerungen erneut in ihm aufsteigen wollten. Als dann auch noch das Intro von ‚Paradox 5‘ erklang und Hizumi leise zu singen begann, hatte er ihnen nichts mehr entgegenzusetzen.

 

~*~
 

Seit Stunden waberten nun schon die Melodien unserer Lieder auf Dauerschleife durch den Raum. Zeichen unseres Erfolges, der Erfüllung unserer Träume, aber auch grausame und unnachgiebige Erinnerung an das, was ich verloren hatte. Was nie wieder zurückkommen würde und was mich innerlich schier auffraß. Noch immer saß ich starr wie eine Statue auf dem Sofa in unserer gemeinsamen Wohnung. Würde ich nicht gelegentlich nach dem Glas auf dem Tisch greifen, um wahlweise einen großen Schluck zu trinken oder es erneut zu befüllen, hätte man meinen können, ich wäre ein wenig dekorativer Teil der Einrichtung. ‚Captain Morgan‘ vermochte es zwar nicht, meine Trauer zu lindern, aber wenigstens wärmte er mich, wärmte mein Inneres, wie es schon seit einer gefühlten Ewigkeit nichts und niemand mehr vermochte. Nicht einmal der Mensch, der mir am wichtigsten war.

Gerade schlich sich Hizumis sanfte, melancholische und doch versucht tröstliche Stimme in mein Ohr, während ich versuchte, dem Text von ‚Paradox 5‘ zu folgen und die Augen schloss. Das angestaute Nass bahnte sich einen Weg über meine Wangen, war Zeugnis meiner Verzweiflung und meines Selbstmitleids, in dem ich von Tag zu Tag mehr zu versinken schien. Kraftlos ließ ich meinen Kopf auf die Rückenlehne sinken und das erneut leere Glas aus meinen Fingern gleiten, welches mit einem dumpfen Laut auf dem Teppichboden aufschlug. Das Lied fand sein Ende, wurde von ‚Hai to ame‘, dann ‚Redeemer‘ und ‚Marry of the Blood‘ abgelöst. Alles durcheinander, alles ohne Ordnung, genau wie mein Leben in den letzten Monaten. Kein Ziel vor Augen, nur der Blick über die Schulter in eine Vergangenheit, die schön gewesen war, die Zufriedenheit und Zuversicht versprochen hatte und die nun unwiderruflich tot war.

 

Wie lange mein betrunkener Geist an diesem fernen Morgen zwischen Schlaf und Wachsein trieb, wusste ich hinterher nicht zu sagen. Erst die eingetretene Stille und ein Schatten, der sich über mein Gesicht schob und den ich trotz meiner geschlossenen Augen wahrnehmen konnte, holten mich wieder ins Hier und Jetzt zurück. Blinzelnd öffnete ich meine geschwollenen Lider, stöhnte gequält, als die viel zu helle Deckenbeleuchtung einen schmerzhaften Stich durch meinen Kopf jagte und wartete, bis der verschwommene Schemen vor meinen Augen Gestalt annahm.

 

„Zero?“, nuschelte ich, vermutlich nicht wirklich verständlich, streckte eine Hand nach ihm aus und wollte ihm über die Wange streicheln. Mein Freund wich jedoch nur einen schnellen Schritt zurück, hatte sich meiner Berührung damit entzogen  und sah mich aus unergründlichen Augen forschend an. „Was ist denn?“ Wieder war meine Aussprache beschämend unklar und ich rieb mir fester über die Augen, im Versuch, irgendwie Klarheit in meinen Kopf zu bringen. Ich bemühte mich, mich in eine aufrechte Sitzposition hochzurappeln, aber auch damit scheiterte ich kläglich und ließ mich stattdessen einfach wieder zur Seite kippen. Wozu sollte ich mir auch Mühe geben, es war doch ohnehin alles egal.

 

Wie genau es dann zu diesem fürchterlichen Streit gekommen war, wer zuerst begonnen hatte, dem anderen all das vorzuwerfen, was in den letzten Monaten zwischen uns gebrodelt hatte, kann ich selbst Jahre später nicht genau sagen. Wir haben nie darüber gesprochen, uns nie wirklich damit auseinandergesetzt. Stattdessen haben wir irgendwann einfach so weitergemacht, als hätte es diesen Streit nie gegeben. Nachdem ich es über mich gebracht hatte, mich viel zu spät bei Zero zu entschuldigen und auch er über seinen Schatten gesprungen war und mir, wenn auch vermutlich nicht verziehen, dann aber doch wenigstens eine Chance gegeben hatte, waren wir einfach wieder zur Normalität übergegangen. Eine Normalität, in der wir so taten, als hätten wir nicht über Jahre eine glückliche Beziehung geführt, hätten uns nie geliebt.

