Forever Dream von Mad Hatter-sama ================================================================================ Kapitel 1: A Different Life and Whiskey Cola -------------------------------------------- Eine sanfte Klaviermelodie plätscherte durch das still daliegende Schulgebäude. Durch das geöffnete Fenster wehte ein warmer Sommerwind in das dritte Klassenzimmer auf der linken Seite im zweiten Stock, raschelte in den Partituren auf den Regalen und trocknete den dünnen Schweißfilm, der sich in Yoshikis Nacken dort gebildet hatte, wo seine Haare schon wieder ein Stück zu lang für die Schulordnung waren. Toshi stand auf den Besen gestützt neben ihm und schaute ihm beim Spielen zu. Manchmal veränderte er seine Pose und machte eine Bewegung, die Yoshiki vermuten ließ, dass er sich vorstellte, der Besen wäre ein Mikroständer, doch es gab keinen Text zu diesem Lied und Yoshiki plante auch keinen, also sagte er nichts. „Hayashi!“ Yoshiki zuckte so heftig zusammen, dass er seine Knie am Klavier anstieß, verspielte sich und schlug die Tastenabdeckung etwas zu kräftig zu, als könne das noch über seine mangelnde Arbeitsmoral hinwegtäuschen. Toshi hatte den Besen gepackt, als müsse er ihn wie ein Gewehr präsentieren. „Ähem. Jaaa?“, machte er gedehnt und vermutlich etwas schuldbewusst, und drehte sich seeehr langsam auf der Bank um. Dabei rieb er sich unauffällig das linke Knie, das mehr weh tat als das rechte. Sein Geschichtslehrer stand in der Tür und hatte die Arme verschränkt. Es lag diese Mischung aus Verständnis und Tadel in seinem Blick, die man vermutlich an der Universität von der ersten Pädagogikstunde an einstudierte. „Ich beschränke nur ungern Ihre kreative Ader, aber Sie sind zum Putzen hier und nicht zum Klavierspielen.“ Yoshiki schaute sich im Raum um und dann zurück zu seinem Lehrer in der Tür. „Aber alles ist sauber. Ich versteh sowieso nicht, warum man jeden Tag putzen muss. Das ist doch total sinnlos.“ In dem Moment, in dem die Worte seinen Mund verlassen hatten, erkannte Yoshiki, dass er etwas sehr falsches gesagt haben musste. Er erkannte auch was, noch bevor der Mann rot anlief und den Mund zu einer vermutlich auswendig gelernten Moralpredigt öffnete. „Es geht hier nicht um sauber oder nicht, sondern darum, Disziplin zu lernen und Verantwortung für eine Aufgabe zu übernehmen! Dieses kleine Engagement innerhalb der Schulgemeinde bereitet Sie darauf vor, einmal einen nützlichen Platz in unserer Gesellschaft auszufüllen! Und jetzt los!“ Er deutete auffordernd auf Besen und Lappen. Yoshiki unterdrückte ein Seufzen. „Verstanden…“ „Und Deyama, Sie waren doch für den Gang eingeteilt. Darf ich bitten?“ Toshi salutierte nicht, aber es war nah dran. „Entschuldigung, aber Gang ist fertig, Sensei.“ Überraschung machte sich auf dem rundlichen Gesicht des Herr Tanaka breit und er schrumpfte ein wenig zusammen, wie ein Kugelfisch, der Luft abließ. „Ja, dann… sehen Sie zu, dass Sie nach Hause kommen.“ Toshi machte einen solidarischen halben Schritt seitwärts in Richtung Klavier. „Ich helfe ihm gern. Gemeinsam geht es schneller.“ „Nein, das tun Sie nicht. Sonst endet das wie immer damit, dass Sie putzen, während Hayashi sich zurücklehnt und herumklimpert. Sie sollen hier alle ihren Teil tun.“ „Herumkl-“, setzte Yoshiki erbost an, doch Toshi rammte ihm unauffällig den Besen gegen das Schienbein und sagte: „Ja, Sensei“ und dann zu seinem Freund: „Ich warte dann unten.“ Er lehnte das Putzutensil vorsichtig gegen den Flügel, machte eine respektvolle Verbeugung und verschwand aus Yoshikis Sichtfeld. Yoshiki zog ein missmutiges Gesicht und stand, sich nun auch noch das Schienbein reibend, vom Klavierhocker auf. Doch nach wenigen Sekunden hörte er etwas, das ihn automatisch seine ernste Miene aufsetzen ließ – jene, die man sonst für Beerdigungen und Schelten von Mama reservierte. Innerlich knackste er sich bei dem Versuch nicht zu lachen vermutlich drei Rippen an. „Omae wa motomete irun daro, shigeki ni idakareta, Making love, karada ni shikireyosootte mo tengoku e ikenai ze~“, drang eine Stimme noch den Gang hinauf, bevor sie sich im Treppenhaus verlor. Der Lehrer sah erst fassungslos Toshi hinterher und dann zurück zu dem Jungen, der sich gerade so pflichtbewusst seiner Arbeit zuwandte, dass es nur gespielt sein konnte. „Ja, schauen Sie mich nicht an“, sagte Yoshiki und faltete den Putzlappen mit äußerster Sorgfalt auf die vorgeschriebene Art und Weise. „Das hat er nicht von mir.“ -X- Als Yoshiki mehr oder weniger gekehrt und die Tische abgewischt hatte, näherte sich der Zeiger der Uhr bereits verdächtig der Zahl Fünf. Wieder einen Nachmittag mit Unsinn vergeudet, dachte er ungnädig, während er auf den Gang hinaustrat und in die Klassenzimmer nebenan spähte. Leer. Seine Mitputzenden waren schon lange verschwunden. Er brachte sein Zeug zurück und verließ schließlich als gefühlt letztes menschliches Wesen an diesem Tag die Schule. Toshi lag unten vor dem Gebäude auf einer Bank und blinzelte träge, als Yoshiki sich ihm in die Sonne stellte. „Netter Text“, sagte er. „Danke“, antwortete Toshi und schaute ihn aus einem halbzusammengekniffenen Auge heraus an. „Ist mir unter der Dusche eingefallen.“ „Zu viel Information.“ Er ließ sich neben Toshis Beine fallen. „Tanaka ist so ein Riesenarsch.“ „Naja. Wir haben nicht geputzt. Das ist sein Job.“ Yoshiki warf ihm einen finsteren Blick zu. „Toshimitsu. Willst du mit mir befreundet sein oder willst du es nicht?“ „Ich sag ja nur… was ist los mit dir?“ „Argh, ich weiß auch nicht! Dieses ganze Gelaber von wegen Zukunft und Plätzen und Nützlichkeit macht mich jeden Tag mehr fertig“, sagte Yoshiki und stand entschieden auf. Klimpern, hatte er gesagt! KLIMPERN! „Lass uns gehen. Ich muss hier weg, bevor ich explodiere.“ „Gut…“ Toshi hievte sich in die Vertikale und hob seine Tasche auf. „Aber ich mochte das Lied.“ Yoshiki grinste schief und humorlos. „Wenn du mich aufheitern willst, brauchst du mehr als das.“ „Ich hab den ganzen Weg zu dir Zeit. Komm. Erzähl mir irgendeinen Schlagzeug-Scheiß, den ich nicht verstehe und warum es toll ist.“ Yoshiki verdrehte die Augen und ging los. Irgendwo auf halbem Weg schließlich brach Yoshiki das Schweigen und berichtete Toshi von einem neuen Becken und einem Set Besen – die nichts mit Putzen zu tun hatten – und wie immer verstand Toshi nur die Hälfte (vor allem die begeisterte), aber ließ ihn erzählen. Wie er vorhergesagt hatte, besserte schon das Yoshikis Laune beträchtlich. Deswegen erzählte ihm Toshi danach auch von dem vollständigen Sinn oder eher Nicht-Sinn des Lieds, das er vorher geträllert hatte und stimmte Yoshiki in dessen Meinung bei, so ein Lied bräuchte ziemlich viel Gitarrensolo. Zu dem Zeitpunkt, als sie in den Bus einstiegen, war die Laune wieder aus dem dunklen Keller in die Küche zurückgekehrt und schaute dort neugierig in den Kühlschrank. Eigentlich hatte Yoshiki noch einen mindestens zehnseitigen Aufsatz über die chinesische Nordkoreapolitik zu schreiben und Toshi hätte dringend ein paar Kanji wiederholen müssen, um in der nächsten Mathematikarbeit wirklich zu hundert Prozent verstehen zu können, was eigentlich genau von ihm verlangt wurde – beides undankbare Aufgaben, die nach der Klimaanlage der Hayashis und ziemlich viel Wassermelone verlangten. Doch über ihnen lachte noch immer eine freundliche Sommersonne vom Himmel und sie entschieden, dass es eigentlich ein viel zu schöner Spätnachmittag war, um ihn drinnen zu verbringen, von übriggebliebenen Hausaufgaben oder ähnlichem Unsinn ganz zu schweigen. Also kauften sie Limonade in Dosen und machten einen spontanen Umweg über den Park. Dort ließen sie sich in den Schatten eines alten Ahorns fallen und ihr Gespräch über ihre zukünftige Musikkarriere legte eine Pause ein. Es war warm und ein bisschen schwül. Toshi zog sich seine Sonnenbrille ins Gesicht und atmete bald tief und gleichmäßig. Yoshiki legte sich neben ihn und sah den Wolken beim Vorbeiziehen zu. Die da sah aus wie ein Hund. Da hinten ein Frosch. Ein Haus. Eine Gitarre. Nach was Wolken nicht alles aussehen konnten… „Toshi…“ Tiefes und gleichmäßiges Atmen. „Toshi.“ „Mmh?“, kam es leicht schläfrig von rechts. „Wieso eigentlich nicht?“ „Wie’o ei’entlich nich‘ was?“, murmelte Toshi, halb am Wegdämmern. Yoshiki stieß ihm einen Ellenbogen zwischen die Rippen – äußert freundschaftlich, verstand sich. „Warum nicht echt Musik?“ Toshi rieb sich die Seite und gähnte. „Weil das nur funktioniert, wenn man nach oben kommt. Sonst lebst du in zehn Jahren davon, an der Straßenecke Bongo zu spielen. Andererseits wäre es die Zukunft, also wären es vielleicht Laser-Bongos oder so.“ Er gähnte noch einmal. „Wir wollen das jetzt schon so lange“, sagte Yoshiki und setzte sich auf. „Weißt du noch, als ich vor fünf Jahren mein erstes Queen-Album hatte? Wir haben das Teil die ganze Nacht gehört. Du hast versucht, es auf deiner schrottigen Gitarre nachzuspielen.“ „Ja, und du hast gesungen wie ein sterbender Schwan. Deine Mutter kam, um zu sehen, ob ich dich umbringe.“ Yoshiki versuchte einen bösen Blick, musste aber gegen seinen Willen lachen. „Ja, wir haben alle ein paar Fehler im Leben frei, und da hab ich einen von meinen verbraucht. Aber was ich sagen will – Musik, Toshi.“ Yoshiki sah zur Seite und bemerkte, dass er jetzt die ungeteilte Aufmerksamkeit seines Freundes hatte. „Mein Vater wollte immer, dass ich Lehrer werde. Aber ich kann mir diese Zukunft nicht vorstellen. Lehrer… Haus… Kinder… Alt werden… Das ist alles…“ Yoshiki machte eine kreisförmige Handbewegung und gab den Satz mangels eines passenden Wortes auf. „Ich weiß nur zwei Dinge: Ich will immer mit dir befreundet sein. Und ich muss Musik machen.“ „Du musst?“ Vielleicht hätte Toshi versucht, belustigt zu klingen, doch etwas in Yoshikis Stimme ließ den Tonfall nicht zu. Yoshiki klappte den Mund auf und dann wieder zu und wandte den Blick dann ab. Ein Stück entfernt lachten Kinder, während sie sich eine Frisbee zuwarfen. Ein kleiner, wuscheliger Hund hüpfte zwischen ihnen hin und her. Von der Straße drang gedämpft das Geräusch sich langsam dahinschlängelnden Verkehrs herüber und weit über ihnen rauschten die Blätter in einer fernen Brise - die Geräusche eines trägen Sommertages. Toshi nahm einen Schluck Limonade. Sie war inzwischen lauwarm und fühlte sich auf seiner Zunge klebrig an. Noch mit der Brühe im Mund drehte er den Kopf wieder so weit, dass er Yoshikis Profil sehen konnte. Er kannte den anderen Jungen seit über zehn Jahren und das war alles, was er brauchte. Neben ihm kämpfte sein Freund mit einer Antwort und er war sicher nicht derjenige, der ihn drängen würde. „Ich bin manchmal wütend“, sagte Yoshiki schließlich, gerade als Toshi sich durchgerungen hatte, den warmen Sabber runterzuschlucken. „Und manchmal bin ich traurig. Und dann weiß ich nicht, was ich machen soll. Manchmal fühle ich mich, als … könnte ich nicht …“ Yoshikis Stimme verlor sich und ein paar Sekunden herrschte Stille, bevor er wieder ansetzte. „Aber das alles ist egal, wenn ich Musik mache. Es gibt einem irgendwie… Kraft. Ich glaube, Musik kann Leute retten, Toshi.“ Er knetete ein paar Herzschläge lang seine Finger, als wären sie kalt. „Vielleicht auch mich.“ Toshi blinzelte. Einmal. Zweimal. Dann sagte er: „Du kannst wirklich sehr frustrierend sein an so einem schönen Tag.“ „Ja, das ist der Hayashi-Signature-Move.“ Yoshiki lächelte schief und nahm ebenfalls einen Schluck Limonade, verzog das Gesicht und spuckte sie zur Seite aus – dankbarerweise zu der Seite, auf der Toshi nicht lag. „Bwah. Kiwi schmeckt echt widerlich, wenn sie warm wird.“ „Glaub mir, Kokusnuss ist nicht besser“, sagte Toshi und hob zur Unterstreichung seiner Worte seine eigene Dose an. Doch sie hatten ja noch ein Thema. „Also willst du das wirklich? Musik, Band, das alles?“ Yoshiki drehte den Kopf und blickte ihm direkt in die Augen. „Ja.“ Und Toshi glaubte ihm. „Ich will nicht Lehrer werden. Scheiße, ich will ja noch nicht mal jetzt zur Schule gehen. Und du willst nicht Arzt werden. Und glaub mir, ich hab gesehen, wie du deinem Bruder Pflaster klebst – die Menschheit wird es dir danken, wenn du eine andere Laufbahn einschlägst.“ Toshi gluckste und zog in schuldbewusster Erheiterung die Schultern hoch. „Das stimmt. Aber…“ Er rupfte einen Grashalm aus und zwirbelte ihn zwischen den Fingern, bis er sich auflöste. „Ich bin mir nicht sicher, wovor ich gerettet werden müsste. Vielleicht hab ich also nicht … dieses Etwas. Du weißt schon. Was du hast.“ „Wahnsinn?“ „Nein. Idiot. Leidenschaft.“ Yoshiki drehte die Dose in den Händen. Die Kiwilimonade darin gluckste. „Also… machst du nicht mit?“ „Das hab ich nicht gesagt. Ich versteh nur nicht, warum du mich willst.“ Die rote Frisbee landete einige Meter entfernt. Toshi rappelte sich auf. „Ich meine gut, wir sind Freunde. Aber wenn mich die Hochglanzzeitschriften eins gelehrt haben, dann dass für Erfolg im Showbusiness viele Dinge wichtiger sind als das. Was, wenn ich scheiße bin.“ Er hatte die Frisbee erreicht und warf sie in einem perfekten Bogen zurück zu den winkenden Kindern. Dann ließ er sich auf die Wiese zurück fallen, diesmal Yoshiki gegenüber. „Du bist nicht scheiße. Du hast eine tolle Stimme. Immer wenn was schreibe, hab ich deine Stimme im Ohr. Was anderes kann ich mir gar nicht vorstellen.“ Toshi musste zu seiner eigenen Überraschung zweimal blinzeln. Mann, Yoshiki hatte es echt raus, mitten in eine normale Konversation rührende Dinge platzen zu lassen, scheinbar ohne sich dessen bewusst zu sein! Er schluckte sicherheitshalber noch einmal, bevor er beschloss, den zweiten Teil einfach zu ignorieren und auf den ersten zu antworten. „Ja, aber… Bowie, Mercury, Barrett… das ist eine ganz andere Liga. Und darum geht’s ja eigentlich gar nicht. Dir ist das so wichtig. Für mich wäre es eher so … tralala.“ „Nein, wär’s nicht“, sagte Yoshiki und stützte das Kinn auf seine rechte Hand. „Ich kenn dich. Du weißt das nur noch nicht. Außerdem, stell dir mal vor, ich werde berühmt und du nicht. Dann kannst du mich nur noch sehen, indem du meine Kassetten kaufst und dann sitzt du da abends nach einem langen Arbeitstag in einem beschissenen 0815-Job im Dunkeln vor dem Fernseher und heulst dir die Augen aus, während ich in meiner Villa in Amerika, die viel mehr Zimmer hat, als ich brauche, langsam an Vereinsamung eingehe und sterbe, und erst meine Putzfrau findet meine halbverweste Leiche eine Woche später und dann hatte ich auch noch peinliche Unterwäsche an.“ Toshi sah ihn eine Zeiteinheit von undefinierter Länge abschätzend an, bevor er antwortete. „Du hast lange an diesem Szenario gearbeitet, oder?“ „Ich hab viel freie Zeit.“ Yoshiki stemmte sich in eine hockende Position auf. „Können wir übrigens weitergehen? Meine Limo zieht Wespen an.“ An der Stelle, wo er das Zuckerwasser mit Farbstoff ausgespuckt hatte, saß inzwischen ein großes gestreiftes Insekt und auch eine Ameisenstraße war dabei, sich fröhlich in die richtige Richtung zu arbeiten. Toshi stand mit einem Seufzen auf, aber es war ein Seufzen mit einer großen Zuneigung darin. „Also gut, Mr. Superstar. Ich nehme an, ich werd‘ irgendwann schon meine persönliche Hölle finden. Vielleicht ist es gar nicht so schlecht, dann vorbereitet zu sein. Ich mach mit. Was soll ich tun?“ Yoshiki schlang ihm einen Arm um die Schulter und grinste. „Mir vertrauen.“ -X- Einige Tage später saß Toshi im Zug nach Hause und hatte das erste Mal seit jenem Nachmittag wirklich Zeit, seine Gedanken zu ordnen. Es war schwer, zwischen Schule, Lernen, Familie, Freunden und drei verschiedenen Sportclubs mal hin und wieder Denken einzuschieben. Doch gerade waren Schule, Freunde und Volleyball für den Tag abgehakt, und Denken vertrug sich normalerweise wunderbar mit der sich bewegenden Kulisse eines Vororts bei Nacht. Toshis Gesicht spiegelte sich leicht im Zugfenster, an das er seine Stirn gelehnt hatte. Während draußen schemenhafte Schatten vorbeizogen und in seinen Kopfhörern Catch Your Train in Dauerschleife lief, ging er das Ganze noch einmal durch. Es war seltsam. Er war Yoshikis bester Freund, doch manchmal fühlte es sich so an, als könne er direkt neben ihm stehen, die Hand ausstrecken und ihn trotzdem nicht berühren. Manchmal war da eine Mauer direkt vor ihm, und dass er von hinter der Mauer vom Leben dort erzählte, ließ sie noch lange nicht verschwinden. Noch verstörender war allerdings, dass Toshi manchmal nicht hätte sagen können, ob die Mauer Yoshiki drin oder alle anderen Leute draußen halten sollte. So oder so war der weitaus größte Teil von Toshi überaus froh, dass er nicht Yoshiki war. Er wusste zwar nur von Hörensagen, wie es jenseits der Mauer aussah, aber das war genug, um zu wissen, dass es ihm wahrscheinlich nicht gefallen würde. Andererseits… gab es Yoshiki auch irgendetwas. Irgendetwas, das ihm selbst fehlte. Toshi horchte in sich hinein. Natürlich, Singen war einfach, Singen war toll. Vom Singen leben zu können: ein Traum. Aber er spürte nicht das, was er in Yoshikis Augen gesehen hatte. Es gab keinen Abgrund, aus dem er sich mit seiner Stimme herauskämpfen musste. Er hatte nicht Yoshikis Dämonen. Hatte er deswegen auch nicht seine Kraft? Eine Gruppe plappernder Schulmädchen stieg zu und setzte sich auf die Sitze vor ihm. Toshi stellte die Musik einen Tick lauter. And you'd like to be another A different guy and a better lover For your love, for your life, check your way. Toshi machte die Dinge, die er tat, weil er sie eben tat. Schule, Sport, seinen Großvater im Altersheim besuchen. Manches davon machte Spaß, manches weniger. Aber das war es dann auch schon. Wie es wohl war, so für etwas zu brennen, wie Yoshiki es tat? Und konnte man das lernen oder musste man dazu in den Abgrund gesehen haben? Bis wann im Leben musste das passieren, um noch einen Einfluss zu haben? War es schon zu spät dafür? Konnte das wirklich etwas werden, wenn er nur ganz fest daran glaubte? An die Idee oder an Yoshiki oder an beides? Wie würde es sein, wenn es wirklich wahr wurde? Kurz erlaubte Toshi sich, in einen kleinen Tagtraum abzudriften, der ziemlich viele Fans beinhaltete. Die von der hübschen Sorte. Würde er eine Limousine haben? Und schöne Haare? Und tolle Schuhe. Auf jeden Fall tolle Schuhe! In diesem Moment registrierte er, mehr aus den Augenwinkeln, dass das da draußen vor dem Fenster seine Haltestelle war. Toshi schoss hoch und schaffte es mit einem beachtlichen Kurzsprint und einem grandiosen Sprung gerade eben noch rechtzeitig zur Tür, um Auszusteigen. Oder eher Auszuspringen. Diese Art der Benutzung des öffentlichen Nahverkehrs führte, zu was sie führen musste: Er sah gerade noch einen Schatten und dann kollidierte er unsanft mit etwas menschlichem und fiel wenig graziös über Füße, von denen er glaubte, dass es seine eigenen waren. Die andere Person rettete sich mit einer halben Pirouette, stolperte dann aber auch und fiel auf den Hintern. „Aua...“, kam es von beiden Seiten gleichzeitig. Dann hörte Toshi ein: „He, soko no kimi. Hast du dir was getan?“ Es fühlte sich ein bisschen seltsam an, dass er derjenige war, dem diese Frage gestellt wurde, doch die allgemeine Irritation steckte ihm noch in den Knochen und deswegen hörte Toshi sich antworten: „Alles in Ordnung. Ich… äh… es tut mir leid.“ Er hob den Blick und erstarrte. Nur eine Armeslänge entfernt auf den Steinen des Bahnsteigs saß ein Junge in seinem Alter. Große, dunkle Augen mit einem charismatischen Funkeln darin betrachteten ihn, passend zu einem fesselnden Grinsen. Toshi spürte, wie seine Lippen sich unwillkürlich ebenfalls zu einem – wie er fürchtete – enorm dümmlichen Grinsen verzogen. „Ach, macht nichts. Ein Guter hält’s aus, um ‘nen Schlechten ist’s nicht schad‘, wie meine Oma immer sagt“, plapperte der andere Junge. Währenddessen stand er auf und streckte ihm die Hand hin. Toshi brauchte ein paar Sekunden, um sich von dem Anblick loszureißen, bevor er die ihm angebotene Aufstehhilfe ergriff und sich auf die Füße ziehen ließ. „Trotzdem, Entschuldigung nochmal…“ Toshi verbeugte sich so tief er konnte, ohne dass sein Kopf mit der Schulter des anderen kollidierte. „Nichts passiert. Mach’s gut.“ Er hob die Hand und ging. Toshi starrte ihm nach. Er ging. Er ging einfach! Und da erst fiel es ihm wie Schuppen von den Augen: Er hatte eine Gitarrentasche auf dem Rücken. Und ging. In diesem Moment, auf dem abendlichen Bahnsteig, in staubiger Hose, mit seiner Sporttasche in der Hand und die Kopfhörer seines Walkmans noch schief auf dem Kopf, erkannte Toshi drei der großen Wahrheiten des Lebens: Es gibt Personen, deren einmalige Berührung mit uns uns für immer verändert. Es gibt Chancen, die man nur einmal bekommt. Es sind die Dinge, die man nicht getan hat, die man für immer bereut. Auf dem gegenüberliegenden Gleis fuhr der Zug in Richtung Innenstadt ein. „He, warte!“ Toshi registrierte erst, dass in Bewegung war, als er bereits zu dem anderen Jungen aufgeschlossen hatte und ihm ein fragender Blick zuteilwurde. Die Türen öffneten sich und Toshi machte einen Schritt zur Seite, um die Passagiere aussteigen zu lassen. „Ähm, ja, also… Willst du zufällig in einer Band spielen?“ Toshi hob verlegen die Hand zum Hinterkopf. In Gedanken hatte das hier irgendwie viel besser funktioniert! „Ich bin kein komischer Irrer! Es ist nur – wir suchen.“ Sein Gegenüber sah ihn ein paar Sekunden lang etwas perplex an, doch erholte sich überraschend schnell. Das charismatische Grinsen kehrte zurück. Weiter vorne pfiff der Schaffner. Sicherheitshalber stellte er einen Fuß in die Zugtür. „Kommt drauf an. Seid ihr nett?“ „Oh. Ja. Sehr nett.“ Toshi nickte. „Mmh. Aber seid ihr auch gut?“ „Ähm… jaaa?“ Der Andere lachte. „Das klingt ja überzeugend.“ Nochmaliges Pfeifen, diesmal drei Mal hintereinander. „Ist ja gut, ist ja gut… Meine Fresse…“, murmelte der Gitarrenjunge und verrenkte den linken Arm nach hinten, um einen Füller aus der Außentasche zu ziehen. „Hand.“ Mechanisch streckte Toshi den Arm aus. Sein Kopf fühlte sich auf einmal seltsam leicht an und schien zum Denken vollkommen ungeeignet. Es kitzelte, als sich der Stift über seine Haut bewegte. An der Gitarre vorbei wurde sich Toshi der Blicke aus den Wagons bewusst. Der Schaffner stampfte winkend auf sie zu. „Ähm“, machte er, um die Aufmerksamkeit auf das sich nähernde Problem zu lenken. „Jajaja, bin schon fertig.“ Toshi spürte ein letztes Kribbeln, dann wurde sein Arm losgelassen. Quer über seinen Handrücken standen jetzt eine Telefonnummer und ein Name. „Hideto?“, fragte er, doch als er hochschaute, war der andere Junge verschwunden und die Türen geschlossen. Der Schaffner pfiff noch einmal und der Zug fuhr mit einem Quietschen an. Toshi blieb am Gleis stehen und sah ihm nach, bis er in den Lichtern der Stadt unterging. Seine Hand kribbelte immer noch. Er würde sie bestimmt niemals wieder waschen. And you like the rock ’n‘ roller A different life and Whiskey Cola But don't be low, keep your own style And catch your train! Kapitel 2: When Life Gives You Lemons ------------------------------------- „Hast du’s inzwischen gemacht?“ „Nein.“ Toshi lehnte an dem niedrigen Schränkchen im Flur, auf dem das Telefon stand. „Toshi!“ „Ja, ich hatte-“ „Überhaupt nichts zu tun!“ Toshi hielt den Hörer eine Handbreit von seinem Ohr weg. Yoshiki vergaß manchmal, dass er die Entfernung zwischen sich und seinem besten Freund nicht durch sein Organ überbrücken musste, wenn er das Telefon benutzte. „Ja, gut! Ich hab mich gedrückt. Ich mach es!“ „Wann?!“ „Übermorgen, 15 Uhr 12!“ „Da hast du einen Friseurtermin! Wie wäre es mit, uhm, ich weiß nicht? Ich leg auf und du tust es?“ „Äh…“ Toshi wand sich wie ein Wurm. Ein Knistern, von dem Toshi wusste, dass es ein Seufzen war, drang aus der Leitung. „Soll ich‘s machen?“ „Nein“, antwortete Toshi, den kleinen Teil von ihm, der das für eine tolle Idee hielt entschieden niederringend und zupfte das Deckchen unter dem Telefonapparat zurecht. „Nein, das wäre ja unendlich peinlich.“ „Also gut. Dann leg ich jetzt auf und ruf in einer Viertelstunde zurück, und wenn du mir bis dahin kein Ergebnis nennen kannst, tauch ich morgen deinen Kopf ins Klo.“ „Uärgh“, machte Toshi und es klickte in der Leitung. Toshi legte den Hörer auf die Gabel und zog einen inzwischen schon recht abgegriffenen Zettel aus seiner Hosentasche. (Ihm war relativ früh klar geworden, dass das mit dem Händewaschen nicht so optional war, wie er gehofft hatte.) Er las die Nummer noch einmal, atmete tief ein. Dann nahm er den Hörer ab - und legte ihn wieder hin. Es war gerade genau 16 Uhr, und er wollte nicht den Eindruck erwecken, als hätte er auf die runde Zahl gewartet, um anzurufen. Um zwei nach schließlich nahm er den Hörer noch einmal ab, wählte die Nummer, glaubte, sich verwählt zu haben und legte wieder auf. Er trocknete die schweißfeuchten Hände an seiner Hose, hob den Hörer noch einmal ab, wählte die Nummer Zahl für Zahl und presste den Hörer fest an ans linke Ohr. Dann weniger fest, weil es wehtat. Er schluckte, doch sein Mund war trocken. Die Ohnmacht schien mit jedem Tuten näher zu kommen. Wie lange musste er abwarten, bis er ohne schlechtes Gewissen wieder auflegen konnte? Viermal? Fünfmal? Nach dem sechsten Tuten schließlich zuckte seine Hand und nach dem siebten senkte er den Hörer. Statt Erleichterung spürte Toshi seltsamerweise aber Enttäuschung. Doch gerade, als seine Hand über der Gabel schwebte, knackte es. Toshi riss den Hörer wieder ans Ohr. Es meldete sich eine Stimme, die klang als wäre der Besitzer aus dem Tiefschlaf gerissen worden und auf dem Weg zum Telefon einmal über die Katze gestolpert. „Hai, Matsumoto de gozaimasu.“ Toshi rätselte ein paar Sekunden und fragte schließlich: „… Ist da Hideto?“ Einige Sekunden passierte nichts. „… ja?“, kam die Antwort dann vorsichtig. „Und wer will das wissen?“ „Ähm, hier ist Toshi – äh, mitsu Deyama.“ Das Mindestgebot der Höflichkeit war wohl der vollständige Name. Toshi wünschte sich nur, er hätte es ohne Pause und ‘äh‘ geschafft. Zum Glück war Yoshiki nicht hier, um diesen Moment mit ihm zu teilen, sonst hätte er sich das mit der Wahl seines Sängers aufgrund dieser verbalen Glanzleistung vielleicht nochmal überlegt. Er verlagerte sein Gewicht vom Standbein aufs Spielbein (verfluchtes unnützes Wissen aus dem Kunstunterricht!) und fuhr fort: „Also, ähm, der Typ vom Bahnsteig… nochmal Entschuldigung dafür.“ „Ah!“, machte die Stimme am anderen Ende der Leitung, gleich eine ganze Ecke freundlicher. „Hallo! Ich hab mich schon gefragt, ob da noch was passiert.“ „Ja, ich… wir… hatten noch… naja, egal. Auf jeden Fall hab ich – also, wir haben uns gefragt, ob du vielleicht am Wochenende mal vorbeischauen willst. So Kennenlernen, Lage besprechen. Und so.“ Standbein-Spielbein. Toshi wechselte den Hörer in die andere Hand. „Wochenende ist?“, fragte Hideto. „Samstag. So gegen Mittag.“ „Klingt gut. Soll ich was mitbringen und wo muss ich hin?“ „Uhm, deine Gitarre wenn’s ok ist. Sonst haben wir auch eine. Und 187-2 Koshigoe.“ Toshi konnte quasi hören, dass am anderen Ende der Leitung gedacht wurde. „Die fünfte Station auf der Uchibo, vom Ostbahnhof aus“, hängte er also hilfsbereit an, „dann laufen.“ „Boah, ist das am Arsch der Welt“, drang es aus dem Hörer und gleich darauf: „Entschuldigung.“ „Kein Problem“, entgegnete Toshi. „Ist nicht mein Haus.“ Dass er selbst nur eine Viertelstunde weiter wohnte, tat hier ja nichts zur Sache. „Dann komm ich erst um zwei Uhr“, sagte Hideto. „Also ich könnte dir versprechen, dass ich das früher schaffe, aber ich würde uns beide belügen.“ „Ok“, antwortete Toshi mit dem Anflug eines Grinsens. „Und du musst bei Hayashi klingeln.“ „Ist gut. Ist Haya-“ Hideto stockte und Toshi hörte durch den Hörer eine Tür knallen und eine hitzig diskutierende Frauenstimme. "Ich muss Schluss machen“, sagte Hideto abrupt. „Bis Samstag.“ Das Gespräch war weg, noch bevor Toshi auch nur ‘Mata‘ hätte sagen können. Irritiert blickte er den Hörer an, als könne er dadurch das Bildtelefon erfinden. Das Freizeichen tutete ihn an und irgendwie fühlte er sich nicht ganz so triumphal, wie er gehofft hatte… doch immerhin. Samstag. Er legte den Hörer auf die Gabel. Samstag war plötzlich eine Million Jahre entfernt.   -X-   Zwanzig Minuten später und zwei Kilometer weiter, einmal über die Bahngleise hinweg und am Shinto-Schrein vorbei, saß Yoshiki am Schreibtisch und drehte seinen Stift zwischen den Fingern. Im Hintergrund lief auf seinem Recorder leise David Bowie und vor ihm auf dem niedrigen Tisch lag seine Geschichtshausaufgabe. Der hatte er bereits geschrieben. Seitdem war länger nichts passiert. Nunja. Damit waren es nur noch 699 Wörter, das musste an Arbeitsleistung erst einmal reichen. Er hätte Schlagzeug spielen wollen, aber seine Mutter hatte Freundinnen zum Kaffeetrinken eingeladen, also fiel das erstmal raus. Sie hatte ihm das Schlagzeug damals gekauft, also konnte sie sich nicht generell darüber beschweren, dass ihr das Getrommle auf die Nerven ging, doch was ihre ‘Nicht vor und nach acht Uhr, nicht bei Besuch und nicht an hohen Feiertagen‘-Regel anging, blieb sie eisern. So eine Verschwendung von guten nächtlichen Stunden… Yoshiki schüttelte den Kopf und schaute wieder auf seinen Aufsatz. Vielleicht fiel ihm doch noch ein Wort ein. Der. Er starrte weitere zwei Minuten auf das Blatt, ohne überhaupt an irgendetwas zu denken. Nein. Kein zweites Wort. Gut, Ende für heute. Er räumte Buch und Heft zur Seite. Endlich war er frei, über das nachzudenken, worüber er wollte! Wunderbar. Fast sofort dachte er an Toshis neuste Zufallsbekanntschaft. In wenigen Tagen würde hier jemand sitzen, den weder er noch Toshi wirklich kannten und das konnte dann entweder wunderbar funktionieren oder total schief gehen. Wie sagte man eigentlich jemandem, dass er scheiße war? Oder war es höflicher, sich einfach nicht mehr zu melden und zu hoffen, dass das Problem sich erledigte, wenn man es lange genug ignorierte? Yoshiki schüttelte den Kopf. Erst einmal abwarten. Er hatte ja noch einen Toshi, mit dem er solche Dinge diskutieren konnte, wenn es dazu kam. Wenn man mal vom Besten ausging, brauchte er somit also noch einen Bass. Bass… Bass… Bass... klang wie das Summen einer Fliege. Bzzzzz. Neben ihm brummte der Ventilator und pustete ihm in regelmäßigen Abständen geringfügig kühlere Luft ins Gesicht. Brrrooooooooowwwww. Dschungel der Soundwörter. Zurück zum Text. Wo konnte er nach einem Bassisten suchen? Sollte er einen Zettel in der Schule aushängen? Schlechte Idee. Wenn es dann nicht funktionierte, lief er der Person am Ende nur ständig über den Weg. Awkward lautete der englische Fachbegriff dafür. Nein… im Musikgeschäft? Das war eine Idee. Gut, dann würde er wohl mal was schreiben… Yoshiki lehnte sich zur Seite und wühlte nach einem leeren Blatt Papier. Hrrm-hrrm – mentales Räuspern. Aaaalso. Ähm. Leeres Blatt. Diese Angst vor dem leeren Blatt! Yoshiki drückte seinen Stift. Ob die jemals wegging? Das erste Wort war das schwerste. Und das erste Wort hier war… Suche. Ja. Ein gutes, solides Verb. „Yoshiki!“ „Jaaa?“, rief er, während er mehr oder weniger kunstvoll die Kanji aufs Papier malte. … scheiße, jetzt hatte er sich verschrieben. Neues Blatt. Er beschloss, sich erst auf das Gespräch zu konzentrieren und senkte den Stift. Für einen Schlagzeuger war er erstaunlich wenig multitaskingfähig. „Kannst du bitte einkaufen gehen?“ Yoshiki machte ein Geräusch, das wie eine Mischung aus Würgen und Röcheln klang. Ja, als guter Sohn sollte man definitiv – „Ich bin eigentlich grade sehr beschäftigt!“  – wieder eine Gelegenheit verstreichen lassen. „Bitte!“ Yoshiki seufzte. Wie jeder andere Junge seines Alters auch wusste er, dass es sich hier nicht um eine echte Bitte handelte, sondern um ein ‘Sieh zu, dass du deinen Hintern hier her schwingst‘. Er rappelte sich also hoch und ging einen Stock tiefer in die Küche, wo seine Mutter ihm eine Liste und einen Geldschein in die Hand drückte und ihn mit liebevollem Nachdruck aus der Tür schob, bevor sie mit Keksen und Kuchen wieder ins Wohnzimmer zurücktippelte. Na toll. Yoshiki steckte die Hände tief in die Hosentaschen und machte sich auf den Weg zu dem kleinen Supermarkt auf der anderen Seite der Siedlung. Der Asphalt war aufgeheizt und zwischen den Häusern staute sich die Wärme. Bassist… Bassist… Bassist… und jetzt alle zusammen, dreimal schnell hintereinander! Warum nur war dieses Instrument so ein Problem? Er kannte einen Trompeter, drei Violinisten, vier andere Schlagzeuger und mehrere Gitarristen, die er allerdings alle nicht sonderlich mochte. Sogar jemanden, der sich leidenschaftlich auf Xylophon eingeschossen hatte! Doch jemanden der Bass spielte, den hatte er nicht. Und das war ja auch gar nicht der Kern des Problems, dachte Yoshiki, als er eine Viertelstunde später den Laden betrat, es ging ja auch darum, dass es passte. Sie waren ja kein Ponyhof… Pflichtbewusst arbeitete er die Liste (Algen, Zwiebel, Seidentofu, Daikon, Limetten, Eier, Spülmittel) ab, packte noch eine Schachtel Seven Stars für den Eigenbedarf dazu und verließ den Laden wieder. Er war gerade um die Ecke gebogen und hatte die Zigaretten aus der Plastiktüte gefingert, als ein Geräusch an seine Ohren drang. … Moment mal. Yoshiki blieb stehen und legte lauschend den Kopf schief. Über das laute Brummen der Klimaanlage des Supermarkts hinter ihm hörte er eindeutig Musik. Westliche Musik. Da spielte jemand Bass. War das… Yoshiki steckte die Zigaretten wieder ein und ging ein paar Schritte weiter. Das war doch… er bog noch einmal um eine Ecke … Led Zeppelin. The Lemon Song! [Für die passende musikalische Untermalung dieser epischen Quest, klickt hier.] Und es kam näher! Yoshiki ging weiter die Straße hinunter, die Einkäufe und ihr eigentliches Ziel hatte er längst vergessen. Er bog einmal nach rechts ab, einmal nach links, ging wieder ein Stück zurück und schlängelte sich dann einen kleinen Pfad zwischen den zwei Wohnblocks hindurch. Vor einem Haus, das seinem eigenen nicht unähnlich war, hielt er an. Aus der angebauten Garage drangen tiefe, alles durchdringende Töne in die Nachbarschaft. Das war es. Yoshiki verstand was von Musik und er erkannte Talent, wenn er es sah (oder eben hörte). Wer auch immer da spielte, er war nicht einfach gut: Er war fantastisch. Und nicht nur das: Er spielte Led Zeppelin und er spielte es unanständig laut. Entschlossen ballte Yoshiki die Hand, die nicht die Plastiktüte hielt, zur Faust. Er musste diesen Jemand sprechen! Mit wenigen Schritten war er die kurze Auffahrt hinauf und am Tor. Er klopfte. Nichts passierte. Er klopfte nochmal, heftiger. Nichts. Natürlich nicht. Er selbst hörte ja auch nichts, wenn er Schlagzeug spielte. Das war das Blöde und gleichzeitig Tolle an den Rhythmusinstrumenten – man war für echte Welt erst einmal unempfänglich. Langsam ging Yoshiki ein paar Schritte rückwärts und schaute sich um. Er konnte natürlich auch am richtigen Haus klingeln. Ja, das war eine Idee. Er wechselte von der Auffahrt zum eigentlichen Haus und drückte die Klingel durch. Doch auch hier passierte nichts. Yoshiki kratzte sich am Kopf. Scheißverein! Unschlüssig ging er zum Garagentor zurück und lugte schließlich um die Ecke. Ein schmales, hohes Fenster zog sich an der Seite entlang. Es war gekippt, vermutlich um ein wenig Luftzirkulation zuzulassen – entweder das, oder um die Nachbarn zu nerven. Beides fand Yoshiki total nachvollziehbar. Sein Blick wanderte tiefer. Unter dem Fenster stand die Mülltonne. Eine Idee schlich sich ungebeten durch eine Hintertür in seinen Kopf und Yoshiki spürte, dass er anfing zu grinsen. Ja, Eingebungen musste man folgen, wer wusste, ob sie wieder kamen! Er schaute sich einmal über die Schulter – wachsame Nachbarn und all das – und ging dann die Seite der Garage entlang. Neben der Tonne stellte er seine Einkäufe ab und schwang sich, zugegebenermaßen wenig elegant, auf den blauen Plastikdeckel. Die Tonne wackelte bedenklich, als er sich vorsichtig hinstellte. Irgendwie kam ihm das Ganze auf einmal doch nicht mehr so schlau vor, wie er gedacht hatte… aber jetzt war er schon so nah am Ziel! Er hakte die Finger auf die schmale Umrandung des Fensters und versuchte, einen Blick nach drinnen zu werfen. Doch alles, was er sah, war ein Teil der gegenüberliegenden Wand, ein paar Autoreifen und ein Poster von den Ramones. Das gab’s doch nicht! Yoshiki stellte sich auf die Zehenspitzen – und der Boden unter seinen Füßen gab nach, als die Tonne nach hinten wegrutschte. „Wohow!“, entfuhr es ihm noch, dann ging es abwärts. Yoshiki hätte niemals gedacht, einmal in eine Situation zu kommen, die man nicht besser beschreiben konnte als mit der Konstruktion ‘Auf die Fresse fallen‘ – oder zumindest nicht in nüchternem Zustand. Doch hier war sie. Dadurch, dass seine Füße noch auf der Tonne, seine Finger aber am Fenstersims hingen und beides in etwa gleichzeitig nachgab (seine Finger vielleicht eine Sekunde früher), machte er eine Bauchlandung, die bestimmt wesentlich witziger aussah, als sie sich anfühlte. Es schepperte hinter ihm, als die Tonne genau wie er Bekanntschaft mit dem Boden machte – der Deckel klappte auf und begrub Yoshikis Waden und Füße unter sich. Etwas an seiner Hand klebte eklig glibberig. „Ahh!“, machte Yoshiki in einem leichten Anflug von Verzweiflung und schaute sich um. Er war in seinen Einkäufen gelandet. „Eier...!“ „Ähem.“ Yoshiki schielte zur Seite und nach oben, von wo ein Räuspern erklungen war. Dort stand ein Junge, der etwas jünger sein mochte als er selbst, in Jeans, einem schwarzen Shirt und halbgeschnürten Stiefeln und betrachtete ungläubig die Szene, die sich ihm bot. „Ähm“, machte der Kerl. „Hallo?“ „Guten Abend“, quetschte Yoshiki heraus. Immerhin war er gut erzogen worden. Nur was danach geschehen war, wusste er nicht mehr. „Was wird das hier?“ „Die Erklärung braucht ein bisschen…“ Yoshiki rappelte sich auf, wischte den Eiersabber an der Hose ab und stellte die Tonne wieder dahin, wo sie ihn gefunden hatte. Dann hob er den Blick. Er begegnete einem nicht eben freundlichen Gesichtsausdruck. Der Bassspieler hatte einen Arm in die Hüfte gestemmt und schaute ihn herausfordernd an. „Also. Was hast du da vor meiner Garage zu suchen?“ „Erstens: Ich bin neben deiner Garage. Zweitens: Ich hab jemanden Bass spielen gehört. Also dich.“ „Schön. Das tun meine restlichen Nachbarn auch, aber die klettern nicht auf unseren Müll.“ Der Junge zog eine Schachtel Zigaretten aus der hinteren Hosentasche und die Art, wie er sich eine ansteckte, sagte Yoshiki, dass er es für den Effekt tat. Er spielte für das Publikum. Also schön. Das konnte er auch. „Ja, ich gebe zu, die Mittel waren drastisch, aber die Zeiten sind auch schwer“, antwortete Yoshiki betont unbeeindruckt. Diese Form der direkten Konfrontation lag ihm eigentlich weit weniger, als ihm die Leute gerne unterstellten. Er war schüchtern. Aber wenn es mal nur noch die Wahl zwischen vor Scham im Boden versinken und es mit erhobenem Haupt durchziehen gab, dann nahm er letzteres. Sein Gegenüber zog skeptisch die Augenbrauen ein wenig zusammen. Sein Gesicht sagte eindeutig ‘Willst du mich verarschen?‘, doch seine Worte waren: „Gut, lass mich die Frage anders formulieren: Wer bist du, was willst du und warum kommst du nicht zur Tür rein wie andere Leute?“ „Ich bin nicht andere Leute“, sagte Yoshiki, mit der Beantwortung der Fragen von hinten anfangend. „Ja, das glaub ich gern“, murmelte der andere Junge abschätzig und nahm einen Zug. „Und ich hab versucht, zur Tür reinzukommen. Du hast nichts gehört. Und ich… ich musste wissen, wer da spielt.“ Im Zweifelsfall half die Wahrheit immer noch am besten. Die glaubte nur nie jemand. „Warum.“ „Weil du gut bist.“ „Ich weiß.“ Jetzt war es an Yoshiki, die Augenbrauen irritiert zusammenzuziehen. Das Gehabe schien ihm nicht gespielt. Wow. Da hatte jemand anscheinend ein gesundes Selbstbewusstsein. Nun ja. Wie auch immer. „Wie heißt du?“, drehte er also kurzerhand den Spieß um, in dem Versuch, aus dem Kreuzverhör eine Unterhaltung zu machen. „Ich bin Taiji. Und du bist seltsam“, stellte Taiji fest und verschränkte die Arme, so gut das mit einer brennenden Zigarette in der Hand möglich war. „Nein. Ich bin Yoshiki und ich bin auf der Suche nach einem Bassisten.“ „Für was.“ „Für meine Band.“ „Und was hast du vor, mit deiner Band?“ Die Art, wie Taiji Band sagte, klang ein wenig so, als glaube er, Yoshiki dressiere Schweine und stecke sie in kleine Anzüge, um mit ihnen eine Blaskapelle zu gründen. Diese Art machte Yoshiki jetzt schon wahnsinnig. Kurz überlegte er, ob das hier eine gute Idee gewesen war. Vielleicht sollte er sich einfach verbeugen und gehen. Doch dieser Bass… dieser Bass. Er hatte ihn sicher nur auf dem falschen Fuß erwischt. Manche Leute wurden ein wenig gereizt, wenn man Hausfriedensbruch bei ihnen beging – anscheinend war Taiji einfach einer von denen. Man durfte diese Dinge nicht überbewerten. Zurück zur Frage. Ja, was hatte er eigentlich vor? Taiji starrte ihn weiterhin gnadenlos nieder. Für einen Kerl, der nicht viel älter als sechzehn sein konnte, stand er definitiv kompromisslos seinen Mann. Der Gedanke, dass er wohl ihn vorschicken sollte, wenn es jemals um Geldverhandlungen ging, schoss Yoshiki ungefragt durch den Kopf. „Uhm… Erst Japan erobern und dann die Welt?“ Es hatte nicht wie eine Frage klingen sollen und in seinem Kopf hatte es das auch nicht getan. Doch jetzt war Yoshiki schon froh, dass er nicht fiepte. Prioritäten änderten sich… Der Junge schwieg einen Moment und schien darüber nachzudenken. Schließlich zog er eine Schnute und nickte. „Gute Antwort. Das bringt mich dann zu meiner letzten Frage…“ Er nahm einen letzten Zug an seiner Zigarette, ließ sie fallen und trat sie aus. „Warum genau sollte ich bei dir mitmachen wollen?“ Er machte einen weiteren Schritt in Yoshikis Richtung und dieser wurde sich auf einmal bewusst, dass das Milchgesicht größer war als er. Scheiße! Die Jahre mit Toshi als Hauptbezugsperson hatten ihn in dieser Hinsicht definitiv verwöhnt, dachte Yoshiki. Er wünschte sich die paar wenigen, kleinen Zentimeter mehr, die es ihm erlaubt hätten, Taiji anzusehen, ohne den Kopf zu heben. Doch das brachte natürlich nichts, also schluckte er den Gedanken runter, machte sich zumindest mental so groß wie möglich und sagte: „Weil ich ein scheiße guter Schlagzeuger bin und einen scheiße guten Sänger habe und einen scheiße guten Gitarristen, und du dich glücklich schätzen solltest, dass ich dich auch nur mit dem Arsch angucke.“ BÄM! Ja! Das war es! Spontane Eingebung! Taiji starrte ihn an. Yoshiki starrte zurück. Die Sekunden zogen sich. „Gut“, sagte der Junge schließlich und machte einen halben Schritt rückwärts. „Dann muss ich mir deine Band wohl mal anschauen. Nicht, dass ich noch was … verpasse. Also, großer Schlagzeuger… Wann und wo?“ „Samstag. Zwei Uhr. 187-2 Koshigoe“, sagte Yoshiki. „Der Name ist Hayashi.“ „Also schön“, sagte Taiji und drehte sich um, um wieder zurück nach drinnen zu gehen. „Ich bin mir sicher, das wird eine … bereichernde Erfahrung.“ Yoshiki blieb noch ein paar Herzschläge lang stehen und starrte auf die Stelle, wo Taiji um die Ecke der Garage gebogen war. Er war sich unsicher, ob ihm Taiji sonderlich sympathisch war, doch er war in jedem Fall eines: verboten cool.   -X-   Einen weiteren Gang zum Supermarkt, eine lange Dusche, eine Waschmaschinenladung, 699 Wörter Geschichtsaufsatz und siebenundsechzig Stunden und siebzehn Minuten später klingelte es an der Tür der Hayashis. Yoshiki sprang auf. Man konnte versuchen es zu leugnen, aber ja: Er hatte bereits seit einer halben Stunde auf der Lauer gelegen, wie eine Katze, die einen Kanarienvogel beobachtet. Und der erste Kanarienvogel hüpfte gerade unvorsichtig geworden aus dem Käfig. Oder … in den Käfig? „Ich mach auf!“, brüllte er, überholte seine verdutzte Mutter im Flur und riss die Haustür mit solcher Grandeur auf, dass sie gegen die Wand schlug. In Erwartung von Toshi brabbelte er sofort los: „Bin ich, froh, dass du –“ Doch da stand nicht Toshi und Yoshikis Satz endete etwas stumpf mit: „…hi.“ „Hallo.“ Sein Gegenüber grinste. Grinste genau so, wie Toshi es ihm beschrieben hatte. Stand im Türrahmen, mit einer Gitarre auf dem Rücken und trotz der Wärme in einem langärmeligen Pulli und grinste. Yoshiki mochte ihn auf Anhieb. „Ich bin richtig, oder?“ „Absolut richtig. Komm rein.“ „Ich bin so frei.“ Der andere Junge trat ins Haus und Yoshiki hielt die Gitarrentasche, während er die Schuhe auszog. „Tut mir leid, dass ich jetzt doch zu früh bin. Ich dachte mir, lieber zu früh als zu spät.“ „Ist ok. Ich habe mich ohnehin gerade zu Tode gelangweilt“, meinte Yoshiki, während er voran durch den Flur und die Treppe nach oben ging. Sein Gast machte es sich unkompliziert auf seinem Futon bequem und sah sich erst im Zimmer um, bevor der Blick aus großen Rehaugen erwartungsvoll zurück zu Yoshiki wanderte. Mit jedem anderen wäre vielleicht eine etwas peinliche Stille gefolgt, doch noch bevor Yoshiki den Versuch unternehmen konnte, von sich aus eine Konversation zu starten, hatte der andere Junge schon wieder weiter geschaut. „Nette Lady“, sagte er und deutete auf das Poster an der Innenseite von Yoshikis Schiebetür, das in erster Linie dort hing, weil seine Mutter meinte, so etwas wolle sie in seinem Zimmer nicht sehen. Also hatte er es so gehängt, dass sie es nicht sah. „June Wi-… irgendwas?