Symphonie von Des-C-Kudi ================================================================================ Kapitel 6: Akt VI ----------------- Akt VI . . . „Helga?“   Sie blinzelte, als Phoebes Gesicht plötzlich ihren Blick auf den blauen Himmel versperrte. Ihre beste Freundin nahm neben ihr Platz auf der Tribüne. Beide beobachteten schweigend das Treiben auf dem Pausenhof. Phoebe drängte ihre Freundin nicht- dafür kannte sie Helga zu gut.   Helga starrte fast regungslos in die Büsche. Bildete sie es sich ein oder hatte der Busch Ähnlichkeit mit Arnolds Kopfform?   Plötzlich krachte ein Basketball mitten ins Gebüsch. Sie blinzelte, als sich ihre Halluzinationen in Nichts auflösten.   Sie brauchte wirklich Abstand von ihm. Diese wilden Tagträumereien bewiesen nur wieder, dass sie ihr Herz und ihren Verstand nicht mehr länger unter Kontrolle hatte. Sie hatte das Gefühl, wieder im Körper ihres 10-jährigen Ichs eingesperrt zu sein. Sollte das so ihr Leben lang weitergehen? Weich wie Butter werden, sobald er nur in ihre Richtung sah, aber dann wieder tagelang Trübsal blasen, wenn sie ihn nicht zu Gesicht bekam? Reichte ihr nicht die unendliche Demütigung, die sie bei ihm erfahren hatte? Sie war wirklich masochistisch veranlagt. Ansonsten würde sie ihrem Seelenheil zuliebe ihn in die hintersten Ecken ihres Gedächtnisses verbannen.   Wenn es bloß so einfach wäre.   In wenigen Wochen würde sie endlich ihren Highschool-Abschluss in der Tasche haben. Sie hatte sich bereits auf mehrere Stipendien beworben- bei ihren Leistungen eine ziemlich realistische Erfolgschance. Sie würde sich eine Universität möglichst weit von zu Hause entfernt suchen, am besten in einem ganz anderen Bundestaat. Weit weg von ihrer Familie, ihm und ihren Gefühlen.   Und dann wäre sie endlich frei.   „Ich…“, begann sie. Sie schluckte schwer. Sie rang mit den Worten. Obwohl sie sich mit ihrer Freundin nie direkt über dieses sensible Thema unterhalten hatte, ahnte sie, dass die aufmerksame Halbjapanerin mehr über ihre Gefühle zu Arnold wusste, als sie es glaubte.   „Kannst du dich noch erinnern, als ich…“, fing sie erneut an. Sie biss sich auf die Lippe. Wieso war es so verdammt schwer, offen über die eigenen Gefühle zu reden? „Kannst du dich noch erinnern, als ich damals während der P.S. 118 einfach nicht mehr… Eiscreme vergessen konnte?“   Oh Helga, du Feigling.   Statt reinen Tisch zu machen, kramte sie wieder ihre Lüge von früher raus. Ihr Codewort Eis, mit dem sie eigentlich Arnold meinte (Wen sonst?), hatte sie Phoebe damals gebeichtet, dass sie ihn schlichtweg einfach nicht mehr aus dem Kopf bekam.   „Eiscreme…?“ Phoebe schwieg kurz. „Oh, sicher doch. Ich kann mich sehr gut an… Eis erinnern.“   Helga warf einen misstrauischen Blick zu ihrer Freundin. Ein kleines Lächeln umspielte Phoebes Lippen. Wie viel wusste sie tatsächlich Bescheid?   Zögernd fuhr sie fort: „Ich kann ihn... äh Eis einfach nicht vergessen. Ständig denke ich nur an Eis. Tag und Nacht sucht es mich in meinen Träumen auf, lässt mich einfach nicht in Ruhe. Ich habe das Gefühl, als würde sich mein Leben nur noch um Eis kreisen.“ Einmal raus, ließen sich die Worte aus ihrem Munde nicht mehr aufhalten. „Eis, Eis, Eis. Etwas anderes scheinen meine Gedanken nicht mehr zu kennen, Phoebs. Es ist wie eine Sucht! Nun versuche ich seit Wochen, kein Eis mehr zu essen. Aber es klappt einfach nicht. Diese Obsession- ich brauche sie. Sie lässt mich lieben, hassen, inspirieren. Wenn sie nicht da ist, fehlt etwas Wichtiges in mir…“   Sie keuchte plötzlich auf, als Arnold in ihrem Blickfeld auftauchte und den Basketball aus dem Gebüsch fischte. Fast unbewusst breitete sich auf ihrem Gesicht ein sehnsuchtsvolles Lächeln aus. Sie beobachtete, wie die Sonnenstrahlen sich in seinem blonden Haar verfingen. Kam es ihr nur so vor oder sah er von Tag zu Tag immer besser aus?   