 

Ich erinnere mich noch daran, wie ich Stunden nach unserem Streit in meinem Bett aufgewacht war und den Kater aus der Hölle in meinem Kopf Tango tanzen fühlte. Erst nachdem ich mich mehrere Minuten und lauthals in den neben dem Bett bereitgestellten Eimer übergeben hatte, konnte ich wieder einigermaßen denken und die Dinge um mich herum wahrnehmen. So auch, dass sich Zero selbst nach unserer Auseinandersetzung noch soweit um mich gesorgt haben musste, das er mich ins Bett gebracht und in weiser Voraussicht einen Eimer daneben gestellt hatte. Wäre ich in diesem Moment nicht so durch den Wind und ausschließlich mit mir selbst beschäftigt gewesen, hätte mir damals schon ein Licht aufgehen müssen. Ich weiß noch wie ich mir dachte, es jetzt wohl wirklich übertrieben zu haben. Wie recht ich damit haben sollte, stellte ich allerdings erst einige Momente später fest, als mein Blick auf die offen stehenden Schranktüren fiel. Zeros Seite des Schranks war fast leer, nur wenige Kleidungsstücke lagen noch in den Fächern oder hingen auf den Kleiderbügeln, und die große Reisetasche, die normalerweise ihren Platz auf dem obersten Brett hatte, fehlte ebenso. Angewidert schob ich den Eimer von mir, bevor sich mein Magen nochmal dazu entschließen konnte, von irgendwoher noch etwas zum Herausbefördern zu finden.

Langsam und zittrig erhob ich mich, tastete mich bis zur Schlafzimmertür und hinaus in den Flur. An meinem Ziel, dem Arbeitszimmer, angekommen, sackte ich beim Anblick, der sich mir bot, haltlos in mich zusammen. Wie eine Marionette, deren Fäden gekappt worden waren, kam ich auf dem Boden auf und starrte nur ungläubig vor mich hin. Hatte mich der Anblick des offenen, fast vollkommen ausgeräumten Schranks und das Fehlen der Reisetasche schon Schlimmes ahnen lassen, bestätigte nun der leere Instrumentenhalter, der seit Jahren nun schon Zeros Tricksy beherbergte das, was ich schon befürchtet hatte – er war gegangen.

 

Lange Minuten starrte ich einfach nur stur vor mich hin, ohne wirklich etwas zu sehen und versuchte, mir darüber klarzuwerden, was genau geschehen war.

Hatte ich Zero wirklich all diese schrecklichen Dinge vorgeworfen?

Hatte ich ihn allen Ernstes als gefühllos und hartherzig beschimpft, nur weil er meinte, ich solle mich gefälligst nicht so hängen lassen, weil wir gemeinsam schon eine Lösung finden würden?

Das konnte einfach nicht sein. Was war nur in mich gefahren?

Aber hatte ich auf der anderen Seite nicht auch rechtgehabt?

Die Band, mein Baby, in das ich all mein Herzblut gesteckt hatte, dem ich Leben geschenkt und es hatte wachsen sehen, gab es nun einfach nicht mehr. Hatte ich denn da nicht jedes Recht zu trauern?

Wie konnte Zero von einer Lösung sprechen, wenn meine ganze Existenz in Scherben lag und einfach nichts mehr Sinn ergab?

 

Träge rappelte ich mich hoch, den Kopf schwer vom Restalkohol und den Gedanken, die mir einfach keine Ruhe lassen wollten.

Sollte ich mich entschuldigen?

Würde das überhaupt etwas ändern?

Zero war stur und konnte mir Fehltritte auch noch Jahre später krumm nehmen.

Aber war dies hier nicht viel schlimmer als jeder Fehltritt, den ich mir in über zehn Jahren geleistet hatte?

Oder hatte nicht auch ich einmal das Recht auf eine Entschuldigung?

Erneut krochen Ärger und Zorn in mir hoch. Diese fürchterlich negativen Gefühle, die mir diese Misere erst eingebrockt hatten und die mir nun schon seit Monaten jeden Versuch verbauten, endlich wieder nach vorne blicken zu können.