“ „Jap“, antwortete Yoshiki. Hideto grinste. „Ich bin ja mehr der Brünette-Typ, aber jedem das seine.“ Yoshiki grinste zurück. Man konnte sich gegenseitig nicht mehr zu ernst nehmen, sobald man mal Pinup-Girls ausgetauscht hatte. „Und wer ist das?“ Hideto deutete weiter auf eine weniger entblößte Dame. „Stevie Nicks“, sagte Yoshiki. „Ach, so sieht die aus?“, fragte Hideto mit völlig neuem Interesse und schaute genauer hin. „Hab ein paar Sachen von denen gehört… Alter, deine Anlage ist ja mal mega fett.“ Er sprang wieder vom Futon auf und ging hinüber, um sie näher zu betrachten. Yoshiki rechnete es ihm allerdings hoch an, dass er sie nicht gleich antatschte. „Da fällt mir ein“, sprach er weiter, während er nun Yoshikis Plattensammlung studierte, „wie heißt du eigentlich? Ich hab deinen Kumpel beim Telefonieren irgendwie abgewürgt.“ „Ich bin Yoshiki. Und du heißt Hideto, nicht?“ „hide. Klingt nicht so altmodisch.“ „Stimmt. Willst du was trinken?“ „Ja, danke. Saft ist ok…“ hide zog eine Platte von Genesis aus dem Regal und betrachtete das Cover. „Wer gesellt sich außer uns noch zur Party?“ „Toshi – der Typ, der dich angerufen hat. Und Taiji. Den hab ich irgendwie… aufgegabelt.“ „Aufgegabelt?“, fragte hide belustigt und drehte sich wieder dorthin, wo Yoshiki gerade Mangosaft einschenkte. „Also bei jedem anderen würde ich das für die Metapher halten, die es vermutlich ist, aber da ich selbst hier bin, weil man tatsächlich in mich reingerannt ist, muss ich jetzt nachfragen.“ „Ja, also…“, begann Yoshiki langsam, „verstehst du, es war folgendermaßen…“ Und so kam es, dass bei Toshis Klingeln gerade hide mit hochrotem Kopf und sich den Bauch haltend lachend durch Yoshikis Zimmer kugelte. Yoshiki warf ihm noch einen letzten Blick zu und ging dann, um die Tür zu öffnen. Zumindest hatte er was daraus gelernt: Manchmal im Leben, dachte er, bekam man Ideen. Und manchmal bekam man gute Ideen. Es war wichtig, diese beiden Arten voneinander trennen zu lernen! „Guten Tag Frau Hayashi“, hörte er Toshis Stimme, als er unten von der Treppe in den Flur bog. „Hallo Toshi“, grüßte seine Mutter freundlich und trat einen Schritt zur Seite, um den Jungen ins Haus zu lassen. „Na, wie geht es dir?“ „Sehr gut, danke.“ „Was macht die Schule?“ „Ähm“, machte Toshi und beugte sich zu seinen Schuhen hinunter. „Also…“ „He.“ Yoshiki hatte kurz überlegt, ob er seinen Freund nicht das hier aussitzen lassen wollte, einfach weil es lustig mit anzusehen war, doch er entschied sich dagegen. Der Nachmittag war lang und wenn Taiji hier auftauchte, wollte er Toshi als verlässliche Rückendeckung. Seine Mutter nickte ihm zu und wuselte an ihm vorbei in Richtung Küche. „hide ist schon da“, teilte Yoshiki mit, während Toshi sich sein Paar Hausschuhe von dem kleinen Regal fischte – dass er welche hatte sagte viel über ihre Freundschaft. „Oh“, machte Toshi, sich wieder aufrichtend. „Gut. Und?“ „Er ist nett. Wir haben noch nicht über Musik geredet. Oder welche gemacht.“ „Und Taiji?“ „Was soll mit ihm sein?“ „Noch aktuell?“ „Ja.“ Yoshiki verkniff sich ein ‘leider‘. Es war ja seine freie Entscheidung gewesen. „Komm.“ Er war gerade die untersten zwei Stufen nach oben gestiegen, als seine Mutter wieder aus der Küche kam. „Yoshiki!“ Er hielt inne. An seiner Seite stoppte Toshi ebenfalls. „Mmh?“ „Ich hab euch Daifuku mit Erdbeeren gemacht.“ Seine Mutter reichte ihm einen großen Teller voller kleiner weißer Batzen. „Danke“, sagte Yoshiki überrascht. Ach, Mütter… eine tolle Erfindung. „Wir machen dann übrigens ein bisschen Lärm.“ Er nickte den Gang hinunter, dorthin, wo in diesem Haushalt die Instrumente standen. „Das ist in Ordnung. Ich gehe ohnehin mit Kaori in die Stadt. Räumt danach auf und denkt an die Nachbarn.“ Yoshiki nickte. „Ist gut.“ „Viel Spaß, Liebling.“ „Mmh-Mmh“, machte Yoshiki in vager Zustimmung und stieg dann die restliche Treppe nach oben. „Hier“, sagte er, als er zurück in sein Zimmer kam. „Toshi. Und hier, Daifuku.“ Er stellte den Teller auf dem Tisch ab. “Juchu!“, machte hide erfreut - über welchen der beiden Aspekte auch immer. “Hallo!” Er winkte Toshi zu und nahm dann eines der leicht angespitzten Bällchen vom Teller. „Hi“, sagte Toshi und setzte sich hide schräg gegenüber. „Boah, sind die Dinger lecker“, sagte dieser, nachdem er einmal abgebissen hatte. „Tu dir keinen Zwang an“, meinte Yoshiki. Er hatte sich nicht hingesetzt, sondern war zum Fenster hinübergegangen, um einen Blick hinaus auf die Straße werfen zu können. Soweit er sehen konnte, näherte sich kein Bassist. Vielleicht hatte er Taiji falsch eingeschätzt und er kam nicht. Dabei hatte er wie ein Typ gewirkt, bei dem Herausforderungen zogen… Hinter ihm führte hide seine lockere Unterhaltung mit seinem neusten Opfer fort. „Also, du singst, ja?“, hatte er sich an Toshi gewandt. „Ähm… ja. Ich denke schon.“ „Du denkst schon?“, fragte hide belustigt. „Ich hab ihm schon immer gesagt, er sollte nicht so viel denken“, murmelte Yoshiki und lehnte sich aufs Fensterbrett. „Ja“, korrigierte sich Toshi, rot angelaufen. „Ja, ich singe.“ „Mach mal!“, verlangte hide. „Kann ich das auch später? Ich…“ Der zukünftige Sänger griff hastig nach einem Daifuku und steckte es sich im Ganzen in den Mund, „esche gerade.“ Hide lachte. „Also diese Nervosität müssen wir ablegen hier. Bist du auch so nervös?“, fragte er Yoshikis Rücken. „Nein…“, murmelte Yoshiki. „Klavier und Schlagzeug stehen unten. Ich zeig dir später gern alles, was ich kann…“ „Hoffentlich nicht, sonst bin ich morgen noch da“, sagte Toshi. „Aber Kompliment an deine Mutter, die Daifuku sind wirklich gut.“ „Sag’s ihr selbst, du bist oft genug hier.“ Yoshiki drehte sich der Höflichkeit wegen halb um. „Seit wann spielst du Gitarre, hide?“ „Weiß nicht“, antwortete dieser nach kurzem Nachdenken und studierte die Erdbeerbällchen. „Vier Jahre vielleicht? Fünf? Irgendwie so. Meine Oma hat mir die Gitarre mal zum Geburtstag geschenkt, aber ich hab zwischendurch ein paar Mal die Lust verloren. Also vielleicht weniger. Ich nehm das nicht so ernst.“ Er angelte sich ein weiteres Süßteil aus der Mitte des Tellers. „Bist du nervös?“, fragte Toshi. hide schob das Stück Daifuku, das er inzwischen schon wieder im Mund hatte in die Backe, bevor er antwortete. „Bevor ich herkam ja. Jetzt, wo ich mal hier bin nicht mehr. Ich meine, ihr seid ja ganz normale Typen.“ Er zwinkerte. „Wie lange kennt ihr euch?“, fragte er dann und nickte zu Yoshiki hin. „Uhm“, machte Toshi. „Dreizehn, Vierzehn Jahre? Yoshiki?“ „Im Frühling waren’s dreizehn“, antwortete der Angesprochene über die Schulter hinweg. „Krass. Das war was, Kindergarten?“ hide schaute zwischen ihnen hin und her. Toshi nickte. „Jap. Plüschtiere, Gummistiefel, Sandkuchen, das ganze Zeug.“ „Und du konntest schon damals nicht kochen“, sagte Yoshiki und stieß sich vom Fensterbrett ab. Gerade war eine Gestalt äußerst gelassen um die Ecke geschlendert. „Wir ziehen um“, teilte er mit, ein wenig an hide, aber in erster Linie an Toshi gerichtet. Er wollte Taiji nicht in seinem Zimmer, wenn es sich vermeiden ließ. „Nimm bitte das Zeug mit runter.“ Er nickte zu den Daifuku und den angefangenen Getränken hin, Toshi nickte zurück, und Yoshiki verschwand die Treppe nach unten. Das war das Schöne daran, wenn man jemanden zu Besuch hatte, der ohnehin immer hier war: Er wusste bereits, wo alles war und man musste sich nicht mehr um ihn kümmern… und auf die ganzen Höflichkeiten konnte man nach so vielen Jahren ohnehin pfeifen. Im Flur blieb Yoshiki stehen und wartete. Es klingelte und er wartete noch weitere zehn Sekunden, in denen Toshi und hide an ihm vorbei ins Musikzimmer spazierten, bevor er schließlich zur Tür ging. Der sollte nicht meinen, er hätte auf ihn gewartet. Die Base und das Ride erklangen im Versuch eines Rhythmus, gerade als er öffnete. Offenbar testete hide sein Schlagzeug - so wie es jeder tat, der zum ersten Mal hier zu Besuch war. Taiji ging an ihm vorbei ins Haus, ohne auf eine Einladung zu warten, oder Yoshiki auch nur eines vollständigen Blickes zu würdigen. Er streifte sich die Stiefel von den Füßen, ohne sich zu bücken und erst dann drehte er sich zurück zu seinem wenig begeisterten Gastgeber, der immer noch in der Tür stand. „Also, wo ist diese scheiße gute Band von dir?“ „Guten Tag, ich freu mich auch dich zu sehen, ja, es geht mir gut, danke der Nachfrage, komm doch bitte rein“, sagte Yoshiki in einem Atemzug und schloss die Haustür. Nachdem also die Freundlichkeiten hiermit abgeschlossen waren, verdrehte er mit einem stillen Seufzen die Augen, schickte ein Stoßgebet gen Himmel und ging Taiji voraus. In dem kleinen Raum hinter dem Wohnzimmer hatten seit Yoshiki denken konnte die gesammelten Instrumente der Familie gestanden und dort hatte er in den letzten sechs Jahren fast seine komplette Zeit verbracht, die er nicht mit Schule und Schlafen beschäftigt war. Manchmal saß auch seine Mutter am Klavier, doch es war selten – es schien ihr schmerzhaft und Yoshiki verstand das. Es war nicht ihr Klavier. Und um genau zu sein, war es auch nicht sein Klavier. Außer dem Tasteninstrument standen ein Schlagzeug, eine akustische Gitarre, eine elektrische Gitarre und der dazugehörige Amp dort, außerdem das Cajon und die paar Blasinstrumente, die Yoshiki nie benutzte. Flankiert wurde das Ganze von zwei Stühlen und einem kleinen Tisch, und damit war der Raum dann auch gerappelt voll. Toshi saß auf der Klavierbank und hide auf einem der Stühle, als Yoshiki mit Taiji im Schlepptau den Raum betrat – vermutlich, um näher an den Daifuku auf dem Tisch zu sein, deren Zahl inzwischen bereits sichtlich abgenommen hatte. „Taiji“, sagte Yoshiki und machte eine Handbewegung seitlich über die Schulter in ungefähr die richtige Richtung. „Was geht“, grüßte Taiji und lehnte seine Basstasche gegen die Wand. Toshis Blick huschte unschlüssig zu Yoshiki, als erwarte er eine Einweisung, doch dessen Gesicht blieb absolut neutral. „Hallo“, sagte er also schließlich. „Ich bin Toshi.“ „Tag“, antwortete Taiji und drehte sich abwartend zum Letzten im Bunde. Seine Augen wanderten über die Süßspeise, nahmen Verbindung zur Gitarre auf und glitten dann höher, zu einem gerade sehr hamsterartigen Gesicht. „Üch bün hüde“, nuschelte hide irgendwie an einem Mund voll Daifuku vorbei und winkte fröhlich mit der angebissenen Hälfte in seiner rechten Hand. „Ahja“, sagte Taiji und warf Yoshiki über die Schulter einen ‘Ernsthaft?‘-Blick zu. Er drehte den Stuhl um, so dass er die Arme auf der Lehne verschränken konnte und ließ sich betont lässig darauf fallen. „Also dann, hide. Lass doch mal hören.“ „Jetsch?“, fragte hide überrascht. „Uhm ok, Moment.“ Er steckte sich den Rest Daifuku in den Mund, kaute noch ein paar Mal entschlossen und schluckte runter. „Dieses Zeug wird im Mund immer dreimal so groß, kennt ihr das?“ „Nur, wenn man zwei auf einmal reinstopft“, murmelte Toshi belustigt. „Uhm, ja. Genau.“ hide stand auf und ging seine Gitarre auspacken. Yoshiki reichte ihm das Verbindungskabel zum Amp. „Uhm“, machte hide nochmal, während er die Saiten nachstimmte, „also, ich hab mir vorgestern was ausgedacht. Das war irgendwie ganz nett, ich glaub, das kann ich euch mal zeigen… Ja… also das ging irgendwie… so…“ Ein schiefer Akkord erklang. „Ah, Nein, falsch. Ääähm…“ hide zog die Stirn kraus und griff probeweise ein paar Mal um. Taiji lächelte mitleidig. „Ah, genau, das hier war’s“, sagte hide. Und dann spielte er. Es konnten zwei Minuten oder zwei Stunden gewesen sein – keiner von ihnen hätte es danach noch sagen können. Doch irgendwann war es vorbei. Yoshiki starrte hide an. Toshi starrte hide an. Taiji starrte hide an. Niemand sagte ein Wort. „Ähm“, machte hide nach einigen Sekunden, die Blicke missinterpretierend, „also ich… ich kann das besser.“ Er hob die Hand zum Nacken und schaute verunsichert von einem zum anderen. „Heilige Scheiße“, sagte Taiji schließlich tonlos. Wäre Yoshiki nicht selbst geplättet gewesen, der erstmalige totale Mangel an Überheblichkeit hätte ihn tierisch gefreut. Er riss sich schließlich zusammen, gerade rechtzeitig, um Taiji einen ‘Tja, da schaust du blöd‘-Blick zuzuwerfen, ganz so, als wäre das alles hier ihm selbst überhaupt nicht neu. „Ich dachte, du nimmst Musik nicht ernst!“, rief Toshi ungläubig. „Tu ich auch nicht“, antwortete hide, jetzt irgendwo im Bereich der defensiven Verwirrung. Anscheinend verstand er noch nicht so ganz, in welche Richtung die Stimmung gerade kippte. „Das war … richtig gut“, bekundete Taiji. Er sah immer noch aus, als erwarte er, dass jemand hinter der Wand hervorsprang und ‘Versteckte Kamera!‘ brüllte. „… war es?“, fragte hide, jetzt mit einer seltsamen Mischung aus Misstrauen und Freude in Stimme und Mimik, als traue er dem Lob noch nicht so ganz. „Ja“, sagte Toshi. „Uhm…“, machte hide. Ein dezenter Rotton überzog sein Gesicht. „… Danke?“ Er schaute nochmal unschlüssig vom einen zum anderen und setzte sich dann wieder auf seinen Stuhl, anscheinend in der Hoffnung, die merkwürdige Situation würde davon verschwinden. Es klappte nicht wirklich. Yoshiki reichte ihm den Teller mit den Daifuku und hide nahm die Gelegenheit wahr, sich dahinter zu verstecken. Doch seine Augen leuchteten. „Also gut“, sagte Taiji und lehnte sich ein bisschen zurück. „Du hast bewiesen, dass du einen scheiße guten Gitarristen hast. Bleiben noch zwei große Klappen. Bitte.“ Er machte eine Handbewegung zum Schlagzeug. „Drei“, verbesserte Yoshiki. Er ließ sich auf den Schlagzeughocker fallen und gab sich ein paar Sekunden. Es war, wie er Toshi zu beschreiben versucht hatte: Da war eine Traurigkeit, irgendwo, und die eignete sich gut, um Klavier damit zu spielen und da war eine gewisse Wut. Trotz. Widerspenstigkeit. Und die brauchte er jetzt. Also dann. Als er aufhörte, war ihm unendlich warm und seine Oberarme taten weh. Oh ja, so musste das sein. Geile Scheiße! Bujah! „Das war energetisch!“, meinte hide und patschte zweimal die Hände zusammen wie ein erfreutes Kind. Für einen Gitarristen hatte er wirklich bemerkenswert kleine Hände, dachte Yoshiki noch, dann sagte Taiji gedehnt: „Aber dein Timing braucht Arbeit.“ Toshi fiel die Kinnlade runter. Yoshiki starrte Taiji an. Er wünschte, ihm würde irgendetwas Schlagfertiges zu sagen einfallen, doch in seinem Kopf wehte eine einsame Wüstenrose einmal von links nach rechts und das war alles. Die Uhr an der Wand tickte, während Toshi darauf wartete, dass sein bester Freund austickte. Yoshiki hatte bereits wegen kleinerer Dinge Einrichtungsgegenstände zerlegt und gerade war er unheilverkündend ruhig. hide schien die Spannung in der Luft zu spüren, denn er verlagerte unbehaglich sein Gewicht in seinem Sitz. Doch nichts passierte. „Was? Noch nie Kritik bekommen?“, fragte der Bassist schließlich amüsiert. „Tz… Dann gewöhnst du dich besser dran.“ Yoshiki schwieg noch einige Sekunden, in denen sich langsam ein Grinsen auf Taijis Gesicht ausbreitete. Anscheinend wusste er ganz genau, was der Schlagzeuger dachte. Schließlich grinste Yoshiki zurück. Toshi war sich für seinen Teil allerdings nicht ganz sicher, ob es sich wirklich um ein Grinsen oder um ein Zähnefletschen aus der Steinzeit handelte. Er hielt die Luft an. „… es gibt so viele Orte, wo ich diesen Drumstick hinstecken könnte.“ Langsam atmete Toshi wieder aus. Entwarnung. „Ich seh schon“, sagte Taiji weiterhin grinsend und griff nach der Cola, um sich einzuschenken. „Wir beide verstehen uns.“ Er prostete Yoshiki zu. Dieser spielte einen Tusch. Es war wohl seine Art ‘Haha, witzig, täteräterää‘ zu sagen. „Gut“, riss hide das Zepter an sich, wohl um das Thema nachhaltig abzuhaken und eine neue, unbefleckte Seite aufzuschlagen. „Also dann - Toshi?“ Er schaute den Angesprochenen auffordernd an. Dieser verspürte auf einmal das überwältigende Bedürfnis, schreiend davonzurennen und irgendwo in den Bergen in einem Loch ein Eremitendasein zu beginnen. Es war ihm immer schlimm genug vorgekommen, die Bühne hinter Yoshiki zu betreten. Aber die Bühne hinter Yoshiki und hide zu betreten, das konnte kein durchschnittliches Ego aushalten. Zum Glück hatte er Taiji noch nicht gehört, diesen Bassisten, für den Yoshiki bereit war, einen Wutanfall von der Größe eines Tsunami runterzuschlucken. Toshi nahm einen Schluck Wasser, während sich Yoshiki ans Klavier umsetzte. Sein Mund war immer noch trocken. Gerne hätte er etwas gesagt, irgendetwas, das verhindern würde, dass das hier passierte. Doch ihm fiel kein rationaler Grund ein, warum er genau jetzt auf keinen Fall singen konnte. Scheiße. Ob er die beiden bitten sollte, einfach mal kurz auf den Gang zu gehen und von dort zuzuhören? Es musste einfacher sein, wenn sie ihn nicht so erwartungsvoll anschauten. Oder vielleicht würde es ihm einfacher fallen, wenn er sich vorstellte, hide und Taiji wären nackt. Uuund Nein, das half überhaupt nicht! „Ja“, setzte Yoshiki zu einer Erklärung für die anderen an. Es erreichte Toshi wie durch eine Schicht Watte. „Also das ist von mir. Uns. Aber es ist nicht fertig.“ Er spielte. Der Einsatz kam – und ging vorüber. Yoshiki runzelte die Stirn, fügte eine Wiederholung ein und der Einsatz kam – und ging vorüber. Er drehte im Spielen den Kopf zur Seite, um Toshi ansehen zu können. Dieser hatte zwar den Mund geöffnet, doch kein Laut kam heraus. Und der Einsatz kam – und ging vorüber. Toshi klappte den Mund zu und schüttelte leicht den Kopf. Yoshiki brach die Melodie auf der halben Note ab. „Ok“, sagte er und stand auf. „Wir haben technische Schwierigkeiten. Bitte bleiben Sie dran, das Programm geht gleich weiter.“ Er packte Toshi am Arm und schob ihn sanft aber bestimmt vor sich her, zur Tür hinaus und auf den Gang. Sie entfernten sich noch ein paar Schritte, dann ließ Yoshiki seinen Freund los. Obwohl hide drinnen anscheinend nun auch Taiji in eine Unterhaltung verwickelte und damit Ablenkung gegeben war, hob er seine Stimme zu kaum mehr als einem Flüstern. „Ok, sprich zu mir. Was ist los?“ Toshi hob die Hände zum Himmel und machte eine paar kleine, nervöse Schritte den Flur hinunter und wieder hinauf. „Das fragst du noch?“, wisperte er, als er wieder vor Yoshiki stand. „Ihr seid zu gut! Yoshiki, ich – ich kann das nicht!“ „Natürlich kannst du das! Ich hab’s doch schon oft gehört! Mach einfach genau dasselbe wie sonst auch und alles wird gut!“ „Ich kann nicht! Sie schauen mich an und ich bring kein Wort raus! Und das sind jetzt bloß zwei! Wie soll ich das machen, wenn da wirklich ein Publikum ist? Siehst du, das ist genau, wovor ich Angst hatte!“ „Dann mach die Augen zu!“, rief Yoshiki ein wenig lauter als beabsichtigt. Dann atmete er durch, lehnte einen Arm gegen die Wand und schaute Toshi an. Dieser betrachtete intensiv ein dunkelweißes Rechteck an der Tapete, das wie Yoshiki wusste dort entstanden war, wo lange Zeit das Hochzeitsfoto seiner Eltern gehangen hatte. Die letzten Jahre hatten nicht ausgereicht, um die Farbe dort der der restlichen Wand wieder anzugleichen. Er dachte darüber nach, was Toshi gesagt hatte … und was es wirklich bedeutete. „Toshi“, sagte er schließlich. „Hör zu. Als ich sagte, dass ich will, dass du singst, da hab ich das nicht nur gemacht, weil ich deine Stimme mag. Ich will dich dabei haben. Wenn du das also heute nicht machen willst… dann machen wir es nicht. Dann machen wir es morgen oder nächste Woche oder nächstes Jahr. Wann immer du so weit bist. Das ist in Ordnung.“ Toshi warf Yoshiki einen schnellen Blick zu und schaute dann wieder auf das Rechteck. „Wärst du … nicht enttäuscht?“ „Doch“, antwortete Yoshiki. Es brachte nichts, an diesem Punkt zu lügen, sie wussten es beide besser. „Aber wir sind Freunde und Freundschaft hält ein bisschen Enttäuschung aus. Also, vielleicht nicht jede Freundschaft… aber unsere.“ Toshi schaute hoch, wirkte aber nicht überzeugt. „Glaubst du das wirklich?“ „Ja. Ich … tu mir nicht leicht damit, Vertrauen in Menschen zu stecken. Aber du bist mein ältester Freund. Du musst mir glauben, dass das was bedeutet. Solcher Kleinscheiß hier, der trennt uns nicht.“ Es dauerte ein paar Sekunden, dann lächelte Toshi leicht und ziemlich dankbar. „Ok.“ Yoshiki nickte ein paar Mal, zum Zeichen, dass er alles verstanden hatte, was gesagt und vor allem, was nicht gesagt worden war. „… Also: Soll ich sie wegschicken?“ Toshi biss sich auf die Unterlippe und trug innerhalb weniger Augenblicke einen epischen inneren Kampf aus. Es sind die Dinge, die man nicht getan hat, die man für immer bereut. „Nein“, sagte er schließlich. „Ich mach es. Es ist mir peinlich, jetzt mehr denn je, aber gut. Ich mach es.“ „Sicher?“ „Ja… ich hab heute die Haare schön und eine gute Haarfrisur hält ein bisschen Peinlichkeit aus. Also, nicht jede Frisur. Aber meine.“ Er grinste. Es geriet schief, aber Yoshiki beschloss, dass es reichen musste. Also lächelte er zuversichtlicher als er sich fühlte und drehte sich um, um in den Musikraum zurückzukehren. Immerhin hatte er Gäste… oder etwas Ähnliches. Taiji hatte seinen Bass ausgepackt, sich richtig herum auf den Stuhl gesetzt und zupfte ein bisschen an den Saiten herum. Am Tisch nahm hide gerade ein weiteres Daifuku auseinander und hielt in der einen Hand Teig und Anko, in der anderen Anko und Erdbeere. Yoshiki ging zum Klavier zurück. „Werbepause vorbei?“, fragte Taiji. „Ja“, sagte Toshi und legte eine Hand aufs Klavier. hide zwinkerte ihm aufmunternd zu und steckte sich die Erdbeere in den Mund. Toshi schloss die Augen und wusste trotzdem, dass Yoshiki ihn ansah. Er nickte unmerklich. Das Holz unter seinen Fingern vibrierte leicht im Einklang mit der Melodie. Ok. Er liebte das Singen. Er konnte das, ja, das konnte er. …Veeeermutlich. Und einatmen. Und ausatmen. Und einatmen. Und los. „I’m walking in the rain yuku ate mo naku kizutsuita karada nurashi karamitsuku koori no zawameki koroshi tsuzukete samayou itsu made mo until I can forget your love…” Als er geendet hatte, hatte Toshi einen Blackout. Er hätte die letzten zwei Minuten auch La Paloma singen können. Keine Ahnung! Seine Hände zitterten ein wenig, als er die Wasserflasche aufschraubte. Er hatte keinen Durst, aber es war besser, als irgendwen anzusehen. „Das war sehr schön“, drang hides Stimme natürlich trotzdem an seine Ohren, weil Trinken dagegen nun mal nicht half. Toshi wurde viel zu heiß für diese Jahreszeit. Er musste rot sein wie ein Briefkasten. Trotzdem wandte er sich in die Richtung ihres neuen Gitarristen. „Danke.“ „Naja”, sagte Taiji. „Du brauchst noch ein bisschen Übung. Aber generell ist deine Stimme gut.” Er wurde sich Yoshikis bösem Blick aus dem Hintergrund bewusst. „Was? Das war ein Kompliment!“ Taiji schüttelte ungläubig den Kopf. „Echt mal, seid Ihr zwei ein altes Ehepaar oder was?“ Yoshiki verdrehte die Augen und beschloss, das jetzt nicht auch noch mit einer Antwort zu würdigen. Hinter ihm prustete hide verhalten in die Hülle seines Daifuku und seine Schultern zuckten verräterisch, und seltsamerweise besänftige Yoshiki das ein wenig. Statt ihm in den Hintern zu treten sagte er also: „Also los, Taiji. Ich glaube, wir haben noch nichts von dir gehört.“ „Das stimmt“, sagte Taiji und stand auf. „Ihr habt ja sowas von noch nichts gehört.“   -X-   Die nächsten Stunden gingen wie im Flug vorbei. Sie legten eine Jamsession ein, Yoshiki zeigte ihnen ein paar der Dinge, die er geschrieben hatte und hide spielte das Saxophon an, für das er, wie ziemlich schnell klar wurde, so überhaupt kein Talent hatte. Toshi begleitete ihn auf der Triangel. „Ich glaub, wir müssen langsam aufhören“, sagte Yoshiki schließlich. „Hmmh?“, machte hide, der glücklicherweise wieder an der Gitarre saß, und nahm das Plektrum aus dem Mund. „Aber es ist doch noch früh!“ „Es ist dreiviertel Neun“, sagte Yoshiki und deutete auf die Uhr an der Wand hinter hide. „Was?“ Er drehte sich um. „Krass. Ich hatte so viel Spaß, ich hab das gar nicht gemerkt.“ “Nun, das will ich hoffen“, sagte Yoshiki. „Weil dich geb ich garantiert nicht wieder her.“ hide grinste und spielte ein paar einzelne, aufsteigende Noten. “Gut”, fuhr Yoshiki fort. “Organisatorisches. Wollen wir das mal versuchen zusammen, ja oder nein?“ „Ja“, sagte Toshi. „Von mir aus“, meinte Taiji gedehnt. „Und ich hab ja anscheinend keine Wahl mehr“, schmunzelte hide. „Dann stelle ich hiermit die große Frage: Raum. Wir müssen irgendwo proben.“ „Was ist falsch mit hier?“, fragte hide. Yoshiki schüttelte den Kopf. „Ein oder zwei Mal können wir das machen, aber dann bringen die Nachbarn mich um. Sie sind so schon bemerkenswert nachsichtig. Taiji?“ „Nah“, machte dieser und schenkte sich Cola nach. „Gleiches Problem ein paar Minuten weiter, was hast du erwartet?“ Er drehte sich gleichzeitig mit hide zu Toshi. Dieser schüttelte ebenfalls den Kopf. „Wir haben nur eine Wohnung. Ich bin mir sicher, die Nachbarn hören mich sogar singen.“ hide nickte zustimmend. Yoshiki seufzte. „Also gut. Dann schau ich mich mal um. Wie viel Geld seid ihr willens und in der Lage im Monat da reinzustecken? Toshi?“ „Weiß nicht. Fünf-, Sechstausend?“ Yoshiki schaute weiter zu Taiji. Dieser nahm einen Schluck braunes Gesöff und dachte nach. „Zehntausend“, sagte er schließlich. „hide?“ „Uhm…“ hide zog eine Schnute und schaute auf das Griffbrett und seine Finger darauf, „ich muss mal durchrechnen… kann ich dir das morgen sagen?“ Yoshiki nickte. Wenn hide ungefähr bei Toshi rauskam, hatte er insgesamt also etwa dreißigtausend Yen im Monat. Das konnte reichen, wenn sie nicht gleich nach den Sternen griffen. „Wie heißen wir eigentlich?“, fragte hide. „Ist das wichtig?“, fragte Toshi zurück. „Nunja, Nein. Erstmal nicht. Aber irgendwann können wir uns nicht mehr ‘Die Band‘ nennen“, sagte hide und erhob sich, um zusammenzupacken. „Ich wollte den Denkprozess nur frühzeitig mal anstoßen.“ „Dann denken wir drüber nach“, sagte Yoshiki. „Ich hab da ein paar Ideen“, sagte Taiji, der gerade seinen Bass in die Tasche legte. „Ja, und genau davor hatte ich Angst.“ Taiji zog den Reißverschluss zu und schnitt ihm eine Grimasse. „Ja, und Gesichter kannst du den ganzen Weg nach Hause ziehen, weil hier drin will ich das nicht haben, klar?“ Der Bassist salutierte äußerst ironisch, sagte aber nichts weiter und Yoshiki wertete es als Fortschritt. Sie harmonierten gut musikalisch… vielleicht konnte er das menschliche also mittelfristig zumindest auf ein Niveau bringen, das aushaltbar war. Einige Minuten später standen sie im Flur, wo hide und Taiji in ihre Schuhe schlüpften. Yoshiki erwiderte Toshis fragenden Blick mit einem dezenten Kopfschütteln. hide kam wieder nach oben und zog sich zum Abschluss eine Kapuzenjacke über. „Du meldest dich?“, fragte er in Richtung Yoshiki, als er wieder aus dem Kleidungsstück aufgetaucht war, und dann in Toshis: „Oder du?“ „Ja“, sagten beide gleichzeitig. „Guti. Dann Dankeschön für Speis und Trank und einen schönen Abend noch.“ hide hüpfte zur Tür hinaus und Taiji glitt mit einem „Man sieht sich“ und einem laschen Winken über die Schulter hinterher. „Kommt gut nach Hause“, sagte Toshi. „Bis bald“, sagte Yoshiki. Er schloss die Haustür. Toshi und er schauten sich an und warteten in stillschweigender Übereinkunft genau zehn Sekunden, in denen sich Schritte und Stimmen auf der anderen Seite langsam entfernten. Dann fiel Yoshiki seinem Freund um den Hals. Ein Mississippi, zwei Mississippi, drei Mississippi! Er drückte Toshi wieder von sich weg, hielt ihn aber auf beiden Seiten der Oberarme fest. „Oh mein Gott! Toshi! Wie hast du das gemacht? Ich könnte dich küssen!“ „Ich könnte dich auch küssen“, sagte Toshi, ein bisschen benommen. Vielleicht fühlte sich glücklich sein im Endstadium so an – das, oder ein Hirntumor. „Aber ich glaube, das ist nur die emotionale Überforderung und wir sollten das lieber nicht machen. Unsere Beziehung ist nicht reif dafür.“ Yoshiki schaute ein paar Sekunden lang verwirrt, als müsse er die Worte verarbeiten, dann fing er unvermittelt an, wiehernd zu lachen. Toshi konnte nicht anders als mitzulachen und es dauerte bestimmt eine Minute, bis sie sich wieder beruhigt hatten. „Worüber lachen wir?“, fragte Toshi schließlich. „Keine Ahnung“, keuchte Yoshiki und hielt sich die zwickenden Seiten. Seine Augen tränten. „Aber oh-mein-Gott. hide. Hast du Taijis Gesicht gesehen?“ „Ich hab in erster Linie dein Gesicht gesehen“, sagte Toshi und musste schon wieder kichern. Yoshiki schlug ihm gegen den Oberarm. Toshi wich mit einer fließenden Bewegung aus. Er fühlte sich seltsam lebendig. „Ich hatte bei ihm ein gutes Gefühl“, sagte er. „Ja“, stimmte Yoshiki mit ganzem Herzen zu. „Ich hab auch ein gutes Gefühl.“ „Aber dein Basser ist schon ein Kaliber für sich. Kommst du wirklich mit dem aus?“ Yoshiki zuckte mit den Schultern und nickte gleichzeitig, was aussah, als habe er Zuckungen. „Bwooab. Weiß nicht. Ja. Ich reiß mich zusammen. Vielleicht ist es ganz… gut… mal jemanden zu haben der… kritisch ist.“ Toshi betrachtete ihn skeptisch. „Ich dachte ein paar Mal, gleich flösse Blut.“ „Ja, er ist ein Arsch, aber hast du mal gesehen, wie er den Bass hält?“ Erregt fuchtelte Yoshiki vor Toshis Gesicht herum. „Es ist, als wäre er mit dem Ding in der Hand auf die Welt gekommen, dieser grandiose verfickte Hurensohn!“ „Yoshiki, Schatz!“ Yoshiki fuhr herum. Hinter ihm im Flur stand seine Mutter und sah ihn mit der mütterlich patentierten Entrüstung an. Toshi machte einen unauffälligen Schritt zur Seite, um sich aus der Affäre zu ziehen. Der angesprochene Sohn des Hauses räusperte sich, fuhr sich einmal durch die Haare, schaute zerknirscht auf seine Füße und dann wieder zu der kleinen zierlichen Frau in der blauen Schürze. „… ich wusste nicht, dass du schon wieder zuhause bist.“ Kapitel 3: Over and Over ------------------------ Auf dem Rückweg zur Bahnstation verquatschte hide sich hoffnungslos mit Taiji, verpasste den Zug zurück in die Stadt und wartete eine halbe Stunde auf den nächsten. Es war deswegen bereits nach zehn am Abend, als er schließlich Zuhause ankam. Die Bar im Erdgeschoss hatte bereits geöffnet. Er schloss die Haustür auf und stieg die Treppe nach oben. Raus aus den Schuhen, rein in die Wohnung. Es war still. hide ging am Kühlschrank vorbei und holte sich eine Flasche Wasser, dann weiter in sein Zimmer. Alles war genau so, wie er es zurückgelassen hatte: Futon auf der einen Seite, mehr oder weniger gemacht, Hausaufgaben auf dem Tisch auf der anderen Seite, ebenfalls mehr oder weniger gemacht. Gitarrenständer und Regal irgendwo dazwischen, hier und da ein paar verstreute Klamotten, die aufzusammeln er zu bequem gewesen war. Er stieg über einen linken Socken und einen Pulli hinweg zum Fenster, das er am Morgen gegen die Wärme geschlossen gelassen hatte und öffnete es. Milde Nachtluft drang herein. Er war müde doch kribbelig – während der Zugfahrt hatte er noch über das letzte Lied nachgedacht, das Yoshiki ihm vorgespielt hatte und es kam ihm plötzlich so vor, als müsse er alle seine Ideen sofort ausprobieren oder sie wären für immer im Limbo verloren. hide stellte die Gitarrentasche ab und wurde sich seines grummelnden Magens bewusst. Essen, dann noch ein bisschen Gitarre, dann Bett war die Idealvorstellung des restlichen Abends. Doch wie die meisten von hides Idealvorstellungen hatte auch diese nur sehr wenig Bezug zur Realität. Unten wurde die Haustür geöffnet. „Hideto!“, drang die Stimme seines Vaters die Treppe hoch. „Sieh zu, dass du runter kommst!“ Die Haustür knallte wieder zu. Mit einem Seufzen fuhr sich der Angesprochene also einmal durch die Haare, zog die Kapuzenjacke aus, trank ein paar Schluck Wasser und sah dann zu, dass er runter kam. Im Gastraum war es warm und ein wenig stickig. Zigarettenrauch und Alkoholdunst hingen dicht in der Luft und im ersten Moment hatte ein Neuankömmling wie hide leichte Orientierungsschwierigkeiten, bis sich die Augen an den Nebel und die Ohren an den Geräuschpegel gewöhnt hatten. Er wandte sich zur hinteren Seite des Raums. Sein Vater stand hinter dem Tresen und schenkte gerade ein Bier ein. „Wo zum Henker warst du?!“ „Bei Freunden.“ „Und das hättest du nicht sagen können!? Du weißt genau, dass wir dich samstags hier brauchen! Los jetzt, Tisch Vier!“ Er schob ihm unwirsch das Tablett über das zerkratzte Holz. hide schluckte eine Erwiderung runter und nahm die Getränke entgegen. Er hätte sonst vielleicht gesagt, dass er durchaus mitgeteilt hatte, wann er wo hingehen würde und dass es möglicherweise hilfreich wäre, ihm auch mal zuzuhören. Aber das gab nur neuen Ärger und führte zu nichts, also schlängelte er sich stattdessen durch den kleinen und dadurch noch voller wirkenden Raum zu Tisch Vier. hide konnte nicht sagen, dass er die Bar seiner Eltern sonderlich mochte. Er hatte Bilder von früher gesehen, auf denen sie nach einem ansprechenden, gemütlichen Ort ausgesehen hatte, Bilder, auf denen seine Eltern stolz lächelnd hinter der Theke gestanden hatten, seine Mutter noch mit einem dicken Babybauch und sein Vater mit vollem Haar. Doch Zeiten änderten sich und mit ihnen die Menschen, die mit ihnen gehen mussten – ob sie das wollten oder nicht. Heute zeigte alles hier gewisse Zeichen des Verfalls – das Mobiliar, das Ambiente und tatsächlich auch die Menschen, die hier ihre Abende verbrachten. Auf der Straße wäre hide wohl einem nicht unwesentlichen Teil von ihnen ausgewichen, doch so waren die Gesetze des Marktes: Wer Geld hatte, wurde bedient. hide machte sich allerdings nicht die Mühe, zu seinem hervorragenden Service auch ein Lächeln aufzusetzen. Den meisten fiel es ohnehin nicht auf. Obwohl es wie immer am Wochenende wirklich viel zu tun gab, zog sich die Zeit in die Länge wie Kaugummi. Seine Schulter, die heute schon mehr Gitarrengurt ausgehalten hatte, als er gewöhnt war und seine Finger, die so viel Barré an einem Tag sonst auch nicht mitmachen mussten, protestierten bereits nach einer guten Stunde gegen das Gewicht eines vollen Tabletts, was dazu führte, dass er doppelte Wege auf sich nahm. Das entlastete zwar seine Arme, doch machte die Lage insgesamt nicht weniger stressig und bescherte ihm noch dazu ein Stirnrunzeln seines Vaters. Während er arbeitete fragte er sich, wo er seinen Anteil für den Proberaum hernehmen sollte. Er musste mindestens auf das niedrigste Gebot kommen, das da waren Toshis 5000 Yen. Das war doch fast nichts. Das musste zu machen sein. Irgendwie. Ein Tisch mit zwei jungen Männern und drei jungen Frauen winkte ihn herüber. „Zahlen“, sagte einer von ihnen. hide zückte seinen Block und zählte zusammen. „6200 bitte“, sagte er schließlich und klemmte das Tablett unter den Arm. Während sein Gegenüber nach den passenden Scheinen suchte, warf hide einen Blick über die Schulter in Richtung Tresen. Seine Mutter hatte seinen Vater abgelöst, dieser unterhielt sich über den Tresen hinweg mit einem Bekannten – einem von denen, die bei hide das kalte Grausen auslösten. Er wandte sich ab, um Wechselgeld zu geben. Die Reaktion, wenn er diese Frage in der falschen Situation stellte, wollte er sich lieber gar nicht vorstellen. Doch im Grunde wusste er nicht mal, ob er sich den Stress antun wollte: es würde eh nichts dabei rumkommen. Meistens endeten Geld und Monat im Hause Matsumoto in etwa gleichzeitig. Manchmal endete das Geld etwas früher. Er würde sich also einen eigenen Job suchen müssen. Doch wann sollte er den einschieben? Unter der Woche am Abend? Am Wochenende morgens? Wann wollte Yoshiki proben? So oder so: Sein Leben würde wohl noch eine ganze Ecke anstrengender werden. „Also in meiner Welt“, sagte sein Gegenüber und riss hide damit aus seinen Gedanken, „sind 7000 minus 6200 immer noch 800.“ „Hu?“ Irritiert schaute der Gemaßregelte auf die Scheine, die der junge Mann in der Hand hielt. „Oh. Ja. Verzeihung.“ Er korrigierte die Summe. „Einen schönen Abend.“ Und weiter im Text. Irgendwann gegen zwei Uhr morgens schließlich leerte sich das Etablissement auf eine für zwei Personen besser machbare Anzahl von Gästen und hide stieg die Treppe wieder nach oben, zurück in die Wohnung. Unten war die Bar noch bis in die frühen Morgenstunden geöffnet. Gähnend tappte er in die Küche und schaute in den Reiskocher. Reis. Im Vorbeigehen schaufelte er einen großen Löffel voll in eine Schüssel und schlurfte weiter in sein Zimmer. Dort zog er sich um. Und fiel mit dem Gesicht voran ins Bett, ohne noch etwa gegessen zu haben. -X- Als hide am nächsten Morgen die Augen aufschlug, zeigte sein Wecker bereits kurz nach zehn Uhr. Er war immer noch müde, doch als er sich umdrehte, um vielleicht nochmal ein Stündchen Dösen auf der Seite reinzuholen, fiel sein Blick auf seine Gitarre. Gitarre. Gestern. Band. Er hatte eine Band! hide setzte sich etwas zu schnell auf und der Raum drehte sich einmal. Mit einer plötzlichen Welle an Energie kehrten auch die Ideen des Vorabends zurück. Oh Gott, das musste er unbedingt ausprobieren, bevor er es wieder vergaß! Doch sein Magen grummelte beleidigt. Anscheinend wollte er endlich mal beachtet werden. Und jetzt, wo er drüber nachdachte… hatte er tatsächlich ein Loch im Bauch. Gut, erst Essen, dann Gitarre. hide schob seine Zimmertür auf und lauschte in die Wohnung. Stille, nur durchbrochen von gleichmäßigem Sägen. Das war gut. Leise ging er in die Küche und setzte grünen Tee auf, dann weiter ins Bad. Zähneputzen, Katzenwäsche, einmal kurz Bürste durch die Haare. Zurück in seinem Zimmer kippte er den Tee über den Reis von gestern und rührte zweimal durch. Naja. Es gab wohl schlechtere Arten zu Frühstücken. Also tat er das, zog sich an und steckte dann Gitarre und Kopfhörer an den Amp. Kreative Schübe musste man nutzen, solange sie vorhielten. Er probierte verschiedene Melodien aus, schrieb ein halbes Solo und machte dann noch einige Fingerübungen, weil er bemerkt hatte, wie sich seine Hand schon wieder verkrampfte und hörte erst damit auf, als sich Beine in sein Sichtfeld schoben. hide zuckte zusammen und riss sich die Kopfhörer von den Ohren. Sein Blick wanderte von den Knien aus nach oben. „… Guten Morgen“, sagte hide. „Ich hab jetzt schon drei Mal gerufen“, sagte sein Vater. hide lehnte sich unwillkürlich im Sitzen ein kleines Stück zurück – er hätte nicht sagen können, ob er Abstand zur Betrachtung oder einfach nur Abstand gewinnen wollte. Darin, möglichst schnell herauszufinden, in welcher Laune sein Gegenüber war, hatte hide inzwischen jahrelange Übung. Er war quasi der Emotionsninja. In Sekundenschnelle nahm er die Details in sich auf und wartete auf das Gefühl, das sich in seiner Magengegend formte. Es war kein gutes. Überhaupt kein gutes, wenn man selbst auf dem Boden saß und im Notfall wertvolle Augenblicke damit verschwenden musste, erst einmal aufzustehen. Über die Gitarre wollte er an dieser Stelle noch gar nicht nachdenken. „Das… hab ich nicht gehört.“ „Ja, das hab ich gemerkt. Komm frühstücken.“ In jedem anderen Haushalt wäre das eine ganz normale Aufforderung gewesen, die vielleicht sogar Freude ausgelöst hätte. Doch hide spürte, wie sich ein Klumpen in seiner Magengegend bildete. Mit seinen Eltern am Tisch zu sitzen hatte sich in den letzten Jahren zu einer seiner größten Ängste entwickelt. Gemeinsame Mahlzeiten waren eher ein innerfamiliärer Stabilitätstest als ein erbauliches Zusammensein. Und es gab keine gute Variante hier: Wenn er Ja sagte, dann kam er mindestens die nächste halbe Stunde aus dieser Situation nicht mehr raus. Und eine halbe Stunde war meistens genug Zeit, um einen Fehler zu machen. Wenn er Nein sagte, konnte er schon mal nichts falsch machen, doch es katapultierte die Diskussion ins Hier und Jetzt. hide entschied sich dennoch für die Wahrheit. Wenn er unverschämt viel Glück hatte, beließ es sein Vater einfach dabei. „Ich… ich hab schon gegessen.“ Er erntete einen wenig erfreuten Blick. „Ich… wusste nicht, wann ihr aufsteht und… ich bin schon seit-“ „Deine Mutter hat Frühstück gemacht, dann kannst du es wohl auch essen, oder nicht?“ Sein Vater sah sich einmal im Raum um. „Was ist das hier überhaupt für ein Saustall?“ hide schaute einmal nach links und einmal nach rechts. „Ja. Entschuldigung. Ich räum auf.“ Er legte die Gitarre neben sich auf der Zudecke ab und erhob sich langsam. Dann machte er sich daran, seine herumliegende Wäsche einzusammeln. Manchmal half blinder Aktionismus. Aber heute nicht. hide wuselte einmal durchs Zimmer und räumte den Boden frei. Es dauerte nicht so lang, wie er gehofft hatte. Also wandte er sich danach dem Geschirr zu. „Hast du den ganzen Vormittag an diesem Ding rumgezupft?“, fragte sein Vater, während hide die paar Meter in die Küche ging. „Ja.“ Ein Schnauben. „Damit vergeudest du ziemlich viel Zeit.“ „Es macht mir Spaß“, sagte hide, bemüht um einen neutralen Tonfall, und räumte seine Schüssel in die Spüle. Sein Vater setzte sich an den Esstisch. „Muss ja schön sein, wenn das Leben sich um Spaß dreht.“ Noch während hide Wasser in seine Schüssel laufen ließ, um den inzwischen angetrockneten Reis wieder einzuweichen, dämmerte ihm, dass er irgendetwas antworten musste. Doch er konnte genauso wenig widersprechen wie zustimmen. Beides war falsch. Schließlich sagte er, weiterhin neutral: „Ganz so ist es dann auch nicht.“ Da es an der Spüle nichts mehr zu tun gab, drehte er sich wieder um, auf ein Zeichen wartend, das es ihm erlaubt hätte, sich wieder unauffällig zu verziehen. Ein Nicken. Eine Augenbewegung. Vielleicht auch ein Wort, wenn es sein musste. Irgendetwas. Sein Vater schlug ein Ei in seinen Reis und versuchte es versöhnlich. „Setz dich zumindest dazu. Wir sehen dich kaum noch.“ Scheiße. hide zögerte einen Moment und sank dann schließlich auf seinen Platz. Ihm fiel kein guter Grund ein, warum nicht. Hausaufgaben anzuführen bedeutete bloß, dass er zugeben musste, dass sie noch nicht fertig waren – und dass er trotzdem Gitarre gespielt hatte. Nicht gut. „Also“, fragte der Mann an der Stirnseite des Tischs, „wo warst du gestern?“ „Ich sagte doch schon… bei Freunden.“ hide nahm seiner Mutter mit einer angedeuteten Verbeugung eine Schale Tee ab und trank einen Schluck. „Sie sind sehr nett. Sie wollen eine Band machen“, fuhr er dann ungefragt fort. Er war sich nicht ganz sicher, warum er es erzählte. Vielleicht, weil allein der Gedanke daran seine Stimmung ein klein wenig hob. Er freute sich darauf. Und Freude musste man mit anderen Menschen teilen, nicht? Das war es doch, was man tat? Sein Vater runzelte die Stirn. „Und was macht ihr dann da?“ „Naja“, sagte hide und fuhr mit dem Daumen den Rand der Teeschale entlang. „Musik.“ „Diesen komischen westlichen Affentanz?“ „Uhm… ja.“ „Willst du deine Zeit nicht lieber sinnvoll nutzen? Denk mal an die Zukunft. Du gehst in ein paar Monaten von der Schule ab.“ „Ich …“, begann hide leise. Wollte er… konnte er… Nein. Er räusperte sich und begann fester: „Ich denke, ich bekomme alles unter.“ „Hast du dir schon Universitäten angesehen?“ „Nein.“ Sein Vater hatte das Ei unter den Reis gerührt, aß aber nicht. Mit der Schüssel in der Hand verharrte er und sah ihn vorwurfvoll an. „Aha. Du denkst also, du bekommst alles unter, aber du hast noch nicht mal über eine einzige Universität nachgedacht? Ich wiederhole mich ungern: Denk mal an die Zukunft.“ Zukunft? Hide bemerkte, dass sein Griff an der Teeschale zu fest geworden war – sie schnitt ihm unangenehm in die Handflächen. Er stellte sie mit einem leisen Klicken auf dem Tisch ab. Zukunft… wie sollte er sich darüber Gedanken machen? Er kam ja nicht mal auf die Gegenwart klar. Doch das konnte er nicht sagen. Sarkasmus, auch wenn er noch so ernst gemeint war, war keine Option. Er sagte auch nicht “Ich vermassle alle meine Kurse. Ich werde die High School nicht schaffen. Ich bin zu dumm dazu. Ich weiß nicht, was ich machen will. Ich hab Angst vor der Zukunft." Er sagte: „Ich bin nicht sicher, dass meine Zukunft an einer Universität liegt.“ So ruhig er konnte. So machte man das auch bei bissigen Hunden – nicht zeigen, dass man nervös war und das Tier beruhigte sich. Vielleicht. Seine Eltern waren zum Frühstück übergegangen. Man aß zuerst den Reis. Doch das Gespräch war nicht vorbei. „Ach, und wo soll sie dann liegen? Auf der großen Bühne?“ hide wusste, wo er in diesem Gespräch falsch abgebogen war. Niemals mehr preisgeben, als er unbedingt musste! Doch hinterher war man ja immer schlauer. Er versuchte, einen verbalen Schritt zurück zu machen, weg von der Musik. Vielleicht, wenn ihm ganz schnell etwas einfiel – Volkswirtschaftslehre vielleicht - „Nein. Nein, ich möchte nur –“ Keine Chance. „Ist das der Dank dafür, dass wir all die Jahre für dich gesorgt haben? Dass es dir an nichts gefehlt hat? Deine Mutter steht jeden Tag in der Küche und kocht für dich und du dankst das ihr, indem du aus purem Trotz deine Zukunft versauen willst? Du beschämst sie! Du beschämst uns alle.“ hide sagte nichts. Er schaute auf seine Hände, die er im Schoß ineinander gelegt hatte. Die Fingernägel seiner Linken krallten sich so tief in die Handfläche der Rechten, dass es weh tat – und der Schmerz war das Einzige, das ihn davon abhielt, in Tränen auszubrechen. Er konzentrierte sich auf den Schmerz. Ablenkung. Ablenkung war der Schlüssel. Es half. „Ich wette, diese neuen Freunde von dir haben dir diesen Floh ins Ohr gesetzt! Lass mich raten, du willst lieber mit ihnen zusammen Krach machen, Drogen nehmen und in der Gosse landen!