Phoebes Stimme riss sie aus ihren Tagträumen. „Und du glaubst wirklich, dass es eine gute Idee sei, auf Eis zu verzichten?“   Sie drehte sich zu ihrer Freundin um.   „Helga, du fühlst dich offensichtlich nicht wohl. Diese Diät- sie ist total irrsinnig. Was bringt es dir, auf Eis zu verzichten, wenn du tagtäglich daran denken musst?“   „Und wenn mir Eis einfach nicht gut tut? Sobald ich es einmal probiere, geht es mir unglaublich schlecht“, flüsterte Helga.   Phoebe lächelte sie an. „Mach einfach reinen Tisch mit… Eis. Dann weißt du endlich Bescheid. Keine Diät ist sinnvoll, wenn man sich nicht gut dabei fühlt. Was hast du denn schon zu verlieren?“   Helga biss sich auf die Lippe.   „Mein Herz vielleicht?“   Phoebe neigte schmunzelnd den Kopf zur Seite. „Das hast du doch schon längst verloren.“   Helga warf einen Blick zu den Jungs auf dem Basketballplatz, die laut johlten, als Arnold einen Korb machte.   Phoebe nahm ihre Hand.   „Tu das, was dein Bauchgefühl dir sagt. Mach ein für alle Mal einen kurzen Prozess mit du-weißt-schon-wen. Stell dich deinen Gefühlen.“   Helga schluckte schwer.   Sie hatte keinen blassen Schimmer, was Phoebe mit „kurzen Prozess“ meinte. Aber ihre Freundin hatte im Grunde recht- sie musste einen Schlussstrich mit Arnold ziehen. Sie musste diese Bürde, dieses Geheimnis, das sie schon seit ihrer Kindergartentage mit sich schleppte, loswerden.   Nur dann hatte sie eine realistische Chance, in ihrem Leben voranzukommen.   Ein erleichtertes Lachen stieg in ihrer Kehle auf.   „Danke, Phoebs!“ Sie umarmte ihre beste Freundin. „Endlich weiß ich, was zu tun ist! Glaube ich zumindest“, fügte sie hinzu. Sie würde sich schon einen genialen Plan zurechtschmieden. Sie stand auf und wollte gerade die Tribüne runtersteigen, als ihr etwas siedend heiß einfiel. Sie drehte sich eilig zu Phoebe um und deutete einen Reißverschluss an ihrem Mund an.   „Oh, und Phoebe: kein Sterbenswörtchen an irgendeine Seele. Dieses Gespräch hat nie stattgefunden.“   Phoebe lächelte sie an und ahmte ihre Geste nach. „Verstanden, Helga. Top Secret.“ . . . Arnold warf einen flüchtigen Blick zurück, als er Gerald den Basketball zuwarf.   Er erhaschte noch einen Blick auf sie, wie sie lachend Phoebe umarmte, bevor sie aus seinem Blickfeld verschwand. In seinem Bauch bildete sich ein Knoten, als er sie sah. Die Sehnsucht nach ihr schmerzte.   Der Tanzabend mit ihr, der jetzt Wochen zurücklag, kam ihm mittlerweile wie ein Traum vor. Wann und wo der Bruch in jener Nacht geschehen war, konnte er immer noch nicht nachvollziehen. Dabei hatte alles so gut angefangen. Wenn er daran dachte, wie richtig es sich angefühlt hatte, sie in seinen Armen zu halten, wurde der Verlust nur noch unerträglicher.   Aber die Eiseskälte in ihrer Stimme konnte er ebenfalls nicht vergessen. Sie behandelte ihn wie Luft. So, als ob sie sich nie geküsst hätten- als ob sie seine Küsse nie mit der gleichen Leidenschaft erwidert hätte. Sie hatte ihm bei ihrem Abgang mit einem ziemlich deutlichen Wink zu verstehen gegeben, dass sie nichts mehr mit ihm zu tun haben wollte. Frustriert ballte er die Hände zu Fäusten. In wenigen Wochen würden sie sich wahrscheinlich nie mehr wieder sehen.   Und er war außerstande, etwas dagegen zu machen.   „Arnold, fang!“   Er riss sich von ihrem Anblick los und konzentrierte sich wieder auf das Spiel. . . . „Helga, wieso bist du noch nicht im Bett, mein Schatz?“   Ihre Mutter steckte den Kopf durch den Türspalt und schaute sie wie üblich verschlafen an. Helga hob nicht den Kopf vom Schreibtisch, sondern machte nur eine wegwerfende Geste.   „Jaja, Miriam. Ich sitze noch an der Abschlussrede.“   „Oh.