 

„Ach verdammt!“, rief ich wütend aus, fegte Notizblätter und Stifte samt Telefon von dem kleinen Kästchen im Flur und schwankte weiter in die Küche, das feste Vorhaben im Kopf, mich für den Rest dieses beschissenen Tages endgültig abzuschießen. Vielleicht, wenn ich es richtig anstellte, würde ich erst gar nicht mehr aufwachen. Aber noch bevor ich in die Tat umsetzen konnte, was sich mein vom Alkohol zerfressenes Gehirn gerade vorgenommen hatte, fiel mein Blick auf einen kleinen, weißen Zettel, der mit Zeros Wohnungsschlüssel beschwert auf dem Küchentisch lag. Sofort schossen mir erneut Tränen in die Augen und ich hätte nicht sagen können, ob mir diese nun aus Trauer oder Wut über die Wangen liefen. Ein haltloses Schluchzen entrang sich meiner Kehle. Nur einen flüchtigen Blick hatte ich für das Geschriebene übrig, registrierte vereinzelte Sätze, die mir wie Messer ins Herz stachen.

 

… bin bei Tsukasa.

… muss nachdenken.

So kann es nicht weitergehen …

 

Wie in Trance schlossen sich meine Finger um die vom Kühlschrank kalte Flasche und lösten ungeschickt den Schraubverschluss. Erneut vollbrachte der ‚Captain‘ sein Wunder und wärmte mein Inneres, obwohl ich mich fühlte, als würde ich einen großen Klumpen Eis an Stelle eines Herzens besitzen.

 

Vermutlich wäre ich an diesem milden Abend im Spätsommer komplett abgestürzt, hätte sich nicht in dem Moment, als der zweite Schluck des Hochprozentigen meine Kehle benetzte, das Telefon gemeldet. Durch das laute Klingeln, das in der Totenstille der Wohnung gleich nochmal so laut wirkte, erschreckte ich mich dermaßen, dass ich den Rum in hohem Bogen ausspuckte und einen Schritt zurücktaumelte. Zu allem Überfluss rutschte mir auch noch die Flasche aus meinen ungeschickten Fingern und zerbarst auf dem harten Fliesenboden in unzählige kleine Scherben.
 

„Verdammte Scheiße!“, schrie ich ungehalten, war gerade hin- und hergerissen, ob ich nun meinem verdampfenden Alkohol nachtrauern oder dem Störenfried am anderen Ende der Leitung erst einmal ordentlich den Marsch blasen sollte. Noch bevor ich mich für eine Variante entscheiden konnte, verstummte das Klingeln jedoch und nahm mir so die Entscheidung ab. Mit hängenden Schultern stand ich also in meiner Küche, den Blick auf die Sauerei auf dem Boden gerichtet. Nicht zum ersten Mal fragte ich mich, ob ich wirklich zu einem derart pathetischen Schwächling verkommen war, wie ich mich gerade fühlte.

 

Auf dem Weg ins Wohnzimmer klingelte es erneut. Nun weitaus weniger geschockt wühlte ich mehr oder weniger koordiniert durch die verstreut am Boden liegenden Dinge, bis ich besagten Apparat endlich in den Händen hielt. Die Nummer sagte mir im ersten Moment nichts, was unter normalen Umständen ein Grund gewesen wäre, nicht ranzugehen. Aber noch bevor ich soweit denken konnte, hatte ich schon abgenommen und ein vermutlich eher unverständliches ‚Hallo?‘ in den Hörer genuschelt.
 

„Karyu?“, erkundigte sich eine mir gerade ebenso unbekannte Stimme und ich zog irritiert die Stirn in Falten, was mir meine aufziehenden Kopfschmerzen ziemlich übel nahmen. Ob ich meinen Gesprächspartner nicht doch kennen sollte? Immerhin schien dieser zu wissen, wer ich war und hatte zu allem Überfluss auch noch meine Geheimnummer angerufen.

 

„Wer will das wissen?“, knurrte ich also bemüht verständlich, aber weniger bemüht, meine schlechte Laune zu verbergen.

 

„Eh, hier ist Kirito“, antwortete die Stimme, wie ich fand, sogar etwas missmutig und erneut brauchte ich einige Sekunden, bis ich das Gehörte soweit verarbeitet hatte, dass es auch für mich Sinn ergab.

 

„Kirito?“, fragte ich trotzdem und noch immer etwas verwirrt, bis mir wieder einfiel, warum ich heute Vormittag so abgestürzt war; was genau mich dazu veranlasst hatte, meine Unsicherheit und Zweifel, die Trauer und Verzweiflung mal wieder im Alkohol zu ertränken.