“ Der Klang von Klavier und Gesang machte sich ungefragt in hides Kopf breit. Er bekam Gänsehaut. Nein… Das war ganz sicher nicht, wo das hinlief. Es war nicht irgendwelche Musik. Es war besonders. Sie waren besonders. …Oder nicht? „Nein, ich –“, setzte er noch einmal an, obwohl er nicht wusste, wie er dieses Gefühl in Worte fassen konnte; so in Worte fassen, dass es jemand verstehen würde, der nie verstand. Doch darüber hätte er sich keine Sorgen zu machen brauchen – er kam nicht mal in die Nähe dessen, was er hatte beschreiben wollen. „Dieser westliche Krach ist für nichts gut! Wir hätten dir dieses Scheißinstrument nie erlauben dürfen. Und ich glaube, diese Freunde von dir haben einen schlechten Einfluss auf dich.“ Sein Vater legte die Stäbchen zur Seite, um sich ganz auf das Gespräch zu konzentrieren. „Du solltest sie nicht mehr sehen.“ An diesem Punkt hob hide den Kopf und starrte ihn ungläubig an. Er hatte Yoshiki doch gerade erst getroffen! Der Schmerz an seiner Hand half nicht mehr. Seine Brust wurde eng. Schlucken. Atmen. Hände tauschen. Besser. Er wollte nichts sagen. Einfach nicken. Einfach nicken und es trotzdem tun und sich mit den Konsequenzen beschäftigen, wenn es so weit war. Doch zu seinem Entsetzen hörte er seine eigene Stimme sagen: „Du kannst mir nicht vorschreiben, wen ich zu treffen habe.“ Sein Vater schaute ihn mit grimmiger Verwunderung an und beugte sich ein Stück vor. „Wie redest du denn mit mir?! Zeig gefälligst Respekt!“ Er hob die Hand und hide zuckte reflexartig zurück, bevor sein Gehirn die Situation auch nur ansatzweise erfasst hatte. Doch die Faust landete nur mit einem lauten ‘Bomp‘ auf dem Tisch zwischen dem Reis und den Gurkenscheiben. „Von nun an konzentrierst du dich aufs Lernen. Alles andere ist Verschwendung! Hast du mich verstanden?!“ Ein paar Sekunden lang passierte nichts. Ja, wollte hide sagen. Einfach nur Ja. Es war ganz einfach. Doch das Wort wollte ihm nicht über die Lippen kommen. Es war Verrat an sich selbst. „Nein“, sagte hide schließlich, leise aber deutlich. „Ich hör nicht auf.“ Er spürte seine Unterlippe zittern, doch wusste nicht genau, ob es wirklich Traurigkeit war. Vielleicht war es auch Wut. Vielleicht auch Trotz. Vielleicht auch einfach das Gefühl der totalen Überforderung mit einer Situation, die zu schnell zu groß gewesen war, um sie zu verstehen. Er musste hier weg. „Setz dich wieder hin!“ hide war im Flur, lange bevor sein Vater überhaupt auf den Beinen war. Was für ein Glück, dass er seine Schuhe nie aufschnürte und nur hineinschlüpfen musste! Er riss die Haustür auf. „Wo gehst du hin?!“, folgte ihm die Stimme noch. Zur Antwort schmiss hide die Tür zu fest hinter sich zu. Erwachsenwerden zeichnete sich zu einem nicht geringen Teil ja dadurch aus, dass man nicht mehr fragte, wo man herkam und nicht mehr sagte, wo man hinging. -X- Ohne festes Ziel war hide einfach drauf los gestiefelt, weiter und weiter, bis er schließlich an der Bahnstation angelangt war. Zusammen mit einem seltsamen Stich in der Herzgegend durchdrang ihn noch einmal eine plötzliche Sehnsucht nach dem Haus der Hayashis. Er betrachtete den Linienplan. Es war nur einmal Umsteigen und acht Stationen und eine ganze Welt entfernt von ihm. Doch selbst wenn er sich dazu hätte durchringen können, einen spontanen zweiten Überraschungstag zu starten, hatte er immer noch keine Fahrkarte. Systematisch begann hide, einmal alle seine Taschen abzutasten. Das Ergebnis waren 150 Yen. Das reichte. … Wenn er nur hin und nicht mehr zurück fuhr. hide trat einen halben Schritt vom Fahrplan weg und schüttelte den Kopf über sich selbst. Das war eine bescheuerte Idee! Früher oder später kam die eigene Weirdness sowieso immer durch, und an diesen Gedanken musste man sich gewöhnen. Aber er wünschte sich in diesem Fall, dass es später passierte. Nein. Entschlossen steckte er die Münzen wieder ein. Doch was dann? Ratlos drehte er sich auf dem Ballen um und machte sich langsam zu Fuß auf den Weg in die Innenstadt. Zum Glück war es ein weiterer sonniger Tag. Viele Menschen waren unterwegs und eine Zeit lang genoss hide das Gefühl, nicht allein zu sein und sich trotzdem mit niemandem unterhalten zu müssen. Er betrachtete ein wenig die Schaufenster in der Einkaufsstraße, sah einem Koi-Züchter dabei zu, wie er seine kostbare Fracht verlud und probierte aus, wie oft er den Touristen aus Hokkaido, von denen er ein Foto vor dem Schloss machen sollte, sagen konnte, sie sollten ‘nur noch ein kleines Stück zurück‘ gehen, bevor es ihnen zu dumm wurde (vier Mal). Danach ging er ein wenig am Strand spazieren und schaute den Booten weiter draußen in der Bucht zu. Irgendwann gegen den frühen Abend jedoch, als er gerade wieder vom Strand zurück in die Stadt ging, begann sein Magen erneut zu grummeln und schließlich zu knurren. Und durstig war er auch. Zumindest das zweite Problem musste er lösen, denn allmählich bekam er Kopfschmerzen. Kurzentschlossen bog er in einen kleinen Gemischtwarenladen ab. Ishizuka stand auf dem Banner über der Tür. Drinnen drängten sich Regale aneinander, doch das Sortiment war erstaunlich vielfältig und gut sortiert. „Irrashaimase!“, begrüßte ihn eine kleine Frau mittleren Alters mit rundem Gesicht, die hinter der Kasse stand. Eine andere Frau hantierte neben der Tür mit einem großen Rettich und ihrer ebenso großen Handtasche. hide nickte ihnen zu und ging nach hinten durch, dorthin, wo die Getränke standen. Er nahm eine Flasche Wasser vom Regal. 130 Yen. Gut, das löste das Durst-Problem. Doch schon beim Anblick der Nudeln auf dem Regal hinter ihm und der Schokolade beim Eingang hatte hides Magen wieder angefangen, vor sich hin zu rumoren. hide sah sich um. Die gekühlten Waren lagen an der Wand links von ihm. Er schlenderte hinüber und betrachtete die Auswahl. Schnell beschränkte ihn seine begrenzte Reisekasse auf das Wesentliche. Das billigste Onigiri ohne alles kostete schon 120 Yen. hide schaute es nachdenklich an. Reis mit Seetang konnte so gut aussehen manchmal, es war unglaublich. Aber sogar das überstieg seine Möglichkeiten gerade. Ein Lachen drang an seine Ohren. An der Kasse unterhielt sich die Frau, die vermutlich die Besitzerin war, jetzt fröhlich mit der Nachbarin mit dem Rettich. hide schaute wieder zu dem Onigiri zurück. Das Onigiri schien ihn ebenfalls anzusehen und sogar ein bisschen zu lächeln. hide schaute nach links. hide schaute nach rechts. Einmal über die Schulter. Abgesehen von den Frauen war er allein im Laden. Er schüttelte den Kopf und trat einen Schritt vom Regal zurück. Er dachte darüber nach. Er dachte wirklich darüber nach! Wie konnte er darüber nachdenken? Das widersprach allem, was er gelernt hatte! Und dennoch… dennoch wanderten seine Augen wieder zum Regal und saugten sich an dem Reisbällchen fest. 120 Yen. Das war fast nichts. Wie schlimm konnte das für die Bilanz sein? Und er konnte auf jeden Fall die nächsten Tage nochmal vorbeikommen und in Eile auf Wechselgeld verzichten. Ja. Das war in Ordnung. Nicht komplett in Ordnung, aber… so ziemlich. Er streckte die Hand aus. Grandios viele Karma-Punkte brachte das nicht ein. Aber es war in Ordnung. Ok. Er nahm das Reisbällchen aus dem Kühlregal. Seine Hand zitterte ein bisschen und er atmete durch. Ruhig, dachte er. Die Kunst war, ganz ruhig zu bleiben. Immerhin musste er danach auch noch sein Wasser bezahlen, ohne dass ihm der Schweiß aus dem Kopf sprudelte. hide schaute nach links. hide schaute nach rechts. Einmal über die Schulter. Und steckte das Onigiri langsam in die - „He!“, sagte eine Stimme scharf neben ihm. „Was glaubst du, was du da tust?“ hide machte einen Satz. Das Onigiri rutschte ihm aus der Hand und landete mit einem bemitleidenswerten ‘Flopp‘ auf dem Boden. Ein paar Schritte neben ihm stand ein Junge in seinem Alter und sah ihn mit zusammengezogenen Augenbrauen an. Er trug das gleiche blaue Hemd wie die Frau an der Kasse. hides erster Instinkt war Flucht. Doch er stand zwischen ihm und dem Ausgang. Konnte er das trotzdem schaffen? Nichts an ihm wollte sich bewegen. „Ä h m…“, machte hide brüchig. Sein Leben zog an ihm vorbei. Sein Puls raste. Ihm war kalt und heiß und übel. Er wartete darauf, dass er aufwachte. Nichts passierte. Scheiße. Das hier war echt. Das hier war sein Leben. Sein zweiter Instinkt klinkte sich ein. Lügen. Er zog alle Schubläden in seinem Kopf weit auf. Doch da war nichts. Nichts, das ihn aus dieser Situation holen konnte. Und selbst falls es etwas gab, wurde es gerade unter einem Haufen panischer Fragen begraben. Würden sie die Polizei rufen? Kam er denen davon? Konnte er ihnen einfach einen falschen Namen und eine falsche Adresse auftischen? Was war eigentlich die Strafe für Ladendiebstahl? Landete das in einer Akte oder gab es nur einen Klaps auf die Finger? Ein erneutes Klingeln von der Tür und eine herzliche Begrüßung rissen hide aus seinen Schocksekunden. „Ich lass das mitgehen“, sagte er schließlich und ließ die Schultern hängen. Und das war’s dann wohl. Nun ja. Er hatte ja immer so die Vermutung gehabt, dass er sein Leben an irgendeinem Punkt ruinieren würde. Nur hatte er immer erwartet, dass es an irgendetwas anderem scheitern würde und nicht an so etwas Banalem. Aber gut… auch das schien ihm irgendwie passend für sich selbst. Er bückte sich nach dem Onigiri und reichte es dem Jungen. Dann reichte er die Wasserflasche hinterher. „Es tut mir leid. Mach was du musst.“ Der Junge betrachtete skeptisch erst hide, dann das Reisbällchen, dann wieder hide. „Warum genau das?“ „Ich hab Hunger und es ist das billigste“, antwortete hide kleinlaut in Richtung seiner Schuhe. Sie verschwammen vor seinen Augen. Einen schrecklichen Moment war ihm, als würde er gleich in Tränen ausbrechen. Doch der Moment ging vorüber. Das Bild seiner Turnschuhe wurde wieder scharf. Er hörte auf, seine Fingernägel in die Handinnenflächen zu graben. „Tomo?“, fragte die Stimme, die zu der rundlichen Frau gehörte. „Ist alles in Ordnung da hinten?“ Der Junge schaute von hide zu dem Onigiri, dann wieder zu hide. „Alles gut, Oba-san“, rief er halblaut nach vorne. hide hob irritiert den Kopf und starrte ihn an. Was passierte hier? Obwohl er dagegen ankämpfte, machte sich ein kleiner Funken Hoffnung in ihm breit. Hieß das… „Ich geh dann nach oben und bereite das Abendessen vor. Bleib bitte vorne im Laden!“ „Ee“, sagte der Junge zustimmend. Und dann: „Oba-san! Kann …“ Er schaute hide an und zog die Augenbrauen zu einer fragenden Miene hoch. Seine Hand machte eine auffordernde, halbkreisförmige Bewegung. „hide?“, fiepte dieser leise. Ihm fiel auf die Schnelle kein Name ein, den er stattdessen hätte nennen können. Totaler Aussetzer. „… hide zum Essen bleiben?“ hide starrte ihn an. Jetzt mal im Ernst: Was passierte hier?! Sowas hatte er ja überhaupt noch nie gehört! Und eigentlich… eigentlich wollte er das auch gar nicht. Er wollte bloß nach Hause. Nein. Er wollte einfach nur weg. Wohin dann weiter, das konnte er später immer noch entscheiden. Aber er wollte raus aus diesem Laden und weg von diesem Jungen mit dem irritierend ruhigen Blick. „Ich glaub nicht, dass das eine gute –“, setzte hide zögerlich an. Der andere Junge legte nach einer kurzen Inspektion das Onigiri zurück ins Regal und hob dann die Schultern. „Du kannst entweder bleiben, oder ich erzähl ihr, dass du stehlen wolltest. Und glaub mir, sie hat einen Besen und keine Angst, ihn zu benutzen.“ hide klappte den Mund zu einer Antwort auf, aber sofort wieder zu, denn das runde Gesicht lugte in ihren Gang, überrascht, aber nicht unfreundlich. „Oh!“, sagte sie. „Ich wusste nicht, dass du ein Freund von Tomo bist, Hallo! Jetzt weiß ich gar nicht, ob ich genügend vorbereitet habe! Da muss ich gleich mal schauen, was sich machen lässt.“ Der Junge an hides Seite nickte lächelnd, sagte „Danke“ und die Tante entfernte sich in den hinteren Teil des Ladens. Dann hörte hide Schritte auf einer Holztreppe und schließlich eine Tür. ‘Tomo‘ machte sich auf den Weg zur Kasse. hide blieb einen weiteren Herzschlag lang wie versteinert stehen, bevor er ihm nachstürzte. „Hör mal, ich kann doch nicht – sie ist doch gar nicht – also, wenn nicht genug –“ Der andere Junge winkte ab. „Das sagt sie immer. Irrashaimase!“ Ein älteres Ehepaar hatte den Laden betreten und ging, um den frischen Fisch in der Kühltruhe einer Musterung zu unterziehen. „Aber… aber…“, fing hide an. Es war nicht so, als fiele ihm kein mögliches Ende für diesen Satz ein. Es fielen ihm unendlich viele Enden ein und er wusste nicht, wo er anfangen sollte. Alles an dieser Situation funktionierte für ihn nicht! „Glaubst du nicht, dass es besser wäre… also ich könnte einfach... soll ich dir das komplette Geld geben, das ich dabei habe?“ Der andere Junge hatte sich auf einen hohen Hocker hinter der Kasse gesetzt und sah ihn weiterhin entspannt an. „Und das würde was genau erreichen?“ „Ich … ich weiß nicht“, gab hide ein bisschen kläglich zu. „Ich würde mich vielleicht nicht mehr so schlecht fühlen.“ „Entschuldigung?“, rief der ältere Herr von der Gefriertruhe. „Haben Sie Kabeljau?“ Tomo stand auf und ging hinüber. „Nein, heute nicht. Verzeihung. Aber die Makrelen sind sehr gut, wenn ich Ihnen etwas anderes empfehlen darf.“ Das Paar sah sich an. „Makrele?“, fragte die Frau. „In Ordnung“, sagte der Mann und dann zu Tomo: „Dann drei bitte.“ „Drei, sehr gern.“ Als der Fisch den Besitzer gewechselt und das Paar den Laden verlassen hatte, führte der Junge die Unterhaltung fort, als wären sie nie unterbrochen worden. „Dann fühlst du dich gerade schlecht?“ „Ja!“, sagte hide mit Nachdruck. „Natürlich tu ich das!“ Tomo nickte und stand auf. „Gut.“ Er ging um die Kasse herum, an hide vorbei zur Tür und sperrte ab. Dann drehte er das Schild von Geöffnet auf Geschlossen. „Lass uns zu Abend essen.“ -X- Schweigend und unbehaglich folgte hide dem anderen Jungen eine schmale Treppe hinauf in den ersten Stock. Vor der eigentlichen Wohnungstür zogen sie die Schuhe aus und nochmal eine ganze Ecke unbehaglicher betrat er den dahinterliegenden Flur. „Hör auf, so zu schauen“, sagte sein Gasterpresser und schloss die Tür hinter ihnen. „Sonst will sie wissen, ob dir nicht gut ist.“ „Mir ist nicht gut“, sagte hide wahrheitsgemäß. Er musste bleich sein wie die Wand. „Wie stellst du dir das hier vor? Ich weiß nicht mal, wie du heißt!“ „Ich heiße Tomoaki. Und jetzt pssht.“ „Tomo!“, erklang die Stimme der Frau von irgendwoher, „holst du bitte deinen Onkel?“ „Jaha!“, rief der Angesprochene zurück und wandte sich dann an hide. „Warte kurz.“ Er ging den schmalen Gang hinunter und verschwand in das Zimmer am anderen Ende. hide schaute sich einmal um. Vielleicht hätte er die Möglichkeit genutzt, um sich aus dem Staub zu machen, hätte Tomo nicht die Ladentür unten abgeschlossen. Da ihm also nichts anderes übrig blieb, sah er sich mulmig im Flur um. Die Wohnung über dem Geschäft war klein. Nach dem Klappern zu schließen, befand sich das Esszimmer links von ihm. Ansonsten sah er noch vier weitere Türen, deren Abstand darauf schließen ließ, dass die dahinterliegenden Räume winzig sein mussten. Von weiter hinten konnte hide hören, wie Tomoaki jemandem das anstehende Abendessen verkündete. Kurz darauf kehrte er in den Gang zurück. „Komm.“ Gemeinsam betraten sie das Esszimmer, das direkt in die Küche überging. Auf dem Tisch standen fünf Portionen Reis, eingelegtes Gemüse, Misosuppe, gegrillter Aal und kleine Schälchen mit Erdbeeren und Melonenstückchen. Frau Ishizuka kam gerade noch einmal mit einer Kanne Tee und einer Karaffe Wasser in den Raum gewuselt. „Tut mir leid, wenn es nicht reicht! Ich hatte wirklich nicht mit einem Gast gerechnet.“ „Ähm“, machte hide, von der Gesamtsituation überfordert. „Also… ich… das ist der Wahnsinn.“ Der blanke Wahnsinn, um genau zu sein! „Und es… es tut mir sehr leid, wenn ich Ihnen zur Last falle.“ Er verbeugte sich, eine ehrliche, neunzig Grad tiefe Verbeugung. Frau Ishizuka nahm es als scheinbar als Kompliment, denn sie strahlte. „Alles gut, mein Lieber. Setz dich!“ Sie gestikulierte zu dem Platz hinten links und hide setzte sich neben Tomoaki. Und wünschte sich, die Erde würde sich auftun und ihn verschlucken. Diese liebenswerte Frau! Und er war so ein… hide war gerade mit seiner stillen Beleidigung der eigenen Person fertig, als ein Mann mit runden Augen, flacher Nase und niedrigem Haaransatz den Raum betrat. Er erinnerte hide unwillkürlich an ein Faultier. „Und?“, fragte Frau Ishizuka leicht besorgt. Der Mann kratzte sich am Hinterkopf und setzte sich an die Stirnseite. „Wollen mal sehen, ob’s hält“, brummte er. „Aber such sicherheitshalber mal große Schüsseln zusammen, falls es trotzdem noch reinregnet.“ Sein Blick fiel auf hide. „Tomo hat einen Freund eingeladen!“, kam seine Frau sowohl seiner Frage als auch hides Antwort zuvor und schenkte rundum Wasser ein, bevor sie sich ebenfalls setzte. „Wie war dein Name nochmal, mein Lieber?“ „Hideto“, sagte hide. „Danke für Ihre Gastfreundschaft.“ Der Mann nickte, mit der Antwort offenbar zufriedengestellt, und griff nach seinem Tee. Ein Mädchen von vielleicht fünfzehn kam, ihr Gesicht in einem Buch vergraben, in den Raum und setzte sich an den Tisch, gerade als hide seine Stäbchen in die Hand genommen hatte und sich mental mit dem Aal beschäftige. Sie trug etwas, das mit viel Glück als Hausanzug durchging, nach den Kätzchen darauf aber eher als Schlafanzugverschnitt bezeichnet werden musste. „Itadakimasu“, sagte sie und tastete nach ihren Stäbchen, ohne aufzusehen. „Terumi!“, sagte die Tante vorwurfsvoll. „Wir lesen nicht beim Essen!“ Die Angesprochene machte ein Geräusch, klappte das Buch zu und klatschte es demonstrativ genervt neben sich auf den Boden. Dann sah sie hide. „Ähm… Hallo“, sagte dieser. „Ich bin Hideto. Freut mich, deine Bekanntschaft zu machen.“ Er beugte sich leicht in Richtung seiner Suppe. Das Mädchen starrte ihn weitere fünf Sekunden an. Dann verbeugte sie sich ebenfalls in Richtung ihres Essens – und blieb so. Anscheinend plante sie, sich hinter ihrer Reisschüssel zu verstecken. hide blinzelte zweimal. Nette Familie. An dieser Stelle ließ sein Magen ein Knurren hören und mit einem peinlich berührten Lächeln griff hide nach dem Schälchen mit dem Aal. Er hatte gerade zwei Bissen genommen, den Geschmack gelobt und die Schale mit der Misosuppe an die Lippen gehoben, als sich das Gespräch an ihn richtete. „Also, Hideto!“, sagte die Tante. „Tomo hat noch nie von dir erzählt, woher kennt ihr euch?“ „Uhm…“, machte hide. „Wir… also… puh.“ Er stellte die Suppe wieder ab, griff nach seinem Wasserglas und nahm einen Schluck, um sich ein paar Sekunden Zeit zu kaufen. Tomoaki nahm eine Stäbchenladung voll Reis und sagte nichts. hide drehte, den Mund noch voll Wasser, den Kopf fragend in seine Richtung. Hatte er kein Interesse daran, dass seine eigene Lüge nicht aufflog? Keine Reaktion. hide schluckte das Wasser runter und musste daher antworten. „Wir… haben uns einfach getroffen. Einer der großen Zufälle des Lebens, nehme ich an“, sagte er und hoffte, dass sein Lächeln über die Ungenauigkeit dieser Aussage hinwegtäuschte. Schnell nahm er Stück Aal. „Ach, das ist ja schön!“, sagte Frau Ishizuka fröhlich, nahm selbst ein wenig Reis und wandte sich dann an ihren Mann. „Wir haben heute wieder keinen Kabeljau bekommen.“ „Nein?“ „Nein. Du musst wirklich mal mit Yamato reden. So geht das nicht!“ Herr Ishizuka schlürfte seine Suppe. „Mache ich morgen.“ Seine Frau nickte. „Und was ist mit dem Dach?“ „Nun ja“, antwortete er. „Also wenn es ein Bambusdämpfer wäre, wäre es gut so. Für ein Dach… mmh.“ „Was heißt das, mmh?“ „Nun… Siehst du, es -“ hide hatte seinen Aal vertilgt und wandte sich jetzt ebenfalls der Suppe zu. So oder so ähnlich hatte er Familienessen von früher in Erinnerung. Und wenn er vorübergehend vergaß, wie er an diesem Tisch gelandet war, dann schmeckte es ihm umwerfend gut! Mmh, diese Suppe… Zum Glück übernahm Frau Ishizuka die Konversation, dachte er, während er kleine Stückchen Tofu aus der Brühe fischte. Umso weniger er sagte, desto unwahrscheinlicher war es, dass jemand auf die Wahrheit kam. Er war mit Zuhören mehr als glücklich! Ihm gegenüber stocherte das Mädchen in dem Katzenschlafanzug unschlüssig in ihrem Fisch herum und warf ihm unter einem dichten Pony heraus vorsichtige Blicke zu. Das war ein wenig irritierend, aber wer verstand schon Mädchen? hide sicher nicht. Am letzten Valentinstag hatte ihm eines aus der Klasse unter ihm Schokolade geschenkt und war danach weggerannt, bevor er auch nur ‘Danke‘ hätte sagen können. Mädchen waren einfach eine komische Unterart der menschlichen Gattung. Solcherart arbeiteten sie sich durch die verschiedenen kleinen Gerichte und das Obst, dann räumten Frau Ishizuka und das Mädchen den Tisch ab, während der Onkel sich wieder an die Arbeit machte. „Du versuchst, mir ein schlechtes Gewissen zu machen“, stellte hide fest, als sie allein am Tisch waren. Voll durchschaut. „Und klappt, oder?“, sagte der Junge. hide blinzelte. Der leugnete das nicht einmal! Wie konnte jemand nur so tiefenentspannt sein?! „Uh-hu“, machte er schließlich. „Und um das noch zu steigern, lass mich Folgendes fragen: Wo ist die Toilette?“ hide folgte Tomoakis Fingerzeig den Gang hinunter. Auf dem Rückweg stand die Zimmertür neben dem Esszimmer offen und im Vorbeigehen warf hide einen Blick hinein. Tomoaki suchte etwas auf seinem Schreibtisch. Unvermittelt blieb er im Gang stehen. „Ist das eine Gibson Les Paul?“ Tomoaki drehte sich überrascht zur Tür um. „Ja“, antwortete er. „Du verstehst was von Gitarren?“ „Uh“, machte hide, „Verstehen… Nein. Nicht wirklich. Ich spiel eigentlich bloß. Ich hab eine ähnliche. Nur in Rot.“ „Na da schau her.“ Er sagte es in einem Tonfall, den hide nicht ganz zuordnen konnte. Vielleicht war das gut so. Er beschloss, nicht weiter darüber nachzudenken. Der andere Junge schaute hide einige Augenblicke gedankenverloren an. „Lust, das Abendessen abzuarbeiten?“ -X- Regale auffüllen war eine langweilige, aber irgendwie auch meditative Tätigkeit. hide fragte sich, ob er wohl Satori erfahren würde, wenn er das hier nur lange genug machte und ob das der Grund für die fast gruselige Ausgeglichenheit des anderen Jungen war. Tomoaki arbeitete am Regal hinter ihm und bis auf die leisen Geräusche ihrer Arbeit hatte sich Stille über sie gesenkt. Draußen auf der Straße ging seit einigen Minuten ein plötzlicher, heftiger Sommerregen nieder und das gleichmäßige Getrommel des Wassers verstärkte seltsamerweise die Ruhe. hide wusste bereits nach wenigen Minuten, dass er das nicht aushielt. „Wieso machst du das alles?“, fragte er schließlich und stapelte das letzte Schächtelchen mit Wasabi. „Was genau?“ „Keine Ahnung! Mir helfen! Immerhin wollte ich – und du hast – und jetzt auch noch -“ hide hatte sich umgedreht und machte eine hilflose Handbewegung. „Und das ist seltsam, weil…“ „Weil… Leute anderen Leuten nicht einfach so helfen“, sagte hide. Tomoaki räumte drei weitere Dosen Lychees ins Regal. „Wenn das deine bisherige Erfahrung mit der Welt ist, ist das ziemlich traurig.“ hide sagte nichts und wandte sich nach einigen Sekunden lieber wieder dem Regal zu. Jetzt stapelte er zu kleinen Quadraten gepresste Nudeln. Er hielt sich selbst für eher realistisch, aber es erschien ihm unklug, mit Tomoaki zu diskutieren. Immerhin war dieser der Mann mit der Wahrheit. Als er schließlich getrocknete Algen nachlegte, wechselte Tomoaki den Gang zu den Süßigkeiten. „Weißt du…“, schwebte seine gleichmäßige Stimme über das sie trennende Regal, „wenn man lange genug in einem Laden arbeitet, dann lernt man die Leute kennen. Wer Kinder hat, die nicht ausziehen. Wer Kinder hat, die ihn nicht besuchen. Wer Stress hat und weiter will. Wer Zuhause niemanden hat und reden will. Solche Dinge.“ hide dachte an die Bar und nickte schließlich, auch wenn es niemanden gab, der es sehen konnte. „Und dann bekommt man auch ein Gespür dafür, wer ein schlechter Mensch ist. Und ich weiß nicht ganz, was du bist“, sagte die Stimme weiter, „aber von denen bist du keiner.“ „Und wenn dein Gespür sich irrt?“, fragte hide. Er trat einen Schritt vom Regal zurück und sah sich nach weiteren Lücken um, fand aber keine. Also stapelte er seine Kartons und trug sie einen Gang weiter, dorthin, wo Tomoaki gerade kleine Teigfischchen wieder ansprechend anordnete. „Dann hättest du gerade bestimmt die Gelegenheit genutzt um zuzugreifen und ich hätte das über den Spiegel da oben gesehen“, sagte er und nickte nach rechts, ohne den Kopf zu drehen. hide aber drehte sich um. Zwischen der Milch und der Sojasauce hing ein kleiner, gebogener Spiegel. „Oh.“ Tomoaki sagte nichts und rückte mit seinem seltsamen Lächeln das Zuckerzeug neben den Fischen zurecht. Schritte kamen die Treppe hinunter und Sekunden später tauchte Frau Ishizuka in ihrem Gang auf. „Ich mache das hier zu Ende“, sagte sie fröhlich. „Warum habt ihr zwei nicht noch ein bisschen was vom Abend, hm?“ „Danke.“ Tomoaki reichte ihr den Karton, aus dem er gerade Reiscracker nehmen wollte und die beiden Jungen entfernten sich einige Schritte. Am Ende des Ganges hielt hide ihn am Oberarm zurück. „Soll… ich nicht besser gehen?“, fragte hide leise. Er hatte das Gefühl, sein Gastrecht – welches für sich genommen schon ein Wunder darstellte - bereits erheblich überstrapaziert zu haben. „Ich weiß nicht“, sagte Tomoaki und sah ihn abschätzend an. „Was denkst du?“ „Ich weiß nicht“, sagte hide. Einige Herzschläge lang schauten sie sich unschlüssig an. Dann zog der andere Junge den linken Mundwinkel zu einem halben Lächeln hoch. „Willst du Gitarre spielen?“ Wenig später saßen sie in Tomoakis Zimmer auf den Tatamimatten. Dieser hatte eine zweite Les Paul in einem schönen Sunburst-Design hervorgezaubert, welche nun in hides Schoß ruhte. „Was willst du spielen?“, fragte hide. „Mmh“, machte Tomo. „Kannst du was von Sabbath?“ „Keine Ahnung“, antwortete hide. „Noch nie probiert.“ „Ich zeig dir was“, sagte Tomoaki. Er spielte einen längeren Riff. Er klang schön. Leicht melancholisch, stellenweise etwas aggressiv, aber insgesamt erstaunlich gefühlvoll. Es gefiel hide. Er spielte die ersten Töne nach. Down, down, up, down, Fingerarbeit, down… ähm… ja. Er hielt inne und durchkramte sein Kurzzeitgedächtnis. „Uhm… mach das nochmal.“ Er brauchte noch drei weitere Anläufe, bis er die Melodie vollständig kopiert hatte und dann war er ziemlich stolz auf sich. Probeweise spielte er sie noch einmal. „Ok?“, fragte Tomoaki, als er geendet hatte. „Ok“, sagte hide. Sie schauten sich an, nickten beide gleichzeitig und stiegen gemeinsam ein. Während er spielte, hatte hide ein äußerst seltsames Gefühl: Irgendwo in seinem Inneren klickte etwas, wie ein lange gesuchtes Puzzleteil, das endlich an die richtige Stelle fand. Die Welt schien ein Stück vollständiger. Er hatte schon mit vielen Leuten Gitarre gespielt. Aber das hier, das hier war unglaublich. Es fühlte sich natürlich an. So natürlich. Sie erreichten das Ende der Melodie. „… bin das bloß ich oder hat das jetzt irgendwie gerockt?“, fragte Tomo. Seine Finger tappten ein paar Mal nachdenklich gegen die Saiten. „… vielleicht war es Zufall“, schlug hide eine alternative Narrative vor. „Lass uns das nochmal probieren. Und diesmal fang ich an.“ Er spielte eine neue Melodie, schneller und ungleichmäßiger. Entfernt hatte er sie mal an Pink Floyd angelehnt, doch das war so lange her, dass er gar nicht mehr wusste, an welches Solo genau. Beim dritten Mal stieg der andere Junge ein. Abermals schmiegte sich sein Sound perfekt an hides. Am Ende der vierten Wiederholung hörten sie beide gleichzeitig auf und schauten sich zum wiederholten Mal an diesem Abend unschlüssig an. „Was genau passiert hier gerade?“, fragte hide schließlich. „Ich weiß nicht“, antwortete Tomo. „Aber ich bekomme ziemliche Grusel-Vibes.“ „Grusel-Vibes-gut oder Grusel-Vibes-schlecht?“, fragte hide. „Nur Grusel-Vibes.“ hide zog eine Schnute und nickte. Man nahm ja, was man bekam. „Aber du lernst schnell“, sagte Tomoaki. „Und du erst“, sagte hide. Eine etwas seltsame Stille trat ein. Sie war nicht unbedingt unangenehm, doch irgendetwas war an ihr, das sie schwer werden ließ. hide knickte zuerst ein. Er räusperte sich. „Ich sollte vielleicht…“ „Ja…“, stimmte Tomoaki zu, „du solltest vielleicht.“ „Tomo!“, drang eine Stimme durch die dünne Wand zum Nebenzimmer, „sei so gut und bring mir einen großen Topf!“ Der andere Junge und hide sahen sich an und mussten beide lachen. „Eigentlich“, sagte Tomoaki nach einigen Sekunden und zwang sich, mit dem Lachen aufzuhören, „ist das unangebracht. Da läuft Wasser in mein Haus.“ "Ja!", kam die Stimme noch einmal. "Und es wird nicht weniger! Dalli!" „Entschuldigung“, sagte hide und riss sich zusammen. Tomoaki stand auf und machte sich auf den Weg in die Küche. „Sei so nett und bring meiner Schwester die Gitarre zurück.“ hide nickte. Das erklärte einiges. Er hatte es schon seltsam gefunden, dass eine Person zwei dieser Schmuckstücke besitzen sollte – in diesem jugendlichen Alter! Er rappelte sich auf, trat in den Gang hinaus und sagte: „Terumi?“ Jenseits der Tür gegenüber raschelte es. Dann passierte nichts. Hinter ihm ging Tomoaki mit einem Topf vorbei. „Terumi?“, fragte er noch einmal, etwas lauter. Nochmaliges Rascheln. Die Tür glitt auf und gab den Blick auf den Ausschnitt eines extrem unordentlichen Zimmers und ein Poster von KISS neben dem einiger schmusender Kätzchen frei. Das Mädchen im Vordergrund des Ganzen, eine Armlänge entfernt von hide, hatte sich inzwischen leidlich angezogen, schaute ihn aber genauso sprachlos an wie zuvor. Er räusperte sich und reichte ihr mit beiden Händen das Instrument. „Danke, dass ich mir deine Gitarre leihen durfte.“ Sie nickte. hide fragte sich auf einmal, ob sie vorhin auch schon Lippenstift getragen hatte. „Ähm… also dann. Auf Wiedersehen.“ Er schaffte ein Lächeln. Sie nickte noch einmal. Die Tür glitt wieder zu. „Denk dir nichts“, hörte er die Stimme des anderen Jungen hinter sich. „Sie ist so.“ Tomoaki begleitete ihn die Treppe nach unten, durch den Laden und zur Eingangstür. Die Luft war nach dem Regen kühl und erfrischend, als hide nach draußen auf die Straße trat. Es tröpfelte noch ein wenig. „Ok“, sagte er unschlüssig, „also dann…“ Tomoaki nickte. „Also dann.“ „Danke.“ „Mach das einfach nie wieder.“ hide nickte. Dann gab es nichts mehr zu sagen. Also lächelte er leicht und machte sich auf den Heimweg. Er war gerade zehn Schritte weit gekommen, als ein Ruf ihn noch einmal innehalten ließ. „He!“ „Hhm?“ hide drehte sich im Gehen um. Etwas flog auf ihn zu, er fing es auf. Es war ein Onigiri ohne alles. Die aufziehende Dunkelheit des Abends reichte nicht ganz um zu verstecken, dass seine Wangen sich verdunkelten. Er winkte nochmal, dann verschwand er in der Dämmerung. Frau Ishizuka erschien mit einer Gemüsekiste, die nach hinten in die Kühlung musste, neben ihrem Neffen in der Tür und schaute hide nach. „Wirklich ein netter Junge!“, sagte sie. „Ja…“, sagte Tomoaki, drehte sich um und ging zurück nach drinnen. „Aber ein seltsamer.“ -X- Toshi nahm den Hörer ab – und legte ihn wieder hin. Es war gerade genau acht Uhr, und er wollte nicht den Eindruck erwecken, als hätte er auf die runde Zahl gewartet, um anzurufen – obwohl er genau das getan hatte. Er ging noch einmal in die Küche und schaute in den Kühlschrank. Hunger hatte er keinen, aber es war Thunfisch da. Gut zu wissen. Kühlschrank wieder zu und zurück in den Flur. Es war drei nach acht. Er nahm den Hörer noch einmal ab, wählte die Nummer, verwählte sich nicht, legte trotzdem wieder auf. Nervös. Immer noch nervös. Das konnte doch nicht wahr sein! Toshi atmete zwei Mal tief durch. Jetzt komm schon, dachte er. Wenn du vor ihm singen kannst, kannst du ihn auch anrufen. Los. Da ist überhaupt nichts dabei. Du hast deinen Zettel. Ja, er hatte tatsächlich einen Zettel, auf dem er sich notiert hatte, was er wollte. Nur für den Fall, dass er es mitten im Gespräch vergaß und anfing zu stottern. Er würde ihn nicht brauchen, er brauchte ihn nie. Aber es gab ihm ein gewisses Gefühl von Sicherheit. Toshi wählte die Nummer noch einmal. Es tutete. Sein Mund war trocken. Dreimal. Viermal. Nach dem fünften Mal meldete sich eine Frauenstimme. „Hai. Matsumoto desu.“ Toshi wünschte, er hätte sich noch einmal räuspern können, aber gut, dann eben so. „Deyama Toshimitsu to mooshimasu ga. Ich würde gern mit hide sprechen.“ Kurz herrschte Stille am anderen Ende der Leitung. „Hideto ist nicht zuhause.“ „Oh“, machte Toshi. „Dann, ähm… wann kommt er denn zurück?“ Wieder Stille. Toshi runzelte die Stirn und wischte mit dem Finger ein bisschen Staub von der Seite des Telefonapparats. Wer auch immer dran war, und er tippte mal auf hides Mutter, war anscheinend niemand von der schnellen Sorte. „Er war sich noch nicht ganz sicher. Soll ich ihm etwas ausrichten?“ Jetzt war Toshi Schuld an der Stille. Er schaute auf seinen Zettel. hide, das ist jetzt vielleicht etwas seltsam, weil wir haben uns nur zwei Mal getroffen und eines davon zählt eigentlich nicht, aber ich habe mich gefragt, ob du vielleicht mal - Toshi hörte auf zu lesen. Das half nicht. „Nein“, sagte er schließlich. „Danke. Ich probier‘ es einfach die nächsten Tage nochmal.“ „Tu das“, sagte die Frau. „Verzeihen Sie die Umstände. Guten Abend.“ „Guten Abend.“ Es klickte, dann ertönte das Freizeichen. -X- hide stand vor seiner Haustür und kaute an seinen Fingernägeln. Er hätte daran denken können, zumindest seinen Schlüssel mitzunehmen. Hätte, könnte, sollte, wollte. Alles unnütze Wörter. „Au…“ Er war am Daumennagel zu weit nach unten gewandert und hatte das Nagelbett eingerissen. Das tat weh. hide ließ die Hand sinken und atmete durch. Es gab nur zwei Optionen. Er konnte klingeln oder sich hier einrollen und hoffen, dass vielleicht irgendwann seine Mutter noch einmal vor dem Schlafengehen nachsah, ob denn alles in Ordnung war – eine äußerst vage Hoffnung. Außerdem, was würden die Nachbarn sagen, wenn er nur eine Treppe von seinem eigenen Zimmer entfernt übernachtete? Das ging gar nicht. Schon dass er so lange hier herumstand, kam ihnen sicher äußerst ominös vor. Außerdem – er bewegte die inzwischen etwas kalten Zehen in den Turnschuhen – war es drinnen, wenn schon sonst nichts, zumindest warm und trocken. Er drückte auf die Klingel und trat einen halben Schritt zurück, um einen gewissen Sicherheitsabstand zur Tür zu haben. Unendlich viel Zeit schien zu vergehen, in der hide das Klopfen seines Herzens wie bedrohliche Buschtrommeln in der Ferne erschien. Dann hörte er, wie jemand den Schlüssel im Schloss drehte und dann ging die Tür auf. „Komm rein…“ meinte sein Vater. Er sah müde aus und mindestens zehn Jahre älter, als er eigentlich war. An diesem alten, müden Mann war nichts, vor dem man sich hätte fürchten müssen. Und hide kam rein. Und hörte zu. Durfte sich wieder anhören, dass sich von heute ab alles ändern würde. Dass es ihm Leid tat. Dass sie das sicher alles wieder hinbekamen, wenn sie nur alle hart daran arbeiteten. Dass man ihn liebte. Dass sie einfach mehr reden mussten, um einander besser zu verstehen. hide nickte und sagte an den passenden Stellen: „Mh“ und „Ja“ und „Nein“. Er machte sich nichts mehr vor. Es war zu oft passiert. Er war froh, dass ihn niemand fragte, wie er sich fühlte, denn in ihm war nichts. Eigentlich fühlte er sich der ganzen Situation seltsam entrückt. Alles schien einer anderen Person zu passieren. Er schaute nur zu. Er saß am Küchentisch und er saß nicht am Küchentisch. Er liebte seine Eltern und er liebte sie nicht. Er war traurig über alles und er war nicht traurig. Es passierte alles einfach. Irgendwem. Irgendwo. Es betraf ihn nicht. Nichts von all dem hier betraf ihn. Doch als er später an diesem Abend behutsam seine Zimmertür schloss wusste er, dass ihn irgendwann im Lauf der Nacht wie immer die Erkenntnis einholen würde, dass es sich hierbei tatsächlich um sein Leben handelte. Nicht um das Leben von irgendwem, irgendwo. Es war kein Film, bei dem man einfach während der schlechten Stellen mal aufs Klo gehen konnte und später über die Unfähigkeit des Protagonisten lachte, auch wenn er einem ein wenig Leid tat. Gerade war es friedlich. Und wie immer würde es genau so lange halten, bis er das nächste Mal betrunken war. Also morgen… Übermorgen vielleicht. Sometimes I feel like I'm dying at dawn, and sometimes I'm warm as fire. Oh, how I need to be free of this pain, but it goes over, and over, and over, and over again. Kapitel 4: The Sea and the Sand ------------------------------- Entgegen seiner Ankündigung rief Toshi kein zweites Mal an. Das hatte zu einem geringen Teil damit zu tun, dass er zu der Überzeugung gekommen war, solche Dinge müsse man persönlich machen und zu einem größeren Teil damit, dass er zwischen seinem normalen Alltag und einem Yoshiki, der sich über die Mietpreise dieser Stadt aufregte – andere Leute hatten so etwas mit Sicherheit nicht! - keine ruhigen fünf Minuten fand, um sich wirklich, komplett, einhundertprozentig klar zu werden, was er eigentlich genau wollte, mit wem und wann – und was das eventuell für die Enkelkinder bedeutete, die seine Eltern sich wünschten. Das war tragisch für ihn, erlaubte es hide allerdings, das Thema ‘neue Freunde und was damit zusammenhängt‘ fürs erste unauffällig in der Versenkung verschwinden zu lassen und in den stabilen Gefängnisfrieden zurückzukehren, der normal für sein Zuhause war. Doch das Warten war auch für ihn anstrengender, als er gedacht hatte. Der Juni neigte sich bereits dem Ende zu, als hide schließlich eines Dienstags zu einem Zettel nach Hause kam, der ihr darüber aufklärte, dass ein Yoshiki für ihn angerufen hatte. Er klemmte sich ans Telefon und rief zurück. Nach dem achten Klingeln hob Yoshiki ab. „Hai“, keuchte er. „Warum bist du so außer Atem?“, fragte hide ohne Vorstellung. Daraus, dass Yoshiki ohne zu zögern antwortete, wusste er, dass man ihn erkannt hatte. „Die Tom ist schwer und die Einfahrt ist lang.“ „… was?“ „Ich hab einen Raum gefunden“, sagte Yoshiki und wickelte sich sieben Kilometer weiter die Telefonschnur um den Zeigefinger. „Des-… Entschuldigung, ich muss noch ein paar Mal Atmen.“ Er senkte den Hörer und atmete vier Mal tief durch. „Deswegen hatte ich angerufen. Unten am Hafen“, fuhr er dann fort. „In dem alten Fabrikkomplex neben dem Fluss. Da vermieten sie jetzt Räume als Ateliers an Künstler und Büros für kleine Firmen und Selbstständige und so. Unten im Keller war früher die Fertigung, das ist schallgedämpft und wir stören niemanden. Aber ich schwör dir, bis ich da drauf gekommen bin… ich hab eine Telefonrechnung in vierstelliger Höhe erzeugt.“ „Sind deine Eltern sauer?“, fragte hide. „Naja, meine Mutter fährt mir später das Zeug hin, also kann es nicht so schlimm sein. Vielleicht ist sie aber auch nur froh, dass sie es endlich hier los hat“, witzelte Yoshiki. „Auch das Klavier?“ Yoshiki zögerte. „Das… das bleibt hier“, sagte er schließlich. „Ich arbeite in den Ferien und kauf was Neues. Irgendwann. Auf jeden Fall kommt Toshi auch und hilft mir nochmal klar Schiff machen und dann räumen wir ein. Du kannst dein Zeug also auch bringen, wenn du willst. Und du kannst sehr gerne auch mitputzen. Es sieht scheiße aus.“ „Wann ist später?“ „In ‘ner Stunde. Ich mach gleich los.“ hide lugte um die Ecke und schaute auf die Uhr in der Küche. „Ok“, sagte er. „Ich bin da.“ -X- Etwas mehr als die angekündigte Stunde später stand hide vor dem großen, ziemlich hässlichen Fabrikgebäude, das auf der einen Seite vom Meer, auf der anderen vom Fluss und einem Parkplatz und auf der dritten von der Hauptstraße begrenzt wurde. Ein ziemlich alter, beiger Wagen stand quer vor dem Haupteingang. „Ich kann so nicht lange stehen bleiben“, warnte eine kleine, schlanke Frau gerade Yoshiki, der am Kofferraum stand und sich links und rechts eine Tom unter den Arm klemmte. „Ich beeil mich“, antwortete dieser. hide riet ins Blaue. „Guten Tag Frau Hayashi. Hallo Yoshiki.“ „He hide. Mama - hide. Kannst du das noch nehmen?“, ging Yoshiki fließend von Vorstellung zu Arbeit über und nickte zu den Beckenständern. hide klemmte sie sich unter den Arm, Yoshikis Mutter hielt ihnen die Tür auf und gemeinsam betraten sie das Gebäude. Sie bogen sofort links zu den unteren Etagen ab und stiegen eine alte, unbequeme Metalltreppe hinunter, die es erforderte, sich ständig selbst auf die Füße zu gucken, wenn man keinen vermutlich schmerzhaften Abgang machen wollte. Im Keller war es kühl. Es roch ein wenig nach Thunfisch und Moder. „Stell es einfach hier in den Gang“, quetschte Yoshiki heraus, der hinter hide die Treppe hinunterstieg. hide stellte Beckenständer, Verstärker und Gitarre ab und sie stiegen wieder nach oben. „Base?“, fragte Yoshiki. „Oh weh…“, sagte hide leidend. Sie waren gerade zum fünften Mal gelaufen, als ihnen Toshi auf halbem Weg entgegenkam. „Super Timing“, sagte Yoshiki ironisch. Das Schlagzeug war inzwischen komplett. „Sorry. Es dauert mit den Öffentlichen halt ganz schön, bis man hier ist.“ Toshi stieg die letzten paar Stufen hinunter und stellte seine Gitarrentasche neben hides. „… ist das sicher hier?“ „Wenn jemand es schafft, mit meiner Base unter dem Arm davonzurennen, soll er viel Freude daran haben…“, sagte Yoshiki und machte sich daran, die Treppe noch einmal zu bezwingen. Zu dritt schulterten sie das Putzzeug und dann, endlich, zog Yoshiki die Schlüssel aus der Tasche und sperrte den Raum auf. Er war groß, kahl und, aus seiner Natur als Keller folgend, fensterlos. Die Wände waren von einem schmutzigen, bröckeligen Weiß. Auch hier drin roch es unverkennbar nach Meer und ein wenig nach Motorenöl. Die Neonröhren flackerten leicht und erzeugten ein kaltes, unwirkliches Licht. „Bin das nur ich“, sagte hide, „oder sieht noch wer tote Menschen?“ „Witzig“, murrte Yoshiki. „Versetz du mal Berge mit dreißigtausend Yen.“ hide hörte schlagartig auf zu grinsen. Oh. Ja. Da war ja noch das… Doch Yoshiki hatte sich bereits wieder dem Raum zugewandt und bemerkte den plötzlichen Stimmungswandel nicht. „Gut“, sagte Toshi bereitwillig. „Fangen wir an.“ Yoshiki reichte ihm einen Besen. „Hier. Darin hast du ja Übung.“ „Und was mach ich?“, fragte hide. „Ich hab Farbe gekauft“, sagte Yoshiki und deutete auf den weißen Plastikeimer, den Toshi getragen hatte. „Du kannst die nehmen und alles überstreichen, was scheiße aussieht.“ hide trat ein paar Schritte in den Raum und drehte sich einmal um sich selbst. „Kannst du das eingrenzen?“ Toshi prustete. Yoshiki musste gegen seinen Willen grinsen. „Du bist so ein Arschloch.“ Eine Viertelstunde später lehnte Toshi neben dem Besen an der Tür und sah seinen Bandkollegen beim Arbeiten zu. Er hatte versucht, eine weitere sinnvolle Aufgabe zu finden, aber es nicht geschafft – manchmal waren drei Leute in einem Raum einfach zu viel. Zu viele Köche und Brei und so weiter. „Und wo ist eigentlich Taiji?“, fragte hide gerade und trat einen Schritt zurück, um sein Werk zu bewundern. Er hatte den letzten dunklen Fleck an der Wand mit weißer Farbe übermalt. Jetzt sah die Wand aus, als habe sie die Pocken. Das würde ziemlich viele gute Poster brauchen… „Taiji hat mir ein Angebot gemacht, das ich nicht ablehnen konnte“, sagte Yoshiki und warf den nassen Putzlappen mit einem ekligen ‘Schlawpf‘ auf den Boden. „Was für ein Angebot?“ hide malte ein paar Blümchen zwischen die weißen Flecken. Blümchen und Pocken, ein neuer Punk-Song. Yoshiki schob den Schrubber mit dem Lappen nach links, nach rechts, ein Stück nach links und wieder nach rechts. „Das Angebot involviert ein Sofa und einen Kühlschrank. Und ich dachte, ich kann allein den Boden wischen. Aber allein ein Sofa kaufen, das kann ich nicht.“ „Mmh. Also Taiji drückt sich vielleicht vor Arbeit, aber er macht es mit viel Einsatz“, sagte hide anerkennend. „Ich bin fertig.“ „Das sieht nicht wirklich besser aus als vorher“, urteilte Toshi. hide erhob drohend den Pinsel in seine Richtung. „Sag das nochmal und ich überstreich dich. Ich bin ein fucking Künstler!“ „Ja, dann könnt ihr jetzt nichts machen“, sagte Yoshiki und fuhrwerkte den Schrubber in die Ecke. „Wartet, bis ich fertig bin.“ Zehn Minuten später standen sie nebeneinander in der offenen Tür auf dem Gang und schauten nach drinnen. „Also ich weiß nicht…“, sagte hide. Auf dem Boden, den Yoshiki soeben gewischt hatte, zeigten übriggebliebene Dreckschlieren deutlich die verschlungenen Wege, die er sich gebahnt hatte. Toshi legte seinem besten Freund einen Arm um die Schulter. „Also Yoshiki, ich muss sagen, du füllst gerade keinen nützlichen Platz in unserer Band aus“, sagte er neckend, Herr Tanaka imitierend. „Jaaaa…“, machte Yoshiki gedehnt und lächelte etwa vier Sekunden lang etwas seltsam, bevor er abrupt damit aufhörte und sich in der Umarmung zu Toshi drehte. „Nimm hide und geh was zum Abendessen kaufen, bevor ich dir einen Wedgie verpasse!!!“ -X- „Yoshiki war ziemlich angepisst, hu?“, fragte hide, als Toshi und er wenig später zusammen den Supermarkt einige hundert Meter entfernt betraten. Es war riesiges Einkaufscenter, eines von der Sorte, die von Unterhosen über Gemüse bis hin zu Tiernahrung alles führten, was man nicht brauchte. „Nah“, sagte Toshi. „Das war gar nichts. Immerhin hat er weiter gearbeitet. Wenn Yoshiki laut ist, brauchst du keine Angst zu haben. Aber wenn er still wird – renn.“ „Notiert.