“ Ihre Mutter lehnte sich an den Türrahmen und legte einen Finger an die Lippe. „Mein kleines Mädchen ist jetzt erwachsen. Das erinnert mich an meinen eigenen Abschluss, damals…“ Sie seufzte schwer.   Helga verdrehte die Augen, als ihre Mutter in alten Erinnerungen schwelgte.   „Aber mach dann nicht zu lange. Du willst ja schließlich morgen gut aussehen.“   „Schon gut, Miriam“, murmelte Helga geistesabwesend. Gutes Aussehen wird mir morgen nicht viel bringen, wenn ich mich bis auf die Knochen blamiere.   Sie zögerte kurz, als sie ihre zur Papier gebrachten Worte betrachtete. Die aneinandergereihten Zeilen wirkten ungewohnt und gestelzt- vor einigen Jahren hätte sie diese Worte locker aus dem Ärmel geschüttelt.   Noch kannst du den Schwanz einziehen, Pataki.   Helga ignorierte ihre innere Stimme und schrieb fleißig weiter. . . . Etwas verlegen schüttelte Arnold dem Schuldirektor die Hand, als er sein Abschlusszeugnis entgegen nahm.   Unter tosendem Applaus verließ er die Bühne und nahm neben Gerald und seinen restlichen Schulkameraden Platz. Nach und nach wurden die letzten Schüler aufgerufen und bekamen ihr Highschool Diploma überreicht.   Aus dem Augenwinkel nahm er sie schemenhaft wahr, wie sie sich zu Phoebe herunterbeugte und ihr kichernd etwas ins Ohr flüsterte. Er spürte, wie sich sein Herz schmerzhaft zusammenzog. War es das? Sollte hier alles aufhören? Die Stimme des Schuldirektors riss ihn aus seinen Gedanken.   „Und nun bitte ich die Jahrgangssprecher Helga G. Pataki und Eugene Horowitz für die Abschlussrede auf die Bühne.“   Unter johlenden Applaus betraten beide die Bühne und stellten sich ans Rednerpult.   Eugene, der ewige Unglückspilz, hatte auch dieses Jahr das Semester nicht ohne einen Unfall überstehen können. Dieses Mal steckte sein linker Arm in einer Schlaufe und auf seiner Stirn prangte ein großes Pflaster.   Etwas umständlich zog er ein Blatt aus seiner Hosentasche und glättete es am Pult. Er räusperte laut ins Mikrophon. „Äh, Verzeihung.“ Aus dem Zuschauerraum kam vereinzeltes Lachen.   „Meine Damen und Herren, liebe Schülerinnen und Schüler, heute ist es nun endlich so weit. Dass wir nun unsere Zeugnisse in der Hand halten, war ein sehr langer Weg- für manche sogar noch länger als üblich. Definitiv ein harter und schmerzhafter Weg...“   Arnolds Blick driftete ab und blieb an Helga hängen. Er blendete Eugenes Rede und die Lacher, die er den Zuschauern entlockte, aus. Stattdessen tastete er mit den Augen ihr Gesicht ab. Er runzelte die Stirn, als er ihren verkniffenen Gesichtsausdruck bemerkte. Ihr besorgter Blick flog über die Zuschauermenge. Nach wem hielt sie Ausschau?   „…und nun gebe ich das Wort an meine Kollegin weiter- Helga G. Pataki.“   Bereitwillig überließ er Helga das Pult. Sie zog einen Zettel hervor und legte es sich zurecht. Schweigend starrte sie sekundenlang das Blatt an.   Arnold spürte, wie die Menge hinter ihm unruhig wurde. Er war sich ziemlich sicher, dass alle Anwesenden eine flotte, leidenschaftliche, helgatypische Rede erwarteten. Fragend blickte er sie an. Was war bloß los mit ihr?   Plötzlich fing sie an zu sprechen. Nach und nach ebbte das Flüstern hinter ihm ab, bis es mucksmäuschenstill wurde.   Ihre ruhige Stimme hallte durch den Saal.   Als ihre Worte in Arnolds Kopf drangen, klappte sein Mund sprachlos auf. . . . Helga schluckte schwer, als sie von ihrem Text aufschaute und in die erwartungsvollen Augen der Zuschauer sah. Ihr Blick fiel auf Phoebe, die ihr aufmunternd zulächelte.   Stell dich deinen Gefühlen.   Sie bezweifelte, dass ihre Freundin diese Art des Geständnisses gemeint hatte. Aber wieso nicht gleich aufs Ganze gehen? Wer nicht, wenn sie?   Sie schloss die Augen kurzzeitig und sammelte sich.   Und dann fing sie an zu sprechen.   „Tag für Tag sehe ich dich, du, der mein Herz höher schlagen lässt, du, der sich seit Kindheitstagen in mein Herz schlich, du, mit dem sich keiner messt.“   „Psst, Helga, das war nicht abgemacht“, flüsterte Eugene panisch hinter ihr. Sie ignorierte ihn und konzentrierte sich stattdessen auf ihren Text.   Von Zeile zu Zeile klang ihre Stimme immer fester, bis ihr ganzer Körper von einer unendlichen Ruhe erfasst wurde. Nun konnte sie nicht mehr zurück.   Das Kind war bereits in den Brunnen gefallen.   „An jenem regnerischen Tag führtest du mich ins Traumland, warst von nun an der Anker in meinem Leben, mochtest in meinem Haar das rosa Band, ließest mich auf Wolke Sieben schweben.   Im Rad drehen tue ich mich, versteckte Blicke, die sich nach dir sehnen, triezen, schneiden, verspotten- dieses Verhalten so kindlich, doch kann ich nur einen begehren.   Ich verzehre mich nach den Küssen, die wir einst teilten, diese einzige Nacht, sie war wie eine Mär, ob die Wunden jemals heilten, als ich dich sah mit ihr, lang ist es her.“   Sie hob den Blick und ließ ihn über die Zuschauermenge wandern. Die Augen vieler Zuschauer –allen voran die ihrer Eltern- waren tellergroß geworden. Arnold starrte sie mit einem rätselhaften Ausdruck an. Ihre Blicke verhakten sich miteinander, bis sie alles in ihrer Umgebung ausblendete.   „Nun ist der Tag gekommen, dass sich unsere Wege für immer trennen, ein zweites Mal wird mir mein Herz genommen, ob dieser Schmerz jemals aufhört zu brennen?   Einst wünschte ich, hätt‘ ich es dir früher gesagt, diese Bürde auf mir, sie brach mich fast entzwei, Oh Arnold, nun habe ich es endlich gewagt, und endlich bin ich frei.“   Sie ließ ihre letzten Worte abklingen.   Ihre Schultern sackten vor Erleichterung ab.   Endlich war es draußen.   Es war so still, dass man bestimmt eine Stecknadel hätte fallen hören können. Irgendwo im Hintergrund räusperte sich jemand diskret.   Langsam kam sie in der Wirklichkeit wieder an. Sie spürte, wie ihr langsam die Röte bis in die Haarwurzeln kroch. Hundert Augenpaare wechselten ungläubig den Blick zwischen ihr und Arnold hin und her. Sie konnte es ihnen nicht einmal verübeln. Ihr Geständnis war wie eine Bombe eingeschlagen. Helga G. Pataki, der stadtbekannte Wildfang und Störenfried seit der P.S. 118, war eigentlich in ihre Lieblingszielscheibe für Hänseleien und Belustigungen, Arnold Shortman, unsterblich verliebt? Obendrein hatte ihr rüpelhaftes Auftreten all die Jahre über ihre poetische Ader gekonnt hinweggetäuscht. Diese Story hätte direkt ein Drehbuch für eine schlechte Soap sein können.   Nervös nestelte sie an ihrer Robe. Sollte sie jetzt lieber einen lockeren Spruch raushauen oder sich ganz dezent hinter dem Vorhang verstecken und die nächsten 50 Jahre sich nicht mehr in der Öffentlichkeit blicken lassen? Leider hatte sie beim Verfassen des Gedichtes verpasst, ihr Leben nach dieser Blamage zu planen. Oh, verdammt.   Glücklicherweise nahm ihr Eugene die Entscheidung ab. Er war der Erste, der sich aus seiner Schockstarre löste.   „Äh, dann mache ich mal weiter mit der Rede“, stammelte er, „Danke für deinen… poetischen Beitrag, Helga.“   Eugene griff hastig nach dem Mikrophon, aber just in diesem Augenblick meldete sich sein ewiges Pech zu Wort. Er griff ins Leere und stolperte dabei über ein Kabel.   Wums!   Mit einem dumpfen Schlag stürzte er von der Bühne.   Einen Sekundenbruchteil bleib es still.   Dann brach aber im Saal das heillose Chaos aus und sofort eilten ihm Menschen zur Hilfe.   „Nichts passiert“, nuschelte er, aber seine Stimme ging im aufgeregten Tumult um ihn herum unter.   Helga zögerte. Eugene war in besten Händen- dutzende Erwachsene hatten sich um ihn versammelt.   Sie nutzte den kurzen Augenblick der Ablenkung und flüchtete. . . . tbc... Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)