 

„Ja, genau der. Sag mal, Karyu, hast du getrunken? Oder hab ich dich nur gerade aufgeweckt? Du hörst dich nämlich nicht wirklich fit an. Ich ruf auch nur an, weil ich fragen wollte, ob du den Vertrag bekommen hast?“

 

Kirito wollte also wissen, ob ich den Vertrag bekommen hatte?

Den Vertrag etwa, den ich heute Morgen aus dem Briefkasten gezogen hatte?

Den ich lediglich kurz überflogen und dann zu trinken begonnen hatte, weil mich mein schlechtes Gewissen, den anderen gegenüber, sonst vermutlich zerrissen hätte?

 

„Ja, den hab ich bekommen, ich …“ Erneut brachte ich nicht mehr als ein leises Nuscheln heraus, ignorierte auch Kiritos Fragen nach meinem Wohlbefinden und rieb mir über die Augen, im Versuch, wieder etwas Klarheit in meinen Kopf zu bringen. „Ich hatte noch keine Zeit, ihn genau durchzusehen“, setzte ich dann erklärend und mit hoffentlich wieder sichererer Stimme nach.

 

„Kein Problem. Wir könnten uns morgen zum Mittagessen treffen und ihn zusammen durchgehen. Was hältst du davon?“

 

Ich nickte nur dümmlich, ganz in der irrwitzigen Annahme, Kirito könnte mich sehen. Demzufolge setzte ich auch erst verspätet zu einer Erwiderung an, als die Stimme des anderen erneut fragend meinen Namen nannte.

 

„Eh ja, können wir machen.“

 

„Schön, dann um halb eins im ‚Golden Leaves‘, kennst du das?“

 

„Klar.“

 

„Na, dann schlaf mal noch 'ne Runde, du hörst dich echt fertig an. Bis morgen.“

 

„Ja, bis morgen …“

 

Ich hatte das Telefonat schon beendet, noch bevor Kirito sich richtig verabschieden konnte und starrte nun, wie so oft am heutigen Tag, unfokussiert vor mich auf den Boden.

 

Er war gegangen …

Kirito bot mir an, in seiner Band zu spielen …

Er war gegangen...

Er … war gegangen …

Zero …

 

Rückblickend hätte ich am nächsten Tag, als ich endlich wieder nüchtern war, zu Tsukasa fahren sollen. Ich hätte mich bei Zero entschuldigen und ihn anflehen müssen, dem übergroßen Dummkopf, der ich war, noch einmal eine Chance zu geben. Doch vor allem, hätten wir uns gemeinsam endlich ernsthafte Gedanken darüber machen sollen, wie es nun, auch ohne Hizumi, mit uns weitergehen würde.

Stattdessen saß ich um kurz vor halb eins im ‚Golden Leaves‘, wartete auf Kirito und hatte, noch bevor dieser Tag zu Ende ging, den Vertrag unterschrieben, der mich zu einem festen Mitglied von Angelo machte.

 

Als ich Zero und den anderen beiden erst Wochen später meine Entscheidung mitteilte, hätten ihre Reaktionen nicht unterschiedlicher sein können.

Tsukasa wirkte beinahe schon erleichtert. Immerhin würde nun nicht er derjenige sein, der alle enttäuschte, wenn er seinen Kindheitstraum, Enka-Sänger zu werden, doch ernsthaft weiterverfolgte.

In Hizumis Augen glaubte ich sogar so etwas wie Verständnis und Mitgefühl zu sehen. Wenn einer von ihnen meine Entscheidung, den Drang verstand, einen Schlussstrich zu ziehen und einen Neuanfang zu suchen, war es vielleicht wohl wirklich nur unser Vocal. Immerhin hatte er sich für genau dasselbe entscheiden müssen, wenn auch anders als ich, nicht freiwillig.

In Zeros Gesicht jedoch stand so viel Trauer, Enttäuschung und vielleicht auch Hass, dass ich mich nicht traute, ihn nach unserem nun wohl wirklich letzten Bandmeeting anzusprechen. Ihm zu erklären, wie alles so schief hatte laufen können und mich endlich wegen des Streits zu entschuldigen.

 

Wir hatten nie Schluss gemacht, aber am nächsten Tag stand er vor meiner Tür, die nun wieder leere Reisetasche über einer Schulter und meinte, er hätte sich in den letzten Wochen eine neue Wohnung gesucht und wollte jetzt seine restlichen Habseligkeiten abholen. Vermutlich hätte ich sogar in diesem Moment das Ruder noch herumreißen, ihn um Verzeihung, eine zweite Chance bitten können. Aber ich war zu geschockt, zu verletzt von seinem Tun, das mir gerade so abrupt, so unvorhergesehen vorkam, dass ich nicht damit umgehen, ihn stattdessen nur stumm gewähren lassen konnte.