“ Sie schritten tiefer in das Labyrinth aus Gängen, bunten Preisschildern und leuchtender Reklame. Mit hide einkaufen zu gehen, stellte Toshi bereits nach wenigen Metern fest, war nicht weniger anstrengend, als eine Horde Kindergartenkinder zu hüten. Er wuselte hierhin, wuselte dorthin, fand überall irgendetwas lustig und begeisterte sich unendlich für alle Waren, die bunt waren oder von seltsamen Tierchen oder Animecharakteren beworben wurden. Toshi musste ihn förmlich von roten Kuschelsocken mit gelben Herzen darauf wegzerren, genauso wie von Lufterfrischern in Bärchenform. Es dauerte zehn Minuten, bis sie schließlich die Frischeabteilung erreicht hatten. Die Angestellten hatten gerade neue Preissticker auf die Bentos des Tages geklebt, um sie vielleicht doch noch an den Mann oder (seltener) die Frau zu bringen. Toshi ging einen Schritt zurück, um die Auswahl besser im Überblick zu haben. Hinter ihm saß hide in der Hocke vor einem Regal und verglich Softdrinks. „Willst du was Bestimmtes?“ hide wühlte im Regal und sah nicht auf. „Mir ganz egal, solang was Frittiertes dabei ist. Wo ist der Unterschied zwischen denen?“ Er hielt zwei Dosen hoch. Toshi warf einen Blick über die Schulter. „Vermutlich ist eine eklig und die andere noch mehr.“ Er wandte sich wieder dem Kühlregal zu und zog schließlich drei unterschiedliche Plastikformen heraus, von denen eine aussah, als könne ihr Inhalt einen Herzinfarkt auslösen. So konnten sie zumindest noch durchtauschen, falls eines sich als von zweifelhafter Qualität entpuppte. hide hatte sich für Orangenlimonade entschieden. Aus Toshis Sicht waren sie damit auch fertig. Er wandte sich Richtung Ausgang. Doch etwas hielt ihn am Ärmel zurück. „Purin“, sagte hide. „Was willst du denn mit Purin?“ „Essen. Puriiin“, sang hide. „Puuurin, Purin, Puriiiin, Pu-“ „Jaaa!“, rief Toshi. „Meine Güte!“ hide grinste zufrieden und schleifte ihn einmal durch den Laden zu den Süßspeisen. Und das Spiel begann von vorn. „Wo ist der Unterschied zwischen denen?“ Er hielt zwei Becher hoch. „Der eine ist Schoko und der andere Karamell“, sagte Toshi. "Und der?" "Erdbeer. Sag mal hide, kannst du lesen?" "Ja. Aber so macht es mehr Spaß." hide grinste ihm über die Schulter verschmitzt zu. „Willst du auch einen?“ „Nein, Danke.“ „Will Yoshiki einen?“ „Ich denke Nein. Aber er mag Mochi.“ „Erdnuss?“ „Tee.“ „Iiih…“ Weitere fünf Minuten später hatte hide sich entschieden. Auf dem Weg quer durch den Supermarkt zur Kasse nahm er im Vorbeigehen noch dubiosen Schmelzkäse in Scheiben mit. Toshi ließ ihn… Immerhin war hide ein großer Junge, er konnte bestimmt schon ganz alleine einkaufen. Dafür besorgte er vorsorglich noch eine Packung Matchamochi. Wer wusste, in welcher Stimmung Yoshiki war, wenn sie zurückkamen. Sie stellten sich an Kasse vier und warteten. Es ging langsam. hide betrachtete die Süßigkeiten, hielt sich aber vorbildlich zurück. Gerade hatte es zum dreiundfünfzigsten Mal gepiept, als sich eine Mutter mit zwei Kindern hinter ihnen anstellte. Ihr größerer Sohn schob hide den Wagen enthusiastisch in die Hacken, während die Mutter begann, ihre Einkäufe aufs Band zu stapeln. „He…“, grummelte hide, doch das wurde geflissentlich ignoriert. Er zog eine Schnute und machte einen halben Schritt nach vorne. Toshi wollte ebenfalls einen halben Schritt zurück machen, doch da stand bereits ein älterer Herr mit Socken in den Sandalen. Die Erkenntnis, wie unendlich nahe hide und er nun plötzlich beieinanderstanden, traf ihn unvorbereitet. Es war eine dieser Situationen, in denen man den angemessenen Abstand zu seinen Mitmenschen nicht einhalten konnte, dachte Toshi. Wie in der U-Bahn. Es war nichts Besonderes… Nichts besonderes! Doch mit der Nähe kam die Erinnerung hoch, wie er vor nicht einmal vier Wochen in den anderen Jungen hineingerannt war. War wirklich erst so wenig Zeit vergangen? Ihm erschien sein Leben mit hide so nah und das ohne ihn so weit entfernt, fast so, als hätte an diesem Abend ein Bruch stattgefunden, der dieses neue Zeitalter für immer von allem Vorhergegangenen abgespalten hatte. Toshi warf einen flüchtigen Blick auf hide im Profil. Ihm wurde ein kleines bisschen schwindelig und schwitzig und komisch. Das war nicht normal, oder? War das normal?! Toshi drehte sich wieder zum Band und betrachtete angestrengt die Einkäufe der Mutti hinter ihnen, die an ihm vorbeiwanderten. Reis. Shiitake. Azukibohnen. Da war ein Hauch Vanille in der Luft und er war sich ziemlich sicher, dass es hides Shampoo war und nicht das des Mädchens zwei Kunden weiter vorne. Spinat. Deo. Eine einsame Zwiebel. hide stupste ihn von der Seite an. „Glaubst du, sie glaubt mir, dass ich zwanzig bin?“, murmelte er. Toshi folgte seinem Blick zu ihrer Kassiererin, auch wenn das für die Beantwortung dieser Frage letztlich nun so überhaupt keine Rolle spielte. In die andere Richtung zu schauen hätte bedeutet, seine Nase in hides Ohr zu stecken. „Nein“, sagte er. „Mmh. Doof“, sagte hide. Sie gingen einen weiteren Schritt nach vorne. „Was willst du?“, fragte Toshi, auch wenn die Auswahl durch die Art der Frage bereits stark eingeschränkt war. „Zigaretten.“ hide nickte zu dem Tabakregal hinter ihnen. „Frag Yoshiki. Vielleicht hast du Glück.“ „Mal sehen…“ Toshi gab ihm in Gedanken Recht – wenn Yoshikis Laune schlecht war, hatte er die Packung vielleicht allein geraucht, bis sie zurück waren. Sie kamen dran. „Alles?“, fragte die Kassiererin. „Alles“, sagte Toshi und nahm seinen Geldbeutel aus der Hosentasche. „Und halt, stopp. Das da ist meins“, sagte hide und deutete auf das Herzinfarkt-Bento, den Käse und den Pudding. „Aber…“ Toshi blickte ihn fragend an. hide schaute zurück. Die Kassiererin sah zwischen ihnen hin und her und wartete auf eine eindeutige Ansage. „Ich dachte…“, begann Toshi zögernd noch einmal. Und lief rot an. hide grinste schief. „Ich wollte nur das Purin-Lied singen. Ich kann mein eigenes Zeug bezahlen.“ Er klopfte Toshi auf die Schulter. „Aber gut zu wissen, dass du‘s gemacht hättest. Das ist eine wichtige Info für die Zukunft.“ Sie schlenderten nebeneinander zurück, über den Parkplatz, die Straße hinunter, über die Straße und wieder über den Parkplatz. hide bestritt die Konversation und Toshi wünschte sich, er könne einmal im Kreis rennen, um von der Leitung runterzukommen, auf der er stand. Wieso war es so schwer, sich mit hide zu unterhalten wie mit einem ganz normalen Menschen? Das ruinierte doch alles! Ein paar Schritte vom Eingang entfernt schließlich verlangsamte Toshi seinen Schritt. Ok. Am Telefon hatte das nicht funktioniert. Also gut. Das hier war die Chance. Selbst ist der Mann, wenn nicht jetzt, wann dann? Und das war ein Reim. Er sollte vielleicht doch mehr Lyrics in der Band übernehmen, als er geplant hatte. „Uhm… hide…“ „Mmh?“ Der Angesprochene unterbrach seinen Monolog über die Wolken, schaute sich über die Schulter und bemerkte, dass Toshi zurückgeblieben war. Also blieb er ebenfalls stehen und drehte sich halb um. „Was ist?“ Toshi schluckte. Vielleicht gab es doch bessere Momente als die, in denen man eine Plastiktüte mit Bentos in der Hand hatte und hinter einem der Verkehr entlangbrauste... Doch er ballte die Hand entschlossen zur Faust. Nein. Es gab für so etwas nie den perfekten Zeitpunkt und wer das glaubte, war bescheuert. Das Leben wurde nicht länger und das hier war der Moment! „Ich… ich hab mich gefragt… also… möchtest – würdest du -“ Das gab es doch nicht! Toshi schlug sich imaginär mit der Hand gegen die Stirn. Er war ja so ein Idiot! Rede einfach ganz normal mit ihm! Los! Sag jetzt Worte, die Romantik passieren lassen! Toshi atmete ein. „hide, hast du Lust mit –“ „AAAAARGH!“ Yoshiki öffnete die Eingangstür zum Fabrikkomplex mit einem Fußtritt, der die schwere Eisentür zwar nicht sonderlich beeindruckte, aber zumindest dabei half, seinen Unwillen kund zu tun. „Wenn ich berühmt bin!“, deklarierte er, als er hide und Toshi erblickte, „putze ich niemals! Wieder! Schaut euch meine Finger an! Die sehen aus wie Walnüsse!“ Er fuchtelte mit seinen Händen in ihre Richtung. „Haha, Nüsse…“, sagte hide und fing an zu kichern. „Nicht lustig!“, fauchte Yoshiki, doch seine Mundwinkel zuckten eindeutig. „Entschuldige“, sagte hide, beruhigte sich und drehte sich wieder zu Toshi. „Ja?“ „… hast du Lust, draußen zu essen?“ hides Gesicht hellte sich auf. „Uh! Optimale Idee. Lasst uns runter ans Wasser gehen.“ Er nickte zum Strand und machte sich auf den Weg. „Und wenn wir schon an der frischen Luft bleiben – Yoshiki, kann ich mir eine Zigarette schnorren?“ „Ja, von mir aus…“ Toshi seufzte still und setzte sich langsam, sehr langsam in Bewegung. Irgendjemand dort oben hatte einfach was gegen ihn. Entweder das, oder er war ein hoffnungsloser Fall. Vielleicht beides. Verhältnis 30/70. Fünf Minuten später saßen sie im Sand und aßen Bento. Keines davon schien ihnen bedenklich und sie teilten brüderlich. Mit äußerst unterschiedlichen Präferenzen. „hide, das passt doch alles gar nicht zusammen, was du da isst.“ „Wenn eine Sache geil ist“, verkündete hide mit der Stimme der Weisheit und hielt ein Garnelen-Tempura hoch, „und eine zweite Sache geil ist“, er hob eine kleine Frikadelle mit Ketchup, „dann sind sie zusammen supergeil!“ Er steckte sich beides in den Mund. „Ich kann gar nicht hinschauen…“, sagte Yoshiki. hide angelte noch kauend in seiner Box herum. „Dann schau halt weg. Ihr wisst ja bloß nicht, was gut ist.“ „Nicht sicher, dass du es weißt.“ Yoshiki wandte sich zu Toshi. „Du und ich, wir müssen ein Mikrofon kaufen. Oder, lass mich das umformulieren: Ich muss Mikrofon, du musst kaufen.“ Toshi schluckte einen Bissen Ei runter. „Ok. Was kostet sowas?“ „Naja. So 13000 musst du schon rechnen. Wenn du was Gescheites willst. Und ich will was Gescheites.“ Sein bester Freud pfiff leise. „Ich brauch einen riesigen Vorschuss von meinem Taschengeld...“ „Ich kann’s dir vorstrecken…“ „Hast du nicht schon genug zu tun mit einem Klavier?“ „Ich glaub, ich geh auf Keyboard… für’s erste“, sagte Yoshiki an einem Stück Lachs vorbei. „Das beantwortet die Frage nur begrenzt.“ „Mikro ist erstmal wichtiger als Klavier. Und du zahlst es mir ja in Raten zu-“ Yoshiki stockte und drehte den Kopf zu hide. „… hast du da gerade Käse in deinen Pudding gedippt?“ -X- Yoshiki stand neben Taiji vor dem Gebäude. Es war Freitag. Neben ihnen standen ein Sofa, ein kleiner Kühlschrank, der Bassverstärker, zwei Lautsprecher und ein ziemlich großer Kasten. „Kein Aufzug, was?“, fragte Taiji. „Nein“, sagte Yoshiki. „Interessant“, sagte Taiji. „Ich hol dann mal hide und Toshi.“ „Tu das.“ Mit vereinten Kräften und unter ziemlich viel kreativem Fluchen schafften sie erst Sofa, dann Kühlschrank und schließlich den Rest nach unten. Toshi und hide stellten mit einem Stöhnen den Kasten ab. „Was ist das überhaupt?“, fragte Toshi und bog den Rücken durch. Auuuu… „Das ist die PA“, sagte Taiji und stellte den Bassverstärker fast liebevoll neben das Schlagzeug. Toshi zog die Augenbrauen zusammen. „Wozu brauchen wir eine PA? Wir haben doch hier drin kein Publikum.“ „Weil“, sagte Taiji mit einem sehr nachsichtigen Blick, als habe Toshi gefragt, welche Rolle Sauerstoff im menschlichen Organismus spielte, „sich dein zartes Stimmchen vielleicht gegen ein Klavier durchsetzen kann, aber nicht gegen E-Gitarre und Schlagzeug.“ „Oh…“ Toshi schaute zwischen dem Bassisten und der Anlage hin und her. Es dämmerte ihm gerade, wie billig er eventuell wirklich aus dieser Sänger-Nummer rausgekommen war… und dass er nicht wusste, wie er sich dafür revanchieren sollte. Worte. Worte waren erst mal gut. „Ähm… danke?“ Taiji verdrehte die Augen und legte die Basstasche ab. „Das ist kein Geschenk, Mann. Es ist und bleibt meine. Und deinen restlichen Gesangscheiß musst du dir selbst besorgen.“ Toshi kratzte sich peinlich berührt am Hinterkopf. „Ja, das… Ja. Hab ich. Also – er hat. Trotzdem. Danke.“ Hatte die Skala, auf der man das Gefühl fehlender Professionalität maß, eigentlich ein oberes Limit? „Wie kommt es, dass du dieses ganze Zeug bei dir rumstehen hast?“, fragte hide, der gerade wieder hinter dem Kühlschrank auftauchte. Drinnen brannte jetzt Licht und er machte die Tür zu und schob ihn noch ein Stück in Richtung Wand. „Das ist noch von meiner letzten Band“, sagte Taiji. Er war vor dem Amp in die Hocke gegangen und prüfte die Einstellungen. Yoshiki, der sich auf den Schlagzeughocker gesetzt hatte und dort abwartend Viertelkreise drehte, runzelte die Stirn. „Letzte Band?“ „Ich war zwei Jahre in einer Band, wir haben vor ein paar Monaten aufgehört.“ Taiji zog ein Verbindungskabel aus der Außentasche und wickelte es auseinander. „Wieso habt ihr euch getrennt?“, fragte hide. Er hatte seine Gitarre bereits ausgepackt und testete jetzt das Sofa. „Uhm, weiß nicht? Weil wir älter wurden und sie dann so: ‘He, wir können nicht mehr so oft proben, weil Mami hat gesagt, wir sollen Anwälte werden‘ und ich so: ‘Fickt euch‘.“ Taiji nahm den Bass aus der Tasche, steckte das Kabel in das Instrument und dann an den Verstärker. Dann ging er zu hide hinüber – zumindest so weit er kam. Taiji verzog wenig begeistert das Gesicht. „Scheiße… ich brauch ein längeres Kabel.“ „Und deine Mami sagt nicht, dass du Anwalt werden sollst?“, fragte Yoshiki. Offenbar war das Thema für ihn noch nicht gegessen. Taiji verdrehte die Augen. „Meine Mami hat das glaube ich aufgegeben. Ich hab noch ‘nen Bruder, soll der das machen.“ „Dann nimmst du die High School in etwa so ernst wie Yoshiki, was?“, fragte Toshi. Es brachte ihm eine grimmige Grimasse ihres Schlagzeugers und einen verständnislosen Blick von Taiji ein. „Ich geh nicht mehr zur High School.“ „…Was?“ Jetzt war es an Yoshiki, verständnislos zu schauen. Toshi runzelte die Stirn. hide hatte aufgehört, einzelne Noten auf seiner Gitarre zu spielen. Falls Taiji sich dem plötzlichen Anstieg an Spannung in der Luft bewusst war, zeigte er es nicht. „Ich hab aufgehört. Hab beschlossen, das lohnt sich nicht.“ „Aber … warum?“ Taiji hob die Schultern und ließ sie wieder fallen. „Naja. Wenn ich nicht zur Schule gehe, gibt mir das acht Stunden am Tag mehr Bass-Zeit. Das ist ein ziemlich guter Deal.“ Er hob die rechte Hand. „Diese magischen Finger passieren nicht einfach so.“ „Und was sagen deine Eltern dazu?“ „Was sollen sie schon sagen. Das ganze Zeug von wegen Enttäuschung und so, aber das kann ich ab. “ Er hatte seinen Bass an die Wand gelehnt und ging zurück zum Sofa. „Rutsch.“ hide rutschte und der andere Junge ließ sich neben ihn fallen. „Du“, sagte er nach einigen Sekunden, in denen er Taiji von der Seite her angeschaut hatte, „bist enorm hart drauf.“ Taiji grinste. „Ich kann dir noch andere Dinge verraten, die an mir hart sind.“ hide grinste zurück. „Eindeutig zweideutig. Sehr schön.“ „Wieso sitzt ihr zwei denn jetzt?“, fragte Yoshiki. „Ich dachte, wir machen jetzt was Produktives.“ „Wir lernen uns kennen“, sagte hide. „Das ist total produktiv.“ „Es ist jetzt außer Labern bisher nichts passiert, da war ich mir über das Ziel des Abends nicht mehr sicher“, frotzelte Taiji. Toshi fragte sich, ob der Bassist risikofreudig oder einfach dumm war. Er für seinen Teil war froh, dass er gerade vor der PA kniete und sich mit dem Ding anfreundete. Das senkte das Risiko, ein Stück Holz an den Kopf geworfen zu bekommen, schon mal drastisch. Yoshikis Finger machten leise Geräusche auf der Snare. Tripp-tripp-tripp-tripp. Tripp-tripp-tripp-tripp. „Ich kann übrigens auch super im Sitzen spielen“, sagte hide. „Und außerdem-“, begann Taiji. „STEHT AUF!!!“ -X- Es war ein Sonntag. Sie machten Pause. Unauffällig, sehr unauffällig, schob sich hide neben das Schlagzeug. „Kann… kann ich kurz mit dir reden?“ Yoshiki sah von seinen Noten auf. „Klar?“ „Ähm…“, hide schaute einmal über die Schulter, dorthin, wo Taiji und Toshi noch Lautsprecher und Verstärker verschoben, bis es keine Rückkopplung mehr gab. Das leise Fiepen im Hintergrund machte sie bereits den halben Nachmittag wahnsinnig. „Draußen?“ Yoshiki folgte hide die Treppe bis zum ersten Absatz nach oben. Dort drehte der Gitarrist sich um. Er seufzte und fuhr sich mit der Hand über den Nacken. „Ok, hier ist der Deal. Also, was den Raum angeht… da kann ich… also ich hab… ich kann es mir zurzeit nicht leisten und ich seh gerade auch nicht, dass das in absehbarer Zeit anders wird.“ Yoshiki spitzte die Lippen, atmete ein und wieder aus und nickte dann. „Ok. Das verkompliziert Dinge.“ „Ich weiß…“, sagte hide mit einem weiteren stillen Seufzen. „Und ich hätte es früher sagen sollen. Ich dachte nur, vielleicht finde ich noch eine Lösung, aber… ich hab keine gefunden.“ Sie schwiegen ein paar Sekunden. Yoshiki lehnte sich an die Wand. „Was machen wir jetzt?“, fragte hide. Der Schlagzeuger schwieg weitere Augenblicke, in denen er erst die gegenüberliegende Seite des Treppenaufgangs und dann die Decke betrachtete. „Keine Ahnung“, sagte er dann. „Ich nehme an, ich kümmer mich drum.“ „Was… was kostet das hier jetzt eigentlich?“ „35“, antwortete Yoshiki. „Es ging wirklich absolut nichts darunter. Also 7000 für Toshi und dich. Jeweils. Und er meinte auch schon, dass das eng wird. Aber gut. Gut...“ Er stieß sich von der Wand ab. „Ich kümmer mich drum. Irgendwie wird’s schon gehen.“ hide schaute ihn besorgt und ziemlich schuldbewusst an. „…und wie?“ Yoshiki bließ die Backen auf und ließ die Luft dann langsam wieder entweichen. „Vielleicht… such ich mir eine reiche Freundin.“ hide musste lachen. Unten ging die Tür auf. „Eh“, machte Taiji als er sie erblickte und stieg langsam zu ihnen nach oben. „Ich dachte, ihr steht vielleicht draußen rum.“ Er präsentierte einen Glimmstängel zwischen Zeige- und Mittelfinger. „Was macht ihr denn hier?“ „Ähm…“, machte hide unbehaglich. Yoshiki hingegen zögerte keine Sekunde. „Wir lernen uns kennen.“ -X- Es war der letzte Samstag vor den Sommerferien. Draußen war es warm und schwül und sie waren, trotz des leichten Fischaromas, das dem Raum nach wie vor anhaftete, inzwischen sehr froh, in einem Keller zu proben. Und darüber, einen Kühlschrank zu besitzen. „hide, nimm den Kopf da raus.“ „Ich find die Limonade nicht“, drang hides Stimme dumpf aus dem Gefrierfach. „Die steht in der Tür.“ „Ach, deswegen find ich sie hier drin nicht.“ hide nahm eine Dose aus der Tür und schloss den Kühlschrank. „Das Ding gibt den Geist auf, wenn du es immer als Klimaanlage benutzt. Es ist doch wirklich nicht warm hier“, sagte Taiji, während hide sich die Dose erst an den Hals und dann an die Innenseiten der Arme hielt. „Ich find es unendlich warm.“ „Ja, das könnte besser werden, wenn du mal was Kurzes anziehen würdest. Nimm dir ein Beispiel an Toshi.“ Toshi, der zusammen mit seinem besten Freund beschlossen hatte, dass die oberkörperfreie Zeit des Jahres angebrochen war, winkte vom Sofa, wo er durch Yoshikis Lyrics blätterte. „Nah“, machte hide, „ich trag gern lang. Diss mich nicht.“ Er knackte die Dose. Hinter ihnen ertönte ein lautes, klackendes Geräusch – der Kenner erkannte einen Rim Click. „Wenn die Kühlschrank-Diskussion dann abgeschlossen ist“, sagte Yoshiki bestimmt, „würde ich gerne mal über diese Bridge reden.“ „Ok“, sagte Taiji und nahm einen Schluck Wasser. „Du willst drüber reden? Die ist scheiße.“ Drei Stunden später hatte sich Toshi zum samstäglichen Familienabendessen entschuldigt und Taiji sich zu einem Mädchen verabschiedet, bei dem vielleicht 'was läuft' - was auch immer das bedeuten sollte. Yoshiki und hide waren zurückgeblieben und sahen sich zum siebten Mal an diesem Nachmittag die Bridge an. Die pochende Ader auf Yoshikis Stirn sprach Bände: Taiji, dieser Arsch! ... Taiji, dieser Arsch, hatte Recht. Die Bridge war scheiße. Und sie wurde.nicht.besser! hide hielt sich eine neue Dose Limonade an die Stirn. „Vielleicht... braucht das Lied überhaupt keine Bridge", sagte er. „Aber irgendwas muss da hin“, widersprach Yoshiki. „Das kann man nicht einfach so lassen.“ „… zweiter Refrain?“ „Nein. Das überstrapaziert die Melodie hier." Er tippte auf die Partitur. "Die sollte man sparsam einsetzen…“ „Uhm… der Teil hier? Weißt schon, mit dem Dideli-didi?“ „Ich weiß nicht… Glaubst du nicht, dass das komisch wird mit … dem hier?“ hide spielte einmal kurz an. „… mmh. Ja. In meinem Kopf klang das besser... Basssolo?“ „Das tust du jetzt mit Absicht!“ hide lachte und klopfte Yoshiki entschuldigend auf den Rücken. Doch bereits nach dem zweiten Mal zog er die Hand zurück. „Bäh, du fühlst dich an wie eine Wasserleiche. Also entweder, du ziehst dir was über oder du trocknest dich anständig ab." Er wischte seine Hand an Yoshikis Hosenbein ab. Dieser machte ein unwilliges Geräusch, stand aber auf, um nach seinem T-Shirt zu suchen. Vielleicht war ihre Beziehung hierfür wirklich noch nicht reif. Gerade hatte er sich wieder gesellschaftstauglich bekleidet, als hide, der leise vor sich hingeklampft hatte, meinte: "Ok, ich hab vielleicht noch eine Idee. Aber nur eine. Obwohl... ne. Ich glaub, die ist auch... ne. Vergiss es." Yoshiki winkte ab. "Ich dachte nicht, dass ich das mal sage, aber ich kann's grade auch nicht mehr sehen." hide legte die Gitarre zur Seite. "Willst du gehen?" "Eigentlich nicht." Ein paar Sekunden schauten der Yoshiki, der noch dort stand, wo er sein Shirt unter dem Schlagzeug gefunden hatte und der hide, der auf dem Sofa neben seiner Gitarre saß, sich unschlüssig an. Dann fragte hide: „Wollen wir versuchen, ob wir mich im Supermarkt als Zwanzig ausgeben können?“ Eine dreiviertel Stunde später saßen sie auf der Kaimauer und tranken Bier aus Apfelsaftflaschen. Zwischen ihnen stand ein weiterer Zwei-Liter-Tetrapack mit ‘Tee‘. Alles andere, hatte hide beim Umfüllen erklärt, führte bloß zu Problemen, falls sich doch eine unterbeschäftigte Hausfrau oder ein übereifriger Polizist der Frage widmen wollte, wie zwei Minderjährige überhaupt an Alkoholika kamen. Yoshiki war das recht – auch wenn es ihm so vorkam, als schmecke sein Bier im Abgang noch leicht nach Apfel. Aber das machte es exotisch… oder nicht? „Dem war unser Alter alles in allem ziemlich egal, hu?“, fragte Yoshiki. „Wenn ich so bezahlt werden würde, wäre es mir das vermutlich auch“, sagte hide. Er griff neben sich nach der kleinen Tüte mit Krabbenchips und begann, fröhlich vor sich hin zu mampfen. „Andererseits werde ich für nichts was ich tue bezahlt, also was versteh ich schon.“ „Das nächste Mal probieren wir, ob er dir auch Zigaretten verkauft“, sagte Yoshiki. „Das wär ein ziemlich heißer Tipp.“ Sie sahen aufs Meer hinaus. „Weißt du, was geil ist?“, fragte hide nach einigen Momenten der Stille. „Bier mit Himbeersirup.“ „Das klingt ekelhaft.“ „Neeeein, das ist mega!“ hide nahm noch einen Schluck Bier. „Das nächste Mal zeig ich dir das.“ Über ihnen kreischten die Möwen, die den heimkehrenden Booten gefolgt waren. Yoshiki schloss die Augen und genoss die letzten goldenen Sonnenstrahlen auf seinem Gesicht. Er fühlte sich komfortabel beschwipst. Neben ihm leerte hide die Krabbenchips und zerknüllte mit einem Knistern die Tüte. „Zum Thema Zigaretten: hast du welche?“, fragte er. „Nein“, sagte Yoshiki. „Die sind in meiner Jacke.“ „Schade“, sagte hide. Er lehnte sich auf seine Hände zurück und schaute in den Abendhimmel. Das Meer rauschte gleichmäßig im Hintergrund. „Erzähl mir was“, sagte er nach ein paar Sekunden. „Was soll ich denn erzählen?“, fragte Yoshiki und senkte die Flasche wieder, die er gerade gehoben hatte. „Weiß nicht“, sagte hide. „Was sind deine drei liebsten Monjayaki Zutaten?“ „Uhm… Garnele, Kohl, Karotte. Vielleicht Seeigel. Deine?“ „Schinken, Lauchzwiebeln, Käse. Mit Mayo.“ „Bwaaah…“ „He! Geschmack ist indiskutabel!“ hide versetzte Yoshiki einen kleinen Schubs gegen die Schulter. „Und du musst was sagen, Seeigel!“ „Seeigel sind megalecker!“ „Uh…“ hide zog die Augenbrauen skeptisch zusammen. „Nein. Sind sie nicht.“ Meeresrauschen. „Ich sitz selten so am Meer“, sagte Yoshiki. „Müsste man eigentlich öfter machen.“ „Ich sitz öfter so am Meer“, sagte hide. „Und du verpasst nicht wirklich was. Aber ja, grad ist’s schön.“ Neben ihm knisterte Yoshiki mit seiner eigenen Snacktüte. Und knisterte. Und knisterte. „Alles klar?“, fragte hide schließlich und drehte den Kopf. „Ich krieg die Tüte nicht auf.“ „Du musst an der gestrichelten Linie ziehen.“ „Ok, das ist nicht hier, das ist auf Kaugummi!“ „Gib her…“ hide öffnete die Tüte und reichte sie Yoshiki zurück. „Danke… So, jetzt erzähl mir was über dich.“ „Was soll ich denn erzählen?“ „Weiß nicht. Was machen deine Eltern?“ hide verzog unwillkürlich das Gesicht. So ein schöner Abend… bisher. Er entschloss sich, die Antwort kurz zu halten. „Sie führen eine kleine Bar. Nichts Besonderes… nicht mal sonderlich nett, wenn ich ehrlich bin. Deine?“ „Wir haben einen Laden für Kimonos und alles, was dazugehört“, sagte Yoshiki und nahm eine Handvoll Arare. „Echt?“, fragte hide belustigt. Yoshiki kaute knuspernd. „Ja. Was ist daran so merkwürdig?“ „Nichts“, sagte hide. „Es passt nur so gar nicht zu dir.“ „Das ist mir aufgefallen“, sagte Yoshiki trocken. hide grinste ihm aufmunternd zu. Dann wurde er ernst. „Und… was sagen sie zu der ganzen Musik-… Sache?“ Yoshiki zuckte mit den Schultern. „Was meinst du?“ „Naja. Sind sie nicht irgendwie… ich weiß nicht. Wollen sie nicht, dass du irgendwas anderes machst? Was sicheres, mit Zukunft?“ Yoshiki schnaubte. „Also wenn du mein letztes Zeugnis gesehen hättest, dann wüsstest du, dass da ohnehin nichts mit Zukunft bei rumkommt.“ hide schaute verständnisvoll. „Naturwissenschaftlichen Zweig gewählt?“ Er hatte sich vor zwei Jahren dem Druck gebeugt und genau das getan. Eine schreckliche Entscheidung. Seine Noten waren inzwischen auf den Grund eines Sees gesunken, der so tief war, dass die Fische dort unten noch nie Sonnenlicht gesehen hatten. Neben ihm schüttelte Yoshiki allerdings den Kopf. „Nein. Nichts dafür getan. Meine Mutter wollte, dass ich die High School abschließe, also mach ich es für sie. Aber sie hat nie gesagt, dass der Abschluss gut sein muss.“ Er schüttete sich Cracker in die hohle Hand. „Oh. Und was sagt dein Vater?“ Einen kurzen Augenblick lang gefroren Yoshikis Züge. Unmerklich. „Ich nehme an, ihm ist es egal.“ Er drehte den Kopf und sah zu hide hinüber, der gerade sein Bier leerte. „Warum fragst du?“ hide drehte die leere Flasche ein paar Sekunden in den Händen und schaute gen Horizont. „Ach, ich weiß nicht“, sagte er schließlich. „Meine sind nicht so begeistert von der Idee. Ich denk manchmal, vielleicht sollte ich’s lassen.“ „Das kannst du nicht!“ Bestürzt hatte Yoshiki die Hand mit den Snacks wieder sinken lassen und gestikulierte jetzt mit der Tüte in der anderen. „Ich brauch dich!“ „Ja, genau.“ hide grinste mokant [Dieses Wort hab ich tatsächlich noch nie verwendet. Man lernt immer noch was Neues.]. „Ja! Genau!“, sagte Yoshiki heftig und schwenkte die Tüte mit etwas zu viel Nachdruck – Arare flogen durch die Gegend. Etwas wie Verunsicherung stahl sich in den Blick des anderen Jungen, doch da war weiterhin dieser selbstironische Zug um seine Mundwinkel, der Yoshiki ein bisschen mehr traf, als er zugeben würde. „… warum? Weil ich eine Gitarre richtigrum halten kann?“ „Nein. Also, auch. Es ist sicher von Vorteil. Aber…“ Yoshiki machte eine halbkreisförmige Bewegung mit der rechten Hand, der Snackhand. „Boah, ich kann nicht gut mit Worten. So in Gesprächen. Warte… wie sag ich das...“ Er starrte aufs Meer hinaus, ohne bewusst etwas wahrzunehmen. Schließlich hob er mit einem Knistern die Tüte. „Als Toshi meinte, er … hätte jemanden getroffen und er glaube, dass das passt“, begann Yoshiki, „da dachte ich: ‘Oh Mann‘. Also… Toshi… ich mag Toshi, aber wir haben … nicht die gleichen Freunde. So… gar nicht.” hide schaute überrascht. “Echt nicht? Ihr wirkt so dicke, ich dachte, ihr macht alles zusammen.” „Nein… ich bin nicht wie er. Ich geh nicht einfach irgendwo hin und sag: ‘He, ich bin xy, was macht ihr, ach cool, kann ich mitmachen‘ und die anderen so: ‘Ja klar!‘. Das passiert nicht in meiner Welt.“ hide zog die Augenbrauen noch ein Stück höher und die Mundwinkel tiefer, um die Überraschung zu verstärken. „Toshi macht so was?“ „Naaa, das war jetzt überspitzt. Aber es ist… wenn wir zusammen irgendwo hingehen, dann kommen die Leute zu ihm. Er ist einfach… wärmer. Falls du verstehst. Menschen mögen ihn.“ „Mmh“, machte hide. „Das ist eine gute Qualität in einem Sänger. Und dich mag man nicht?“ „Nicht so. Ich bin schüchtern und ich hab Wutanfälle, und, hat mir Toshi mal gesagt, anscheinend habe ich auch ‘Launen‘. Aber als er das gesagt hat, war er sauer auf mich, also…“ Yoshiki hob die Schultern. „Keine Ahnung. Anscheinend bin ich einfach ein bisschen seltsam.“ hide schraubte den Tetrapack auf. „Ich find dich nicht seltsam.“ „Ja. Ich weiß.“ Yoshiki betrachtete den Inhalt seiner Hand. Im Eifer des Gefechts hatte er die Cracker zu kleinen Bröseln zerdrückt. Naja, runter damit. Er entkrümelte die Hand an der Hose und spülte mit Bier nach. „Und realistisch werd ich nie wieder jemanden finden, der mit mir zurechtkommt und so Gitarre spielt wie du. Weißt du… als du bei mir vor der Tür standst, da mochte ich dich schon. Aber als wir zusammen gespielt haben, da dachte ich: ‘Scheiße. Das hier, das ist der Beginn von etwas Wundervollem. Und du bist dabei.‘ Das hatte ich noch nie. Mit niemandem.“ Er schaute Richtung hide. hide schaute zurück, sein Gesichtsausdruck undefinierbar. „Du kannst nicht aufhören.“ „Awww“, machte hide nach einigen Sekunden Meeresrauschen sanft. „Das hast du schön gesagt.“ „Kannst du das nochmal weniger ironisch versuchen?“, fragte der andere Junge verstimmt. „Ich mein das ernst. Ich hab nicht so viele Freunde, dass es mir nichts ausmacht, einen zu verlieren.“ hide stoppte den Tetrapack auf halben Weg. „… Freunde?“ „Ja.“ Yoshiki leerte das Bier. „Oder was denkst du, was wir sind?“ „Weiß nicht. Muss man sich nicht länger kennen, um Freunde zu sein, ich meine, Toshi und du…“ „Nah“, machte Yoshiki. „Falsch rum. Wir sind keine Freunde, weil wir uns so lang kennen, wir kennen uns so lang, weil wir Freunde sind. Irgendwann muss man halt anfangen. Bei uns war das, als er über meinen Bauklotzturm gestolpert ist und ich ihn dafür gehauen habe.“ hide prustete. „Und du erinnerst dich da dran?“ „Ja! Das war das erste Mal, dass mir jemand was kaputt gemacht hat. Das war prägend. Meine nächste Erinnerung ist aber dann erst zwei Jahre später, da hat uns seine Mutter Wassereis gekauft und es war toll.“ „Das ist so niedlich.“ „Naja, nicht wirklich. Auf jeden Fall – das Einzige, was alte Freundschaften neuen voraushaben ist halt, dass man einander schon viel verziehen hat.“ hide nickte langsam. Eine Möwe kam herangestakst und klaute sich einen der Cracker, die Yoshiki verschüttet hatte. Bald würden sicher ihre Artgenossen auftauchen. „Das ist enorm cool“, sagte er schließlich. „Was ihr habt.“ „Hast du keinen besten Freund?“ „Ich weiß nicht“, sagte hide und nahm endlich einen Schluck aus dem Tetrapack. Yoshiki streckte die Hand aus. „Also ich hab Freunde. Oder so was. Ich tu mir nur ein bisschen schwer mit dem… tiefen Kram. Du weißt schon.“ „Ja“, sagte Yoshiki. „Das weiß ich sehr gut.“ Die Wellen rauschten immer noch gleichmäßig im Hintergrund. Langsam, sehr langsam, versank die Sonne hinter dem Horizont. Yoshiki nahm einen Schluck aus dem Tetrapack. Er verzog das Gesicht. „Boah, hide! In welchem Verhältnis hast du gemischt?“ „Da ist nur ganz ein wenig drin“, verteidigte hide seine Mixtur und nahm das Getränk wieder an sich. „Höchstens so viel!“ Er zeigte einen winzigen Abstand zwischen Daumen und Zeigefinger. „Ah ja?“ „Ja! Na gut, vielleicht…“ Er öffnete die Finger ein wenig mehr. Yoshiki zog die Augenbrauen und einen Mundwinkel hoch. „…Du hast den Gin komplett reingeschüttet, oder?“ hide ließ die Hand sinken. „Ich musste. Er lief in eineinhalb Jahren ab.“ „Ouw…“ „Muss ich das jetzt etwa allein trinken?“ Yoshiki seufzte und streckte die Hand noch einmal aus. „Aber nur noch ein bisschen!“ -X- hide und er gingen am Strand entlang. Zum Glück war es spät am Abend sie begegneten niemandem. Sie waren einige Zeit zum Badeabschnitt gelaufen und nun gingen sie wieder zurück in Richtung des Gebäudes, das sich dunkel gegen den Nachthimmel abhob. Yoshiki hatte die vage Idee gehabt, man könne ja theoretisch auch Schwimmen gehen und war bis zu den Knien ins Wasser gewatet. Dann war ihm aufgefallen, dass er eine Hose trug. Dann war ihm aufgefallen, dass er Schwimmen nicht sonderlich mochte. hide hatte in der Zeit einen kleinen Sandhaufen angelegt, mit einem Stock einen Kreis außenherum gezogen, dann den Stock in den Sandhaufen gesteckt und einen eigenen Staat innerhalb des Kreises ausgerufen. Danach hatte er Yoshiki zwanzig Minuten lang erklärt, was er als Regierungschef alles durchsetzen würde und Yoshiki die Stellung des Kaisers übertragen. Da er da außer gut aussehen und hin und wieder ein Siegel unter ein Dokument setzen nichts tun müsse, hatte Yoshiki diese Aussicht sehr gut gefallen und er hatte zugesagt. Seither waren sie in eine angenehme Stille versunken. Sie hielt, bis sie die Treppe zur Straße hochgestiegen waren und wenige Schritte später unschlüssig auf dem Parkplatz stehen blieben. „Und jetsch?“, fragte Yoshiki und lehnte sich – ungeplant – an ein einsames Auto, das noch in einem der weißen Rechtecke stand. „Lassuns“, begann hide, „… äh… dieses… Ding… wie heissas, was wir mach’n?“ Yoshiki dachte angestrengt nach. „Muhsik“, sagte er schließlich. „Ja“, sagte hide, „genau. Lassuns Muhsik mach’n.“ „Jetsch?“, fragte Yoshiki. „Aber es is… es is… schpät.“ „Wie schpät isses?“, fragte hide zurück. Yoshiki schaute auf seine Armbanduhr. Er schaute sehr lange und sehr intensiv auf seine Armbanduhr. „Ich ha‘ keinhe Ahnung“, sagte er schließlich und hielt hide sein Handgelenk vors Gesicht. „Kannsu das les‘n?“ hide schaute auf Yoshikis Armbanduhr. Er schaute nicht so lange und nicht so intensiv. „Halb nach siebenunswansich Uhr“, sagte er schließlich. Er runzelte die Stirn und schaute Yoshiki an. Dabei schwankte er einmal auf die Fersen und zurück auf die Fußballen. „Das kling‘ irgen’wie nich‘ richtich…“ Sie blickten einander ratlos an. „Was wolldenwir nochma‘?“, fragte Yoshiki schließlich. hide dachte nach. „Muhsik“, sagte er nach ein paar Sekunden. „Aber es is schpät“, sagte Yoshiki. „Was hassu denn anderes zu tun?“, fragte hide und bohrte Yoshiki einen Zeigefinger in die Brust. Yoshiki dachte nach. Ihm fiel nichts ein. „Du has‘ Recht“, sagte er also, „lassuns Muhsik mach’n.“ -X- Sie waren im Proberaum. hide spielte ein paar sehr schiefe Akkorde. „Das rockd!“, sagte er. „Das rockd so fedd!“, sagte Yoshiki. „Und warde, warde… mega geilhes Schla… Schlagseug-Solo!“ Bumm-Bumm-Bang-Bing-Dum-Dum-Dam-Dum-Bumm-Bumm-Pling-Tschack… und so weiter. Schließlich entwickelte er eine extreme Faszination mit dem Ride, bis das Becken schließlich kippte und mit einem lauten Scheppern auf dem Boden landete. „Geeeeeil!“, bekundete hide und hob den Tetra-Pack. „Wir komm’n sogroß raus, esis unglauhblich… unglauhblich“, sagte Yoshiki und bückte sich, um das Becken wieder aufzustellen. Doch auf halben Weg erschien ihm das plötzlich wie unendlich viel Arbeit… Boah, ne. Das hatte Zeit. Er setzte sich wieder aufrecht hin. Das Blut sackte ihm aus dem Kopf und der Raum drehte sich… und drehte sich. Da half nur eins. Er hob die Sticks. „Und jets‘ susammen!“ -X- Irgendwann lagen sie auf dem Sofa. Sie hatten herausgefunden, dass sie da beide bequem draufpassten, wenn sie die Beine über die Armlehnen baumeln ließen und sich ihre Köpfe in der Mitte trafen. Sie schauten an die Decke. Der Tetrapack war leer. Das half dem Denkzentrum, aber es machte auch müde. Yoshiki gähnte. hide zog an seiner Zigarette. Yoshikis Zigarette. Dein, Mein, Sein… Was auch immer. „Weissu“, sagte hide und pustete Rauch aus, „das Lebhen is‘ komisch.“ „Wahrum das?“, fragte Yoshiki und gähnte noch einmal. Er streckte die Hand über den Kopf. hide reichte ihm die Zigarette und er nahm einen Zug und reichte sie wieder zurück. hide gähnte ebenfalls. „Weil man die ganse Seit Dinge macht, die man nich‘ mach’n will… für Leuthe, die man nich‘ mag…“ „Heeeee“, machte Yoshiki beleidigt, so beleidigt, wie man es nur in diesem Zustand sein konnte. „Neeee“, wehrte sich hide. „Nich‘ wir… und hier… so allgemein.“ Yoshiki schwieg eine Weile und dachte drüber nach. „Mmh“, machte er schließlich. „Dasstimmt. Alles kohmisch. Am liebs’en würd ich nich‘ mitmach’n bei dem gansen Unsinn…“ „Dann mach ich auch nich‘ mit bei dem Unsinn!“, sagte hide. „Ja!“, sagte Yoshiki. „ Lass uns so hart sein, wie… wie…“ „Taiji!“, rief hide begeistert. „Niemals!“, rief Yoshiki. „Dann nich‘!“ rief hide. Er setzte sich mühsam auf und drehte sich halb um, damit er Yoshiki ansehen konnte. „Hassu… Hassu das vorhin gemeint mit dass wir Freuhnde sind un‘ so?“ Yoshiki rappelte sich ebenfalls in eine sitzende Position hoch. Dabei schlug er seinen Schädel einmal kräftig mit einem ungesunden ‘Klonk‘ an hides. „Itaaai~“, machten beide gleichzeitig. „Was‘s los mit dir?“, fragte hide stöhnend und rieb sich den Kopf. Yoshiki rieb sich ebenfalls die Stirn, aber das hielt ihn nicht auf: „Ich liebe dich!“ „Ich liebe dich auch!“, rief hide begeistert. Der Kopfschmerz war vergessen. Sie fielen sich um den Hals, eine komische, verrenkte, viel zu warme Umarmung. „Wenn’s Toschi nicht gäbe, hätte ich dich nie getroff’n“, sagte hide, als sie sich wieder entknotet hatten. „Ich liebe Toschi!“, sagte Yoshiki. „Alle lieben Toschi“, sagte hide. „Das nächs’e Mal musser mittrink’n.“ „Definititiv.“ Sie legten sich wieder hin. Sitzen war anstrengend. Ihr Gespräch legte eine Pause ein. Yoshiki schloss die Augen und genoss die Schwärze auf der Innenseite seiner Lider. „Yoschgi“, drang hides Stimme zu ihm durch. „Schläfsu?“ „Ne“, murmelte Yoshiki. Er war wach! Total… wach… „Merksu auch was?“ Yoshiki merkte was. Der Boden vibrierte leicht. „Erdbeb'n“, sagte er. „Das… geht vorbei…“ „Mmh“, machte hide. Es ging vorbei. „Weissu was?“, fragte hide. Er hatte sich wieder auf einen Ellenbogen gestützt und schaute Yoshiki an. „Was?“, fragte Yoshiki. Er öffnete die Augen und schielte nach oben in Richtung hide. „Ich find Muhsik gut!“ „Ich find Muhsik auch gut“, stimmte Yoshiki zu. „Glaubsu, man sollte mach’n, was man will?“ „Ich glaube, ein Mann muss tun, was ein Mann tun muss…“ „Un‘ was muss ein Mann tun?“ „Wasser muss… wasser muss…“ „Sum Glücklichsein?“ „So weiht denk ich gar nich‘…“ Yoshiki wedelte mit der Hand und verscheuchte den Gedanken wie eine lästige Fliege. „Bissu nich‘ glücklich?“ „Weiß nich‘.“ hide ließ sich wieder aufs Sofa zurückfallen, blieb aber auf der Seite. „Mussich drüber nachdenken.“ „Dann denk mal nach.“ Stille. „…Denksu nach?“ „Ich binnich‘ sicher.“ Stille. „Yoschgi…“ „Mmh…“ „Weissu noch, wassu vorhin gesagd hasd? Über… Übher Leute un‘ dich un‘ Gitarren?“ Yoshiki dachte nach. „Nein“, sagte er dann. Gerade wusste er ja nicht mal genau, was vor zwei Minuten gewesen war! Aber hide interessierte die Antwort scheinbar auch gar nicht so sehr, denn er redete einfach weiter. „Wennich… wennich noch jemanden… also wasshälsu von einer sweiten Gitarre?“ „Swei is‘ immer besser als wie eine.“ „Is‘ wie mit Mädch'n, wa‘?“ Yoshiki lachte und griff über den Kopf, um hide die Haare zu zerstrubbeln. Stattdessen patschte er ihm ins Gesicht. Aber das ging auch! Er knetete einmal hides Nase. „Was bis’n du für einer! Duuuu Luhder!“ „Hehe…“ hide schnalzte mit der Zunge. „Wennich berühmt wehrde“, sagte er und machte kreisförmige Bewegungen mit der rechten Hand (die linke entfernte Yoshikis Finger aus seinem Gesicht), „dann nur, damit ich lauhter so’n Scheiß mach’n kann!“ Er hickste. „… Also, ich werd‘ soderso lauhter Scheiß mach’n, aber berühmt mach‘s mehr Spaß…“ Er hickste noch einmal. „Undie Besahlung ist bess’r…“ Stille. Sie schauten an die Decke. Die Neonröhren brummten leise. Yoshikis linkes Ohr brummte leise. „Yoschgi…“ hide hickste. „Ja?“ „Was glaubsu passiert im Kühlschrank, wenn’as Licht aus ist?“ -X- Sie lagen auf dem Sofa. hide hatte die Beine angezogen und sich auf seiner Hälfte eingerollt, Yoshiki lag immer noch auf dem Rücken. Er hätte lieber auf dem Bauch gelegen, aber vielleicht war das ganz schlau so. Ihm war ein bisschen schlecht. Aber nur ein bisschen… Er gähnte. „Yoschgi…“, murmelte hide. „Mmh…“, machte Yoshiki. „Kommsu von hier aus an den Lichdschalder?“ „Ne“, murmelte Yoshiki. Ein paar Sekunden passierte nichts. Dann sagte hides Stimme: „Das is‘ ja doof.“ Yoshiki spürte, wie hide sich ein wenig vorbeugte. Dann klapperte etwas auf der anderen Seite des Zimmers. „… Has' du grade versucht, den Lichdschalder mit meinem Drumstick zu treff’n?“ -X- Als Toshi am nächsten Tag zur Probe erschien, war er nicht überrascht, nicht der erste zu sein. Doch er war überrascht von dem, was ihn auf der anderen Seite der Tür erwartete: ein Raum mit einem etwas demolierten Schlagzeug, einer mitten im Raum liegenden Gitarre und zwei fragwürdigen Gestalten, die (mehr oder weniger) auf dem Sofa herumlungerte. Und über allem hing jetzt der Geruch von beschwipstem Räucherthunfisch. “Boah!”, sagte Toshi und wedelte in dem Versuch, seinen Atemwegen frische Luft zuzuführen, mit der Hand. Der Erfolg war mäßig. „Was ist denn hier passiert?!“ hide setzte sich auf und blinzelte desorientiert ins Licht. Er sah aus, als habe ein Zehntonner ein Eichhörnchen überfahren. Seltsamerweise erwischte sich Toshi dabei, wie er das absolut hinreißend fand. Yoshiki hielt sich noch liegend den Kopf. „Ich hab keine Ahnung“, sagte er. Seine Stimme klang, als hätte er Nägel gegurgelt und ... hatte er hier eine kleine Beule? Woher kam die denn? Zum Glück konnte er sich selbst zumindest nicht sehen! Toshi schaute sich ungläubig einmal im Raum um und drehte sich dann wieder zu den beiden Helden auf dem Sofa. „Wart ihr etwa die ganze Nacht hier?“ „Das kommt drauf an, wann jetzt ist…“, sagte hide. Er machte den Versuch aufzustehen, sank aber gleich wieder aufs Sofa zurück. „Ouw… Toshi, tu mir ‘nen Gefallen – da ist Misosuppe in der Tüte, bitte gieß die auf…“ „Es ist fast zwei Uhr“, informierte Toshi seufzend, ging aber trotzdem zu der Plastiktüte neben dem Gitarrenverstärker hinüber. „Wir wollten jetzt proben.“ Er zog eine kleine, plastikverschweißte Packung heraus. „Wir proben in zehn Minuten… Ja… dann bin ich voll dabei… du wirst sehen…“, murmelte hide. Er hatte den Kopf zurück auf die Sofalehne gelegt und sah aus, als würde er gleich wieder einschlafen – oder aber jämmerlich eingehen. Toshi verteilte den Inhalt des Instant-Miso auf zwei Tassen, kochte Wasser und goss die Suppe auf. Er reichte dem Gitarristen eine davon. „Danke“, sagte hide und nahm einen kleinen Schluck. Toshi reichte Yoshiki die zweite Tasse. „Iiiiih“, machte Yoshiki und drehte sich in Richtung Sofalehne, weg von der Suppe. „Verschwinde…“ „Es hilft…“, beteuerte hide mit einem Seitenblick. Yoshiki stöhnte leidend, setzte sich auf und nahm das Heißgetränk. „Nie wieder Alkohol…“ „Was habt ihr getrunken?“, fragte Toshi. Die Bierflaschen neben der Tür hatte er gesehen, aber das hier – das war kein Bier. hide deutete wortlos neben sich auf den Boden. „Was? Wie viel davon?“, fragte er. „Alles“, sagte Yoshiki matt. „Die ganze Flasche?!“ „Die ganze Flasche“, sagte hide. „Und bitte… leiser…“ Sie hatten gerade jeder noch ein paar langsame Schluck Suppe genommen, als jemand draußen die Treppe hinunterpolterte und dann die Tür aufriss. „Tag, ihr Loser“, sagte Taiji lässig. "Ratet mal, wer gestern-" Wie auch Toshi hielt er auf der auf der Schwelle inne, als wäre er gegen eine Wand gelaufen. Er klappte den Mund auf, um vermutlich eine ähnliche Frage zu stellen wie der Sänger einige Minuten zuvor, doch dann verarbeitete er die Szene, die sich ihm bot. Ein Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus. „Aha. Soso. Da probt jemand das Rockstar-Leben. Glückwunsch und willkommen zurück in der echten Welt.“ „Halt die Fresse…“, murrte Yoshiki müde. Ein nerviger, kleiner Affe spielte in seinem Hinterkopf Tuba. Das tat weh. „Ach, mach dir keine Sorgen…“ Taiji ließ sich neben Yoshiki auf die Armlehne fallen und streichelte ihm über den Rücken. „Das wird wieder gut… ABER ERST WIRD ES NOCH VIIIIIIIEL SCHLIMMER!“ Er lachte. Yoshiki zuckte zusammen und holte mit seiner Linken zu einem Kinnhaken aus, der sicher schmerzhaft geworden wäre – wenn er getroffen hätte. Taiji fing die wenig koordinierte Faust vor seinem Gesicht ab. „Ah, Scheiße!“, fluchte Yoshiki und streckte die rechte Hand aus, die noch die Tasse hielt. Es tropfte auf den Boden. Er hatte Misosuppe über sich selbst und das Sofa geschüttet. Die Suppe war noch heiß. Nicht schön. „Ich fürchte, wir verdienen das“, sagte hide matt. „Niemand verdient das“, sagte Yoshiki. Toshi war damit fertig, das Schlagzeug wieder zusammenzusetzen und die Überreste ihrer spätnächtlichen Party in den Müll zu stopfen. Doch eine Sache war da noch… Er hielt eine leere Packung Mild Sevens zur Veranschaulichung seiner Frage hoch. „Habt ihr beiden gestern Nacht zwei Schachteln geraucht?“ Taiji runzelte die Stirn und wandte sich dann vorwurfsvoll an die beiden Gestalten auf dem Sofa. „Ihr Wichser, waren das meine!?“ Yoshiki zuckte mit den Schultern und starrte in seine halbleere Tasse. Er hatte keine Ahnung… doch nach seinem Hals zu schließen, war es im Bereich des Möglichen. „Du hast Recht“, sagte er schließlich nach rechts und nahm noch einen kleinen Schluck Suppe. „Das hier hilft.“ „Ich weiß, was ich tue“, sagte hide. „Also“, fragte Taiji, nach wie vor sichtlich angepisst, aber zumindest in einer rücksichtsvollen Lautstärke, „können wir dann heute proben oder seid ihr Ladies zu durch?“ hide und Yoshiki sahen sich unschlüssig an. Schließlich zuckten beide gleichzeitig mit den Schultern. „Ein Guter hält’s aus“, sagte Toshi. Er hatte sich hinters Schlagzeug gesetzt. hide musste heiser auflachen. „Um ‘nen Schlechten ist’s nicht schad‘…“, vollendete er die Weisheit. Er bückte sich, stellte seine leere Tasse auf dem Boden ab und schaffte es endlich in eine aufrechte Position. „Gebt mir fünf Minuten…“ „Was hast du vor?“ „Pipi und vielleicht meinen Kopf unter den Wasserhahn halten… Wenn ich einen Wasserhahn finde, wo das geht… Sonst geh ich raus und tunke meinen Kopf ins Meer.“ „Das klingt gar nicht so blöd... warte...“ Mühsam rappelte Yoshiki sich auf. „Kleiner Tipp“, sagte Taiji und schaltete den Bassverstärker ein, „haltet Abstand zu allem, was eine Uniform trägt. Man riecht es.“ Sie stiegen die Treppe ins Erdgeschoss hoch und gingen einmal durch den Eingangsbereich. Zwei ältere Männer im Anzug liefen an ihnen vorbei. Und schauten komisch. „Konnichi wa“, grüßte hide und hob die Hand zu einem laschen Gruß, bevor er in die Herrentoilette verschwand. Sie schauten äußerst komisch. Drinnen vermied Yoshiki den Blick in den Spiegel so lang wie möglich. Leider war das nicht unendlich lange. Oh Mist. Er schaute schnell wieder weg und klatschte sich lieber ein paar Handvoll kühles Nass ins Gesicht. Er konnte fühlen, wie er sich langsam entknitterte... das war gut. Dann fing er, noch mit den Unterarmen auf dem Waschbeckenrand, leise an zu lachen. „Was?“, fragte hide, der sich gerade ebenfalls Wasser ins Gesicht gespritzt hatte. „Konnichi wa-hahahaha…“ Kapitel 5: Instant Karma (Is Gonna Get You) ------------------------------------------- Am Dienstag nach dieser denkwürdigen Nacht ging hide, noch in Schuluniform und mit 120 Yen in der linken Hosentasche, die sonnenbeschienene Straße zum Laden der Ishizukas hinauf und haderte nur einen winzigen Moment mit sich, bevor er eintrat. Es klingelte leise. „Irrashaimase!“, kam die bekannte Frauenstimme von der Kasse und gleich darauf folgte ein freundliches: „Oh, Hideto! Ich hab ich gar nicht gleich erkannt, Hallo!“ „Hallo“, grüßte er zurück. „Ja, man sieht anders aus in dem Ding, nicht…“ Er schaute einmal an sich hinunter. Erwachsen, sagten manche, ordentlich andere. hide fand, es sah eindeutig nach Beerdigung aus. Aber er war nicht hier um die gängige Mode zu diskutieren. „Ähm, ist Tomo zufällig da?“ Frau Ishizuka nickte lächelnd. „Er ist oben, geh einfach rauf.“ hide erwiderte ihr Lächeln so ehrlich er konnte und ging durch den Laden nach hinten und die schmale Holztreppe hinauf in die Wohnung. Umso näher er kam, desto deutlicher konnte er jemanden Gitarre spielen hören, eine fließende, elegante Melodie, von der er sich nicht sicher war, dass er sie hätte kopieren können. Als hide jedoch um die offenstehende Schiebetür in das Zimmer des anderen Jungen lugte, fand er diesen an seinem Tisch über etwas, das stark nach klassischer japanischer Literatur aussah. Er räusperte sich und Tomoaki schaute von seinen Büchern hoch. „Oh“, sagte er. „Damit hatte ich jetzt nicht gerechnet.“ Trotz dieser Worte schien er allerdings nicht über alle Maßen überrascht. „Ja“, antwortete hide und trat vollständig ins Bild. „Ich auch nicht. Aber ich bin hier, um mein Onigiri zu bezahlen.“ Er angelte das Geld aus seiner Tasche und streckte die Hand aus. Tomoaki lächelte schief, legte das Buch in seiner Hand mit den Seiten nach unten auf den Tisch und stand auf. „Im Ernst jetzt?“ hide zuckte mit den Schultern. Der andere Junge seufzte belustigt, nahm die Münzen aber entgegen. „Dann sind wir wohl quitt.“ „Sieht so aus…“, stimmt hide langsam zu. Doch da er sich nicht bewegte war offensichtlich, dass noch etwas folgen musste. „Um ehrlich zu sein, ist das nicht der einzige Grund, warum ich hier bin…“, fuhr er schließlich fort und rieb sich einmal mit der Hand über den Nacken. „Ich ähm… also ich hab morgen Bandprobe und ich wollte fragen, ob du vielleicht mitkommen willst.“ Tomoaki schaute ihn ein paar Sekunden mit seinem patentierten schwer einzuordnenden Gesichtsausdruck an. „Mmh“, machte er schließlich, einen Laut, mit dem hide genauso wenig anfangen konnte wie mit seiner Mimik. „Was macht ihr so?“ „Rock“, antwortete hide und dann, als müsse man das Feld eingrenzen: „Lauten, westlichen Rock.“ Der andere Junge schien nachzudenken. Nur zu gerne hätte hide gewusst, welche Argumente er gerade in seinem Kopf gegeneinander abwog – aber vielleicht war es besser für sein Selbstwertgefühl, wenn er es niemals erfuhr. „Mmh“, machte er schließlich noch einmal. „Ich denke, es kann nicht schaden, wenn ich es mir einmal ansehe.“ Ein Lächeln breitete sich auf hides Gesicht aus. „Super. Du wirst es nicht bereuen. Es macht unglaublich viel Spaß.“ „Ich bin gespannt. Wo und wann?“ „Es ist in der Nähe, in der ehemaligen Fabrik unten im Hafen. Von hier aus kann man hinlaufen. Oder die drei Stationen mit dem Bus fahren. Wir proben um sechs.“ „Hinlaufen ist in Ordnung.“ „Ok… Gut. Dann… komm ich vorbei, gegen halb?“ „Tu das.“ „Ok. Dann… ähm…“ hide schaute einmal verunsichert durch den Raum und zurück zu seinem Gegenüber. Er mochte diesen seltsamen Kerl zwar irgendwie, doch das hier fühlte sich, ähnlich wie bei seinem ersten Besuch, einfach nicht gut an. Nichts an dieser Situation war auch nur im Entferntesten natürlich. Doch ihm fiel kein weiterer, normaler Gesprächsinhalt ein, also sagte er schließlich, ein paar Sekunden seltsame Stille später: „Bis morgen?“ Tomoaki lächelte mild. „Mata.“ hide konnte seinen Blick im Rücken spüren, bis er die Wohnungstür hinter sich geschlossen hatte. Unten im Laden kaufte er sich noch ein Taiyaki und machte sich dann auf den Heimweg. Während er in den kleinen Teigfisch biss fragte er sich, ob es irgendwann aufhören würde, seltsam zu sein. Und als er sich fünf Minuten später das letzte Stückchen Flosse in den Mund steckte, war er sich da immer noch nicht sicher. -X- Am nächsten Tag stand hide bereits geduldig wartend auf der Straße, als Tomoaki mit einem über die Schulter geworfenen „Ittekimasu!“ aus dem Laden trat. Ein „Itterasshai!“ folgte ihm nach draußen. Es erinnerte hide irgendwie an seine Kindheit, bevor alles komisch geworden war. Er winkte. Tomoaki nickte zur Begrüßung. „Soll ich das nehmen?“, fragte hide mit einem Blick auf den Amp. „Wenn du das möchtest.“ Der andere Junge reichte ihm den Kasten. „Danke.“ Sie setzten sich in Bewegung. „Deine Schwester ist ziemlich gut“, sagte hide nach einigen Metern. Es erschien ihm wie ein relativ leichtes Thema. Tomoaki zuckte neutral mit den Schultern. „Ja. Sie macht sonst nicht viel anderes.“ „Ich kann sie ja mal fragen, ob sie auch mitkommen will“, witzelte hide. Tomoaki lächelte, doch es schien hide ein wenig gezwungen. „Was?“, fragte er mit einem Seitenblick und nahm den Amp in die andere Hand. Ihm tat schon jetzt der Arm weh. Dass diese Teile auch so schwer sein mussten! „Ich fürchte, damit würdest du keinen Erfolg haben.“ „Wieso nicht?“ Sie hielten an einer Straße, schauten rechts, schauten links, warteten auf eine Lücke. Der andere Junge schwieg ein paar Sekunden, welche hide bereits vermuten ließen, dass er sich vielleicht lieber mit ihm über das schwüle Sommerwetter oder über quadratische Melonen unterhalten hätte. Dann sagte er schlicht: „Sie verlässt das Haus nicht.“ „… sie was?“, fragte hide verdattert. Er hatte schon mal gehört, dass es solche Menschen geben sollte, es aber immer als Schulhoflegenden abgetan. Die Vorstellung erschien ihm zutiefst befremdlich. Sie überquerten die Straße. Erst auf der anderen Seite setzte Tomoaki zu einer Antwort an. „Letztes Jahr … nun, sie würde nicht wollen, dass ich zu viel drüber rede. Sagen wir, es kamen einige Dinge zusammen. Es war viel auf einmal. Sie kam nicht gut damit zurecht. Seitdem ist es, wie es ist.“ „Ouw…“, machte hide. (Ein zumindest für ihn äußerst unangenehmes) Schweigen trat ein – er hatte offensichtlich ein Thema angeschnitten, für das sie sich nicht gut genug kannten. „Tut mir leid“, sagte er also schließlich ein wenig beklommen. Selbst diese belanglosen Worte waren besser, als die Stille auszuhalten. „Es ist in Ordnung“, antwortete sein Begleiter ruhig. Schweigend überquerten sie eine Ampel, bogen auf eine größere Straße ab und folgten ihr, an kleinen Läden und einem Kindergarten vorbei. „Wen werde ich eigentlich treffen?“, erkundigte Tomoaki sich, als sie gerade am Postamt vorbeigingen. „Oh“, machte hide, ungewollt erleichtert. „Also da bin ich, und Yoshiki und Toshi und Taiji. Sie sind jeder auf seine Art seltsam, aber alle ganz liebe.“ Tomoaki nickte. „Und habt ihr auch einen Namen?“ „Öh.“ hide runzelte die Stirn. Ups. „Ne. Da haben wir irgendwie gar nicht mehr drüber nachgedacht.“ Er wechselte den Amp noch einmal in die andere Hand und nach wenigen Sekunden nahm er ihn schließlich vor die Brust und trug ihn wie einen Stapel Backsteine. „Geht’s?“, fragte Tomoaki. „Uh-hu“, machte hide und biss die Zähne zusammen. Und damit kam auch dieser Versuch einer normalen Unterhaltung zum Erliegen. Erst als sie eine Viertelstunde später über den Parkplatz gingen, räusperte sich hide schließlich, um sich Tomos Aufmerksamkeit zu sichern. Dieser drehte den Kopf abwartend in seine Richtung. hide atmete durch. „He… ich weiß, ich bin nicht wirklich in der Position dazu, aber… Kannst du mir noch einen Gefallen tun?“ „Was ist es?“ „Könntest du… ihnen nicht sagen, woher wir uns kennen?“ hide wäre sich gerne mit der Hand durch die Haare gefahren, doch er hielt mit großer Anstrengung fünfundzwanzig Kilo Elektronik. „Ich … mag sie wirklich gern und ich weiß nicht ganz, wie sie… also… nun ja. Reagieren.“ Der Ansatz eines weiteren milden Lächelns breitete sich auf dem Gesicht des anderen Jungen aus. hide bekam allerdings zunehmend das Gefühl, dass es mehr oder sogar etwas ganz anderes war als nur eine freundliche Miene. Doch gerade interessierte ihn vor allem die Antwort. Diese war: „Ich habe nicht das Bedürfnis, irgendwem irgendetwas zu erzählen.“ Das allerdings glaubte ihm hide sofort. Er nickte und versuchte, seiner Erleichterung Raum in seinem eigenen Lächeln einzuräumen. „Danke. Tür bitte.“ Tomoaki hielt ihm die Tür des Haupteingangs auf und folgte ihm dann nach drinnen und die Treppe hinunter. „Nochmal, bitte.“ Tomo öffnete ihm die Tür zum Raum. „Guten Abeeend“, grüßte hide so fröhlich er mit seinen brennenden Armen konnte in die Runde. Sie waren die letzten. Er stellte (endlich!) den Verstärker ab und trat einen Schritt zur Seite. „Ich hab wen mitgebracht. Das ist Tomo.“ Der andere Junge verbeugte sich leicht. „Uhm, Yoshiki, Toshi, Taiji.“ hide deutete im Uhrzeigersinn auf den Rest seiner Band und fächelte sich dann mit der Hand Luft zu. „Freut mich“, sagte Yoshiki. „Mich auch“, sagte Toshi. „Yo“, sagte Taiji. „Danke für die Einladung“, sagte Tomoaki. Es erschien Yoshiki das Höflichste zu sein, das jemals jemand in dieser Band gesagt hatte. Er entschied, dass ihm das behagte, also grinste er ihm über die Toms hinweg zu. „Stell dich am besten da rüber“, meinte Taiji und deutete auf die Sofaecke bei hide. „Sonst stehst du gegenüber der PA. Wir haben ewig gebraucht, bis wir keine scheiß Rückkopplungen mehr hatten und ich fänd’s geil, wenn das Spielchen nicht wieder von vorne losgeht.“ Der Gitarrist machte ein Geräusch der vagen Zustimmung und begann, sich an der zugewiesenen Stelle einzurichten. „Ok“, sagte Yoshiki schließlich, während Tomo die Gitarre nachstimmte, „wir haben einen Song, der eigentlich nur noch Feinschliff braucht. Ich schlage vor, wir versuchen mal den. Da ich keine zweite Gitarre hatte, hab ich mir auch nichts dafür überlegt. Wir spielen einfach einmal, dann kann dir hide zeigen, wie sein Teil geht und dann … keine Ahnung, steig einfach mal ein und wir… versuchen das. Ja. Oder?“ Er schaute einmal auf der Suche nach Widerspruch in alle Gesichter, fand aber keinen und nickte daher. „Ok. Time Trip Loving!“ Yoshiki zählte ein und sie spielten. Tomoaki hörte zu. hide drehte sich ein wenig von den anderen weg und in seine Richtung, damit er das Griffbrett sehen konnte und bemühte sich, möglichst wenig Fehler zu machen. Aus den Augenwinkeln wurde er sich bewusst, dass Taiji dasselbe tat. Irgendwann bei der Hälfte des Songs begann der andere Junge, bei abgedrehter Lautstärke seine Griffe zu kopieren, doch hide konnte nicht schauen, ob das stimmte, was er da tat. Und als der Song endete, hörte auch Tomoaki wieder auf. „Soll ich’s dir erklären?“, fragte hide und knetete seine Finger ein wenig. Es war ein gnadenloser Song, wenn man davor eine halbe Stunde einen halben Zentner Amp durch die Gegend getragen hatte. Scheiße, tat das weh! „Ich denke, ich hab’s soweit“, antwortete Tomoaki bedächtig. „Außer… der Übergang nach dem Chorus, ist der…“ Er spielte den Riff. „Ja. Aber ich mach up, down, down, up, slide, down“, sagte hide. „So?“ Er spielte noch einmal. „Ja.“ „Ok“, sagte Tomoaki und stellte sich bequemer hin. „Dann versuch ich das.“ Taiji zog einmal ungläubig die Augenbrauen hoch und warf Yoshiki einen Blick zu, den dieser allerdings nicht bemerkte, weil er gerade das Gleiche mit Toshi versuchte, welcher wiederum hide ansah. hide wurde wärmer und es lag zur Abwechslung mal nicht an seinem langärmeligen Oberteil – wenn er den stummen Blickabtausch sah, dann sah Tomoaki ihn auch. Und das war ihm ein bisschen unangenehm… Er räusperte sich. „Jungs?“ „Ok. Gut. Ja“, riss Yoshiki sich als Erster zusammen. Er stellte seinen Fuß zurück auf das Hi-Hat-Pedal. Tschack. „Ok.“ Noch einmal zählte er ein und irgendetwas an der Art, wie er es tat, sagte hide, dass er nicht erwartete, über die ersten paar Takte hinauszukommen. Er lag falsch. Tomoaki spielte parallel zu hide durch die verschiedenen Teile, ohne großartig hängen zu bleiben. Das war insofern bemerkenswert, dass hide manchmal das Gefühl hatte, dieser ganze Song wäre ein einziges großes Gitarrensolo. Er hatte sich ein wenig verkünstelt da drin… und dann gab es in diesem einzigen großen Solo auch tatsächlich noch ein richtiges. Spätestens an dieser Stelle wartete auch hide darauf, dass die zweite Gitarre sich ausklinkte. Doch der andere Junge stieg mit ein. Und es passte. Aus der Ferne wurde sich hide bewusst, dass Bass und Schlagzeug beide aus dem Rhythmus kamen und er hätte nur zu gerne darüber gelacht, wenn er sich nicht so hätte konzentrieren müssen. Doch irgendwann bei der Hälfte des Solos im Solo bemerkte hide, dass er unkontrolliert grinste. Und er konnte nichts dagegen tun. Zum Ende des Solos hatten sich Bass und Schlagzeug wieder gefangen und sie beendeten den Song halbwegs so, wie er gehörte. „Scheiße!“, entfuhr es Taiji, kaum dass der letzte Gitarrensound verklungen war. „Du bist ja genauso gut wie der Freak hier!“ „Ich nehme das jetzt einfach mal als Kompliment“, sagte Tomoaki, nachdem er sich mit einem Seitenblick vergewissert hatte, dass der Ausruf wirklich ihm galt. „Ich glaube, er ist besser als ich“, stellte hide beschwingt klar. Ihm war immer noch unverschämt warm, aber jetzt aus anderen Gründen: Er fühlte sich hibbelig und ausgelassen und verspürte das Bedürfnis, irgendwen an den Händen zu nehmen und mit ihm im Kreis zu hüpfen, bis das Glücksgefühl das als Ventil akzeptierte. „Lasst uns keine Rangfolge aufbauen“, ging Yoshiki entschieden dazwischen. „Rangfolge ist nicht, worum es hier geht. Ihr seid beide fantastisch! Und mit ein bisschen Übung ist euer Zusammenspiel vermutlich das tighteste, was ich je gehört hab.“ Taiji warf Yoshiki einen schelmischen Blick zu, in dem allerdings ein Hauch zu viel Spott lag, um ihn wirklich als neckend durchgehen zu lassen. „Wenn wir das jetzt noch mit Schlagzeug und Bass schaffen, könnte aus diesem Ding hier wirklich was werden.“ Yoshiki schwenkte drohend eine Faust in die Richtung, aus der das gekommen war. „Halt die Klappe!“ Toshi seufzte und trat aus der Schusslinie. „Tz. Das im Solo, das war ganz allein deine Schuld! Kannst du vielleicht mal ein Tempo für drei Minuten halten?“ „Ah ja? Du musst es ja wissen, du erkennst einen 4/4-Takt doch nicht mal, wenn er dir ins Gesicht rülpst!“ „Ich rülps dir gleich-“ hide wandte sich von dem sich fortsetzenden Streitgespräch ab und Tomoaki zu und sagte entschuldigend: „Ja, das ist normal… Aber jetzt mal im Ernst: Wie machst du das?“ „Wie mach ich was?“, fragte dieser zurück. „Dieses… ich weiß nicht. Du hast das jetzt einmal gehört. Das ist eigentlich… also in meiner Welt geht das eigentlich nicht.“ Tomoaki setzte sich auf die Armlehne des Sofas und dachte nach. „Ich weiß nicht“, sagte er schließlich nach einigen Augenblicken gleichmütig. Yoshiki und Taiji hatten ihren Disput inzwischen beendet: diese Situationen kochten immer wahnsinnig schnell hoch, doch beruhigten sich glücklicherweise auch ebenso schnell wieder. „Ich hab bisher immer allein gespielt. Also hab ich viel zu Songs mitgespielt. Mir überlegt, was ich anders machen würde. Geschaut, ob es passt. Ich nehme an, da lernt man zuzuhören. Den Stil zu finden. So was. Außerdem war es nicht total neu für mich… Du hattest mir einen Teil davon gezeigt, oder nicht?“ hide zog die Augenbrauen zusammen. „Ah, ja…“, sagte er leise. Das hatte er ganz vergessen. „Und du wolltest nie irgendwo hin damit?“, fragte Taiji, der gerade ein Wasser aus dem Kühlschrank genommen hatte und Tomo mit einer Geste auch eines anbot. Dieser nickte und Taiji kam die paar Schritte durch den Raum. „Ich meine, das ist ein ziemlich krasser Skill, den du da hast, Mann. Das ist dir doch sicher mal aufgefallen.“ Tomoaki schraubte die Flasche auf. Es knackte. „Um ehrlich zu sein, hab ich da nie wirklich drüber nachgedacht. Ich mach das für mich und bisher war ich mir genug.“ „Und jetzt?“, fragte hide. „Bin ich mal offen für Neues.“ Er nahm einen Schluck Wasser. „Das ist doch ein Wort“, sagte Yoshiki. „Dann würde ich sagen, wir machen das gleich nochmal.“ -X- Nach einer guten Stunde machten sie schließlich Pause, in erster Linie, weil hide sich beschwerte, ihm täten die Finger weh. Das war nicht gelogen. Taiji setzte sich neben die beiden Gitarristen aufs Sofa und begann, ihm das Händchen zu massieren. Das half. hide nahm mit der Rechten einen Schluck Erdbeermilch aus der Dose. Er hatte den Kühlschrank für Fälle wie diesen mit allen möglichen komischen Softdrinks bestückt. Auch das half. „Tomo hat übrigens auf dem Herweg ganz richtig angemerkt, dass wir immer noch keinen Namen haben“, bemerkte er. „Wir sollten – Aua! - da nochmal drüber reden.“ „Bin ich dafür“, stimmte Taiji zu. „Oh Mann hide, echt, was hast du für Puppenhände! Guckt euch das mal an!“ Zur Veranschaulichung hob er hides Hand und zeigte sie dem Raum. hide kicherte in sein Milchgetränk. „Ich weiß, was du sagen willst“, sagte Taiji mit einem Augenrollen. „Tu es einfach.“ „Ok.“ hide unterband sein Kichern mühsam und sagte: „Es kommt nicht auf die Größe an! Mann, du kennst mich.“ Er lehnte sich ein Stück nach rechts und versetzte dem Bassisten einen kumpelhaften Schubs mit seiner Schulter. „Ok“, sagte Yoshiki den Unsinn im Raum ignorierend, zog ein Blatt mit Noten unter seinem Schlagzeug hervor und drehte es um. „Ihr habt vermutlich Recht. Wie wäre das: wir machen jetzt reihum jeder einen Vorschlag und dann … keine Ahnung, nehmen wir das Beste oder so. Toshi, fang an.“ Er tauchte noch einmal ab, um nach einem Stift zu suchen. „Ich hör zu“, kam seine Stimme von irgendwo hinter der Basedrum. „Uhm. Äh. Tja“, machte Toshi, der an der PA lehnte überfordert. „Ich weiß nicht. Ich meine, so ein Name sollte ja schon irgendwie zeigen, wer man ist, nicht? Und was man macht? Und um ehrlich zu sein, weiß ich noch nicht so ganz, was das ist, was wir hier machen.“ „Gut, dann denken wir jetzt alle erstmal zwei Minuten nach, was es ist, was wir machen!“, seufzte Yoshiki. Er hatte einen Kugelschreiber zutage gefördert und sich wieder ordentlich auf seinen Hocker gesetzt. Sie dachten nach. „Ok?“, fragte Yoshiki, nachdem er im Kopf bis hundert gezählt hatte. „Toshi.“ „Uhm… Noise?“ Yoshiki, der die Snare als Tischchen benutzte, tippte ein paar Mal mit dem Kugelschreiber aufs Papier. „Ernsthaft? Das ist deine Antwort? Wir machen Geräusche?“ Toshi hob verlegen die Hände ein Stück. “Ich arbeite nicht gut unter Druck… Wäre dir Heavenly … irgendwas lieber?” „Oj…“ Yoshiki seufzte, schrieb es aber dennoch auf und wandte sich dann an den nächsten in der Runde. „Taiji, bitte.“ „Uhm… Thunder Road, Trash, Whiskey a Go Go… Ich hätte noch mehr.“ “Mmh”, machte Yoshiki, als er mit Schreiben fertig war. “Not loving it. Das klingt so nach kleinen Bars, kratzigen Gitarrensounds und hartem Alkohol…“ „Ja!“, bestätigte Taiji mit einem zufriedenen Grinsen. „Meine Fresse…“, seufzte Yoshiki. „Nein! hide?“ „Ich weiß nicht“, sagte dieser nach einem weiteren Schluck seines süßen Erdbeergetränks nachdenklich. „Ich unterstütze aber alle Namen, die Tiere enthalten. Vielleicht was mit Tiger oder Monkeys oder Beaver.“ „Warum denn Biber?“, fragte Toshi. „Warum nicht?“, konterte hide. „Biber sind super. Warum ‘Heavenly Irgendwas‘?“ „Argument.“ Taiji seufzte und legte seinen Hut neben sich auf die Sofalehne. „Ich sehe es kommen, wir werden die Tateyama Schnabeltiere.“ [Ja, die Osteraktion hinterlässt ihre Spuren.] „Die Tateyama Platypuses…“, sagte hide verträumt. „Ich bin schockiert“, sagte Taiji langsam und mit einem sehr kritischen Seitenblick auf ihren Leadgitarristen, „dass du tatsächlich dieses Wort kennst. Und ich spiele in keiner Band, in der irgendwo das Wort ‘Pussies‘ vorkommt.“ „Das überzeugt mich alles noch nicht hier“, urteilte Yoshiki an dieser Stelle und schnitt damit hide, der den Mund bereits aufgeklappt hatte (vermutlich, um Taiji zu erklären, warum Schnabeltiere die besten Tiere überhaupt waren oder aber, um seine Meinung zu Pussies kundzutun), das Wort ab. Er klickte zweimal mit dem Kuli. „Und es wird auf keinen Fall irgendwas mit Tateyama. Muss ja nicht gleich jeder wissen, dass wir aus diesem Kaff kommen. Tomo?“ Der Junge, der bisher bei runtergedrehter Lautstärke eine kleine Melodie gespielt hatte, schaute überrascht auf. „Oh. Ich soll mitmachen?“ „Ja, das kommt drauf an, willst du bleiben oder nicht?“ „Das ist meine Entscheidung?“ Yoshiki strich sich die Haare aus dem Gesicht. „Du bist äußerst willkommen“, sagte er, eine Ecke höflicher, als es sonst sein Stil war. „Der Rest liegt bei dir.“ „Die Gitarre ist dein“, deklamierte hide mit schicksalsschwerer Stimme, „wenn du bereit bist, sie zu akzeptieren!“ Tomoaki lächelte und kratzte sich am Kopf. „Na gut… Dann… Eine Abkürzung? Wie ACDC?“ „Anti Secret Service?”, fragte Taiji todernst und ließ hides linke Hand los. hide fing erneut an zu kichern. „Abgekürzt ASS…“ Die beiden klatschten ab. „… schön, dass ihr zwei euch so gut versteht“, sagte Yoshiki trocken und klickte den Kugelschreiber einige weitere Male. „Weitere konstruktive Vorschläge?“ Toshi, der langsam im Raum auf und ab gegangen war, verzog nachdenklich das Gesicht. „Muss es Englisch sein? Wir könnten auch was machen wie… Inochi. Oder Itsumademo.“ „Mmh“, machte Yoshiki skeptisch, „Ich weiß nicht...“ „Ich glaub, das schreckt den internationalen Markt eher ab“, sagte Taiji. „Wir hocken hier auf ‘nem großen Felsen im Meer, den die meisten Ausländer nicht mal auf der Weltkarte finden. Die wollen sich keinen japanischen Kack merken, Mann.“ hide patschte Taiji auffordernd seine andere Hand auf den Oberschenkel. „… das war eigentlich eine einmalige Sache“, sagte dieser nach einem kurzen stillen Seitenblick. „Aber die tut auch furchtbar Aua!“, quengelte hide und schob die Unterlippe vor. „Fokus!“, kam die Stimme von hinter dem Schlagzeug. Taiji griff mit seinem Seufzen nach hides rechter Hand. „Yoshiki wäre die MOther of ROcking Nothing“, murmelte er dem Leadgitarristen ins Ohr. hide, der gerade einen weiteren Schluck Erdbeermilche genommen hatte, musste prusten und dann husten. Milch kam aus seiner Nase. Taiji grinste. Yoshiki verzog das Gesicht. Er hatte verstanden. Moron... Sehr witzig. „Haha. Schön, ihr habt bewiesen, dass ihr eure englischen Schimpfwörter ganz toll beherrscht…“ hide hatte sich wieder beruhigt und sein Gesicht unkompliziert an seinem Ärmel abgewischt. „Naaa, man kann doch auch nette Dinge abkürzen. Zum Beispiel Master of Imagination and Neat Ideas für Toshi, oder Patent Application of Total Awesomeness für Tomo.“ Toshi runzelte die Stirn und stemmte einen Arm in die Hüfte. An diesem Satz war absolut nichts, das er verstand. „… Was?“ Der Schlagzeuger langte sich ans Hirn. „Jetzt redet ihr echt nur noch Scheiße. Und darf ich daran erinnern, dass wir dank unserer Eltern bereits Namen haben und wir einen für unsere Band suchen?“ Tomoaki zuckte mit den Schultern. „Das ist wohl alles Teil des kreativen Prozesses…“ „Ja genau, hör auf PATA, MORON“, sagte Taiji. „Ok. Also: Nach euren kreativen Ergüssen wäre unser Name also irgendein himmlisches Tier, das in zwielichtigen Bars harten Alkohol konsumiert, und das Ganze dann auf Englisch und abgekürzt.“ Yoshiki sah von dem Blatt Papier auf seiner Snare hoch und teilte einen äußerst skeptischen Blick mit seiner Band. „Also ich bin kein Experte, aber ich glaube, das ist … nicht gut.“ „Tateyama Platypuses klingt auf einmal gar nicht mehr so übel, was?“, neckte hide. Zwei Sekunden später musste er sich ducken - der Drumstick landete mit einem hölzernen Klappern in der Ecke hinter ihm. „Heeee!“, machte der Gitarrist, allerdings nach wie vor grinsend. „…MINI?“, fragte Toshi. Das machte immer noch keinen Sinn! Tomoaki wandte sich an hide. „Warum Patent Application?“ „Weil es das erste Wort war, das mir eingefallen ist.“ hide leerte sein Getränk und warf die Dose in Richtung Mülleimer. Er traf nicht und stand auf, um die Aufgabe uncool zu Ende zu bringen. „Wärst du lieber der PAnda of Total Awesomeness?“ Tomoaki blinzelte einmal. Zweimal. Dann wandte er sich wieder seiner Gitarre zu. „… ich sag jetzt einfach nichts dazu.“ „Ok, wie wär’s damit“, schlug Yoshiki vor, der seine Stirn auf die Hand gestützt hatte und aussah wie jemand, der gegen eine Migräne ankämpft. „Wir denken jetzt alle weiter drüber nach und bis wir einen grandiosen Einfall haben, schreib ich hier als Platzhalter einfach mal X, ja?“ „Lame…“, sagte Taiji abfällig. Er duckte sich – es klapperte hinter ihm. „Mann, du musst damit aufhören!“ „REckless Tiresome ARrogant Dumbass!“, fauchte Yoshiki und zog ein neues Paar Sticks aus der Halterung. „Retard!“, kicherte hide anerkennend. „Very nice.“ Taiji warf Yoshiki eine Kusshand zu und begann: „Sweet Kind –“ „Ok, Ende dieses literarischen Höhenflugs!“, bestimmte Yoshiki energisch. „Musik, Gentlemen! Auf!“ „Ist es ok“, meinte Toshi während er sich wieder zum Mikro stellte, „dass ich MINI immer noch nicht verstehe?“ „Naja“, sagte Taiji gespielt nachdenklich. „Du bist der Kleinste von uns.“ hide tauchte weiterhin kichernd zu seinem Verstärker ab und begann, die Höhen zu verstellen. Im Zusammenspiel mit Tomo gefielen sie ihm nicht mehr so gut wie früher. Taiji stand ebenfalls vom Sofa auf und streckte seinen Rücken durch, bevor er sich den Bass wieder umhängte. „Ok Pata, ich hab hier eine Bassline, die vielleicht ein wenig Unterstützung durch Rhythmusgitarre brauchen könnte. Zieh’s dir mal rein.“ Tomoaki drehte die Lautstärke an seiner Gitarre wieder auf. „Bleibt dieses Pata jetzt hängen?“ hide richtete sich auf und grinste ihm zu. „Wäre möglich.“ Er schniefte. Alles roch nach Erdbeermilch. -X- Es war der letzte Schultag des ersten Trimesters, der letzte Tag vor den Sommerferien. Yoshiki und Toshi schlenderten nebeneinander über den Schulhof. „Und das belastet dich wirklich gar nicht?“, fragte Toshi und sah von seinen Unterlagen auf. „Was willst du, ich bin nicht der Schlechteste in der Klasse“, sagte Yoshiki unwirsch. Er hatte seine Krawatte bereits gelockert und das Hemd aus der Hose gezogen. „Da sind sieben Leute zwischen mir und dieser ehrenvollen Position.“ Er tippte auf diese äußerst wichtige Stelle im Zeugnis. „Außerdem, hier: Englisch A. I the man!“ „Ok“, sagte Toshi und tauchte wieder ab. „Dann bin ich beruhigt.“ „Tz“, machte Yoshiki verächtlich. Er lugte Toshi über die Schulter. …Moment mal. „Oh Mann!“ Er beugte sich weiter zu Toshis Zeugnis, dann zurück zu seinem, dann wieder zur Toshis. „Wie kommt es, dass du so viel besser bist als wie ich?!“ „Nun, ich nehme an das kommt daher, dass mich zwischendurch mal zehn Minuten am Abend hingesetzt und was getan hab. Außerdem benutze ich nicht die Konstruktion ‘als wie‘.“ „… Streber“, sagte Yoshiki. Es klang leicht indigniert. Doch dann kam ihm ein Gedanke und sein Gesicht hellte sich etwas auf. „Bestimmt sind die Leute in meiner Klasse einfach viel schlauer als die in deiner.“ „Ja, genau das wird’s sein“, sagte Toshi trocken. „Weißt du, was ich denke? Ich denke, dass du nur unteres Mittelfeld bist, nervt dich mehr, als du zugibst.“ „Und weißt du, was ich denke?“ Yoshiki klappte seine Zeugnismappe zu. „Ich denke: Dango.“ „Aber die Zeremonie beginnt um zwölf.“ Toshi drehte sich zu der großen Uhr über dem Haupteingang. Yoshiki stopfte die Mappe mit einem Schnauben achtlos in seine Tasche. „Jaja, Zeremonie-Schmeremonie. Kommst du oder nicht?“ „Wieso lass ich nur immer zu, dass du mich runterziehst?“ Toshi seufzte und verstaute sein eigenes Zeugnis. Yoshiki legte ihm grinsend einen Arm um die Schulter und dirigierte ihn in Richtung Ausgang. „Weil du das willst.“ -X- Auf der anderen Seite der Stadt klappte hide sein Zeugnis auf. Ihm wurde leicht übel. Er klappte die Mappe wieder zu. Das konnte er zuhause niemals sehen lassen. Wenn zumindest nicht auch noch dabei stünde, wo in der Klasse man mit seinen Leistungen lag! Vielleicht hatte er sich verlesen. Er riskierte einen zweiten Blick. Nein. Das war immer noch da. Es klingelte. Begleitet von einer weiteren Welle aus Übelkeit stand hide auf und packte seine Zeugnismappe in die Tasche. Nicht gut. Gar nicht gut. Einen kurzen Moment lang war ihm, als würde der Raum von innen nach außen gestülpt. Er stützte sich auf den Tisch. „Matsumoto-san?“, drang eine Stimme wie von weit her zu ihm durch. hide sah auf und begegnete dem Blick seiner Klassenlehrerin. „…Ja?“ Er klang glücklicherweise viel ruhiger, als er sich fühlte. „Bleiben Sie doch bitte noch kurz hier…“ Oh Gott... Unbehaglich wartete hide ab, bis seine Klassenkameraden nach draußen verschwunden waren. Frau Yamamoto schloss sachte die Tür und bedeutete ihm dann, sich noch einmal zu setzen. Aus Ermangelung einer Alternative setzte hide sich also wieder hin, auf die äußerste Stuhlkante, um zu zeigen, dass er nicht hier war, um zu bleiben. Seine Lehrerin drehte den Stuhl des normalerweise vor ihm sitzenden Schülers um und setzte sich ihm an dem kleinen Tisch gegenüber. Sie war die junge Generation, gerade erst von der Universität abgegangen, nicht viel älter und zehn Zentimeter kleiner als er und trotzdem eine Respektsperson. Das war sonst seltsam. In dieser Situation war es außergewöhnlich seltsam. „Matsumoto-sa-“, begann sie behutsam. „Ich weiß, dass meine Noten schlecht sind“, fiel hide ihr ins Wort. Er war sich bewusst, dass man das als respektvoller Schüler bei einem Lehrer niemals tun sollte, doch er hielt ihren Tonfall schon nach diesen zwei Wörtern nicht aus. Wenn sie so weiter sprach, fing er am Ende noch das Heulen an. Wut wäre besser – mit Wut konnte er umgehen. „Es tut mir leid, es ist nicht Ihr Unterricht.“ Er schaute erst auf die Tischplatte und, als nichts passierte, langsam wieder nach oben. Sie schien nicht verärgert über seinen Ausrutscher und ihr Blick war eine Spur aufmerksamer, als hide das gefiel. „Das ist es nicht“, sagte sie schließlich. „Matsumoto-san. Das ist nur so ein Gefühl und ich möchte Ihnen nicht zu nahe treten. Aber…“ Sie legte ihre Hände übereinander auf den Tisch und lehnte sich ein kleines Stück nach vorne, mehr wie eine besorgte Freundin als eine Lehrerin. „Ist alles in Ordnung?“ hides Inneres verkrampfte sich. Erster Instinkt: Flucht. Unmöglich. Keine gute Ausrede. Zu auffällig. Zweiter Instinkt: Lügen. Ja. Lügen klappte. hide legte schuldbewusst eine Hand in den Nacken und setzte ein dazu passendes, beschämtes Lächeln auf. „Ja. Natürlich. Ich … ich hab bloß nicht genug getan in letzter Zeit, nehme ich an.“ Ein kurzer Augenaufschlag zeigte ihm, dass das noch nicht reichte. Er beschloss, einen großen Joker zu spielen. Ihrem Blick ausweichend schaute er aus dem Fenster. „Ich hab ein nettes Mädchen getroffen und… das hat irgendwie … nunja. Ich hab mich nicht mehr so auf die Schule konzentriert.“ Er dachte daran, wie die anderen sein Gitarrenspiel gelobt hatten und fühlte, wie er leicht rot anlief. Hervorragend. Gott, ein Schauspieler war an ihm verloren gegangen! Doch ein zweiter Blick zurück zu Frau Yamamoto sagte ihm allerdings, dass es nicht zog. Sie war gut. Sie glaubte ihm nicht. Frauen… Frauen waren gefährlicher als Männer… immer gefährlicher als Männer. hide senkte den Blick wieder zum Tisch und hielt das verlegene Lächeln entschlossen aufrecht. Er hatte diesen Weg eingeschlagen, er würde dabei bleiben. „In Ordnung“, sagte sie schließlich, obwohl sie beide wussten, dass es das nicht war. „Nichtsdestotrotz ist Ihr Notenspiegel in einer Weise bedenklich, die Ihren Abschluss gefährdet. Ich möchte Ihnen raten, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen. Maeda-san ist auch in den Ferien regelmäßig montags hier.“ hides Kopf ruckte nach oben. Er starrte sie an. Das Lächeln fiel ihm aus dem Gesicht und zerbrach auf dem Boden in hundert kleine Stücke. Er schaffte nicht einmal einen ungläubigen Gesichtsausdruck, so überrumpelt war er. Ein Teil von ihm klinkte sich automatisch aus. Das hier passierte irgendwem, irgendwo. Jemand, der ihm fremd war, hatte das schlechteste Zeugnis der Klasse erhalten und war gerade aufgefordert worden, sich beim Beratungslehrer einzufinden. Es betraf ihn nicht... „Das… ist wirklich nicht nötig“, sagte er. Er versuchte, irritiert zu schaffen, doch war sich bewusst, dass seine Stimme gegen Ende ein wenig brach. Reiß dich zusammen, dachte er. Seine Hand hatte sich unwillkürlich auf dem Tisch zur Faust geballt, um das übliche Ritual durchzuziehen, und er zwang sich, sie zu entspannen. Zwei Minuten. In zwei Minuten bist du hier raus. Reiß dich zusammen. Nur 120 Sekunden. Er biss sich mit Absicht auf die Innenseite der Unterlippe. Es blutete. Das half. Frau Yamamoto schüttelte leicht den Kopf. „Ich kann Sie nicht zwingen. Aber denken Sie einfach darüber nach. Es ist nichts dabei. Noch kann man da was machen… Zwei Wochen vor den Prüfungen wird es dann knapp.“ Zu einer Reaktion unfähig, starrte hide sie weitere wertvolle Sekunden untätig an. Was machen… Ja. Nur zu gerne hätte er sie gefragt, woher sie das wissen wollte. Doch er fragte sie nicht. Stattdessen kehrte er schließlich zu dem kleinen Lächeln zurück, das man für Menschen reservierte, denen man Freundlichkeit signalisieren wollte, ohne sie wirklich zu mögen und sagte: „Ich bin dankbar, dass Sie sich Gedanken machen, Sensei.“ hide erhob sich mit einer Verbeugung. „Ich muss jetzt nach Hause. Entschuldigen Sie mich.“ Er nahm seine Sachen und verließ den Raum, ohne noch einmal zurück zu schauen. Der Himmel draußen war strahlend blau. -X- „Na?“, fragte Toshi. „Wie war’s bei dir?“ Er stand in der kleinen Küche am Herd und briet Lachs. „Gut“, sagte sein Bruder und biss in die Dango, die Toshi ihm mitgebracht hatte. Ausnahmsweise kam heute der Nachtisch mal vor dem Hauptgang. Immerhin waren die Sommerferien jetzt offiziell angebrochen, das konnte man wohl auch mal feiern. „Ich hab auf dem Nachhauseweg einen Frosch gefangen. Er war grün und schwarz und gar nicht glibberig.“ „Äh…“, machte Toshi belustigt. Kinder. Schule aus den Augen, Schule aus dem Sinn. Aber gut, wenn ihn das gerade beschäftigte, konnte er wohl auch darüber mit ihm reden. „Und wo ist der Frosch jetzt?“ „Im Schuhkarton unter dem Bett.“ „Oh“, sagte Toshi. „Der Arme. Glaubst du nicht, dass er draußen glücklicher ist? Oder zumindest irgendwo, wo er ein bisschen Sonne abbekommt?“ Hiro schob die Unterlippe ein Stück nach vorn. „Aber ich will noch mit ihm spielen.“ Toshi drehte sich um und lehnte sich an den Herd und schaute nachdenklich. „Mmh, das kann ich verstehen. Frösche sind toll. Aber vielleicht hat dein Frosch Freunde. Die machen sich bestimmt Sorgen, wo er steckt.“ Hiro piekte sein Knie mit dem Holzstäbchen, auf dem die Reismehlkugeln gesteckt hatten und schaute verunsichert. „Glaubst du?“ „Hmm-hmm“, machte Toshi. „Och…“ Es klang enttäuscht. „Na komm“, sagte Toshi aufmunternd. „Lass uns essen und dann holst du deinen Frosch und wir bringen ihn gemeinsam runter zum Fluss. Und bauen einen Damm.“ „Na gut…“ Toshi nickte zufrieden, lud den Lachs zu Reis und Salat auf ihre Teller und setzte sich schräg neben seinen Bruder. „Aber einen Großen!“, legte dieser noch nach, bevor er sich eine Fuhre Fisch in den Mund schaufelte. „Einen Großen“, versprach Toshi. Sie gingen runter zum Fluss, ließen den Frosch frei und dann setzte sich Toshi ans Ufer in den Schatten und sah seinem Bruder dabei zu, wie er im flachen Wasser herumwatete und versuchte, die kleinen Fische zu fangen, die wie silberne Pfeile zwischen den Steinen herumflitzten. Schließlich wurde er aufgefordert mitzumachen und so versuchte auch Toshi sein Glück, bis er schließlich auf einem glitschigen Fels ausrutschte und der Länge nach ins Wasser fiel. Ein spitzer Stein bohrte sich in seinen Rücken, doch ansonsten ging das Ganze glimpflich aus. Sie bauten einen mittelgroßen („riiiiesigen!“) Damm aus kleinen Ästen und Steinen und als sie schließlich über die Felder zurück nach Hause spazierten, stand die Sonne bereits niedrig über dem Horizont und tauchte alles in ein tiefgoldenes Licht. Hiro zog einen Stock hinter sich her, den er am Fluss gefunden hatte. „Gehst du morgen mit mir an den Strand?“ „Morgen ist schlecht“, sagte Toshi. „Wie wäre es mit Montag?“ Sein Bruder nickte großzügig. „Montag ist auch in Ordnung. Gehst du Musik machen?“ Toshi nickte. „Jap.“ Das, oder Yoshiki fand irgendetwas anderes, das absolut nicht warten konnte. „Kann ich mal mitkommen?“ Toshi fiel kein Grund ein, warum nicht. „Klar. Aber lass mich vorher die Anderen fragen, in Ordnung?“ „Uh-hu.“ Sie kamen gleichzeitig mit ihrem Vater zuhause an, der mit seiner Aktentasche in der einen und seinem Bentobeutel in der anderen Hand die Straße hinaufgeschlendert kam und dabei das Gesicht in den Sonnenuntergang hielt. Das mochte Toshi an seinem Vater: Egal wie gestresst er war, er hatte immer noch Zeit, sich… nun ja, Zeit zu lassen. Aber, dachte er weiter, vermutlich war das die Form der Gelassenheit, die man mit drei Kindern entwickeln musste, wenn man nicht wahnsinnig werden wollte. Und es war leider auch die Form der Gelassenheit, die dazu führte, dass man nicht befördert wurde. „Papa!“ Hiro löste sich von seiner Seite und lief dem Mann mit den Geheimratsecken entgegen. Einige Meter vor ihm stellte er sich in eine nicht sonderlich authentische Kendostellung und hob den Stock. „Verteidige dich!“ „Huch!“, rief sein Vater. „Ich hab mein Schwert im Bad liegen lassen! Was bin ich für ein Tollpatsch.“ „Aaaah!“ Hiro stieß einen Angriffslaut aus. Sein Vater hielt einige Stockhiebe mit dem Bentobeutel ab, doch dann piekte ihn der Ast in den Arm. „Uuuurgh!“, machte Toshis Vater und sank, sich die Seite haltend, äußerst dramatisch auf die Knie. „Du bist zu stark! Ich kann nicht gewinnen!“ „Niemals!“ Hiro tanzte jubelnd um ihn herum. Im ersten Stock ging ein Fenster auf. „Was macht ihr denn da?“ Toshis Mutter lehnte sich heraus. „Du ruinierst den Anzug. Lasst den Unsinn und kommt nach oben!“ „Ich kann nicht“, teilte Toshis Vater ihr mit, weiterhin auf den Knien. „Ich bin tödlich verwundet.“ „Kannst du nicht nach dem Abendessen tödlich verwundet sein?“ Toshis Vater sah seinen jüngeren Sohn fragend an. Dieser nickte wohlwollend. „Ja, das geht!“, antwortete er also seiner Frau nach oben. Diese, zufrieden mit diesem Kompromiss, schloss das Fenster wieder. Toshis Vater stand auf und klopfte sich Staub und Steinchen von der Anzughose. Er streckte seinen Rücken. „Uh, ich werde zu alt hierfür.“ „Das macht nichts“, beteuerte Hiro und nahm ihm die Aktentasche ab. „Ich bin ja auch bald erwachsen. Dann mach ich alles.“ „Das ist schön“ sagte sein Vater, während sie die letzten Meter zur Haustür gingen. „Danke. Dann kann ich meine alten Knochen in die Sonne legen und Bonsais züchten und ihnen beim Wachsen zuschauen.“ „Wenn deine Bonsais wachsen, sind sie aber nicht sonderlich gut“, gab Toshi zu bedenken, der hinter den beiden anderen Männern die Treppe nach oben stieg. „Mmh.“ Sein Vater schaute amüsiert. „Vielleicht muss ich diese Idee noch einmal überdenken.“ Toshi schmunzelte und kniete sich neben ihn, um seine Schuhe aufzuknoten. In diesem Moment streckte ein kleines Wesen den Kopf aus der angelehnten Wohnungstür. „Hallo!“, grüßte es einmal in die Runde und schaute dann zu Toshi. „Ich hab dir beim Arzt einen Fisch gemalt!“, sagte sie und reichte ihm ein schon ziemlich knittriges Blatt Papier. Anscheinend konnte das keine zehn Sekunden warten. „Ooooh“, sagte Toshi noch in der Hocke bewundernd, während er versuchte, in dem Linienwirrwarr irgendwo besagten Fisch zu finden. „Der ist ja schön. Danke. Den häng ich an die Wand.“ „Jaaaa!“ „Und wo ist mein Fisch?“, fragte sein Vater voll gespielter Entrüstung. Akimi kicherte albern. Hinter dem Mädchen erschien seine Mutter im Flur und nahm Aktentasche und Bentobeutel entgegen. „Guten Abend miteinander. Na, ist hier alles gut gegangen?“ „Ja“, sagte Toshi, dem die letzte Frage galt und zog sich endlich die Schuhe aus. „Ich kann Dinge in Pfannen legen, Mama.“ „Ich frag ja nur.“ Sie strich ihm einmal über die Haare, während er noch unten war. „Alles in bester Ordnung.“ Toshi nahm ihre Hand von seinem Kopf und stand auf. Seine Mutter lächelte. „Danke. Ich weiß auch nicht, warum sie immer im Sommer krank wird.“ Akimi hustete unterstützend. Es klang wie das Bellen eines kleinen Hundes. „Es macht mir nichts“, versicherte Toshi. „Toshi hat gesagt, dass ich meinen Frosch wieder wegtun muss“, präsentierte Hiro seiner Mutter den leeren Schuhkarton und seine Version der Geschichte. „Jetzt kann ich ihn dir nicht mehr zeigen.“ „Oh. Na, vielleicht hatte dein Frosch Freunde. Die sind jetzt sicher froh, dass er wieder da ist.“ Hiro verzog das Gesicht und schaute misstrauisch, bevor er sich mit einem „Das hat er auch gesagt“ an ihr vorbei in die Wohnung schob. Eine halbe Stunde später saß Toshi mit seinen Geschwistern und seinem Vater am Tisch, während seine Mutter die Reste eines leichten, sommerlichen Abendessens abräumte. „Na, das geht ja“, sagte sein Vater gerade und setzte Siegel und Unterschrift unter Toshis Zeugnis. „Finde ich auch“, antwortete dieser und nahm die Mappe entgegen. Er hatte zwar keine grandiosen Zensuren, aber dafür standen viele nette Dinge in der Kommentarspalte und das wog einiges auf. Oder zumindest hoffte er das. Arzt würde er aber eindeutig nicht mehr werden. Neben ihm reichte Hiro seinem Vater seine Zeugnismappe über den Tisch. „Ich bin toll in Werken!“ „Dann wollen wir doch da mal gucken. Jaaa, ich seh schon, ganz toll in Werken! Und hier steht, du hast viel Energie und viele Freunde. Aber wie wäre es, wenn du nach den Ferien ein bisschen was von dieser Energie in Lesen stecken würdest, mmh?“ Sein Vater setzte Siegelstempel und Namenszug auch unter Hiros Zeugnis. „Lesen ist so anstrengend. Die Zeichen sehen alle gleich aus“, maulte Hiro. Toshi stimmte ihm in Gedanken zu. Vielleicht war das ja doch eine genetische Sache. „Ach, aber Lesen ist toll! Da gibt es so viele schöne Geschichten!“, versuchte seine Mutter von der Küchenzeile aus die kreative Tour. „Wie wäre es, wenn wir in die Bücherei gehen und nach Büchern über Samurai suchen, mmh? Du magst doch Samurai.“ „Vielleiiiicht“, sagte Hiro gedehnt. Toshi schmunzelte: als hätte er eine Wahl… Doch es kam niemand mehr dazu, auf etwas mehr Begeisterung zu pochen, denn eine laute Mädchenstimmte klinkte sich ein: „Nächstes Jahr krieg ich auch ein Zeugnis!“ „Ja, dann gehst du in die Schule und bekommst auch ein Zeugnis“, stimmte Toshis Vater ihr zu. „Und wer strengt sich dann ganz doll an?“ „Iiiich!“ Akimi warf sich in Pose. „Aber ich hab heute auch schon tolle Sachen gemacht!“ „Ah ja?“ „Ja! Ich hab ein Bild von Mama gemalt und ein schönes Lied gesungen und einen Käfer gegessen!“ Toshi musste lachen. Sein Vater riss sich mühsam zusammen und sagte halbernst: „Dann waren wir ja alle erfolgreich! Naaa, wer will Kuchen?“ „Ich will Kuchen!“, rief Hiro. „Kuchen!“, quäkte Akimi. „Wir wollen Kuchen-Kuchen-Kuchen, wollen Kuchen-Kuchen-Kuchen~“, sang Toshis Vater. Seine Mutter sah mit einem nachsichtigen Lächeln über die Schulter zum Tisch und hielt sich einen Finger an den Mund. „Nachbarn“, sagte sie leise und drehte sich wieder zur Anrichte. „Wir wollen Kuchen!“, flüsterte Toshis Vater verschwörerisch. Akimi nickte feierlich. „Kuchen!