 

Es sollte fast ein Jahr vergehen …

Ein Jahr, in dem ich versuchte, meinen Platz in der neuen Band zu finden.

In dem ich ihn und die anderen mit jedem verstreichenden Tag mehr vermisste, bis wir uns fast schon zufällig – Hizumi würde es wohl eine Fügung des Schicksals nennen – zu einem spontanen Treffen verabredeten.

Erst da brachte ich endlich den Mut auf, Zero die Entschuldigung zu geben, die er schon so viel früher verdient hätte.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  QueenLuna
2019-10-15T06:29:13+00:00 15.10.2019 08:29
Puh.. Was für ein Kapitel... Musste gefühlsmäßig teilweise mit mit Kämpfen...

wie gesagt, bin noch im Lesefluss und äußere meine aktuellen Gedanken dazu ^^
Dass Karyu oder auch Hizumi eine erneute Trennung nicht verkraften würden, ist für mich absolut nachvollziehbar... Ich nämlich auch nicht T.T

Während des Lesens ging mir die ganze Zeit durch den Kopf, was wohl mit Zero und Karyu passiert ist... Du hast es schon schön spannend gehalten, dass du immer nur nach und nach so kleine Happen verteilt ^^ fand ich toll auch wenn es mich rumhibbeln ließ xD
Ich finde Zeros Verhalten Karyu gegenüber auch sehr herzerwärmend.. Einfach schön, wie du diese leichte Spannung zwischen ihnen beschreibst.

'Den Kater aus der Hölle auf meinen Kopf Tango tanzen fühlte' - was für eine geile Beschreibung xD ich glaub es macht dir unheimlich viel Spaß solche Beschreibungen zu finden xD

Ich hatte arg mit mir zu kämpfen, als Karyis Erinnerungen kam... Die Wut, Verzweiflung und Melancholie wegen Despa und als Zero gegangen ist... Du hast das so anschaulich und realitätsnah geschrieben, dass ich echt mit mir gekämpft habe...

Boah das Kapitel hat mich ein wenig geschafft...Also du hast echt so toll geschrieben <3
so als alter Despa Fan, der gefühlt 8 Jahre mit sich zu kämpfen hatte, wieder mit Freude die alten Songs zu hören... Da erfasst auch mich eine gewisse Schwermut... Also ein lachende und weinendes Auge hab ich definitiv ^^`

Auf zum nächsten Kapitel xD
Antwort von:  yamimaru
15.10.2019 18:59
Und hallo, die Zweite XD

ugh, das glaube ich dir. Ich weiß noch, wie unglaublich emotional ich während dem Schreiben an dieser Story war und ich werde es auch heute immer noch, wenn ich mal wieder reinlese. Das Thema ist einfach für jeden, der Despa-Fan ist und war, schwierig, glaub ich. ^^

Oh Gott ja, ich würde eine erneute Trennung auch nicht verkraften können, das ist glaub ich eine schlimmere Vorstellung, als die Vier wirklich nie wieder gemeinsam auf der Bühne stehen sehen zu können. U_U

Hihi, schön, dass du dich von mir so auf die Folter spannen lässt und das gleichzeitig auch noch gelungen findest. Dann hab ich damit ja erreicht, was ich erreichen wollte. XD
Schon oder? Wenn der Zero will, kann er so verdammt lieb sein und Karyu ist und bleibt einfach immer Wachs in seinen Händen. +lacht+ Schön, dass die Spannung, die zwischen den beiden herrscht, bei dir angekommen ist. ^^

Jupp, das stimmt auf jeden Fall - ich liebe solche Beschreibungen oder einfach mal einen flapsigen Spruch oder theatralischen Gedanken, damit nicht alles immer so bierernst ist. ^^

Aaaaawww, danke für das ganze Lob, ehrlich <3 Und das, wo dich das Kapitel und Karyus Erinnerungen so geschafft haben. Die Story ist bislang wirklich das persönlich Emotionalste, was ich geschrieben habe und vermutlich schiebe ich die Fortsetzung dazu auch deswegen noch so ein bisschen vor mir her. XD Aber irgendwann wird es sie geben - vergessen hab ich sie nicht. XD

Und jetzt auch hier nochmal danke für die ganze Mühe, die du dir mit dem Kommentieren machst. Das ist so toll. <3

Lg
yamimaru


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