“, flüsterte sie zurück. -X- hide lag im Proberaum auf dem Sofa und nippte an einem Bier. Das half nicht. Vielleicht hätte er lieber etwas essen sollen. Doch schon allein der Gedanke drehte ihm den Magen um. Aber eigentlich tat das Bier das auch. hide lehnte sich zur Seite, stellte die Dose vor dem Sofa auf den Boden und richtete die Gitarre in seinem Arm ein paar Grad auf. Lustlos spielte er ein paar Takte Deep Purple und dann ein paar aus einem noch namenlosen Song aus der Hand von Taiji. Nichts. Es fühlte sich falsch an. Vielleicht, weil es nicht von ihm war. hide spielte den ersten Teil eines Solos, an dem er arbeitete – es hatte keinen Platz gefunden, aber irgendwann würde er es sicher mal brauchen. Man konnte nie genug Soli in der Hinterhand haben, für Konzerte und peinliche Stillen beispielsweise. An der Stelle, an der er hing, ging es auch heute nicht weiter. hide lauschte auf der Suche nach einer Idee in sich hinein. Nichts. Da war immer noch ein seltsamer Druck, der von innen gegen seine Rippen zu pressen schien. Wie ein Ballon. Er wünschte sich, er könne irgendetwas tun, um den Ballon zum Verschwinden zu bringen, doch er wusste nicht, was. Er war nicht wütend genug, um zu schreien und er war nicht traurig genug, um zu weinen. Innerhalb des Ballons, wo eigentlich Gefühle sein sollten, war eine große Leere. hide setzte sich auf die vordere Ecke des Sofas und stützte über seine Gitarre hinweg den Kopf auf die rechte Hand. Er fühlte sich müde. Mit einem Seufzen beugte er sich nach unten und angelte nach der Dose. Es half vielleicht nicht… aber es machte es auch nicht schlimmer. -X- Es war kühl und still. Das Umblättern von Seiten war deswegen nur zu gut zu hören, genau wie das Ticken der Uhr an der Wand und sogar das ferne Zirpen einiger Zikaden in den Sträuchern vor der Tür. Schließlich erklang ein Seufzen. „Ach Yoshiki…“ „Was?“, fragte dieser fast vorwurfsvoll, vielleicht um seiner Mutter mit diesem Tonfall zuvorzukommen. Er saß im Laden der Familie in einem der Wartesessel und drehte seine Krawatte in den Händen. „Magst du dich nicht ein bisschen mehr anstrengen?“ „Ich bestehe“, antwortete Yoshiki bissig. „Das ist das Wichtigste, oder nicht?“ „Ja, aber hier… die Kommentare! Da steht du erscheinst häufig zu spät oder gar nicht zum Unterricht, legst keinen Wert auf ein gepflegtes Äußeres und bist deinen Mitschülern und den Lehrern gegenüber unhöflich.“ „Respektlos“, korrigierte Yoshiki. „Da steht respektlos.“ Seine Mutter senkte das Zeugnis. „Schatz…“ Yoshiki konnte spüren, wie es in im hochkochte. Er warf seine Krawatte neben sich auf den Boden zu seinen Schulsachen. „Was? Ich geh hin und ich zieh’s irgendwie durch! Mehr kannst du echt nicht verlangen!“ „Und wir atmen ein und zählen bis zehn…“, sagte seine Mutter besänftigend. Yoshiki spannte die Unterarme an, vielleicht in der Erwartung, gleich aufzuspringen und … irgendetwas zu tun, doch etwas in ihrem Blick hob den Deckel vom Topf, ließ Dampf entweichen und das Brodeln wurde schwächer. Er entspannte die Muskeln in den Armen, atmete ein und zählte bis zehn und atmete wieder aus. „Ok“, sagte er dann. „Ich bin ruhig. Es tut mir leid, dass ich dich angefahren habe und es tut mir leid, dass diese Sachen da drin stehen.“ Sein Blick wanderte über die farbenfrohen Muster der Sommerkimonos und die dunkleren Stoffe für die Herren. „Schatz…“ Seine Mutter kam um die Ladentheke herum. „Ich weiß ja, dass du deine Musik machen willst. Aber versuch es zumindest ein bisschen, mmh?“ „Wieso?“, fragte Yoshiki und hob den Blick von einem dunkelblauen Yukata mit Wellenmuster. Dieses Jahr waren wassernahe Themen in Mode. „Weil du glaubst, dass es nichts wird und ich dann doch einen Abschluss brauche?“ Meer. Schilf. Fische. Seine Mutter blieb ein paar Sekunden vor ihm stehen, als wolle sie eine Predigt halten, doch besann sich dann eines Besseren und ging zu einer Schaufensterpuppe hinüber, um die kunstvoll drapierten Falten des Kimonos zurecht zu zupfen. „Yoshiki, ich unterstütze dich bei allem, was du tust“, sagte sie währenddessen. „Und das ist manchmal nicht einfach. Aber Pünktlichkeit und Respekt sind mir wichtig. So hab ich dich erzogen und so kenne ich dich und ich frage mich, warum das jedes Mal wieder da steht. Das ist alles.“ Yoshiki lehnte sich im Sessel zurück und kaute auf seiner Unterlippe. „Ich mach das nicht mit Absicht…“, murmelte er schließlich. „Wieso machst du es dann?“ „Ich weiß es nicht, ok?!“ Die Worte brachen etwas lauter heraus, als er beabsichtigt hatte und wirkten durch die Stille, die sich sofort wieder über den Laden senkte, noch unangebrachter. Seine Mutter wanderte weiter zur nächsten Puppe, diesmal eine für Herren in einem schönen Seegrün. Sie hielt die Stille aus, bis Yoshiki meinte, die Spannung im Raum würde ihn gleich auf fünfhundert Volt grillen. Dann sagte sie bedacht: „Schatz, ich mache dir keine Vorwürfe. Ich versuche nur, es zu verstehen.“ Das war das Wunderbare und das Schlimme an seiner Mutter, dachte Yoshiki mit einem stillen Seufzen, man konnte sich einfach nicht ordentlich mit ihr streiten. Manchmal fragte er sich, wie wohl ein anderer Mann im Haushalt der Hayashis mit dem umgehen würde, was von außen schon sämtliche Betitelungen von Aggressionsproblem über Pubertäre Rebellion bis hin zu Viel zu lasche Erziehung erfahren hatte. Er wusste, dass diese Kommentare seine Mutter belasteten, denn sie schienen zu beweisen, was besorgte und böse Stimmen schon seit Jahren behaupteten: dass eine alleinerziehende, berufstätige Frau nicht in der Lage sein konnte, einen anständigen Menschen heranzuziehen. Doch es brachte nichts, darüber nachzudenken. Yoshiki stützte den Kopf auf den Arm und diesen auf die Lehne. „Ich weiß nicht…“, sagte er dann. „Es ist einfach… die Schule. Alles da ist Zwang. Und wofür? Dafür, dass man danach an die Uni geht, wo auch alles Zwang ist und in die Firma, wo man auch nur arbeitet und arbeitet und dann ist man tot. Ständig steht einer hinter dir und beurteilt, was du machst und wie du es machst und ob du es so machst wie alle anderen. Manchmal frag ich mich, ob dann auch noch jemand neben meinem Grab steht und sagt: ‘Uh, Hayashi, so gehört sich das aber nicht.‘ Und dann sagen sie, dass einem das irgendwie dabei hilft, seinen Platz im Leben zu finden. Das ist Scheiße! – Ja, ‘Tschuldige Mama… Aber ich meine – was bilden die sich ein, jemandem – mir – sagen zu können, wo mein Platz ist? Oder wie man den auszufüllen hat? Ich bin doch keine drei Jahre mehr alt! Ich kann selbst entscheiden, wann ich was machen will und wie, und was zu tun mir was bringt und was nicht. Also… mir die Haare auf eine bestimmte Länge schneiden und das Hemd reinstecken und nicht sagen, was ich denke, nur weil es nicht die Meinung ist, die ich haben sollte - Ich weiß nicht genau, was Leben ausmacht… aber das ist es nicht.“ Yoshiki hatte sich nach vorne gelehnt, mit den Ellenbogen auf den Knien, und betrachtete seine Füße in den blank polierten schwarzen Schuhen. „Ich weiß, dass du dir was Besseres von mir wünscht und es tut mir leid. Aber ich hasse jeden einzelnen Tag dort. Nicht mal den Unterricht, sondern alles außen herum. Ich will nicht bestimmt bekommen, was ich zu sein habe. Ich will nichts… ausfüllen… Die Welt soll nicht mich machen, sondern ich die Welt. Und alles, was die Schule und alles jeden Tag versucht, ist uns einreden zu wollen, dass das nicht geht. Dass man sich selbst passend machen muss, anstatt…“ Yoshikis Gedanken holten seine Worte ein und er brach ab. „… Entschuldigung. Das war jetzt so ein Schwall. Und vermutlich hat es nicht mal Sinn gemacht…“ Irgendwann während seiner kleinen Rede hatte seine Mutter die Kimonos verlassen und stand nun doch vor ihm, die Hände vor dem Körper übereinandergelegt. „Und warum bist du wütend? Weil ich dich hinschicke?“ Am liebsten hätte er mit einem Schulterzucken geantwortet. Denn alles andere bedeutete, dass er erst einmal in sich gehen musste und das erschien ihm irgendwie wie sehr viel emotionaler Aufwand. Yoshiki hatte die Schultern bereits gehoben, doch wie sie da so vor ihm stand, seltsam verloren in ihrem azurblauen Kimono mit den Kranichen, die majestätisch aus einem Sumpf aufflogen, fühlte er sich auf einmal, als wäre er ihr das schuldig. „Nein“, sagte er also schließlich. „Ich bin nicht wütend. Ich mach mir manchmal Sorgen, dass sie vielleicht Recht haben. Aber ich will lieber nicht drüber nachdenken. Können wir das Thema wechseln?“ Seine Mutter machte noch zwei ihrer kleinen Schritte in seine Richtung und stand nun neben dem Stuhl. „Ja…“, antwortete sie nach einigen Sekunden. „Mein nächster Termin kommt gleich. Tu mir einen Gefallen: Wenn du nach Hause kommst, nimm bitte das Fleisch aus dem Gefrierfach. Dann machen wir später Fondue, mmh?“ Sie küsste ihn auf den Kopf – etwas, das sie sonst nie machte, weil sie nicht hinaufreichte. Etwas Unausgesprochenes lag in dieser Geste und einen Moment lang lehnte er den Kopf an ihre schmale Figur. Sie roch nach Mandelblüten und Flieder und für einige Herzschläge bildete sie das kleine warme Zentrum der Welt. Yoshiki spürte, wie sich Muskeln in seinem Nacken entspannten, von denen er nicht gewusst hatte, dass sie existierten. Er seufzte leise und beendete den Moment dadurch, dass er sich wieder aufrecht hinsetzte. „Danke. Ich fühl mich besser…“ „Gut. Dann kannst du ja jetzt dein Zimmer aufräumen.“ Yoshiki runzelte die Stirn. „Wie kommt es, dass egal wie unsere Gespräche beginnen, sie immer damit enden, dass ich mein Zimmer aufräumen soll?“ Seine Mutter lächelte sanft und strich ihm die Haare aus dem Gesicht. „Das ist eines der großen Mysterien des Lebens.“ Die Ladenglocke bimmelte fröhlich und seine Mutter wandte sich in Richtung Eingang, um die junge Frau zu begrüßen. „Da ist ja unsere glückliche Braut!“ Yoshiki griff im Vorbeigehen sein Zeugnis von der Ladentheke und verzog sich unauffällig. -X- Es war Punkt zehn, als hide sich zwischen den Tischen hindurch zum Tresen schob. Es war einer von den anstrengenden Freitagen. „Du bist ja doch hier“, sagte sein Vater, der gerade einen Whiskey on the Rocks einschenkte. „Du hast gesagt, dass ich helfen soll, also bin ich da“, versetzte hide neutral und nahm seiner Mutter ihr Tablett ab. Bevor noch etwas nachkommen konnte, machte er sich lieber ans Bedienen. Er lieferte die Getränke ab und nahm noch drei Bestellungen auf. Leider konnte er den Rückweg zum Tresen nicht ewig vor sich herschieben. Er tauschte seine leeren Gläser und den Zettel mit den Bestellungen so schnell und beschäftigt er konnte gegen die neuen Getränke aus. Es war nicht schnell genug. Gerade wollte er wieder gehen, als ihn eine Hand am Oberarm zurückhielt. Er zuckte und die Getränke schwappten über, auf das Tablett und seine linke Hand. Doch das entging der Aufmerksamkeit seines Vaters gerade. Dieser fragte, über den Geräuschpegel im Hintergrund hinweg kaum hörbar: „Und, wie schaut’s aus?“ „… Zeugnis?“, fragte hide zurück. Ihm war vollkommen klar, warum es ging, doch das kaufte ihm Zeit. Und wenn es sich nur um Sekunden handelte. Ein knappes Nicken antwortete ihm. hide schluckte. Er musste jetzt irgendetwas darauf sagen. Und es konnte nicht die Wahrheit sein. Er öffnete den Mund und hörte sich erklären: „Oh… es… sie hatten technische Probleme und schicken es zu.“ In dem Moment, in dem er es sagte, erschrak er ein wenig über seine eigene Dreistigkeit. Aus dieser Nummer kam er auf keinen Fall raus. Es gab keine Variante hiervon, die gut enden konnte. Doch der Leere war das egal. Was passierte, passierte. Was auch immer. Die Sekunden zogen sich. hide stellte eine Kante des Tabletts zurück auf den Tresen, weil ihm die Arme weh zu tun begannen und wischte sich die feuchten Finger an der Hose ab. Obwohl ihm sein Kopf und sein Inneres ruhig und kalt erschienen, erwischte er seine Hände dabei, wie sie zitterten. Er griff das Tablett fester, so fest, dass die Kanten ihm in die Finger schnitten. „… lügst du mich an?“ Die Leere erwiderte den Blick des älteren Mannes ohne zu zögern und ohne jegliches Schuldbewusstsein. „Nein.“ Eine kleine Ewigkeit hielten sie den Blickkontakt aufrecht. Dann nickte sein Vater einmal. Nicht überzeugt, doch hide befand es als ausreichend. Jedes Zeichen, dass diese Unterhaltung vorbei war, war ausreichend. Er wandte sich ab, um sich wieder an die Arbeit zu machen. Seine Hände waren jetzt ruhig. -X- „Sommerferien“, sagte Yoshiki, „sind die geilste Erfindung der Menschheit.“ Es war Dienstagnachmittag. Gerade lagen sie im Sand, machten Mittagspause und freuten sich darüber, dass es nichts gab, was sie stattdessen hätten tun müssen. Sie waren nicht allein am Strand, aber darüber konnte man hinwegsehen – es war warm und sonnig und die Luft schmeckte nach Salz und Sommer und Freiheit. „Und es sind deine letzten“, sagte Taiji dumpf. Er lag neben hide und hatte sich seinen Hut gegen die Mittagssonne aufs Gesicht gelegt. „Ja!“, sagte Yoshiki fröhlich und ließ ein wenig Sand durch seine Finger rieseln. „Ich weiß! Bald heißt es: nie wieder Hausaufgaben, nie wieder Clubs, nie wieder Schuluniform, nie wieder Putzen…“ „Nie wieder ‘Hayashi, schneiden Sie sich endlich die Haare, Sie sehen aus wie ein Mädchen‘ …“, führte Toshi fort, der durch den warmen Sand zu ihnen hinüber gekommen war. Tomoaki lachte leise. Yoshiki verzog das Gesicht und blinzelte nach oben gegen den hellen Sommerhimmel, um Toshi einen Blick zuzuwerfen. „Wenn ich jedes Mal, wenn mir jemand das gesagt hat, einen Yen bekommen hätte, hätte ich heute keine Probleme mehr.“ Mit einem halben Grinsen ließ sich Toshi neben ihn in den Sand fallen. „Hier“, sagte er und reichte ihm eine Box. Yoshiki schaute sie zweifelnd an. „Was ist das denn?“ „Bento von deiner Mutter. Sie sagte, ich soll es dir geben und dich daran erinnern, es auch zu essen. Also iss.“ Yoshiki runzelte die Stirn, öffnete aber die Bentobox – wenn auch nur, um den Inhalt auf seine Herkunft zu überprüfen. Tatsache. Die Omeletts mit dem Nori waren eindeutig die seiner Mutter. „Wann hat sie dir das gegeben?“ „Tja, da schaust du. Deine Mutter und ich, wir sind so.“ Toshi klemmte den Mittelfinger hinter den Zeigefinger, um die optimale Zusammenarbeit zu symbolisieren. „Also wenn jemand so von meiner Mutter reden würde“, sagte Taiji gemütlich von unter seinem Hut, „würde mir das zu denken geben.“ Toshi brauchte ein paar Sekunden, um zu schalten. Dann jedoch zeigte er das angemessene Ausmaß an Entrüstung. „Urgh! Doch nicht so, das hab ich nicht gemeint!“ Yoshiki schubste ihn. „He! Was soll denn bitte Urgh bedeuten?“ Toshi hob abwehrend die Hände: „Nichts. Deine Mutter ist eine attraktive Frau für ihr Alter.“ „Urgh!“, machte Yoshiki. Toshi seufzte. „Ich kann einfach nicht gewinnen.“ Taiji nahm seinen Hut vom Gesicht und setzte sich lachend auf: „Nein.“ Er streckte eine Hand in Yoshikis Richtung. „Falls du welche von diesen geilen Tofu-Röllchen hast – und wir kennen die Antwort beide – reich rüber.“ Toshi schaute missbilligend an Yoshiki vorbei. „Taiji, er soll das selbst essen!“ Der Gemaßregelte machte eine Handbewegung, als würde er eine Peitsche schwingen und ein dazu passendes Geräusch. „Sag bitte“, setzte sich Yoshiki über die Anweisung hinweg. „Liebes Bitti-Bitte mit Zucker drüber.“ Taiji versuchte einen Augenaufschlag, der kläglich misslang. Yoshiki reichte ihm zwei Tofu-Röllchen und Toshi seufzte. „Ich kämpfe gegen Windmühlen.“ „… Willst du auch eins?“, fragte ihn Yoshiki. „…Ja.“ Taiji hatte in der Zwischenzeit von einem seiner Röllchen abgebissen und drehte sich zu seiner anderen Seite, um hide das zweite hinzuhalten. „hide?“, fragte er nach einigen Sekunden ohne Reaktion. „Mmh?“ hide sah von der kleinen Muschel auf, die er auf seinen Zeigefinger gesetzt hatte. „Oh, danke… Aber… Nein, danke…“ „Ist alles in Ordnung?“, fragte Toshi. „Du bist schon den ganzen Tag so abwesend.“ „Ich… hab wenig geschlafen“, sagte hide und schnippte die Muschel zurück in den Sand. „Ich bin nur müde…“ „Mmh-Kay“, sagte Taiji. „Übrigens“, wandte er sich an die anderen, „ich hab mit einem Typen geredet, den ich über meine alte Band kenne. Er meinte, wenn wir eine Stunde voll kriegen, können wir bei ihm spielen. Nichts Großes, kleine Bar in Yokohama. Aber trotzdem.“ Yoshiki sah überrascht von seinem Bento hoch. „Wirklich?“ „Ja.“ Taiji setzte den Hut ab, wischte sich einmal über die Stirn und setzte den Hut wieder auf. „Warum überrascht dich das so?“ „Oh, ich … keine Ahnung. Ich hatte nicht erwartet, dass mir mal was in die Hände fällt.“ „Tut es nicht. Ich hab es reingelegt, du Vollhorst. Sei dankbar.“ „Und da geht er hin, dieser Moment, in dem ich dich fast mochte“, murmelte Yoshiki und wandte sich wieder seinen Mangostückchen zu. Taiji grinste. -X- Die Probe an diesem Tag war seltsam. Schon der Samstag war hide schwer gefallen, doch heute, heute war eine Million Mal schlimmer. Alles erschien ihm falsch und merkwürdig, und er konnte sich nicht einmal darüber begeistern, wie schön sich Patas – er bekam diesen blöden Witz einfach nicht mehr aus seinem Kopf – Sound an seinen schmuste. Er fühlte es heute einfach nicht. An irgendeinem Punkt gab hide es auf und ging danach nur noch mechanisch die Griffe durch. Nach dem dritten sehr mittelmäßigen Song kehrte eine kleine Stille ein und brachte eine etwas gedrückte Stimmung als Begleitung mit. „Also irgendwie“, meinte Taiji schließlich als Erster, „rockt das heute so gar nicht.“ „Ne“, stimmte Yoshiki zu. Er trommelte unzufrieden mit seinen langen Fingern auf der Floor Tom. Toshi zuckte mit den Schultern. „Es gibt wohl solche Tage… Nehme ich an. Nächstes Mal wieder.“ „Nanana“, machte Taiji und schüttelte den Kopf. „Wenn was scheiße ist, gibt es dafür immer einen guten Grund. Und ok, Yoshiki verpasst ständig seinen Einsatz nach dem zweiten Refrain-“ „HE!“ „- aber heute ist es noch was anderes. Es ist ene, mene, du!“ Er hatte reihum auf Toshi und Pata gedeutet und war schließlich in seinem abgewandelten Abzählreim bei hide hängen geblieben. „Was ist los?“, fragte Taiji ihren Gitarristen, der nach dem Ende des Liedes auf die Armlehne des Sofas gesunken war. „Verdammt, ich hab doch gesagt, ich bin müde!“, erwiderte hide bissig und wich seinem Blick aus. Taiji runzelte irritiert die Stirn. hide knirschte mit den Zähnen. Flucht – keine Option. Lügen – nicht gut genug. Gegenangriff. „Außerdem kann ich auch nichts dafür, dass Yoshikis Triolen sich mit deinem Bassriff beißen!“ Yoshikis Gesichtsausdruck machte einen kurzen Wechsel von Bestürzung über Irritation hin zu offensichtlicher Kränkung durch. „… was?“, fragte er schließlich. Er war weniger verletzt durch die Worte – denn das hatte er selbst gemerkt - als davon, dass sie von hide kamen. Dieser griff sich an die Stirn. Was zum Henker tat er hier?! Auf einmal hatte er tierische Kopfschmerzen. „Ich… Entschuldigung. Mir ist nicht gut. Ich glaub ich geh nach Hause und leg mich hin.“ Er zog sich den Gurt über den Kopf und stand auf, um die Gitarre abzustellen. „Uhm… in Ordnung…“, sagte Yoshiki zögerlich. „Soll dich jemand begleiten?“ hide schüttelte den Kopf und griff seine Jacke von der Sofalehne. Eine Sekunde verspürte er den Drang, Yoshiki ins Gesicht zu schlagen, ohne genau zu wissen warum. Er musste hier raus. Sich den Anwandlungen seines Gitarristen nicht im Geringsten bewusst, wandte sich Yoshiki an den Rest. „Ok. Wir machen weiter.“ hide öffnete die Tür. „Sicher?“, fragte Toshi. hide warf ein Lächeln über die Schulter. „Alles gut. Ein paar Stunden Nickerchen und eine Orange und bis Donnerstag bin ich so gut wie neu. Also… bis dann.“ Er glitt auf den Gang hinaus. „Gute Besser-“, hörte er noch Toshis Stimme. Einen kurzen Moment wollte er sich noch einmal umdrehen und ihm sagen, wo er sich das hinstecken konnte, dann fiel die Tür zu. Zum Glück. -X- hide ging nach Hause, aß eine Orange und legte sich hin. Doch er war am Donnerstag nicht wie neu und am Sonntag sagte er lieber von vorne herein ab. Am Dienstag legte er nach und meldete sich auch für Mittwoch krank. Ihm gingen die Erklärungen aus, wieso es nicht besser wurde, doch inzwischen wusste er, was ihn nervte: Mit Besorgnis konnte er nicht umgehen. Sie machte ihn aggressiv, weil… weil eben, und er wollte um jeden Preis vermeiden, Yoshiki oder Toshi oder wer auch immer sich Sorgen machte an die Gurgel zu springen. Es war am sichersten, wenn er sie einfach erstmal nicht sah. Die Woche zog wie in einem Nebel an ihm vorbei. Rückblickend konnte hide am Ende eines Tages meist nicht genau sagen, wie er ihn eigentlich verbracht hatte oder warum. Trotzdem war er jeden Abend hundemüde, schlief danach aber schlecht und wachte am nächsten Morgen noch abgespannter auf, als er ins Bett gegangen war. Jeder Tag schien irgendwie gleich und vor allem gleich anstrengend. Als er am Donnerstag in der zweiten Ferienwoche die Augen aufschlug, fühlte er sich elend. Es zeichnete sich langsam aber sicher ab, dachte hide, während er in der Küche ein Ei unter seinen Reis rührte, dass dieses Problem eindeutig keines von der Sorte war, das von selbst wegging, wenn man es ignorierte. Das konnte nicht so bleiben. Doch er hatte keine Lösung. Die Wahrheit war keine Option. Und es war verwunderlich, wie wenig nach dieser Feststellung noch an Alternativen übrig blieb. Er frühstückte ohne Appetit und schaute dann unten im Erdgeschoss vorbei, wo seine Eltern gerade die Bar durchputzten. Sie schickten ihn Einkaufen und das war ihm eigentlich ganz recht – er wusste ohnehin nicht wirklich etwas mit sich anzufangen. Er machte sich auf den Weg in die Stadt. Er ging im Gemüseladen, beim Gemischtwarenladen und im Elektrogeschäft vorbei. Er dachte darüber nach, Yoshiki anzurufen und ihm zu sagen, dass er es auch am Samstag nicht schaffte. Als er eine Dreiviertelstunde später zurückkam, fühlte er sich schon wieder so, als könne der Tag jetzt eigentlich mal zu Ende sein. Unten lag die Bar inzwischen sauber und still da. Er erklomm die Treppe, sperrte die Haustür auf und rief einen Gruß in die Wohnung, während er aus den Schuhen schlüpfte. „Ich hab alles außer Glühbirnen“, sagte er dann etwas lauter und massierte sich noch ein paar Sekunden im Flur die Schläfen, bevor er die paar Schritte bis zur Küche zurücklegte. Ein Teil von ihm spielte mit dem Gedanken, sich jetzt noch einmal hinlegen, doch dann verschlief er wieder den ganzen Tag. Das war auch keine Lösung. „Aber Herr Kobayashi meinte, heute Nachmittag bekommt er wieder welche, ich geh dann no-“ Er betrat die Küche und erstarrte noch in der Tür. Sein Vater saß am Tisch und wartete. „Willkommen zurück“, sagte er. Kapitel 6: Why Can't You Be Happy at the Emerald Bar ---------------------------------------------------- “Willkommen zurück”, sagte der Mann am Tisch. „Ich habe einige sehr interessante Dinge gelernt, während du weg warst. Möchtest du wissen, welche das waren?“ Unfähig sich zu rühren stand hide in der Küchentür, während er verarbeitete, was er dort vor sich sah. Vater. Tisch. Ein Bier. Qualitativ hochwertige Papierbögen. Obwohl es auf dem Kopf stand, erkannte er seine Zeugnisunterlagen. Seinen Namen. Buchstaben von C bis F. Das Siegel der Schule. Sein Innerstes zog sich erst schmerzhaft zusammen und gefror dann zu Eis. Kalter Schweiß brach ihm aus. Der ältere Mann sah ihn noch eine wie es schien genau bemessene Zeiteinheit lang abwartend an, bevor er die Stimme wieder erhob. „Ich fand das mit dem Zuschicken schon die ganze Zeit merkwürdig. Und es stellt sich raus, mein eigener Sohn lügt mich an. Aber darüber reden wir später.“ Er tippte auffordernd auf das Zeugnis. „Erklär mir das.“ Während ein Teil von hide noch starrte und lautlos die Lippen bewegte, war ein anderer verzweifelt dabei, eine mögliche Antwort zu finden. Eine Entschuldigung war das einzige, das ihm einfiel. Doch die Worte, die stattdessen aus seinem Mund kamen waren: „Du… du warst an meinen Sachen?“ Sein Vater klopfte zweimal mit den Fingern auf den Tisch. „Tu jetzt bloß nicht entrüstet, Sportsfreund. Erklär mir das.“ Er war ruhig. Er war erschreckend ruhig. hide schluckte. Das war der Zeitpunkt, sich umzudrehen und zu sehen, dass er weg kam. Doch seine Beine reagierten nicht auf die Aufforderungen seines Hirns – vielleicht, weil er ihnen nicht genau sagen konnte, wohin sie denn rennen sollten. Es gab keinen Ort, an den man vor sich selbst fliehen konnte. Er senkte die Augen zu seinen Unterlagen. Erklären… was wollte man da erklären? „…Ich hab es wirklich versucht“, sagte er schließlich leise. „Aber ich schaff es nicht.“ Sein Vater lehnte sich ein wenig zurück und sah ihn jetzt eindeutig finster an. „Du hast schon das letzte Jahr zweimal gemacht. Man sollte doch meinen, das würde bei einem durchschnittlich intelligenten Menschen was bringen.“ hide sagte nichts und biss sich stattdessen auf die Unterlippe. Das war wieder eine dieser rhetorischen Aussagen, auf die jede Antwort falsch war. Sein Vater hob die Augenbrauen und zog ein anderes Blatt aus dem Stapel. „Also gut. Du willst nicht darüber reden? Dann besprechen wir doch mal, wann ich das hier zur Kenntnis genommen habe. Immerhin habe ich hier eindeutig schon unterschrieben.“ Er hielt das Blatt kurz in Richtung hide und schaute dann selbst noch einmal gespielt überrascht darauf, bevor er es zurück auf den Tisch legte. „Da stellt sich mir die Frage, was ich in den letzten Jahren vielleicht sonst noch so alles unterschrieben habe.“ hide starrte auf den Boden vor seinen Füßen und schüttelte leicht den Kopf. „Hideto“, sagte der ältere Mann scharf. hide hörte auf, auf seiner Unterlippe herumzukauen. Er atmete einmal zittrig durch. „Ich… nur… weil ich nicht wollte, dass ihr enttäuscht seid.“ Sein Vater stützte sich schwer auf den Tisch und er lehnte sich ein Stück nach vorn. „Enttäuscht? Als du damals durchgefallen bist, da war ich enttäuscht. Jetzt bin ich stinksauer.“ Seine Stimme wurde ein Stück lauter und vor allem gereizter. „Ich meine, was bildest du dir ein? Du rennst hinter meinem Rücken rum, fälscht meine Unterschrift und lügst mir ohne Scham ins Gesicht! Für wie bescheuert hältst du mich, huh?“ Nein, er konnte nicht damit aufhören, seine Unterlippe aufzubeißen. Genauso, wie er es nicht schaffte, die Augen vom Boden zu heben und dem durchdringenden Blick des anderen Mannes zu begegnen. Sein Vater atmete durch und nahm die Handflächen von der Tischplatte und legte sie vor dem Unterbauch ineinander. „In Ordnung“, sagte er dann, wieder ruhiger. Es war wirklich diese Ruhe, die hide einen eisigen Schauer über den Rücken jagte. „Ich sag dir jetzt, wie es in Zukunft hier laufen wird. Du kommst nach dem Unterricht direkt nach Hause und dann will ich dich auf dem Hintern sitzen und was tun sehen. Kein Herumtrödeln, kein Fernsehen, keine Gitarre. Du zeigst mir alles, was aus der Schule kommt. Und wenn ich noch einmal merke, dass du mir irgendwas verheimlichst, dann wird es richtig ungemütlich, Freundchen.“ … wie jetzt? Das war alles? hide hob den Blick langsam und äußerst misstrauisch. Er traute dem Frieden nicht. Das hier lief zu glatt. Doch wonach auch immer er suchte, er fand es nicht. Genauso zögernd, wie er ihn gehoben hatte, senkte er den Blick wieder. Langsam nickte er seinen Schuhen zu. „Ok.“ Der ältere Mann nahm einen Schluck Bier, warf noch einen Blick auf die Noten und legte das Blatt dann mit einem Schnauben wieder weg. „Ist dir denn während du deine Arbeiten für mich unterschrieben hast, kein einziges Mal aufgefallen, dass du da vielleicht gegensteuern solltest?“ Doch noch nicht vorbei. Diese Diskussion konnte sich ziehen. Und vermutlich würde er sie jetzt jeden Tag haben – bis er die Schule verließ, auf die eine oder die andere Art. „Ich hab’s versucht“, murmelte er schließlich noch einmal leise. Das Plastik der Tüte, die er immer noch hielt, schnitt ihm inzwischen unangenehm in die Finger. Es knisterte, als er ein wenig umgriff. „Ah ja, hast du das? Seltsam, dass man davon hier überhaupt nichts sieht. Und anscheinend blieb daneben trotzdem noch genug Zeit, um drei Abende die Woche mit deinen Freunden herumzuhängen.“ hide runzelte die Stirn. Auch wenn es schlauer war, einfach nichts zu sagen: Da war eindeutig ein Fehler in der Logik. „Das mach ich doch erst seit ein paar Wochen“, erklärte er seinen Füßen zaghaft und nahm die Tüte mit einem erneuten Knistern in die andere Hand. „Oh. Na dann“, sagte der Mann am Tisch gespielt erleichtert, als ändere das alles. „Dann ist ja gut. Dann kann ich wohl erwarten, dass das hier in ein paar Monaten noch schlechter aussieht. Aber halt – es liest sich ganz so, als ginge das kaum! Stell das Zeug weg, das macht mich wahnsinnig.“ hide schluckte mehrmals und wandte sich zur Anrichte, um endlich die Tüte abzustellen. Seine Hände zitterten wieder. Das war er. Das war sein Leben. Und es gab keinen Weg daran vorbei. Er steckte die Hände in die Jackentaschen und ballte sie dort zu Fäusten, um das Zittern unter Kontrolle zu bekommen und drehte sich dann langsam wieder zum Tisch um. Sein Vater machte gerade eine alles einbeziehende Handbewegung zu seinen Unterlagen. „Wie kamst du auf die grandiose Idee, so viel Zeit mit dem Unsinn zu verbringen, wenn du wusstest, dass das hier so aussieht?“ „Ich…“ Die anderen hatten ihn ein paar Stunden lang vergessen lassen, wie es stand. Er hatte es einfach verdrängt. Der hide, der Gitarre spielte und der, der gerade hier in der Küche stand, diese beiden und alle zwischen ihnen begegneten sich nur äußerst selten – in Momenten wie diesen. Und hide hasste diese Momente. „Also?“, hakte sein Vater nach, als nichts passierte. „Ich…“, begann hide noch einmal, „ich… hab… einen Ausgleich gebraucht.“ „Wozu, zum Nichtstun?“ hide spürte, wie ihm Tränen in die Augen stiegen, ohne dass er gewusst hätte, warum. Er war nicht traurig. Glaubte er. Vermutlich war er einfach emotional überfordert. „Nein“, sagte er, als er seiner Stimme nach einigen Augenblicken wieder traute. „Zum Versagen.“ Sein Vater stützte den Kopf auf die Hand. „Ist dir klar, was es für dich bedeutet, wenn du deinen Arsch nicht hochkriegst?“ „Ich… habe keinen Abschluss“, sagte hide. „Bravo. Und weiter?“ „Ich gehe nicht an die Uni.“ „Und?“ Ihm war bewusst, dass sein Vater an dieser Stelle ‘Dann lebe und sterbe ich als Versager‘ hören wollte, um sich sicher zu sein, dass sein Sohn die Tragweite dessen, worum es hier ging, umrissen hatte. Doch stattdessen dachte er an Taiji, der so genau wusste, was er vom Leben wollte, Yoshiki, der sich um nichts zu scheißen schien, das ihn nicht interessierte und den immer so ruhigen Tomo, bei dem er sich inzwischen auch ziemlich sicher war, dass er nicht zur Schule ging. Also sagte hide schließlich: „… vielleicht ist das nicht so schlimm.“ „Aha! Nicht so schlimm.“ Er setzte eine interessierte Miene auf. „Gut. Dann erzähl mir noch mal, wie deiner Meinung nach die nächsten drei Jahre aussehen. Bitte.“ „Ich… ich mach die High School… vielleicht… und dann such ich mir eine Arbeit… und dann… mach… ich… nebenher… Musik?“ „Hhm. Interessant. Und das wird Erfolg haben, weil…?“ hide schluckte noch einmal. Er hätte sich das mit der Musik verkneifen sollen. Nun musste er seine Worte mit Bedacht wählen. „Ich spiele einfach gerne.“ Er überlegte einen kurzen Moment, ob er sagen sollte, dass es vielleicht wichtiger war, etwas zu machen, das einem Spaß machte und zu hoffen, dass es einen irgendwohin brachte, wo man auch sein wollte, als ein Ziel anzupeilen und stumpf darauf hinzuarbeiten. Ohne dieses Argument wirkte sein Satz sogar in seinen eigenen Ohren kindlich naiv. Doch er war vom Wahrheitsgehalt seiner möglichen Aussage selbst nicht überzeugt und der Moment verstrich. Ein unzufriedener Zug erschien um die Mundwinkel seines Gegenübers. „Ich meinte nicht deine Musik, die du angeblich nebenher machen willst. Ich meinte, wie du in der Schule und deiner zukünftigen Arbeit Erfolg haben willst, wenn du offensichtlich nur andere Dinge im Kopf hast!“ Fast hätte hide mit den Schultern gezuckt. Da war er überfragt. Er hatte nur wenig Erfahrung mit Erfolg. Zwar konnte er sich gerade noch von der Regung abhalten, doch etwas antworten musste er trotzdem. „V-vielleicht muss ich das gar nicht. Ich… ich denke… dass es vielleicht… also… vielleicht sind diese Dinge ja… die richtigen und… man … ich… könnte es einfach mal… probieren?“ Er hatte das mit Überzeugung sagen wollen, doch ein Satz, der schon mit einem Stottern begann, konnte ja zum Ende hin nur leiser werden. Seine letzten Worte waren kaum mehr verständlich. Sein Vater musterte ihn für unangenehm lange Weile. „Aha. Probieren. Na gut. Dann glaubst du also ernsthaft, du stellst dich da hin, spielst ein bisschen Gitarre und dann kommt da einfach wer und denkt sich: 'Ah, genau den hab ich schon immer gesucht und ich möchte ihn auf jeden Fall dafür bezahlen'?“ hide grub die Fingernägel schmerzhaft in die Handinnenflächen und wich seinem Blick aus. Wenn man es so sagte, klang es wirklich bescheuert. Vielleicht hätte er sich mit Taiji darüber unterhalten sollen, wie der seinen Eltern die grandiose Nachricht überbracht hatte, dass er ab heute nur noch Bass spielen würde. Doch irgendwie bezweifelte hide, dass eine Aussage à la ‘Ich mach das, weil ich geil bin, kommt drauf klar‘ hier sonderlich viel helfen würde. „Also, in deiner Welt, passiert das ... warum genau?“ Ich mach das, weil ich geil bin, dachte hide, komm drauf klar. … Mann, das klang nicht einmal in seinem Kopf nach ihm selbst. Das konnte er unmöglich verkaufen. „Ich bin gut“, sagte er schließlich leise in Richtung Kühlschrank. Sein Vater fand den Kühlschrank nicht annähernd so interessant wie er. „Ah. Du bist gut.“ „Ja“, sagte hide etwas lauter und dann, bevor er etwas dagegen tun konnte: „Wenn du mir mal zugehört hättest, wüsstest du das.“ „Jetzt sag mir nicht, ich soll meine Zeit auch noch mit diesem Krach verschwenden!“ Er war zurück auf der Kaimauer, im goldenen Licht der Abendsonne. Neben ihm sagte Yoshiki gerade: ‘Das hier, das ist der Beginn von etwas Wundervollem.‘ Er hatte das gemeint. Er hatte das wirklich gemeint. hide ballte die Hände zu noch festeren Fäusten. „Das ist kein Krach!“, platzte es aus ihm heraus. „Es ist besonders und selbst wenn es das nicht wäre, wäre es mir immer noch wichtig und wenn du dich einen Scheiß für mich interessieren würdest, würde dir das reichen!“ „Hideto!“, sagte die Stimme seiner Mutter entsetzt. Sie war irgendwann während seiner kleinen Tirade in der Tür erschienen. Seine Mutter – freundlich, fleißig und absolut unscheinbar. Es war hide ein Rätsel, wie sie das hier aushielt. Aber keines, das er heute lösen wollte. „Nein!“, fuhr hide sie also unwirsch an. „Mir steht’s bis hier!“ Er machte eine Geste auf Kopfhöhe. „Machen wir uns doch nichts vor, und wenn sie mir noch fünf Extra-Jahre geben, werd ich die High School nicht schaffen! Die ganze Zeit habt ihr mich genervt, dass ich wissen soll, was ich machen will und jetzt hab ich was gefunden und es passt ihm auch nicht! Ich bin euch dankbar und alles, aber es ist meine Sache, was ich mit mir anfange und wenn es nicht klappt und ich irgendwann irgendwo abgebrannt auf dem Gehweg verrecke, dann ist das halt so!“ Noch in dem Moment, in dem er es ausgesprochen hatte, erkannte er, dass er zu weit gegangen war. Da war ein gefährliches Flackern in den Augen seines Vaters. Bevor er noch irgendetwas anderes tun oder sagen konnte, gab es ein lautes Poltern, als der Tisch – die einzige Barriere zwischen ihnen beiden – gepackt und mit allem, was sich darauf befunden hatte zur Seite hin umgeworfen wurde. hide registrierte noch, wie das Zeugnis wie in Zeitlupe an ihm vorbeiflog und in seine Ecke davonsegelt. Sein Vater war in der Bewegung aufgestanden. Der Tisch blockierte jetzt den Weg zur Tür, wo seine Mutter noch mit vor den Mund geschlagenen Händen stand. hide machte einen instinktiven Schritt nach rechts, um aus der Ecke herauszukommen und den Abstand zwischen sich und dem älteren Mann zu vergrößern. Dieser taxierte ihn und seine Stimme war schwer und gefährlich, als er gezwungen ruhig sagte: „Fein. Du willst dein Leben ruinieren? Dann mach es. Aber dann bist du nicht mehr mein Sohn.“ In der darauffolgenden Stille hallte das Ticken der Küchenuhr wie Donnerschläge durch den Raum. Von draußen drangen gedämpft die Geräusche eines weiteren schönen Sommertages herein. Sie wirkten unnatürlich laut, die Sekunden unnatürlich lang. Unwirklich. Das passiert nicht, sagte eine Stimme in hides Kopf ungläubig und lachte dabei. So was passiert einfach nicht im echten Leben. Und wenn es passiert?, sagte eine andere Stimme. Sie saß in der Herzgegend. Was auch immer sich dort gerade aufgebäumt hatte, war nun wieder weg. Plötzlich fühlte er sich ruhig und kalt. Was passierte, passierte. Was auch immer. All das betraf ihn nicht mehr. „Ok“, sagte der hide, der in der Küche stand schließlich, nach etwas, das Sekunden oder Dekaden gewesen sein konnten. „Ist in Ordnung. Weil du warst schon seit Jahren nicht mehr mein Vater.“ Er hatte keine Zeit mehr zu reagieren, nicht mal die Zeit, abwehrend die Arme zu heben, als eine Hand sein Gesicht traf. Die Wucht der Ohrfeige riss seinen Kopf zur Seite und brachte ihn einen Moment aus dem Gleichgewicht. Hinter dem Schlag hatte eine Kraft gelegen, wie man sie nur gegen einen anderen Mann einsetzte. Für einen Moment war er selbst nur eine Hülle, die Welt weit weg. Dann kam der Schmerz, der von seiner Wange und seinem Kiefer ausstrahlte. Sein linkes Ohr klingelte. Er schmeckte Blut. hide riss sich aus der Schockstarre und ging nun endlich in eine Schutzhaltung. Fokus Gesicht. Gesicht war wichtiger als Oberkörper – Spuren im Gesicht führten zu Fragen. Gleichzeitig wich er noch einen halben Schritt zurück. Dann hatte er die Anrichte im Rücken. Seine Mutter hatte kurz aufgeschrieben, aber sie war wieder verstummt. Erstarrt. Der ältere Mann kam näher und der halbe Schritt war nun wirklich schnell überbrückt. Das hier war nicht vorbei. hide ging seine Optionen durch. Es waren nur zwei: Flucht oder Aushalten. Es waren immer nur zwei. Und in Situationen wie diesen lief es immer auf Aushalten hinaus. Er konnte sehen, wie sich die Hand erneut hob. Innerhalb von Sekundenbruchteilen schätzte er ab, wo der Schlag landen konnte, wie stark der Schmerz sein würde, was danach passierte und ob ihm das weiterhalf. Doch plötzlich hörte er etwas. Es kam aus der seltsamen Leere in seinem Brustkorb. Die kleine Stimme in seiner Herzgegend kämpfte sich durch die Panik. Es gab eine dritte Option. Zum ersten Mal gab es eine dritte Option. Mit einfachen, stechend klaren Worten rechnete sie es ihm so vor, dass es keine andere Logik zuließ. Wenn du nicht sein Sohn bist, sagte sie, ist er nicht dein Vater. Wenn er nicht dein Vater ist, ist er nur irgendein Kerl. Wenn er nur irgendein Kerl ist… hide zog die rechte Hand zurück und ballte sie zur Faust …gibt es keinen Grund, sich nicht zu wehren. Und an dieser Stelle endete alles Denken. Er spürte, wie seine Faust Kontakt mit etwas Hartem herstellte und wie dieses Harte ungesund knirschte. Sein Vater musste nicht damit gerechnet haben, denn er taumelte mit einem unterdrückten Schmerzenslaut ein paar Schritte zurück und hielt sich dann die Nase. Fassungslos sah er seinen Sohn an, dann senkte er die Hand, prüfte ob etwas blutete. Das tat es. Und nicht zu wenig. Reglos wie ein Reh im Scheinwerferlicht starrte hide für ein paar Sekunden überfordert auf die Szene, in der er sich auf einmal befand. Er hatte keine Ahnung, wie er sich hier hereinmanövriert hatte. Heute Morgen noch war doch alles in Ordnung gewesen! Das passierte nicht. Es passierte einfach nicht. Im Haus nebenan knallte jemand eine Tür zu und das brach den Bann. hide atmete Luft aus, die er bereits seit geraumer Zeit angehalten haben musste; sein Blick wanderte einmal zwischen seiner Mutter und seinem Vater hin und her und blieb schließlich an ihr hängen. „Das“, fing er zittrig an, „das wollte ich nicht...“ Seine Mutter blickte zurück, seinen Namen lautlos auf ihren Lippen. hide schluckte trocken und wandte sich mit größter Willenskraft wieder seinem Vater zu. Auch dieser sah ihn an. Sein Gesicht und seine Hand waren blutverschmiert. „Raus“, sagte er nasal doch unüberhörbar kalt. „Raus aus meinem Haus.“ Unmissverständlich. Die Erkenntnis, dass ihn gerade nur die absolute, totale Überraschung rettete, traf hide. Und er musste hier verschwunden sein, bevor sich der andere Mann davon erholte. Langsam, langsam und vorsichtig bewegte er sich, den Blick immer auf seinen Vater gerichtet, einmal durch den Raum, stieg über den Tisch und ging an seiner Mutter vorbei. Er spürte noch ihre Hand an seinem Oberarm, doch schüttelte sie ab. Im Flur schließlich wandte er sich um. Und rannte. Aus der Wohnung, die Treppe hinunter, aus dem Haus, die Straße hinunter. Er hatte noch die Geistesgegenwart, sich während des Laufens den Ärmel seines Pullis dort gegen die Unterlippe zu drücken, wo sie aufgeplatzt war und blutete. Ansonsten versank alles hinter einem Schleier. Er hätte nicht sagen können, wo er war, wie es ihm ging, was passiert war, registrierte weder sein Seitenstechen noch die Blicke derjenigen Passanten, die ihn lange genug ansahen um merken zu können, dass etwas mit ihm nicht stimmte. Er rannte einfach, und als er schließlich nicht mehr rennen konnte, verlangsamte er zum Gehen. Doch er hielt kein einziges Mal an. Erst in der Innenstadt fiel der tranceähnliche Zustand allmählich von ihm ab. Dafür traf ihn die Realität dessen, was er da soeben getan hatte – oder glaubte, getan zu haben, denn was ihn anging, konnte es genauso gut ein Albtraum gewesen sein – plötzlich mit der Wucht eines einfahrenden Shinkansen. Was es bedeutete. Er konnte nicht mehr zurückgehen. Und er wollte auch nicht. Was sollte es bringen? Aber was würde dann aus ihm werden? Nebenher Musik hatte er gesagt. Auf einmal erschien ihm 'Ich lebe und sterbe als Versager' allerdings wesentlich realistischer. Das Bild, wie er mit vierzig Jahren in einem kleinen 24-Stunden-Store den Boden wischte, tauchte vor seinem inneren Auge auf. Er würde in einem Einzimmerapartment wohnen, in dem nachts die Kakerlaken durch die Rigipswände krochen. Niemand würde Neujahr mit ihm feiern. Stattdessen würde er in der Menge von Menschen vor dem Tempel stehen und dann merken, dass man manchmal mitten unter Leuten am einsamsten war. Auf einer Brücke schließlich blieb er stehen, lehnte die Unterarme auf das Geländer und folgte dem Fluss mit den Augen, bis er weit vorne ins Meer mündete. Der Wind fuhr ihm durch die Haare, warm und leicht salzig. Seine Beine fühlten sich an wie Wackelpudding und seine Hände zitterten so sehr, dass er die Finger auf dem Geländer zu Fäusten ballte. Es half gegen das Zittern, aber kaum gegen die aufsteigende Panik. Was sollte er jetzt machen? Sollte er gleich eine Etage tiefer gehen und die Obdachlosen fragen, ob er mal bei ihnen wohnen konnte? So übermorgen, wenn ihm das Geld ausging? hide seufzte und vergrub das Gesicht in den Armen. Scheiße, Scheiße, Scheiße. Er brauchte ganz dringend Ideen. Und sie mussten wirklich verdammt gut sein. Auf einmal hatte er eine Idee. Ihm schwante allerdings schon jetzt, dass sie möglicherweise nicht zu den Guten gehörte. -X- Er hätte im Nachhinein nicht mehr sagen können, wie genau er den Weg hinter sich gebracht hatte. Doch plötzlich stand er vor einem Haus, an das er sich vage zu erinnern glaubte. Er ging zur Haustür hinauf, verfehlte die Klingel zwei Mal, nahm noch einen Schluck aus der Flasche und klingelte. Ein paar Sekunden passierte nichts. Die Erkenntnis, dass es bereits dunkel war und was das für andere Leute vielleicht bedeutete, schlich sich leise in hides Hinterkopf, doch bevor sie vollständig im Denkzentrum angekommen war, ging die Tür auf. Yoshikis Mutter. hide lehnte sich an den Türrahmen, als dieser sich ihm plötzlich näherte. Das war aber ein anschmiegsamer Türrahmen! „Gud‘n Aben‘ Frau Hajaschi“, sagte er so höflich wie möglich, „is' Yoschgi da?“ Frau Hayashi reagierte ein paar Sekunden lang überhaupt nicht, so perplex war sie. Dann ordnete sie ihn zu. „Ach du liebe meine Güte! Yoshiki!“ Das letzte Wort rief sie laut über die Schulter ins Haus. „Junge“, sagte sie dann wieder in Richtung hide, „wie bist du denn beieinander!“ „Kein Grund sur Pahnig“, sagte hide beruhigend. Die arme Frau sah ja aus, als habe sie einen Geist gesehen! Er war es doch nur! Seine Hand streichelte abwesend den Türrahmen. So ein weicher Türrahmen! „Mir gehd’ssuper.“ Er hob den Blick auf eine Bewegung hinter Frau Hayashi. Yoshiki war die Treppe hinuntergekommen. „hide?“, fragte er entgeistert und schob sich neben seine Mutter in den Flur. Als er nahe genug herangenkommen war, kam ihm Taijis Stimme in den Kopf: Man riecht es. Ja, man roch es deutlich. Und das war nur die Rückmeldung von einem seiner fünf Sinne. Das sah nicht gut aus. Das sah überhaupt nicht gut aus. Gute Güte hatte der andere Junge ein Glück, dass ihn niemand unterwegs aufgegriffen hatte! „Äh, ja… geh einfach rein, ich… mach das…“ Mit sanften Nachdruck schob Yoshiki seine Mutter von der Tür weg und in den Flur. Hoffentlich reichte das Momentum aus, um sie weiter bis ins Wohnzimmer zu befördern. Erst, als seine Mutter aus Sichtweite verschwunden war, wandte er sich an den Jungen in der Tür. „hide?“, fragte er noch einmal. hide schaute an sich hinunter und schien scharf nachzudenken. „Ja“, sagte er schließlich mit einiger Überzeugung. „Nein, ich meine… was ist los?“ „Ich binbetrunk‘n.“ „Ja, das …“ „‘S tut mir leid, dassich hier bin“, murmelte hide dazwischen, bevor Yoshiki den Satz beenden konnte. „Es is‘ … Ich wuss‘ nur nich‘… Also … Ich kannnich‘…“ hide lehnte auch den Kopf an den Türrahmen. Mann, er hatte gedacht, dass ein bisschen auflockernde Medizin hier Wunder wirkte! Doch scheinbar nicht. „Sorry …“, schlurrte er schließlich. Yoshikis Blick wanderte tiefer. hide protestierte nicht, als er ihm die fast leere Eisteeflasche aus der Hand nahm. „hide, wie viel hattest du?“, fragte Yoshiki und warf einen prüfenden Blick erst auf die Flasche und dann auf den Jungen auf seiner Türschwelle. Er sah irgendwie nicht aus, als wäre er zum Feiern hier. Geruchstest. Jap. Eindeutig Whiskey. „Ichweißnich“, meinte hide und zog angestrengt die Augenbrauen zusammen. „Wieviel is‘ das?“ Yoshiki sah nochmal auf die Flasche und wurde eine Nuance blasser. „Ach du Scheiße.“ hide musste einen Pegel haben, der ihn selbst bereits ruhiggestellt hätte. Es war eigentlich unmöglich, dass er noch stand. „Ach, daspasscho… ‘s war übern Tag verteilt…“ Plötzlich wurde hide verdächtig still und schloss die Augen. „Yoschgi, dasis‘ mit jetz‘ unangenehm, aber ich glaub, ich muss mich übergeb‘n.“ Innerhalb von Sekunden überschlug Yoshiki die Möglichkeiten, die er hatte, wenn er nicht wollte, dass ihm hide über die Tatamimatten und die Schuhe kotzte. Die Toilette war zu weit weg. Das naheliegendste war der Vorgarten. Doch gerade ging der spießbürgerliche Herr Hirayama von gegenüber mit seinem ekligen kleinen Scheißköter vorbei, der Yoshiki ohnehin schon nicht leiden konnte und der seiner Mutter regelmäßig am Gartenzaun Vorträge hielt, was sie in der Erziehung seit dem Ableben seines Vaters alles falsch gemacht hatte und dass es ohnehin besser wäre, sie würde noch einmal heiraten, damit wieder ein Mann im Haus war. Yoshiki hätte ihm gerne mal kräftig in den Hintern getreten. Als hätte sein Mutter sonst keine Probleme! Lange Rede, kurzer Sinn – noch bevor er diesen Gedankengang vollständig zu Ende gebracht hatte, hatte er bereits instinktiv entschieden, dass das Blumenbeet keine Option war. Er zog hide nach drinnen, knallte die Tür zu und schob ihn, noch in Straßenschuhen, in die Küche. Sie schafften es gerade noch rechtzeitig. Als sie über die Schwelle traten, hielt sein Gast sich bereits die Hand vor dem Mund. Yoshiki schubste ihn ungewollt unsanft in die richtige Richtung. Dann übergab hide sich in die Spüle. So in etwa zumindest. -X- Eine Stunde später lag hide in einem von Yoshikis Yukatas auf dessen Futon, versteckt zwischen Zudecke und Kissen. Irgendwie hatte er ihn durch eine halbe Flasche Wasser langsam soweit ausgenüchtert, dass man aus ihm hatte herausbekommen können, was überhaupt los war. Währenddessen hatte er sich noch zwei Mal übergeben und das zweite Mal eher unglücklich – daher auch der Yukata. Yoshiki fühlte sich ausgelaugt. Er hatte mehr oder weniger nutzlos dabeigestanden, als hides Organismus eine Alkoholvergiftung abgewendet hatte, hatte ihn dann mit Wasser und einem Eimer auf die Kissen im Wohnzimmer verfrachtet und die Küche geputzt und den Eimer relativ schnell als eine äußerst weise Entscheidung erkannt. Dann hatte er beschlossen, dass er hide das hier erst einmal ausschlafen lassen musste und ihn die Treppe nach oben dirigiert, wo er noch einmal Unheil von den Tatamis abgewendet hatte. Irgendwie hatte er es geschafft, den anderen Jungen halbwegs frisch zu machen und ins Bett zu packen. Dann hatte er sich gezwungenermaßen ebenfalls umgezogen. hide hatte einen Großteil des Prozedere nicht sonderlich hilfreich aber zumindest widerstandslos über sich ergehen lassen. Jetzt starrte er an die Zimmerdecke. „Also…“, sagte Yoshiki schließlich, „soll ich deine Eltern anrufen und ihnen sagen, dass du hier bist?“ hide schüttelte den Kopf. „Ich mein nur. Was, wenn sie nach dir suchen.“ hide schüttelte noch einmal den Kopf und zog sich die Decke übers Gesicht. „Ok…“ Yoshiki wechselte von der Pose mit dem angezogenen Knie in den Schneidersitz. „Soll ich gehen?“ Der Deckenberg bewegte sich in einer Art, von der Yoshiki glaubte, dass es ein weiteres Kopfschütteln war. „Ok…“, sagte Yoshiki noch einmal. Draußen fuhr ein Auto vorbei, dann war es wieder still. Die Uhr auf seinem Schreibtisch tickte leise und gleichmäßig vor sich hin. Das Nichtstun war fast unerträglich. Doch Yoshiki fiel nichts ein, was er sagen oder tun konnte, um diese Situation besser zu machen. Die letzte Stunde hatte ihn die Tatsache gerettet, dass es etwas zu tun gehabt hatte. Doch jetzt waren hier nur noch hide, er und ein Desaster, mit dem er nicht gerechnet und für das er keine Lösung hatte. Kurz wünschte er sich, er könne es mit Toshi diskutieren. Aber das ging aus mindestens drei verschiedenen Gründen nicht. Ihm blieb nur das Nichtstun und das Aushalten. Er wartete noch fast eine weitere Stunde, ob hide noch etwas sagen wollte, doch nichts passierte. Also räumte er schließlich gegen ein Uhr seinen Gästefuton auf den Boden neben hide, legte sich hin und knipste das Licht aus. Es erschien ihm unwahrscheinlich, dass er Schlaf finden würde. Scheiße, verfluchte, dachte Yoshiki noch. Dann schlief er ein. Er träumte, dass er in der Schule war. Er träumte, dass seine Mutter ihm sein Lieblingsessen mitgegeben hatte. Er träumte, dass Toshi frustriert war, weil sein Baseballteam schon das vierte Spiel der Saison verloren hatte und dass er ihm sein Essen gab. Er träumte, dass er aufwachte und sich dachte, was das denn für ein sinnloser Traum gewesen war. Ein Schatten erschien auf der anderen Seite seiner Schiebetür. Er war furchteinflößend. Noch mit dem letzten Nachklang einer vagen Angst in der Brustgegend wachte Yoshiki wirklich auf. Seine innere Uhr tippte auf irgendwas gegen drei Uhr morgens. Es war ruhig im Haus und er konnte nicht sagen, was ihn geweckt hatte, doch jetzt, wo er wach war, wusste er, dass etwas nicht stimmte. Er hob den Kopf leicht an und schaute durchs Halbdunkel. hide hatte ihm den Rücken zugedreht, und obwohl er nur einen halben Meter entfernt lag, war es schwer, mehr zu erkennen als Umrisse. „hide…?“ hide wischte sich mit dem Handrücken übers Gesicht. „Ich bin der größte Versager der Welt. Und das ist alles so scheiße peinlich. Es tut mir so unendlich leid.“ In Yoshiki mischten sich Erleichterung darüber, dass hide überhaupt wieder reagierte, mit Bestürzung über das, was und vor allem wie er es sagte und der Hilflosigkeit, die in den letzten Stunden natürlich nicht einfach verschwunden war. Es war ein komisches Gefühlskonglomerat. „Nein, das bist du nicht und es ist in Ordnung. Komm, wir finden eine Lösung.“ hide schwieg. „Alles wird gut.“ Ein Schnauben drang herüber. „Nein, wird es nicht. Du unterschätzt, was für ein Haufen Mist ich bin.“ Yoshiki tastete auf der Suche nach hides Schulter neben sich, doch er fand stattdessen flauschige Haare. Auch gut. „hide, du bist mit Abstand die liebenswerteste Person, die ich je getroffen hab.“ hide schniefte. „Es wird alles gut“, wiederholte Yoshiki noch einmal, mit der beruhigenden Stimme, die man sonst bei kleinen Kindern anwandte, und kämmte mit seinen Fingern durch die Haare. Er wusste nicht ganz, ob er das für hide machte oder für sich selbst, aber vermutlich war es auch egal. Ein paar Minuten passierte nichts. Dann sagte hide schließlich mit seltsam belegter Stimme: „Ich hab einfach… keinen Plan. Ich setz gerade total mein Leben in den Sand.“ Yoshiki zog die Hand zurück, als hide sich aufsetzte. Er hörte das Geräusch, wie eine Plastikflasche mit Flüssigkeit gehoben und geöffnet wurde. Es gluckerte, als hide trank. „Brauchst du eine Tablette?“ „Nein…“ hide schraubte die Flasche wieder zu und stellte sie neben sich auf den Boden. „Ich hab keine Kopfschmerzen. Ich glaub, mein Blutwhiskey ist dazu noch zu hoch…“ Er legte sich wieder hin, diesmal auf den Rücken, und schniefte noch einmal. Yoshiki betrachtete sein Profil im gedämpften Licht der Laternen draußen. Seine Augen wurden besser, je länger er in die Schatten stierte. „Ich hab’s wirklich versucht“, sagte hide nach einiger Zeit. „Familie, Freunde, Schule, das alles. Ich hab’s wirklich versucht. Ich weiß nicht, warum es nicht funktioniert. Vielleicht bin ich einfach ein… ein Staubsauger des Elends.“ „Du hast jetzt die letzten Stunden darüber nachgedacht und das ist die beste Metapher, die dir eingefallen ist?“, entwischten Yoshiki die Worte, bevor er sie zurückhalten konnte. Sofort biss er sich auf die Unterlippe und wünschte, er könnte die Frage wieder reinstopfen. Doch neben ihm erklang ein Geräusch, das wie ein Mittelding aus Schluchzen und Prusten klang. Es erinnerte Yoshiki an das Grunzen eines Meerschweinchens. „Gefällt dir schwarzes Loch der Misere besser?“ „Nicht wirklich, Nein…“ Yoshiki drehte sich wieder auf den Rücken. Eine Minute verging, in der er wortlos in die Dunkelheit über sich starrte und versuchte, die richtigen Worte zu finden. Worte, wie sie den Leuten in Filmen immer in solchen Situationen einfielen; Worte, die auf einmal alles besser machten. Schließlich stemmte er sich auf den linken Ellenbogen hoch und drehte sich in der Bewegung wieder zu hide. Kurz überlegte er, das Licht anzuschalten, doch er wusste, dass solche Gespräche in den kleinen Stunden des Morgens fragile Angelegenheiten waren. „Das ist alles nicht deine Schuld.“ Nein. Das waren nicht die magischen Worte. Aber gut. Einen Versuch war es wert. „Vielleicht. Vielleicht nicht. Ich weiß es nicht… Ich weiß grade gar nichts.“ „Nichts vielleicht. Es.ist.nicht.deine.Schuld“, sagte Yoshiki nachdrücklich. hide machte ein leises, glucksendes Geräusch. Es hätte der Ansatz eines Kichern sein können, wenn seine Stimme dazu gepasst hätte, als er sagte: „Ich weiß nicht ganz, wessen Schuld es sonst sein soll, dass ich bei allem versage, was ich anfange...“ „Ja, aber das…“, fing Yoshiki an. Er stockte. Er hatte schon wieder kein Ende für diesen Satz. „Schau dir Taiji an“, sagte er schließlich. „Der ist ein Loser nach so gut wie jedem Standard. Und seine Eltern werfen ihn auch nicht raus. Und meine Mutter mich auch nicht.“ Gut, er war wohl zugegebenermaßen ein Sonderfall, das gestand er sich selbst zu… Aber es reichte, um hier den Punkt zu unterstreichen. Eine ganze Weile lang antwortete hide nichts. Yoshiki wünschte sich einen Bühneneingang zu seinem Hinterkopf, um herauszufinden, was dort an Gedanken herumgeisterte. Schließlich atmete der andere Junge einmal etwas tiefer durch und sagte: „Er ist kein schlechter Kerl, es ist nur…“ hides Stimme verlor sich in der Nacht. Es ging nicht um Taiji. „Aber ist ja auch egal“, sagte er nach einigen Herzschlägen Pause. „Es ist jetzt, wie es ist. Tut mir leid, dass du da jetzt mit drin hängst. Und alles. Ach, Scheiße.“ Es raschelte, als er die Decke ein Stück höher zog, bis zur Nasenspitze. Yoshiki seufzte still und legte sich ebenfalls wieder hin. An der Wand hinter hide verschluckte die Dunkelheit das Poster von Bowie. Ihm fiel nichts mehr ein. Zu sagen oder zu tun. „Komm“, meinte er schließlich. Er war dazu zurückgekehrt, hide den Kopf zu kraulen. „Versuch, ein bisschen zu schlafen. Morgen denken wir nach. Wir kriegen das hin.“ hide reagierte nicht. Ihre Unterhaltung war beendet. Yoshiki seufzte leise, hörte aber nicht mit dem Streicheln auf, bis er schließlich, noch mit seiner Hand irgendwo auf hides Schulter, in einen leichten, unruhigen Schlaf abdriftete. Als er das nächste Mal aufwachte, war es draußen bereits hell, doch das Licht, das durch den Spalt in den Vorhängen fiel, war das graue Licht des Morgens und nicht das gleißende Licht eines Sommertages auf seinem Höhepunkt. Als er auf seinen Wecker linste, zeigte dieser kurz nach halb acht. Yoshiki ließ sich wieder auf den Futon zurückfallen. Er hatte dieses schwammige Gefühl, das schlechte Nächte oft im Gepäck hatten und Kopfschmerzen, die irgendwo aus dem Nackenbereich kamen. Noch einmal Umdrehen und Weiterschlafen war eigentlich die Lösung dieses Problems. Doch wenn Yoshiki sich einfach Umdrehen und Weiterschlafen könnte, hätte er insgesamt weniger Probleme. Jetzt war er wach, das Gedankenkarussell kam langsam in Schwung und diese Nacht war definitiv vorbei. Neben ihm hatte sich der andere Junge halb auf dem Bauch eingerollt und atmete tief und gleichmäßig. hide sah älter aus wenn er schlief, dachte Yoshiki. Der Schlaf nahm seinem Gesicht das einnehmende Lächeln und seinen Augen das Leuchten. Er sah ernster aus, erwachsener. Und müde. Yoshiki gab seinem Körper noch ein paar Minuten, um sich auf die Realität eines neuen Tages einzustellen, dann stand er auf, verließ leise das Zimmer und ging nach unten in die Küche. Auf dem Tisch lag ein Zettel. ‘Umeboshi sind im Kühlschrank‘, stand darauf. Yoshiki nickte sich selbst und ein wenig seiner Mutter zu, auch wenn die es natürlich nicht sah. Gute Mutter. Doch erstmal sollte hide alles, das man mit Schlaf beheben konnte, in Ruhe ausschlafen. Ratlos drehte sich Yoshiki in der Küche einmal um sich selbst, schaute einmal in besagten Kühlschrank und in die Küchenschränke. Er hatte keine Lust auf nichts, also machte er sich schließlich Kaffee und aß eine Banane. Dann ging er in den Flur und überlegte, Toshi anzurufen. Doch das ging genauso wenig wie ein paar Stunden zuvor, also verwarf er den Gedanken. Was tun? Da war ein hide in seinem Zimmer, das Klavier war zu laut und allein im Haus lassen wollte er den anderen Jungen auch nicht. Wäsche, dachte Yoshiki und nippte an seiner Tasse. Eigentlich musste mal irgendjemand die Wäsche machen. Er war im Grunde immer ein großer Fan davon, dass dieser irgendjemand seine Mutter war, doch vielleicht war ein wenig Mithilfe seinerseits in Anbetracht der Tatsachen nur fair. An diesem Punkt seiner Gedanken hörte er ein leises knisterndes Geräusch hinter sich und drehte sich gerade noch rechtzeitig um, um eine einsame Kakerlake unter den Kühlschrank verschwinden zu sehen. Igitt… passierten solche Dinge einem auch in Amerika? Zweieinhalb Stunden später hatte Yoshiki mit seiner Mutter telefoniert, zwei Ladungen Wäsche gewaschen (wobei eine davon nur aus den Sachen bestand, die hide und er gestern getragen hatten) und sie draußen im Garten aufgehängt, geduscht und drei neue Kakerlakenfallen in der Küche aufgebaut – zum Glück, ohne noch einmal einem der Krabbler zu begegnen. Als er gegen halb elf schließlich das nächste Mal in sein Zimmer lugte, war hide wach. Er hatte irgendwann in den letzten Stunden eines von Yoshikis letzten verbliebenen Kuscheltieren vom Regal genommen – einen Bären - ihn neben sich gesetzt und streichelte gerade abwesend eines der plüschigen Ohren. „He“, sagte Yoshiki. „He“, sagte hide. Er setzte sich auf und schob den Bären ertappt zur Seite. „Wie geht es dir?“, fragte Yoshiki. hide erwiderte seinen Blick für einen Sekundenbruchteil und sah dann wieder weg. Er zuckte mit den Schultern. „Es geht so.“ Yoshiki nickte langsam. Das war vermutlich eine sehr adäquate Einschätzung der Lage. Zusammen mit der darauffolgenden Stille drohte sich auch die Ratlosigkeit des Vorabends wieder schwer über sie beide zu senken. Yoshiki beschloss, dass er das nicht zulassen würde. „Willst du baden?“ hide zuckte noch einmal mit den Schultern. „Ich sollte wohl.“ „Ok, dann lass ich dir ein Bad ein und dann isst du was und dann badest du und dann schauen wir weiter.“ Der Gastherr drehte sich um. „Ich hab keinen Hunger“, folgte ihm hides Stimme auf den Gang. Yoshiki verschwand mit einem „Es könnte mir nichts egaler sein“ ins Bad. Während das Badewasser einlief, kehrte er mit den Umeboshi zu hide zurück. Er ließ sich neben den Futons auf den Boden fallen. „Hier.“ „Danke…“, sagte hide müde und nahm den Teller in die eine und die Stäbchen in die andere Hand. Er sah schrecklich aus und das auf einer ganz anderen Ebene als nach ihrer gemeinsamen epischen Nacht. Langsam steckte er sich eine der kleinen Früchte in den Mund und kaute bedächtig darauf herum. Yoshiki kannte diese Vorsicht. Bei Umeboshi als Katermittel gab es nur zwei Optionen: Es blieb drin oder man hing noch einmal mindestens eine halbe Stunde über der Schüssel. So oder so wurde es besser. hide schluckte den Bissen hinunter und senkte abwartend den Teller. Nach etwa einer halben Minute nickte er langsam und aß eine zweite. „Ich hasse Umeboshi“, sagte er nach der dritten. „Unerfreulich“, antwortete Yoshiki. hide zog einen Mundwinkel hoch und stellte den Teller mit der letzten Frucht darauf zur Seite. „Ich hab meine Bonuspunkte bei dir aufgebraucht, oder?“ Yoshiki seufzte und schüttelte den Kopf. „Nein. Ich bin bloß fertig und ich hab Hausarbeit gemacht und da sind Kakerlaken in meiner Küche. Alles keine schönen Dinge. Also los, geh baden, Handtuch liegt da und ich bring dir was zum Anziehen…“ Mit einem vagen Geräusch der Zustimmung rappelte sich hide langsam hoch. Er musste sich an Yoshikis Kopf abstützen. „Du… kommst klar?“, fragte dieser. „Uh-hu“, machte hide, beruhigender Weise nicht sonderlich überzeugt, und tappte dann langsam auf den Gang und aus Yoshikis Sichtfeld. Dieser seufzte und watschelte auf den Knien hinüber zu seinem Schrank, um einen frischen Yukata zu suchen. Nach einer halben Stunde kehrte hide zurück, als Yoshiki gerade die Betten gemacht und einmal durchgelüftet hatte. Jetzt war es zwar eine ganze Ecke wärmer im Zimmer (Yoshiki saß präventiv schon einmal vor dem Ventilator), aber dafür roch es nicht mehr dezent nach wenig edler Spirituose. Er wirkte immer noch eher wackelig. „Alles in Ordnung?“ Der andere Junge schloss für einen Moment die Augen und legte zwei Finger an die rechte Schläfe. „Ja. Nein. Keine Ahnung. Warmes Wasser. Kreislauf. Und ich hatte noch nie in meinem Leben solche Kopfschmerzen...“ Das überraschte Yoshiki nun eher weniger. „Leg dich am besten nochmal hin.“ Es klang weniger wie ein Vorschlag als wie eine Anweisung. hide blieb noch ein paar Sekunden unschlüssig im Raum stehen, gestand sich dann ein, dass er keinen besseren Vorschlag hatte und ließ sich wieder auf den Futon fallen. „Gehst du weg?“, fragte er mit einem Seitenblick. „Kommt drauf an“, antwortete Yoshiki neutral. „Soll ich?“ „… Nein.“ hide stockte. „Ist das peinlich?“ Yoshiki musste schmunzeln und setzte sich an seinen Schreibtisch. „Ich glaube, das Stadium der Peinlichkeit haben wir schon überschritten.“ „Gut“, sagte hide matt und angelte nach dem Bären. Dann drehte er dem Zimmer wieder den Rücken zu und zog die Decke trotz der Wärme noch ein Stück höher. „Gut…“ Yoshiki zog den Block unter dem Tisch hervor, auf dem er Texte vor sich hinkritzelte, wann immer ihm ein paar Zeilen durch den Kopf schossen und nahm das Wörterbuch vom Regal. Nachdenklich betrachtete er, was er die letzten Tage so fabriziert hatte. Die englische Grammatik war stellenweise nach wie vor ein Mysterium. Doch bereits nach wenigen Wörtern hielt er inne. Er schaute von seinen Lyrics hoch und in Richtung des ihm zugewandten Rückens. „hide…“ „Mmh?“, murmelte dieser. „In Zukunft, wenn dir nicht gut ist… es ist ok, wenn du was trinken willst. Aber tu mir einen Gefallen und ruf irgendjemand an, damit er mit dir trinkt, in Ordnung?“ hides Hand hörte auf, den Bären zu streicheln und ein paar Sekunden passierte nichts. Als er schließlich antwortete, klang es ein wenig bitter. „… das endet sonst nie so wie gestern. Ich kann auf mich aufpassen.“ Yoshiki seufzte lautlos. „Ich will dich doch nicht bemuttern. Ich will nur… dass du mit jemandem redest, dem du wichtig bist.“ hide schnaubte, doch Yoshiki war nicht bereit, an diesem Punkt nachzugeben. Das war wohl das Mindeste, das man von jemandem verlangen konnte, der einem gestern – unter anderem - über die Hose gereihert hatte. „Versprich mir, dass du dich nicht mehr allein betrinkst. Versprich es.“ Ein genervtes Geräusch antwortete ihm. „… Ok, ok. Mann.“ Er zog sich die Decke über den Kopf und war verschwunden. hide schlief noch einmal vier Stunden, ohne sich auch nur umzudrehen. Am Nachmittag schließlich befand er sich nach Yoshikis Einschätzung in einem Zustand, der ein ernsthaftes Gespräch zuließ. „Ok“, sagte Yoshiki und kniete sich hide gegenüber auf den Boden seines Zimmers. „Lass uns das pragmatisch machen. Was ist gerade dein größtes Problem?“ Sein Gegenüber dachte eine halbe Minute lang nach, in der er den Bären in seinem Schoß knautschte. „Keine saubere Unterwäsche“, sagte er schließlich. Yoshiki musste gegen seinen Willen lachen. Die Ernsthaftigkeit der Situation erzeugte in Kombination mit dieser profanen Aussage eine unwiderstehliche Komik. hides Grinsen geriet allerdings seltsam schief. Yoshiki riss sich mit einem Räuspern zusammen. „Entschuldige. Aber: Unterwäsche? Ernsthaft?“ „Ja, es war ein hartes Rennen zwischen Geld und Unterwäsche, aber sie hat gewonnen.“ „Mit Geld könntest du Unterwäsche kaufen.“ „Aber ich habe Unterwäsche. Genau wie ich andere Klamotten und eine Zahnbürste habe“, sagte hide und drehte den Bären einmal um hundertachtzig Grad, bevor er den Blick wieder auf Yoshiki richtete. Dieser schaute auf seine Finger, während er nachdachte. Es dauerte nicht lang, denn die Liste mit möglichen Lösungen war kurz. „Dann bleibt nur, dass du nach Hause gehst und deine Sachen holst.“ „Das wäre dann die naive Variante“, sagte hide zynisch. „Denn das gibt mir dann noch keinen Ort, an den ich meine Sachen bringen könnte und für so einen Ort bräuchte ich erstmal Geld und für Geld bräuchte ich eine Arbeit und für eine Arbeit müsste ich irgendetwas können, was ich nicht tue. Ich bin ein wohnungsloser Loser ohne Abschluss. Siehst du jetzt, warum die Unterwäsche die Wurzel allen Übels ist?“ Yoshiki seufzte. Ja, er sah das. „Außerdem kann ich nichts tun“, fuhr hide fort. Seine Hände hatten sich um den Bauch des Teddys verkrampft. „Ich meine, ich bin noch nicht mal neunzehn. Legal gesehen könnte ich auch vier sein. Ein dummes Kind. Das macht keinen Unterschied.“ Er schwieg ein paar Sekunden in denen er abwesend in die Luft starrte und sagte dann leise aber bestimmt: „… ich hab es so unendlich satt.“ Yoshiki atmete durch und schaute auf sein Plüschtier. So wie hide es drückte, quollen die Augen etwas hervor und das war nicht hübsch. hide hatte Recht. „Also“, sagte er schließlich, „ich weiß nicht, was wir machen können, hide. Ehrlich. Ich hab keine Ahnung. Ich kann dir nur anbieten, dass du hier bleiben kannst, bis sich das alles beruhigt. Wenn es dir nichts macht, dir ein Zimmer mit mir zu teilen.“ Ein überraschter Blick kehrte zu seinem Gesicht zurück und fand seine Augen. „Wirklich?“ Yoshiki nickte. „Ja. Aber ich warne dich, ich bin nachtaktiv.“ hide hob mit einem leichten Lächeln die Schultern. „Ich nehme an, als der Bittsteller, der ich bin, kann ich mich nicht beschweren. Sind deine Eltern im grünen Bereich dabei?“ „Meiner Mutter ist es recht.“ „Und deinem Vater?“ Yoshiki schwieg ein paar Sekunden. Dann sagte er, in einem präzise gewählten, abschließenden Tonfall: „Ich hab keinen Vater mehr.“ hide starrte ein paar Sekunden lang. „Oh.“ Er sah auf die Tatamis und dann zurück zu seinem Gastgeber. „Wow. Sorry. Ich wollte nicht… Warum hast du nie was gesagt?“ Yoshiki schüttelte den Kopf. „Es war nicht wichtig. Es ist auch jetzt nicht wichtig. Wichtig ist, dass du hierbleiben kannst.“ Der andere Junge nickte. Diesmal ohne zu lächeln. „Das wäre toll.“ Sie sahen sich einen Moment lang an. Dann nickte Yoshiki ebenfalls. „Ok. Hast du Hunger?“ „Eigentlich nicht. Aber ich denke, es wär besser, wenn ich was esse.“ Yoshiki nickte noch einmal. Eine weise Einsicht. „Meine Mutter arbeitet noch und mir ist wirklich nicht nach Kochen. Was hältst du von Eiern und Toast zum Abendessen?“ „Unorthodox“, sagte hide, erneut mit dem leichten Anflug eines Lächelns, „aber ich erlaube es.“ „Gut…“ Yoshiki stand auf. „Dann komm.“ hide setzte den Bären auf seinen Futon und erhob sich. „Hast du Marmelade?“, fragte er, während er hinter Yoshiki die Treppe hinunterstieg. „Zu Eiern?“ „Das ist lecker.“ „Das ist eklig.“ Sie aßen zu Abend. Dann kuschelten sie sich zurück in die Betten und schauten eine Komödie, ohne sich wirklich danach zu fühlen. Aber das war vielleicht auch etwas viel verlangt. Am Samstag blieben sie lang liegen und redeten über dies und das – über alles außer über das Thema, das so unübersehbar mitten im Raum stand, dass es fast unmöglich schien, es auch nur eine Sekunde lang zu vergessen. Aber sie konnten zumindest so tun als ob. Es war fast normal, bis die Stimmung schließlich gegen Mittag wieder kippte. Yoshiki hätte nicht genau sagen können, wann genau oder warum, doch er vermutete, dass es etwas damit zu tun hatte, dass er hide seine eigenen Klamotten wiedergegeben hatte. Vielleicht war es auch die Erkenntnis, dass sie heute Bandprobe hatten und hide es rigoros ablehnte, mitzukommen. Auf jeden Fall bekam er die Laune danach nicht mehr aus dem tiefen Loch heraus, in das sie gekrabbelt war. Gegen eins saßen sie am Küchentisch bei einem normalen Mittagessen oder einem sehr späten Frühstück und gerade hatten sie kein Thema mehr. Also aßen sie schweigend. Das hieß, Yoshiki aß. Ihm gegenüber stocherte hide in seinem Gemüse herum. Er sah zwar nicht mehr so fertig aus, aber Appetit hatte er scheinbar immer noch keinen. Etwas an dem Anblick gefiel Yoshiki so gar nicht. „Soll ich nicht doch lieber hier bleiben?“, fragte er zum gefühlt zehnten Mal an diesem Tag. hide schüttelte den Kopf. „Du musst gehen. Wenn wir beide nicht kommen, wissen sie, dass irgendetwas nicht stimmt.“ Das wussten sie vermutlich so auch schon, dachte Yoshiki, doch er sah hides Standpunkt. Mit einem Seufzen stand er auf und räumte seine Teller in die Spüle. Wenn er nicht zu spät sein wollte, musste er los. Er ging kurz nach oben, holte seinen Block, seinen Geldbeutel und seine Jacke und griff auf dem Weg zurück die Schlüssel zum Raum vom Haken im Flur. „Ok“, sagte Yoshiki, als er wieder in die Küche kam. „Und du bist sicher, dass du nicht mitkommen willst?“ Er öffnete den Küchenschrank und zog das alte Currypastenglas mit dem Haushaltsgeld seiner Mutter vom oberen Regal. Sie brauchte immer einen Hocker, wenn sie selbst drankommen wollte. hide schüttelte den Kopf noch einmal und steckte sich ein Stück Kartoffel in den Mund. „Nein. Und bitte sag den anderen einfach, ich wäre immer noch krank.“ Yoshiki nahm sich großzügige 500 Yen für die Fahrkarten und stellte das Glas zurück. Er nickte zögerlich. „In Ordnung… Du kannst Musik hören oder ans Klavier gehen oder an die Gitarre oder… keine Ahnung. Fühl dich einfach wie Zuhause.“ Er stockte. „Oder Nein, lieber nicht… Du weißt, was ich meine.“ hide zog einen Mundwinkel hoch und pflügte noch einmal sein Gemüse um. „Ja. Danke.“ „Gut…“ Unschlüssig blieb Yoshiki im Raum stehen. Er schaffte keine Verabschiedung. Nach einigen Sekunden hob hide den Blick von seiner Schüssel. „Was wird das hier?“, fragte er mild und zog auch den anderen Mundwinkel hoch, so dass sie ein vollständiges Lächeln bildeten. „Jetzt geh schon. Mein Leben ist komisch, nicht deins. Es hat keinen Sinn, wenn wir beide deswegen rumhängen.“ „Ok“, sagte Yoshiki und nickte, mehr um sich selbst von dieser Entscheidung zu überzeugen. „Dann… geh ich jetzt. Bis heute Abend.“ hide hob die Hand zum Abschied. „Bis dann.“ Als Yoshiki sich in der Tür noch einmal flüchtig umdrehte, war er zu seinem Mittagessen zurückgekehrt. -X- „Yoshiki!“, sagte Taiji scharf. „Einsatz auf der Drei-Und! Immer noch!“ Der Schlagzeuger brach den Rhythmus mit einem letzten ‘Pling‘ auf dem Ride ab und zerrte sich mühsam mental ins Hier und Jetzt. Hu…? Oh… „Ja“, sagte er schließlich fahrig. „Entschuldigung.“ Taiji starrte ihn ein paar Sekunden regungslos an. Dann kam er um Toshi und das Schlagzeug herum und hielt sich seine Hand erst an die eigene Stirn und patschte sie dann in Yoshikis Gesicht. „… bist du krank?“, fragte er. Yoshiki schlug die Hand mit einem unwilligen „Bäh!“ weg. „Mir geht’s gut. Geh zurück, wir machen das nochmal. Mir fehlt die Leadgitarre... Pata- … sorry, Tomo, kannst du bitte Lead spielen?“ Tomoaki nickte und hob gleichzeitig die Schultern. „Nicht sicher“, sagte er und wandte sich seinem Griffbrett zu. „Ich versuch‘s.“ „Tu das. Taiji!“ Der Bassist stand immer noch neben ihm und beäugte ihn kritisch. Dann drehte er sich zu ihrem Sänger. „Toshi, Yoshiki ist kaputt. Mach was.“ „Jetzt stell dich schon wieder an deinen Platz, Asstard!“, fauchte Yoshiki genervt. Das brauchte er heute wirklich so gar nicht! Taiji verdrehte die Augen. „Hab mich geirrt“, sagte er und machte sich auf den Rückweg. -X- Als Yoshiki an diesem Abend nach Hause zurückkehrte, war es bereits fast halb zehn. Er wusste eigentlich nicht genau, warum es so spät geworden war – ihm war die Probe nicht sonderlich produktiv vorgekommen. „Guten Abend Mama“, sagte er mit einem Blick ins Wohnzimmer, wo seine Mutter irgendeinen Film mit Terence Hill ansah. „Hallo mein Schatz“, grüßte sie zurück und stellte den Ton aus. Yoshiki scannte den Raum. Sie war allein. Es hätte ihn auch irgendwie befremdet, hide gemütlich neben seiner mit einem flauschigen Bademantel und ihrem lindgrünen Pyjama bekleideten Mutter sitzend vorzufinden, andererseits hätte es ihn irgendwie auch nicht über alle Maßen überrascht. „Ist hide oben?“, fragte er am Ende dieses Gedankengangs. „Ich denke ja“, antwortete sie. „Er war vorhin noch mal unten, um sich was zu Trinken zu holen. Vielleicht hat er sich hingelegt.“ Yoshiki nickte und wandte sich zum Gehen. Als er in den ersten Stock hinaufstieg, sah er in seinem Zimmer allerdings Licht brennen und hörte leise aber deutlich Queens Spread Your Wings. Ironie des Schicksals, dachte Yoshiki mit einem leichten Kopfschütteln. Bestimmt machte hide das mit Absicht… „Ich hab diesen komischen Purin gekauft“, sagte Yoshiki, noch während er die letzten Stufen hinaufstieg. Keine Reaktion. Er öffnete die Schiebetür und fragte eine Spur leiser: „… hide?“ Vielleicht schlief er ja doch schon. Man schlief gut zu Queen. Aber der Raum war leer. Ratlos stellte Yoshiki den Erdbeerpurin auf dem Tisch ab und trat wieder auf den Gang hinaus. „hide?“ Er lugte in die Toilette und ins Badezimmer. Dann schaute er aus dem Badezimmerfenster, nach hinten in den kleinen Garten, der wenig mehr war als ein Stück verbrannter Rasen. Niemand. Yoshiki verließ das Bad wieder. In der Bewegung erhaschte er einen flüchtigen Blick auf sein eigenes Gesicht im Spiegel, besorgt und eine Spur blasser als sonst. Da war dieser ernste Zug um seine Mundwinkel, der eines Tages bestimmt blieb, wenn er nicht aufpasste. He spends his evenings alone in his hotel room, sang Freddie Mercury, Keeping his thoughts to himself, he'd be leaving soon Wishing he was miles and miles away Nothing in this world, nothing would make him stay. Ein kalter Schauer lief Yoshiki den Rücken hinunter und von einer plötzlichen, irrationalen Panik gepackt hastete er die paar Schritte zurück und riss die Tür des Zimmers gegenüber von seinem auf. Es war leer. Das Licht der Straßenlaternen fiel von draußen durch die lange nicht geputzten Fenster und ließ die feinen Staubpartikel in der Luft sanft glitzern. Unten klingelte das Telefon. Yoshiki hielt sich am Türrahmen fest und versuchte, seinen hämmernden Herzschlag unter Kontrolle zu bekommen. Warme, abgestandene Luft, der holzige Geruch alter Tatamimatten und die saure Note leicht muffig gewordenen Papiers umfingen ihn. Er schob die Tür wieder zu, bevor die Atmosphäre noch ganz tief begrabene Erinnerungen wieder an die Oberfläche zerrte und ging stattdessen im Gang in die Hocke. Da waren schwarze Punkte vor seinen Augen. Fahr runter, beschwor er sich, ganz ruhig. Alles ist gut, solange du nichts anderes weißt. Vielleicht ist er nur spazieren. Den Kopf frei kriegen. Und langsam und tief atmen. Er atmete ein paar Mal langsam und tief. Die Punkte wurden weniger. Oder vielleicht hatte hide sich aufgerafft und holte sein Zeug. Idiot. Das hätte er doch sagen können! Er hätte ihm doch dabei geholfen… Yoshiki rieb sich die Nasenwurzel. Was sollte er jetzt tun? Erstmal musste er wirklich die Musik ausmachen. Mercury sang jetzt Fight From the Inside und Hey you boy, think that you know what you're doing war gerade nichts, das er hören wollte. Und der fetzige Beat passte auch so gar nicht zu seiner Stimmung. „Yoshiki!“, rief seine Mutter die Treppe hinauf, gerade als er die Nadel von der Platte genommen hatte. „Es ist für dich!“ -X- Zwei Kilometer weiter ging Toshi gerade auf dem Weg von der Toilette ins Bett am Telefonapparat vorbei, als es klingelte. Er nahm sofort an. „Ja?“, fragte er unwirsch in den Hörer. Wer um diese Uhrzeit anrief, gehörte entweder zur Familie oder durfte nicht mehr mit Höflichkeiten rechnen. Es war nach zehn und es gab Kinder in diesem Haushalt, verflucht noch eins! „…“ Toshi kannte diese Stille. Er wechselte den Hörer in die linke Hand. „Yoshiki?“ Die Stimme am anderen Ende der Leitung klang seltsam erstickt. „Toshi… kannst du herkommen?“ „Jetzt?“, fragte Toshi irritiert. Sie hatten sich doch erst vor einer Dreiviertelstunde an der Bahnstation getrennt! „Ja. Jetzt. Bitte.“ Toshi schloss die Augen und lauschte in die feinen Nuancen zwischen den Worten. Uh-oh… Diesen Tonfall hatte er schon länger nicht mehr gehört. Und er hatte ihn kein bisschen vermisst. „Ok“, sagte er betont deutlich. „Atmen. Was ist los?“ Noch hatte er sich nicht in Bewegung gesetzt. Dazu war ihm die Grundlage doch etwas zu dünn. Sein Hinterkopf hatte allerdings schon begonnen darüber nachzudenken, in welcher Reihenfolge er was erledigen musste, um schnellstmöglich unterwegs zu sein. „…“ „Yoshiki.“ „Ich… hab versprochen, das nicht zu erzählen, aber… ich…“ Toshi hörte ein zittriges Atmen auf der anderen Seite. „Donnerstagnacht… ist hide hergekommen“, begann Yoshiki schließlich. „Und…“ Er erzählte. Nachdem er mal angefangen hatte, ging es flüssig, in kurzen, prägnanten Sätzen. Toshi hörte nur zu. Er sagte nicht einmal Mmh oder Aha oder Oh Scheiße. Als Yoshiki geendet hatte, senkte sich eine tiefe Stille über sie beide und obwohl sie nicht am gleichen Ort waren, einte sie das. Toshi sah um die Ecke auf die Küchenuhr. Sie telefonierten nicht mal zehn Minuten. Er kam sich vor, als wäre er um Jahre gealtert. „Toshi?“, fragte Yoshiki nach einigen Sekunden. „Bist du noch dran?“ „Ja…“, antwortete Toshi und rieb sich übers Gesicht. Er verstand plötzlich, warum Yoshiki gewollt hatte, dass er vorbeikam. Er fühlte sich von der Gesamtsituation überfordert. „Das… ist nicht gut.“ „Ja“, sagte Yoshiki kläglich. „Aber das ist es noch nicht.“ Der Junge auf der anderen Seite der Leitung stöhnte. „Da kommt noch mehr?“ Toshi stützte sich auf das Telefontischchen. Ok. Bring it. „Gerade hat hides Mutter hier angerufen. Sie sucht nach ihm. Also ist er nicht nach Hause gegangen.“ Toshi nickte. Natürlich. Das machte die Lage perfekt. „Ok“, sagte er nach ein paar Sekunden, in denen er bereits begonnen hatte, die Füße aus seinen dicken Schlafsocken zu schälen. „Ich komm.“ -X- Fünf Minuten später war Toshi auf dem Rad draußen auf der Straße, unterwegs in Richtung Innenstadt. Um diese Uhrzeit fuhren kaum noch Bahnen und er hatte keine Minute zu verlieren. Er trat in die Pedale, bis seine Lunge schrie und die Muskeln an seinen Waden brannten. Dann trat er weiter. -X- Yoshiki hatte sich in seine Decke gekuschelt und sich ans Fenster gesetzt. Er sah nach draußen in die Nacht, ohne zu wissen, worauf er eigentlich wartete. Vielleicht Toshi. Vielleicht hide. Vielleicht jemanden, der ihm sagte, was er tun sollte. Er zog die Füße etwas mehr an, weiter unter die Decke. Seine Zehen waren kalt und ihn fröstelte ein wenig, trotz der schwülen Wärme draußen. Die Teetasse, die seine Hände umschlungen hielten, war inzwischen leer und kalt. Kurz wandte er den Blick zu seinem Wecker. Es war kurz vor Mitternacht. Es fühlte sich später an. Draußen kamen leise Schritte die Treppe nach oben. Seine Mutter war genauso nachaktiv wie er, wenn ihr Arbeitsalltag es zuließ. Oder vielleicht schlief sie einfach ebenso schlecht wie ihr Sohn… er wusste es nicht. Die Schritte stoppten vor seiner Tür; sie musste sehen, dass noch Licht brannte. Yoshiki konnte hören, wie die Fusuma langsam aufgeschoben wurde. Er drehte den Kopf minimal, um ihr zu zeigen, dass er zuhörte. Vielleicht wollte sie ihn trösten. Oder sie hatte einen mütterlichen Ratschlag. Er konnte wirklich einen von der Sorte gebrauchen. Doch als sie sprach war ihr Tonfall nicht besorgt und er war auch nicht sonderlich liebevoll. „Yoshiki“, sagte sie verwundert und ein wenig ärgerlich. „Was hast du denn heute gekauft?“ Draußen huschte ein schwarzer Schatten über die Straße. Katze. Yoshiki runzelte die Stirn und betrachtete die still daliegenden kleinen Einfamilienhäuser, die kaum vorhandenen Gärten, die Mittelklasseautos. Inmitten seiner düsteren Gedanken machten ihre Worte irgendwie keinen Sinn und er brauchte ein wenig, bis sich ihm ihre Bedeutung erschloss. „…Was?“, fragte er schließlich mit einiger Verspätung und drehte sich vollständig zu ihr um. Das erschien ihm gerade wie die absonderlichste Frage der Welt. Als hätte er nichts Wichtigeres im Kopf! Seine Mutter stand hinter ihm in der Tür. In der Hand hatte sie das Currypastenglas. Es war leer. Kapitel 7: Better Things ------------------------ Es war Viertel nach zwölf, als Yoshiki schließlich eine dunkle Gestalt vor dem Haus vom Fahrrad steigen und den kurzen Weg zur Haustür hinaufkommen sah. Er war unten, bevor Toshi auf die Idee kommen konnte zu klingeln. Zwar war der gesamte Hayashi-Haushalt noch auf den Beinen, doch laute Geräusche waren in Yoshikis Stadium der Müdigkeit wirklich etwas, das vermieden werden wollte. „Hallo“, sagte Toshi, als die Tür sich öffnete. Im Gegenlicht sah er erst einmal nur einen Schatten. „Abend“, sagte die Silhouette, die sich allmählich in Yoshiki verwandelte. Er klang ein wenig besser als am Telefon. „Was gehört?“, fragte Toshi und ging an ihm vorbei in den Flur. Yoshiki schüttelte den Kopf. „Aber… es… also…“ „Subjekt, Objekt, Prädikat.“ Yoshiki seufzte und schloss die Haustür. „Meine Mutter hat gerade gemerkt, dass ihr komplettes Geld fehlt. Da ich es nicht war und sie es nicht war und gleichzeitig der Goldschmuck noch ist, wo er hingehört und keiner entführt wurde, bleibt eigentlich nur ein Rückschluss, so wenig ich den ziehen will.“ „Oh“, machte Toshi nach ein paar Sekunden, in denen er nachdenklich auf die Eulenfigur auf dem Schuhregal geschaut hatte. „Das… passt nicht zu ihm, oder?“ „Nein“, stimmte Yoshiki ihm zu. „Tut es nicht. Oder… ich weiß gerade nicht mehr, was zu ihm passt und was nicht. Aber es beruhigt mich ein wenig… Ich meine… man nimmt kein Geld mit, wenn man… also…“ Er vollendete den Satz nicht und hob stattdessen den Blick zu seinem besten Freund. „… oder?“ „Ich bin sicher, er hat nichts Blödes gemacht“, sagte Toshi beruhigend und legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Naja“, sagte Yoshiki mit einem zynischen Unterton. „So weit würde ich jetzt nicht gehen wollen.“ Sie schwiegen ein paar Sekunden. Dann fragte Yoshiki: „Wie siehst du überhaupt aus?“ Aus irgendeinem Grund trug Toshi seine Sportsachen und aus irgendeinem Grund war er klatschnass. Der Sänger fuhr sich durch die schweißfeuchten Haare. „Lach nicht“, sagte er peinlich berührt. „Danach ist mir nicht wirklich.“ „Ich war nochmal in der Stadt. Ich dachte, vielleicht ist er… aber seine Gitarre war noch da.“ Mit einem Seufzen bückte er sich zu seinen Hausschuhen. „Das war bescheuert. Ich meine, warum sollte er auf der Lauer liegen und sich reinschleichen, wenn wir weg sind. Aber… keine Ahnung. Ich wollte einfach…“ „Irgendwas tun?“, fragte Yoshiki. Toshi richtete sich wieder auf. „Ja.“ „Kann ich verstehen.“ Beide Jungen schafften ein kleines Lächeln. Zehn Minuten später hatte Yoshiki neuen Tee gemacht und Toshi sich abgetrocknet. Es war warm genug, um oben ohne herumzulaufen während sein Shirt trocknete und da Yoshikis Mutter inzwischen zu Bett gegangen war, musste er sich nicht einmal dezent unwohl fühlen – was als Kind noch gut funktionierte, wurde mit der Pubertät irgendwie komplizierter. Aus Rücksicht hatten sie die konspirativen Gespräche nach unten ins Wohnzimmer verlegt. Toshi schaute in den Kühlschrank. Mitternachtssnacks waren die besten Snacks. Vor allem, wenn man davor noch vierzehn Kilometer geradelt war. „Da ist noch Hühnchen und Gemüse in der roten Box“, sagte Yoshiki vom Tisch aus. „Uh“, machte Toshi. Er zog die Dose heraus und probierte ein Stück Fleisch. Es schmeckte auch kalt. „Hast du das gemacht?“, fragte er, während er sich zu seinem Freund an den Tisch setzte. Yoshiki zuckte mit den Schultern. Toshi nahm noch ein paar Bissen. Mmh. Yoshikis Essen sah scheiße aus, dachte er und hob eine unförmige Karottenecke aus der Mischung, aber über den Geschmack konnte man sich wirklich nicht beschweren. „Vorschlag“, sagte er. „Wenn wir beide fünfzig werden und kein Mädchen abbekommen haben, ziehst du bei mir ein.“ Yoshiki nippte gedankenverloren an seinem Tee. „Ich hab mehrere Probleme mit diesem Szenario“, sagte er schließlich. „Ich bin bereit, mich deinen Vorstellungen anzupassen.“ „Pass auf, was du versprichst. Mit fünfzig ist man nicht mehr so flexibel.“ Toshi nahm einen Batzen Spinat. „Dann sag’s mir jetzt und ich stell mich langfristig drauf ein.“ Yoshiki dachte kurz nach und hob dann die rechte Hand zur Aufzählung. „Erstens: Fünfzig werden. Zweitens: Kein Mädchen. Drittens: Ich zieh bei dir ein.“ „Ich versteh deine Probleme mit den ersten beiden Punkten, aber die nehm ich jetzt mal als Grundvoraussetzungen hin. Was ist am dritten so schlimm?“ „Das klingt, als würdest du mich aushalten.“ „Ich halte dich aus.“ Yoshiki musste lachen. Das tat gut. „Finanziell, du Dödel!“ „Oh.“ Toshi grinste um ein Stück Hähnchen herum. „Außerdem seh ich den Vorteil für dich“, fuhr Yoshiki fort, „aber ich seh meinen noch nicht so ganz.“ „Och, bitte!“ Ein Dackelblick seitens des Sängers. „Ich kauf dir auch viele hübsche Sachen. Pianos und … Becken und alles, was der moderne Mann so braucht.“ Yoshiki lächelte und lehnte sich ein Stück vor, dabei so tuend, als würde er sich eine Haarsträhne um den Finger wickeln. „Jetzt wird’s interessant.“ Toshi lachte ebenfalls und das Geräusch schien einen Teil des Gewichts von Yoshikis Brust zu nehmen. Die Atmosphäre im Haus wurde mit einem Schlag weniger erdrückend. „Also“, sagte Yoshiki, dem die neugewonnene Leichtigkeit Mut machte nach einigen Sekunden eine Spur ernster. „Was unternehmen wir wegen hide?“ „Ich nehme an, nichts“, antwortete Toshi. Ratlos schob er einen Brocken Kartoffel nach links und wieder nach rechts, bis er die Stäbchen schließlich mit einem Seufzen senkte. „Es ist schlimm, das zu sagen, aber ich kenn ihn nicht gut genug, um zu wissen, was er gemacht haben oder wo er sein könnte. Du?“ Sein Freund schüttelte er den Kopf. „Nein. Mann. Wir haben so viel geredet, aber… wenn ich ganz ehrlich bin… weiß ich eigentlich gar nichts über hide.“ Toshi nickte langsam und betreten. „Uh-hu.“ „Also, das Verhältnis dessen, wie viel er redet, zu dem, wie viel er wirklich sagt, ist irgendwie… hundert zu eins. Oder so.“ Yoshiki wusste nicht, warum er weiterbrabbelte. Vielleicht hatte er das Bedürfnis, sich zu rechtfertigen. Es war doch schrecklich, sich eingestehen zu müssen, dass man jemanden, den man einen Freund genannt hatte, gar nicht wirklich kannte. Oder? War das nicht schrecklich? Es fühlte sich schrecklich an. Toshi seufzte. „Ja, woran auch immer es liegt, es sieht ganz so aus, als könnten wir da nichts machen.“ Er zerpflückte verdrossen ein Stück Huhn. „Mann. Das ist echt eine beschissene Situation.“ „Du sagst es.“ Yoshiki leerte seinen Tee. Ein paar Minuten saßen sie schweigend am Tisch, Yoshiki, weil er nachdachte und Toshi, weil er nachdachte und aß. „… wenn es nur irgendwas gäbe, was wir tun könnten“, sagte Yoshiki schließlich und streckte die Hand aus. Toshi reichte ihm die Stäbchen. „Ich wünschte, er würde sich nicht so schlecht fühlen.“ Yoshiki angelte den letzten Bissen Kartoffel und Huhn aus der Dose und sagte kauend: „Ich wünschte, ich würde mich nicht so schlecht fühlen.“ Er gab Toshi sein Besteck zurück. Dieser schmunzelte und kratzte den letzten Rest Spinat in der Ecke zusammen. Es waren Aussagen wie diese, die Yoshiki den Ruf einbrachten, ein selbstzentrierter, unzugänglicher Sonderling zu sein. Zum Glück kannte Toshi ihn lange genug um zu wissen, dass es einfach seine Art war, mit Anspannung umzugehen. Er aß auf und gähnte. Yoshiki gähnte unwillkürlich mit. „Was auch immer die Lösung hiervon ist“, sagte Toshi, als sein Mund ihm wieder gehorchte, „ich glaube nicht, dass wir sie heute Abend – uhm, Morgen, es ist schon Sonntag, oder? – noch finden.“ Sein Gegenüber nickte resigniert. „Bettchen?“ Toshi zuckte mit der linken Schulter. „Weiß nicht. Was ist die Alternative?“ „Nachtprogramm. Und/oder Bier.“ Verlockende Optionen... Nicht. Toshi verzog das Gesicht. „Bettchen.“ Oben in Yoshikis Zimmer bedeckten immer noch zwei Futons den Boden – in der vagen Hoffnung, dass hide vielleicht doch wieder auftauchen würde und in einem Anflug genereller Unlust hatte der Schlagzeuger sie einfach erstmal liegen lassen. Außerdem stand ein Erdbeerpurin einsam und vergessen auf dem Tisch. Der Anblick versetzte Toshi einen leichten Stich, den er zu seinem eigenen Entsetzen als Eifersucht identifizierte. Er schob das grüne Monster weit, weit weg und sah Yoshiki dabei zu, wie er die Futons näher zueinander schob und dadurch einen großen Doppelfuton schuf. „Ist die Mehrzahl von Futon wirklich Futons?“, fragte er nach diesem Gedankengang leise, während er die kurze Sporthose auszog. „Das klingt irgendwie nicht richtig.“ „Ja“, wisperte Yoshiki und warf seinen Pulli in eine Ecke und die Jeans hinterher. „Was soll es denn sonst sein?“ „Keine Ahnung. Futon. Futoni. Futona.“ Yoshiki schlüpfte unter die Decke. „... bist du müde?“ „… ja.“ Toshi ließ sich auf seine Hälfte des Riesenfutons fallen. Es war eindeutig zu warm für eine Decke. „Merkt man.“ Yoshiki drehte sich auf die rechte Seite. Toshi drehte sich auf die linke Seite. Ihre Knie berührten sich fast. „Idiot.“ [Eine weitere semiwitzige Anmerkung zum Thema Plural: Eigentlich wollte ich hier schreiben, dass ihre Köpfe nah beieinander sind, hab aber festgestellt, dass die Mehrzahl von Stirn tatsächlich Stirnen ist. Das klingt ja mal ewig bescheuert. Aber ihr könnt euch die freundschaftliche Intimität jetzt ausreichend vorstellen.] Ein paar Sekunden war es still. Toshi knetete noch einmal das Kissen in die richtige Form und legte den Kopf mit einem tiefen Seufzen wieder ab. „Was’n Tag“, murmelte Yoshiki. „Uh-hu“, machte Toshi. Jetzt wo er sich in der Horizontalen befand war das Wachbleiben auf einmal eine echte Herausforderung. „Danke fürs Rüberkommen.“ „Kein Ding…“ Toshi kam ein unangenehmer Gedanke. „Wir haben nicht Zähne geputzt…“ Doch Yoshiki hatte einen Ausweg. Er murmelte: „Wir erzählen das einfach keinem…“ Manche Probleme waren einfacher zu lösen als andere. -X- Es wurde Sonntag und nach dem Sonntag wurde es Montag und dieser ging über in den Mittwoch. Dann fiel den Verantwortlichen auf, dass man den Dienstag vergessen hatte, und sie schoben ihn schnell dazwischen, bevor es noch jemand bemerkte. Es war also Dienstagvormittag. Yoshiki machte gerade Gyoza, als das Telefon klingelte. Er ging dieser Beschäftigung nicht nach, weil er so begeistert vom Kochen oder von Teigtaschen war, sondern weil oben auf seinem Schreibtisch seine Geschichtsaufgabe für die Ferien lag und das hier eines der zeitaufwendigsten Gerichte war, die er hatte finden können. Schon drei von zweitausend Wörtern… Oh je. Umständlich griff er mit den am wenigsten klebrigen Fingern nach dem Hörer. „Hayashi“, sagte er eher unhöflich. „He“, sagte eine Stimme, die er als Tomo identifizierte. „Ich bin’s. Überraschung. hide hat angerufen.“ „Oh, Gott sei Dank…“, flüsterte Yoshiki. Auf einmal gaben ihm die Knie nach und er sank neben der Kommode auf den Boden, den Rücken an die Wand gelehnt. Er war so erleichtert, dass er nicht einmal wirklich verschnupft darüber sein konnte, dass er auf der Kontaktliste nicht ganz oben gestanden hatte. Er atmete zweimal tief durch. „Was ist passiert?“ „Er ist in Semboku.“ Yoshiki zog die Augenbrauen zusammen. „Wo zum Henker ist Semboku?“ -X- 52 Stunden zuvor Kühle, feuchte Morgenluft begrüßte hide, als er aus dem Zug stieg. Niemand außer ihm stieg aus und es stieg auch niemand zu. Die Gleise lagen leer und einsam zwischen dem Bahnhofsgebäude auf der einen und einem Sägewerk auf der anderen Seite. Langsam fuhr der Zug wieder an, um eine Biegung und war dann verschwunden. Tiefe Stille blieb zurück. hide gähnte und wandte sich in Richtung Bahnhofsvorplatz. Er war die ganze Nacht unterwegs gewesen und hatte sich nicht getraut, während der Fahrt die Augen zuzumachen, aus Angst, seine Station zu verpassen. Schon seit Stunden war ihm außerdem leicht blümerant: der Nachtbus nach Tokio war auf den kurvenreichen Küstenstraßen eine beschissene Idee gewesen und der Reiscracker, den er sich in der Wartezeit am Bahnhof gegen eben diese Übelkeit gekauft hatte, hatte auch nicht geholfen. Die frische Luft vollbrachte im Vergleich dazu wahre Wunder. Er ging über den Parkplatz und wanderte dann durch die noch stillen Straßen der verschlafenen Stadt. Nach einer Viertelstunde folgte er der vielerorts dürftig ausgebesserten Straße über einen kleinen Fluss, der sich rauschend über mehrere Stufen bergab ergoss, tiefer ins Hinterland. Es war grün hier: die Abstände zwischen den Häusern wurden größer und dieser Platz wurde beansprucht von hohen Bäumen, Gemüsegärten oder kleinen Gewächshäusern. Niemand begegnete ihm, nur in einer kleinen Autowerkstatt brannte bereits Licht. Er kam an einer Bushaltestelle vorbei, doch Busse fuhren selten hier, also machte er sich gar nicht erst die Mühe, auf den Plan zu sehen. Nebel hing noch über der Szenerie doch die ersten Sonnenstrahlen spitzten bereits über die Hügelketten, als er nach weiteren fünf Minuten von der Hauptstraße abbog und, einem kleinen Weg folgend, an Häusern und Feldern und Baumgruppen vorbeiwanderte, bis schließlich auf der rechten Seite ein kleines Häuschen auftauchte, umgeben von Pinien und blühenden Sträuchern. Der süßlich-würzige Geruch drang ihm in die Nase, als er die mit Kies bedeckte Auffahrt hinaufging und hide spürte, wie ihm Tränen in die Augen stiegen. Er schluckte zweimal. Die Erleichterung darüber, endlich hier zu sein, vermischte sich mit Kindheitserinnerungen, schlechtem Gewissen, Müdigkeit und der generellen Anspannung der letzten Wochen zu einem äußerst ungesunden Cocktail. Gleich würde er platzen. Er klingelte. Nichts geschah. Nun ja, manchmal konnte das um diese Uhrzeit schon dauern. Er wartete. Nach einer halben Minute klingelte er noch einmal. Immer noch nichts. hide runzelte die Stirn, trat ein paar Schritte zurück und suchte mit den Augen die Fenster ab. „Oh, verarscht mich alle“, murmelte er. Erneut stiegen ihm Tränen der Anspannung in die Augen. Das durfte doch nicht wahr sein! Gerade als er bereit war, ausgiebig zu verzweifeln, hörte er etwas. Er legte den Kopf schief und lauschte. Das Geräusch fließenden Wassers. Dem Plätschern folgend ging er einmal um das Haus herum. Durch den kleinen Garten auf der Rückseite stakste eine alte Frau und goss die Pflänzchen, bevor die Hitze des Tages zu groß wurde. hide erkannte Auberginen, Rüben und Spinat. Der Apfelbaum hing knorrig und traurig tief über der Regentonne, doch der bei hides letzten Besuch noch winzige Kirschbaum war gewachsen und jetzt größer als er. „Guten Morgen“, sagte er etwas lauter, noch von der Hausecke aus, um sie nicht zu erschrecken. Das klappte nur so halb - sie machte einen kleinen Satz, fuhr herum und griff sich in die Herzgegend. Dann erkannte sie ihn. „Hideto!“, rief sie überrascht und stellte ihre Gießkanne beiseite, um auf kurzen Beinchen zu ihm hinüber zu wackeln. Sie ging ihm nicht einmal mehr bis zur Brust. „Junge, was machst du denn hier?“ Herzlich drückte sie seine Hüfte, er umarmte aus Mangel an Alternativen ihre Schultern. „Hallo, Obaa-san.“ -X- „Aha. Hat… hat er gesagt, wann er zurückkommt?“ „Nein. Aber es geht ihm gut. Das ist doch erstmal am wichtigsten, oder?“ „Ja“, murmelte Yoshiki. „Natürlich.“ Es ging nicht um ihn. Schwer einzusehen, aber trotzdem wahr. Er räusperte sich. „Hat er seinen Eltern gesagt, wo er ist?“ „Nein“, sagte Pata ruhig. „Du solltest das machen.“ Yoshiki bewegte sich unbehaglich von seinem Fuß auf den anderen. Das erschien ihm eine größere Rolle, als er sie eigentlich hatte spielen wollen. „Ist das nicht irgendwie… ein Missbrauch seines Vertrauens?“ „Er hat mir auch gesagt, dass ich dir noch nicht sagen soll, wo er steckt.“ „Oh“, machte Yoshiki. Und dann, noch einmal, mit ganz anders gelagerter Betonung: “Oh“. „Nimm es nicht persönlich“, sagte die Stimme am anderen Ende der Leitung. „Ich denke, hide hat einfach ein paar ziemlich gravierende Probleme mit Beziehungen. Nichts, das ein paar Jahre teure Therapie nicht lösen könnten. Wir sollten aber aufpassen, dass wir uns da nicht mit reinziehen lassen. Es gibt hier in der realen Welt eine normale und moralisch richtige Vorgehensweise und wir wissen beide, wie die aussieht.“ Ein Seufzen. Yoshiki war wirklich nicht scharf auf diesen Anruf. „Ok…“ Doch zuvor hatte er noch eine Frage: „Erreich ich ihn irgendwie?“ Es war vielleicht nur eine erste emotionale Reaktion, doch auf einmal hatte Yoshiki so einige Dinge, die er hide gerne gesagt hätte. Nicht alle davon waren nett. „Hat er mir nicht gesagt. Gib ihm Zeit. Vielleicht meldet er sich von selbst bei dir.“ „Danke. Ich… ich denk, ich ruf dann mal ein paar Leute an.“ „Bis morgen.“ „Ja. Bis dann. Danke.“ Yoshiki tastete mit der Hand über den Kopf und legte den Hörer beim dritten Versuch auf die Gabel. Nachdenklich puhlte er ein wenig Shrimp unter seinen Fingernägeln hervor und schaute an die Wand gegenüber. Er war erst erleichtert gewesen, dann sauer, dann enttäuscht und jetzt wusste er gerade nicht, was er war. Mit einem weiteren Seufzen zog er sich an der Kommode hoch und wählte die Nummer der Deyamas. Vielleicht konnte Toshi es ihm sagen. -X- hide saß am Esstisch und sah sich um. Alles war genau so, wie er es in Erinnerung hatte: dieselbe klebrige Plastikdecke auf dem Tisch, dieselben alten Fotografien an den Wänden, dieselben Fenster mit den undichten Fugen. Nur die Tatamimatten waren andere – jemand hatte sie vor kurzem ausgetauscht und sie waren jung und grünlich und dufteten angenehm. Seine Großmutter rumorte in der Küche. „Oma, was machst du denn da?“, fragte er nach einigen Minuten über die Schulter. „In meinem Alter überlegst du dir, was du gleich noch alles machen kannst, wenn du mal stehst.“ Etwas klapperte und klirrte. „Hast du gefrühstückt?“ „Ja“, log hide und drehte sich wieder zum Tisch. „Alles gut.“ „Mit dir hab ich wirklich überhaupt nicht gerechnet“, sagte seine Großmutter, als sie mit einer Kanne, zwei Tassen und einem Teller mit Plätzchen wieder ins Wohnzimmer kam. „Ich dachte, ihr schaut erst zum keirō no hi wieder vorbei. Aber es ist schön, dass du mich besuchst.“ Sie schenkte ein. hide nahm einen Schluck Kaffee. Er war viel zu stark und genau richtig. „Ich… wollte ich was fragen.“ Die alte Frau setzte sich mit einiger Mühe an den Tisch. „Na, das muss ja eine große Frage sein, wenn du dafür den ganzen Weg hier herauf kommst.“ „Ja…“, sagte hide langsam, griff nach einem Keks und drehte ihn in den Fingern. Das war es. Er atmete ein. „Warum hast du mir damals eine Gitarre geschenkt?“ Seine Großmutter sah ihn fragend an. „Was meinst du?“ „Naja, warum das? Warum kein Fahrrad oder ein… ein Startkonto für die Uni oder für ein Auto oder ... irgendwas halt?“ „Ah.“ Sie nippte an ihrem Kaffee und schien nachzudenken. „Nun, du wurdest zwölf und Opa war gerade gestorben und ich bekam die Lebensversicherung ausbezahlt. Da dachte ich, wenn ich meinem Enkel einmal etwas richtig Schönes schenken kann, dann jetzt. Auch von ihm, als Erinnerung. Also haben alle lange darüber nachgedacht, bis meine Freundinnen sagten, es sei doch gut für Kinder, wenn sie ein Instrument lernen. Das hat mir gefallen und ich bin in die Stadt gefahren. Deine Eltern hatten nur diese kleine Wohnung, also musste es leise sein, klein und ich wollte etwas, für das man dich nicht hänselt. Flöten waren ja furchtbar in Mode, aber ich fand die Dinger schrecklich. Also sagte der Verkäufer ‘Wie wäre es mit einer Gitarre‘ und ich sagte ‘Gibt es die auch in Rot‘. Ich hab die ganzen Sachen, die er mir erzählt hat warum das Ding so teuer war ja überhaupt nicht verstanden.“ hide legte den Keks vor sich auf den Tisch. Ihm war plötzlich wieder übel. Vielleicht der Kaffee auf leeren Magen. „Und… das ist alles?“, fragte er tonlos. Seine Großmutter dachte noch einmal nach. „Ja“, sagte sie dann. „Das war das. Hach, ich weiß noch, wie du das Ding ausgepackt hast. Du hast dich so gefreut.“ Sie schien für einen Moment in der Erinnerung zu schwelgen. Dann bemerkte sie den Gesichtsausdruck ihres Enkels. „Was ist denn?“ “Nichts”, sagte hide. Er fühlte sich auf einmal sehr dumm. „Nichts. Ich… ich bin bloß müde. Ich bin die ganze Nacht durch hergefahren. Kann ich mich ein bisschen hinlegen?“ Eine Viertelstunde später hatte sich hide im Nebenzimmer auf der Matratze eingerollt, doch so sehr er es versuchte, kam der Schlaf nicht. Über Stunden lag er da und lauschte den Geräuschen des Tages draußen. Er hörte den morgendlichen Berufsverkehr auf der Straße zu- und wieder abnehmen, ein paar Kinder auf dem Weg in die Stadt, gegen Mittag ein lautes Moped, die Stimme seiner Großmutter, wie sie sich am Nachmittag mit einer Nachbarin unterhielt. Allmählich wurde es warm und ein wenig stickig im Raum. Die Wärme machte durstig. Irgendwann im Lauf des Spätnachmittags döste er kurz ein und bekam beim Aufwachen Kopfschmerzen, doch der Weg in die Küche erschien ihm zu weit. Er dachte darüber nach, was ihn in Tateyama erwartete. Er dachte darüber nach, für immer hier zu bleiben und Reis anzupflanzen. Er dachte darüber nach, wie es sein würde, wenn er einfach überhaupt nie wieder aufstand. Man ließ ihn mit seinen Gedanken in Ruhe und das war ihm nur Recht. Erst, als die Sonne draußen langsam unterging und den Raum in rötliches Licht tauchte, hörte er schwerfällige Schritte auf dem Gang und dann das leise Geräusch einer sich öffnenden Tür. „Hideto? Bist du wach?“ „Ja“, sagte hide. Seine Stimme klang rau und er räusperte sich einmal. „Magst du mit zu Abend essen?“ hide setzte sich auf. Die Bewegung verstärkte die Kopfschmerzen von einem dumpfen Druck zu einem schmerzhaften Pochen, dennoch schaffte er ein Lächeln. „Ich hab keinen sonderlich großen Hunger.“ „Aber Junge, du hast doch den ganzen Tag nichts gegessen!“, sagte sie besorgt und tappte zu ihm hinüber. „Geht es dir nicht gut?“ Urplötzlich schossen hide wieder Tränen in die Augen. Warum fragten ihn die Leute das nur ständig! Konnten sie sich nicht einfach um ihr eigenes Zeug kümmern? „Doch“, sagte er. Es klang schwach und dünn und überhaupt nicht gut. Er räusperte sich. „Doch“, sagte er noch einmal. Besser. Flucht nach vorn. „Alles in Ordnung. Ich ess‘ mit. Was gibt’s?“ Seine Frage verhallte ohne Antwort. Mühsam ging die alte Frau neben ihm auf die Knie. Ihre Präsenz nahm Platz ein, den er lieber für sich behalten hätte. Sie roch wie immer. Wie eine Oma. Nach Sandelholz und Heilsalbe und solider Hausmannskost und ein klein wenig nach Mottenkugeln. Dass er das so genau sagen konnte, bedeutete: Sie war zu nah. Nicht gut. Gar nicht gut. Ihre Stimme war leise und sanft. Und ging durch bis auf die Knochen. „Was ist denn los?“ hide schaute weg, in die ganz andere Ecke des Raums, und krallte unter der Decke die Fingernägel auf der linken, ihr abgewandten Seite in den Oberschenkel. „Also… ich…“ Die Brust wurde ihm eng. Sein Herz schlug viel zu schnell und er spürte, wie seine Unterlippe anfing zu zittern. Seine Großmutter lehnte sich ein kleines Stück vor, er fing ihren Blick auf. Und brach in Tränen aus. -X- hide hätte nicht sagen können, wie lange er so da saß, mit dem Gesicht zwischen Armen und Händen vergraben, während die Hand seiner Großmutter ihm den Rücken streichelte. Allmählich und teilweise unverständlich blubberte alles aus ihm heraus: Aller Kummer der letzten Jahre, seine Eltern, die Schule, die Musik. Als er das nächste Mal hochschaute, hatte sich bereits die Dunkelheit der Nacht über das Zimmer gesenkt; nur vom Gang her fiel noch ein schmaler Schimmer warmen Lichts durch die offene Tür. „- und er sagte, dass das Scheiße ist und ich nur alles kaputt mache und wenn ich das tue, bin ich nicht mehr sein Sohn.“ hide atmete zittrig durch, gluckste noch einmal und dann hörte er auf. Weil keine Worte mehr da waren. Er fühlte sich seltsam leer, aber auch seltsam befreit. „Also“, fasste die alte Frau zusammen, „bist du hier, weil du wissen willst, was du tun sollst.“ „Ja“, sagte hide. Jetzt wussten sie beide, worum es ging. Das war ein Fortschritt. „Und ich dachte irgendwie, vielleicht würdest du etwas sagen wie ‘Ach Junge, weil ich damals wusste: die Gitarre ist das Ding für dich‘ oder so was. Aber anscheinend war das ja nicht so, also bin ich jetzt trotzdem nur ein… ein Idiot mit einem Instrument.“ Wow, das war ein lahmer Vergleich. hide rieb sich einmal mit dem Ärmel übers Gesicht und schniefte. Scheiße, war er durch. Ein paar Herzschläge lang sagte seine Großmutter nichts. Dann strich sie ihm einmal über die widerspenstigen Haare. „Na komm. Jetzt isst und trinkst du erstmal was und dann schauen wir weiter.“ Omas, dachte hide nicht ohne einigen Widerwillen. Als wären Essen und Trinken eine Panazee. Dennoch schlug er die Decke zurück und ergab sich in sein Schicksal. Ein paar Minuten später saß er wieder am Esstisch und nippte an seinem zweiten Glas Wasser. Es half ein wenig gegen die Kopfschmerzen. „Ich weiß einfach nicht, warum ich… irgendwas mache. Oder nicht mache“, erklärte er dabei betrübt. „Ich weiß überhaupt nicht, was ich will oder wer ich bin oder… alles.“ Seine Großmutter schob Dinge im Kühlschrank hin und her und tauchte schließlich mit Pilzen und Frühlingszwiebeln wieder auf. „Ach Junge“, sagte sie, während sie das große Küchenmesser vom Haken an der Wand nahm. “Ich könnte dir jetzt natürlich zu irgendwas raten. Aber ich glaube, das macht dich auch nicht glücklich. Du musst die Antwort in dir selbst finden, denke ich.“ Das Messer machte leise Tschopp-Tschopp-Tschopp Geräusche auf dem Holzbrett. „Ich weiß…“, murmelte hide mit einem lautlosen Seufzen und spielte an der Ecke der Plastiktischdecke herum. Für den ‘Stärke in dir selbst‘-Spruch hätte er den weiten Weg nicht herkommen brauchen. Die Frau des Hauses hielt in der Essensvorbereitung inne und lächelte ihn über die Schulter hinweg an. „Ich erzähl dir eine Geschichte. Willst du sie hören?“ hide hob die Schultern und nickte leicht. Er hatte nichts zu verlieren und sie hatte keinen Fernseher. „Als ich ein junges Mädchen war, da machten wir jedes Jahr ein paar Tage im April Urlaub am Fuji-san. Dein Uropa wollte immer auf den Gipfel pilgern – uns junge Leute hat das nicht so interessiert. Ich traf einen furchtbar netten Mann dort, er war… Niederländer, glaube ich. War bei der Handelsmarine, fuhr zur See. Es gefiel meinen Eltern gar nicht. Dann war der Urlaub vorbei und wir fuhren zurück nach Hause. Aber er ging mir nicht aus dem Kopf. Ach, sie hatten so schöne Augen, diese Europäer…“ Seine Großmutter hielt kurz mit einem Stück Tofu in der Hand inne und obwohl sie mit dem Rücken zu ihm stand, konnte hide sich vorstellen, wie ihre Augen ein wenig leuchteten und sie das mit der jungen Frau verband, die sie einmal gewesen war. Alt werden, dachte er plötzlich, war eine seltsame Sache. „Nun, auf jeden Fall waren wir wieder zurück zu Hause und er ging mir nicht aus dem Kopf. Über Wochen ging das so. Schließlich fragte ich meine Eltern, ob es nicht in Ordnung wäre, wenn ich mich in den Zug setzte und nach Yokohama fuhr. Natürlich waren sie dagegen, ich, ein junges Ding von sechzehn, allein mit dem Zug durch Japan, zu einem Mann und einem Ausländer noch dazu. Sie sagten, ich solle lieber zuhause bleiben und ein bisschen besser kochen lernen, damit ich einen guten Japaner heiraten könne. Ich war fuchsteufelswild. Also fragte ich Inoue Kengo, der damals nebenan wohnte, ob er mich nicht in seinem Auto nach Yokohama fahren würde. Natürlich sagte er Nein und war ziemlich eingeschnappt. Ich habe erst verstanden warum, als er mich gefragt hat, ob ich ihn heirate – aber das war viel später.“ Die Großmutter stellte eine Pfanne auf den Herd. „Ich auf jeden Fall fühlte mich von allen verraten und fand das alles furchtbar unfair. Also weißt du, was ich tat?“ hide schüttelte den Kopf. „Herr Nakamura, auf der anderen Seite des Dorfs – du weißt vielleicht, der, dessen Sohn heute die Rinder züchtet - der hatte ein Fahrrad. Damals war das noch was Besonderes. Zwei Tage später hab ich das Ding im Morgengrauen genommen und fuhr los. Als sie merkten, dass ich weg bin, war ich schon auf halbem Weg nach Misato.“ „Also – du bist was? Auf einem Fahrrad nach Yokohama gefahren?“, fragte hide mit einer Mischung aus Unglaube und Belustigung. „Aber das müssen…“ „Fast sechshundert Kilometer sein, ja. Ich hab fast zwei Wochen gebraucht. Und damals gab es hier noch kein Telefon, ich konnte also auch nicht anrufen und ihnen sagen, wo ich stecke.“ „Aber… wo hast du denn übernachtet, was hast du gegessen?“ „Ach, manchmal hab ich einfach im Wald geschlafen. Es war ja Sommer. Aber ich hab auch viele furchtbar nette Leute getroffen unterwegs. Und natürlich hatte ich auch Geld dabei, aber damals hatten wir nicht so viel. Also war es ganz gut, dass man mich hin und wieder durchgefüttert hat.“ hide verzog belustigt das Gesicht. Seine Oma und ihre Märchen… „Und dann war ich in Yokohama, hatte mich einmal durch den Hafen gefragt und weißt du, was ich da erfuhr?“ Sie hatte sich von der Küchenzeile abgewandt und gestikulierte mit ihrem großen Messer. Ein kleines Stück Frühlingszwiebel flog in hides Richtung. Dieser schüttelte den Kopf. „Er war verheiratet! Aber den ganzen Mädchen schöne Augen machen! Von wegen mich mit nach Europa nehmen und die Welt sehen! Das hat er allen erzählt und bei keiner war es wahr! So ein Schwein! Zum Glück habe ich das rechtzeitig gemerkt! Und jetzt ist mir auch sein Name wieder eingefallen! Rik van de Ven!“ Es gab ein platschendes Geräusch, als sie den Tofu etwas zu aggressiv in die Suppe beförderte. „Huch.“ Sie nahm den Lappen vom Haken und wischte einmal um die Herdplatte herum. „Nun“, begann sie ruhiger erneut. „Auf jeden Fall nahm ich mir danach vor, dass ich alle Männer für immer doof finden würde und dann fuhr ich wieder nach Hause. Meine Eltern waren erst so erleichtert, sie waren nicht einmal richtig wütend. Dann wurden sie wütend und haben mir einen Monat Hausarrest gegeben. Und ich musste jeden Tag den Stall machen - wir hatten damals noch Tiere – für das nächste halbe Jahr.“ Sie nahm den Fisch von der Anrichte und legte ihn in die Pfanne. Es brutzelte. Ihr Enkel lächelte in Richtung Tischdecke. Schließlich sagte er: „Du verarscht mich.“ Sie deutete mit ihrem Pfannenwender auf den Wandschrank. „Oranges Album.“ hide stand auf und lugte in den Schrank. Fast ganz hinten lag ein abgegriffenes, zerfleddertes Album im Farbton alter Orangen. Er klappte es auf. Eine junge Frau, die es irgendwie schaffte, im Kimono auf ihrem Rad zu sitzen, lächelte ihm entgegen. Sie hatte seine Nase. Oder er ihre. Wie auch immer. „Da bist du sechzehn?“, fragte er ungläubig. Seine Großmutter kam ein paar Schritte in seine Richtung, um einen Blick auf das Bild werfen zu können. „Ah, Nein. Da bin ich Mitte zwanzig. Davor hatten wir keinen Fotoapparat. Aber irgendwo muss noch ein Foto von ihm sein. Ich konnte es nicht wegwerfen – und wenn auch nur, um mich an meine Blödheit zu erinnern.“ hide blätterte durch. Fast ganz hinten fiel ihm die schwarz-weiße Fotografie eines jungen Mannes entgegen, mit leichten Locken, hellen Augen und einem schelmischen Zug um die Mundwinkel. Er konnte nicht ganz nachvollziehen, was man als Frau in ihm wohl sehen mochte und schob das Bild wieder zurück. „In Ordnung“, sagte er und legte das Album neben sich auf den Boden. „Schöne Geschichte. Aber ich versteh noch nicht ganz, was du mir sagen willst.“ „Ich war auch noch nicht fertig. Komm mal bitte her und tu Reis raus. Es war nämlich so, dass auch wenn das mit dem Mann meiner Träume nichts geworden war, das Reisen hatte mir schon Spaß gemacht. Ich hatte so viel gesehen! Das Dorf erschien mir plötzlich unendlich klein und ich hatte immer nur Fernweh. Und zu meinem zwanzigsten Geburtstag schenkten mir meine Eltern dann ein eigenes Fahrrad, unter der Bedingung, dass ich ihnen immer sagen würde, wo ich wann hinfuhr. Da hatte ich unfassbares Glück, aber dein Uropa war auch nicht ganz normal. In jeder anderen Familie war es unvorstellbar, eine Frau allein durch die Gegend fahren zu lassen. Den Rettich bitte auch. Danke.“ hide schaufelte Reis und eingelegten Rettich in Schüsseln, während seine Großmutter neben ihm mit Fisch und Suppe hantierte. „Auf jeden Fall machte ich im nächsten Sommer eine Tour nach Akita. Nur eine ganz kleine Tour ans Meer, ein paar Tage. War auch schön, aber auf dem Rückweg kam ich in ein Unwetter und steckte bald bis zu den Knöcheln im Morast. Wie ich da also so mein Rad neben mir her schob, von oben bis unten voller Schlamm – ich war schon zweimal hingefallen – hielt auf einmal ein kleiner Transporter neben mir. Drinnen saßen zwei junge Männer, die meinten, sie könnten mich ein Stück mitnehmen. Aber sie waren mir nicht geheuer, also sagte ich Nein und schob weiter.“ Sie setzten sich an den Tisch und seine Großmutter lud ihm ein Stück Fisch auf den Teller. hide war keine drei Jahre mehr alt und hätte das selbst gekonnt, doch weil er wusste, dass man das aus Müttern und Omas einfach nicht rausbekam, sagte er einfach: „Danke.“ „Was ich dir sagen will: Es ist in Ordnung, seinem Herzen auch mal auf idiotische Unternehmungen zu folgen. Aber man muss den Kopf mit auf die Reise nehmen.“ hide lächelte. „Das ist ein guter Ratschlag.“ „Ich bin einundachtzig Jahre alt, mein Junge. Ich bin voller Krampfadern und guter Ratschläge.“ „Bwah, Oma…“ hide verzog das Gesicht, musste aber lachen und griff nach dem Rettich. Das erste Mal in Wochen hatte er Hunger. Er nahm ein paar Stück eingelegtes Gemüse und einen Schluck Suppe, bevor er fragte: „Aber was macht man, wenn man nicht weiß, wo man hin will? So… von Herzen.“ „Mmh. Ich glaube, man weiß das immer“, sagte die alte Frau und zerlegte ihren Fisch. „Ich weiß gerade gar nichts.“ „Mach dir keine Sorgen.“ Sie fing an zu essen. „Es ist irgendwo da drin.“ hide stupste ein Stück Tofu, es versank in der Suppe und tauchte dann wieder auf. „Und wenn nicht?“ „Irgendwo da drin“, wiederholte sie. Wenig überzeugt fischte hide auf dem Grund der Brühe nach den Shiitake und sagte nichts mehr. Doch die Großmutter musste seine Zweifel spüren, denn sie lächelte ein wenig und senkte ihre Stäbchen. „Mit Gefühlen ist es wie mit Freunden. Wenn man sie ein paar Mal zu oft ignoriert und nur auf andere hört, dann sind sie irgendwann beleidigt und sagen: ‘Soll er halt machen, die blöde Kuh‘. Es dauert dann oft eine Weile, bis sie wieder mit einem reden.“ „Gerade bin ich nicht sicher, ob sie nicht vielleicht aus Protest in eine andere Stadt gezogen sind.“ Die alte Frau lächelte noch etwas breiter. „Das glaube ich nicht.“ hide hatte einen Pilz an die Oberfläche befördert und kaute darauf herum. Er mochte Shiitake, doch gerade hatte er mit der Konsistenz zu kämpfen. Nach einer halben Minute schließlich gestand er sich ein, dass er eigentlich nicht auf dem gummiartigen Pilzchen herumkaute. „Zum Thema Freunde“, sagte er deshalb und fühlte sich im gleichen Moment wieder ein wenig elend, „ich glaube, die hab ich mir auch vergrault.“ Seine Großmutter schaute ihm in die Augen und schüttelte, weiterhin lächelnd, den Kopf. „Du stellst dir das zu einfach vor.“ -X- „Hast du ihnen Bescheid gesagt?“, fragte Tomoaki und piekte gebratenes Ei aus seiner Schüssel. „Ja“, sagte Yoshiki. „Aber sie wussten es schon. Von der Großmutter. Trotzdem hab ich bei seiner Mutter jetzt glaube ich einen Stein im Brett. Vielleicht brauch ich den ja irgendwann.“ “Also, was machen wir?”, fragte Toshi. „Warten wir, bis hide zurück ist?“ Sie saßen in einem kleinen Restaurant an einem Tisch in der Ecke. Yoshiki hatte den Ort gewählt. Der Gedanke, das Thema des heutigen Zusammenkommens in einem Kellerraum zu diskutieren, hatte ihn schon in seiner Vorstellung deprimiert. Es war Mittagszeit und um sie herum brummte das Leben, doch Taiji schenkte jedem sich nähernden Wesen einen extrem verunsichernden Blick und so hatten sie ihre Ecke immer noch für sich. „Schwachsinn“, meinte der Bassist. Er starrte einen Geschäftsmann an, der sich neben sie an den langen Holztisch gesetzt hatte, bis dieser verunsichert seine Sachen nahm und noch ein Stück wegrutschte. Dann fuhr er fort: „Das hilft ihm auch nicht und, noch wichtiger, uns bringt’s auch nicht weiter.“ Toshi klappte den Mund auf, doch auch Yoshiki schüttelte den Kopf und schob sein kaum angerührtes Essen von sich weg. „Nein. Wir machen einfach weiter und hoffen das Beste.“ „Ohne Leadgitarre?“, fragte Pata. Toshi schob das Donburi zurück zu Yoshiki. Dieser warf ihm einen wenig erfreuten Blick zu, nahm aber noch zwei Bissen Fleisch, bevor er die Schüssel erneut von sich weg schob. Der Sänger stellte sie zurück. Yoshiki funkelte ihn an. „Toshi, ich schwör dir, hör auf damit oder ich kotz dir über den Schoß!“ „Ah ja?“, fragte Toshi unbeeindruckt. „Liste mir die Dinge auf, die du gegessen hast, seit hide weg ist. Und es kann nicht Kaffee sein.“ Yoshiki klappte den Mund auf, um sich zu verteidigen, doch anscheinend fiel ihm nichts ein. Diese Regel war neu – und unfair! „…Verfluchte Scheiße!“, fauchte er schließlich aus Ermangelung eines inhaltlich überzeugenden Arguments. „Du bist doch nicht meine Mutter!“ „Das war tatsächlich noch nie die Beziehung, die ich da gesehen hab“, murmelte Taiji amüsiert und rührte das Curry unter seinen Reis. Yoshiki schenkte ihm einen finsteren Blick. Taiji starrte zwei junge Frauen weg und ignorierte ihn. „Ok“, sagte Yoshiki sich mühsam zusammenreißend, „also, ich nehme auf, alle die dafür sind, dass wir ohne hide weitermachen, zum Ersten, zum Zweiten, zum Dritten. Toshi, was ist mit dir?“ Toshi hob ein Stück Kamaboko, gestikulierte damit ohne etwas zu sagen und senkte es dann wieder. „Ich weiß nicht“, sagte er schließlich, unzufrieden mit diesem Ergebnis. „Es ist einfach… komisch ohne ihn. Nicht?“ „Ee“, machte Taiji. „Aber ich kann ihn nicht herzaubern. Und wer weiß, ob und wann er wiederkommt und ob er dann noch Bock hat. Ich stell jetzt nicht mein Leben auf Pause nur deswegen. Man muss durch so was durchpushen, Mann.“ Toshi seufzte. „Ok. Ja. Gut. Dann machen wir weiter.“ „Gut.“ Taiji zog Yoshikis Schüssel zu sich hinüber. „Taiji!“, fuhr Toshi ihn an. „Was?“, fragte Taiji und steckte sich eine Stäbchenladung Rind in den Mund. „Er isst’s ja doch nicht.“ „Das weißt du nicht! Vielleicht will er später doch noch!“ Toshi streckte auffordernd die Hand nach der Schüssel aus, doch Taiji legte den Arm davor. „Tz. Als ob der sich in der nächsten halben Stunde einkriegt. Meine Fresse. Es wäre schade drum, nur weil unserer emotional belasteten Prinzessin hier das Bäuchlein wehtut.“ Mit einem wütenden „Du Hurensohn!“, lehnte Yoshiki sich über den Tisch und zog sein Donburi unter Taijis Nase weg. Trotzig schaufelte er sich ein paar Happen Reis mit Soße in den Mund, während Toshi eine entschuldigende Geste in Richtung Tresen machte. Einige andere Gäste hatten sich zu ihnen umgedreht, als Yoshikis Stimme die rücksichtsvolle Restaurant-Lautstärke um ein paar Dezibel überschritten hatte. Toshi wollte gerade dazu ansetzen, Taiji zu erklären, warum es manchmal auch gut sein konnte, einfach mal die Fresse zu halten, da bemerkte er im Gesicht ihres Bassisten ein winziges, schiefes Lächeln. Taiji…? Yoshiki war mit seinem Trotzessen fertig, klatschte die Stäbchen auf den Tisch und wischte sich über den Mund. „Ok. Gut, dass wir das geklärt haben… Aber das ist eigentlich nicht, warum ich euch sehen wollte.“ Er faltete die Hände. „Ich… wollte mit euch über hide reden.“ „Wir reden über hide“, sagte Toshi. „Nein. Anders. Nicht über sein Wegsein, sondern darüber, was wir machen, wenn er wieder hier ist.“ „Nimm’s nicht falsch“, sagte Taiji und suchte in seinem Curry nach Fleischstücken. „Aber ich bin nicht sicher, ob wir da so viel mitzureden haben. Ich meine… was er macht und was nicht, ist ja irgendwie seine Sache. Wenn überhaupt.“ Sie waren wieder auf der professionellen Ebene – der, die es Yoshiki und ihm erlaubte, eine halbwegs normale Konversation zu führen. „Ja“, stimmte Yoshiki zu. „Aber es gibt etwas, das wir tun können. Vielleicht.“ „In Ordnung“, sagte Pata. „Was ist es?“ „Als“, begann Yoshiki und brach ab - ein junges Pärchen hatte sich trotz Taijis leicht psychotisch anmutender Blicke neben sie an den Tisch gesetzt. Der Bassist hob eine Hand, zum Zeichen, dass sie warten sollten, nahm einen großen Schluck Limonade, klopfte sich einmal auf die Brust und rülpste ein herzhaftes Curry-Limonade-Rülpsen. Das Paar warf ihm einen schockierten Blick zu und stand miteinander tuschelnd wieder auf. Taiji grinste und sah ihren sich entfernenden Rücken hinterher. „Und so, liebe Leute“, sagte er selbstzufrieden, „macht man das.“ „Glückwunsch“, sagte Toshi trocken. Der Beschützer der Privatsphäre wandte sich an ihren Schlagzeuger. „Du sagtest gerade?“ „Als… mein Vater starb”, fing Yoshiki noch einmal an, „waren meine Noten auch schrecklich.“ „Deine Noten sind immer noch schrecklich“, sagte Toshi. „Ja, aber jetzt ist es, weil’s mich nicht mehr interessiert. Kann ich fertig erzählen?“ Toshi machte eine entschuldigende Handbewegung. „Danke. Auf jeden Fall, damals hab ich noch gelernt, weil ich irgendwie dachte, wenn ich mich mehr anstrenge, dann … naja, egal. Auf jeden Fall: Ich saß da und hab meine Bücher angestarrt, aber die Worte haben einfach keinen Sinn gemacht. Ich hab sie wieder und wieder gelesen, aber alles ging irgendwo auf dem Weg verloren. Wenn ich nach einer Stunde den gleichen Absatz nochmal angeschaut habe, kam es mir vor, als hätte ich ihn noch nie gesehen.“ „Dein Punkt?“, fragte Taiji. „hide hat Brown Sugar in weniger als zehn Minuten gelernt“, sagte Yoshiki. „Zum Spaß. Und er kennt die komplette Diskografie von den Ramones und The Who teilweise mit den Lyrics auswendig und mixt mindestens zwanzig verschiedene Cocktails aus dem Kopf. Ich glaube nicht, dass er dumm ist. Er ist depressiv.“ Die Worte senkten sich schwer über ihren Tisch und für ein paar Augenblicke sagte niemand etwas. Um sie herum ging das Leben weiter. „Er hat nie so traurig gewirkt“, meinte Toshi schließlich. Yoshiki schüttelte den Kopf. „Erstens hab ich da was anderes gesehen, zweitens hat das nichts miteinander zu tun. Du kannst problemlos physisch depressiv sein, ohne zu merken, dass es dir psychisch schlecht geht.“ „Ok“, sagte Taiji und schluckte eine Ladung Curry runter. „Danke für diesen Ausflug nach Kummerstadt. Aber ich versteh noch nicht, worauf du rauswillst.“ „Wenn wir Glück haben, kommt er bis zum Ende der Ferien zurück. Bis dahin haben wir Zeit, uns was zu überlegen, wie wir ihm helfen.“ „Warum hilfst du ihm nicht?“, fragte Taiji. „Immerhin ist er zu dir gekommen.“ Yoshiki spielte mit seinen Stäbchen. „Weil… weil ich das nicht kann“, gestand er schließlich, sowohl den anderen als auch sich selbst. „Das funktioniert vielleicht ein paar Wochen. Wenn wir Glück haben. Aber ich bin jetzt auch nicht… also… ich hab manchmal auch so meine Phasen, und wenn hide dann gleichzeitig auch eine… eine Situation hat, dann…“ Yoshiki fuchtelte einmal mit den Händen. „Das wäre nicht gut. Dann ziehen wir uns gegenseitig runter, versteht ihr? Wir müssen was anderes finden.“ Wieder legte sich Schweigen über ihren Tisch, diesmal ein nachdenkliches. Taiji zog noch einmal Yoshikis Schüssel zu sich, um noch ein paar Stück Fleisch in seine Soße zu dippen. Toshi sagte nichts dazu. „Du meinst das gut“, meinte Pata schließlich bedächtig und schob seine leere Schüssel zur Seite, „und das ehrt dich. Aber vielleicht möchte er das gar nicht. Immerhin, das letzte Mal, als du ihm geholfen hast, ist er verschwunden.“ „Ja“, sagte Yoshiki. „Er schuldet mir fünfundzwanzigtausend Yen, glaub mir, ich seh das Problem. Trotzdem denke ich, wir sollten ihm zumindest … keine Ahnung, irgendeine Form von Hilfe anbieten. Ob er sie annimmt ist dann ja nochmal was anderes.“ „Mmh“, machte Pata. Da er neben ihm saß, warf Yoshiki ihm einen langen – und absolut wirkungslosen – Seitenblick zu. Er hatte das vage Gefühl, dass in diesem Mmh eine Myriade von Dingen lag, die Yoshiki nur zu gerne ausdiskutiert hätte – natürlich, um am Ende Recht zu haben. Doch vielleicht, und das räumte er ein, war es ganz gut, dass der andere Junge seine Gedanken an dieser Stelle für sich behielt. Diskussion und Streit lagen bekanntlich nah beieinander und er konnte nicht noch eine Gitarre entbehren. „Und an was denkst du?“, fragte Toshi. Yoshiki wandte sich gedanklich wieder seinem Hauptthema zu und hob hilflos die Schultern. „Ich hab keine Ahnung.“ -X- Es war ein wunderschöner Sommertag und hide folgte einem kleinen Weg tiefer in den Wald hinein. Der Himmel war strahlend blau und die Sonne brannte erbarmungslos, doch hier unter den Bäumen war es trotz der Schwüle aushaltbar. Ein Bachlauf gluckerte seit geraumer Zeit fröhlich neben dem Pfad her und als ihm irgendwann doch zu warm wurde, stieg hide die Böschung hinunter und hielt seine Unterarme ins Wasser. Es war klar und kühl und er hätte gerne auch die Schuhe ausgezogen, doch man lernte ja als Kind, dass man das nicht machte. Also kühlte er stattdessen noch seine Stirn und seinen Nacken und kraxelte dann die Böschung wieder hinauf. Bald darauf machte der Weg eine Biegung, vom Wasser weg und steiler bergan. hide wünschte sich, er hätte eine bessere Kondition, aber das hielt ihn noch lange nicht auf. Es war bereits früher Nachmittag, als er schließlich, vollkommen durchgeschwitzt, ein Plateau erreichte. Die Bäume standen lichter hier und er konnte hinunter ins Tal sehen, über die Häuser und Felder bis zu den Hügeln auf der anderen Seite. Er setzte sich unter einen großen Ahorn und wühlte im Rucksack nach der Wasserflasche. Irgendwo erklang der traurige Ruf eines Bergkuckucks, ansonsten war die Stille vollkommen. hide ließ sich auf den Rücken fallen, schloss die Augen und genoss das Spiel von Licht und Schatten jenseits seiner Lider. Weit über ihm rauschten die Blätter der Baumwipfel in einem warmen Sommerwind. Er atmete durch. -X- Toshi saß im Proberaum auf dem Sofa. Es war zehn Uhr am Morgen und er wusste ganz ehrlich nicht, was er hier machte. Die anderen würden nicht vor eins auftauchen. Das waren drei Stunden... und wenn er ehrlich war, war er bereits seit einer halben Stunde hier. Das war bescheuert. Worauf genau wartete er? Toshi stand auf und machte ein paar Schritte durch den Raum. Die Blümchen, die hide überall hingeschmiert hatte, sahen wirklich scheiße aus… Er musste lächeln. Es hielt nur nicht so lang. Ratlos blieb er in der Mitte des Kellers stehen und schaute sich um. Er könnte ein bisschen Schlagzeug spielen. Ja. Warum nicht. An den Bass traute er sich nicht. Er spielte eine halbe Stunde mehr schlecht als recht Drums und landete dann wieder auf dem Sofa. Das hier war wirklich bescheuert! Was war los mit ihm? Toshi seufzte. Na gut… Wenn er ohnehin nichts zu tun hatte… Er räusperte sich. Ok. Gut. Los. “Fire grow up from the ground, is there chuckle of the gods? Is there tears of the gods? No more tears! No more tears!” Er hörte wieder auf. Irgendwie… war es seltsam, in einem leeren Raum zu singen. Wenn ihn jemand hörte, musste es denen sicher ko- … Er starrte an die Wand. Dann stand er auf und holte seine Gitarre. Seit sie den Raum bezogen hatten, hatte sie eigentlich nur in der Ecke gestanden. Mit Tomoakis und hides Luxusteilen konnte die hier nicht mithalten – er hatte sie mal im Sonderangebot gekauft. Er setzte sich zurück aufs Sofa und spielte ein paar Akkorde. Dann aufsteigende Töne. C bis G. Dann war es eben komisch. Was auch immer. „Laaa-lalalala-laaaa.“ Er war komisch. Und stolz drauf. H bis Fis. „Laaa-lalalala-laaaa.“ Naja. Vielleicht nicht total stolz. Ais bis F. „Reeeeis-Reis-Reis-Reis-Reis-Reeeiiis.“ Aber wenn er das schon machte, konnte er wohl auch Spaß dabei haben. A bis E. „Mooopp-Mopp-Mopp-Mopp-Mopp-Moooopp.“ Und nochmal. Toshi hängte sich den Gurt über und stand auf. Hätte er schon früher tun sollen, dachte er. Zwerchfell und Lungenvolumen und dieses ganze Zeug. “Fire grow up from the ground, is there chuckle of the gods? Is there tears of the gods? No more tears! No more tears!” … er hörte keinen Unterschied. Also gut. Aufsteigende und absteigende Tonleiter. „Lalalalalalalaaa… Lalalalalalalaaa. Lalalalalalalaaa. Der Proberaum riecht nach Fiiiisch.“ -X- hide saß draußen auf der Veranda und zog an einer Zigarette. Es war Samstagabend, der letzte Samstag der Ferien. Kaum zu glauben, dass er bereits seit einem Monat hier war. Morgen musste er in den Zug zurück nach Tokio steigen, wenn er am Montag wieder in die Schule wollte – und er war zu dem Schluss gekommen, dass er das wollte. Irgendwie. Nachdenklich schaute er in die Schachtel. Er hatte sie vor ein paar Stunden gekauft und es waren noch fünf Stück drin. Die ganzen letzten Wochen war er ohne ausgekommen – wenn man unter ‘auskommen‘ verstand, dass er doppelt so viel gegessen hatte wie sonst – doch jetzt war mit seiner Nervosität auch der Drang zurückgekehrt. Vermutlich konnte er einfacher aufhören zu trinken als zu rauchen. Getrunken hatte er im Übrigen auch nicht und auch das war hart gewesen. Unerwartet hart. Die Tür hinter ihm glitt auf und das Geräusch riss hide aus seinen Gedanken. Er warf die Zigarette so weit er konnte von sich und wedelte hektisch mit den Armen, um den Dunst zu vertreiben. „Uh!“, sagte er gespielt verwundert. „Heute wird’s aber früh neblig. Ähem.“ Doch seine Oma war nicht dumm. „Hideto“, fragte sie vorwurfsvoll. „Junge - rauchst du!?“ Ihr Enkel sank ein Stück in sich zusammen. Es machte also keinen Sinn, es zu leugnen. „Ja“, sagte er schuldbewusst. Sie schaute ihn tadelnd an. „Junge“, sagte sie noch einmal. [Warum hast du nichts gelernt... *sing*] „Deine Lunge.“ „Die hat angefangen“, verteidigte hide sich. Seine Großmutter setzte sich langsam und schwer schnaufend neben ihn („Oh weh, oh weh.“). Ihre Füße reichten nicht mehr bis zum Boden. „Ich hab mit deiner Mutter gesprochen“, sagte sie, als sie schließlich saß und wieder Luft hatte. „Und?“ „Sie hat deine Sachen gepackt und trifft dich morgen am Bahnhof. Aber sie möchte wirklich, dass du zurück nach Hause kommst.“ hide schüttelte knapp den Kopf. „Nein. Wenn ich alles mache, aber das nicht.“ Die alte Frau nickte. Es wirkte ein bisschen traurig. „Tut mir leid“, sagte er. „Aber es ist vermutlich wirklich besser so.“ „Ich weiß“, antwortete sie und schaute gedankenverloren über ihren kleinen Garten. „Aber es ist in meinem Alter schwer, wenn man die Familie auseinanderfallen sieht.“ Darauf fiel hide nichts ein. Gemeinsam lauschten sie dem schrillen Zirpen der Zikaden. Nach etwa einer Minute bemerkte er, dass sie ihn von der Seite her anblickte. Er nahm den Blick von den kleinen knollenartigen Äpfeln an dem Baum, auf dem er als Kind immer gesessen hatte und schaute zurück. „Du wirkst wieder so niedergeschlagen. Ist es wegen deinen Eltern?“ hide seufzte. „Nein. Ja. Ein bisschen. Nicht nur.“ Ohne es zu wollen hatte er wieder angefangen, an der Zigarettenschachtel herumzuspielen. Er zwang sich, damit aufzuhören und sie zur Seite zu legen. „Also... es war schön hier. Aber ich weiß immer noch nicht, was ich machen soll. Will. Was auch immer. Immer, wenn ich über irgendwas nachdenke, denke ich weiter, was passiert, wenn es schief geht. Also ob ich dann unglücklich werde oder arm oder einsam oder …“ hide bohrte die Fußspitze in die Erde und grub ein kleines Loch. „Keine Ahnung.“ „Hideto…“, sagte die alte Frau sanft. Eine faltige Hand legte sich auf seine. Die Venen waren durch die seidenpapierartige Haut gut sichtbar. „Schau nicht so traurig. Willst du den Rat einer alten Frau?“ hide nickte und drehte den Kopf halb in ihre Richtung, schaute auf ihre Knie. „Im Leben, da passieren viele Dinge. Gute Dinge, aber auch schlechte Dinge. Man verliert seine Arbeit, den Schlüsselbund, Menschen, die man liebt. Es läuft sehr oft anders, als man sich das gedacht hat. Du bist noch so jung. Du hast dein ganzes Leben noch vor dir. Da weiß man nicht, was noch alles kommt und die meisten dieser Dinge, die kannst du nicht planen. Deswegen sollte man auch gar nicht so viel darüber nachdenken. Ich wünsche dir das Beste, aber ich glaube, wenn du irgendwann einmal so alt bist wie ich, dann hast auch du deine Sammlung an schlechten Dingen. Und wenn du dann auf sie zurückschaust, dann wirst du dir eine Frage stellen, und zwar: War es das wert?. Und ich glaube, wenn man versucht, so zu leben, dass man diese Frage mit ‘Ja‘ beantworten kann, dann hat man nichts zu bereuen.“ Sie drückte seine Hand. „Es wird alles gut.“ hide blinzelte ein paar Mal gegen das Salzwasser, das ihm in den Augen brannte. Dann drückte er zurück. „Danke...“ „Besser? Gut. Dann sei so gut, hilf mir auf und dann lass uns reingehen. Ich schneid dir noch die Haare. Mit dem … Puschel da auf dem Kopf kannst du nicht zur Schule.“ Sie bereitete sich auf die Anstrengungen des Aufstehens vor. Doch ihr Enkel runzelte die Stirn. „Ich mag meine Frisur so.“ Sie tätschelte ihm mitleidig die Hand. „Frisur ist ein ziemlich großes Wort für das, was du da hast.“ -X- Am nächsten Vormittag standen sie um neun Uhr am Gleis, die alte Dame in ihrem hellblauen Sonntagskimono und der Junge wieder in den Klamotten, die er bei seiner Ankunft getragen hatte. hide trat von einem Fuß auf den anderen. Obwohl er einen Rucksack mit den Dingen, die er während seines Aufenthalts notgedrungen hatte besorgen müssen auf dem Rücken und ein Bento in der Hand trug und damit eigentlich besser ausgerüstet ging, als er gekommen war, fühlte er sich vollkommen unvorbereitet. Ihm war wieder ein wenig übel. Es kam nicht vom Kaffee. Seine Großmutter beobachtete ihn bei den kleinen Schritten, mit denen er den Bahnsteig hinauf und wieder hinunter tigerte. „Ich hab noch was für dich“, sagte sie schließlich, als er das nächste Mal an ihr vorbeikam und zog ein paar Geldscheine aus dem Ärmel. „Oma“, begann hide. Er hatte ihr bereits mehrfach erklärt, dass er sich Arbeit suchen und nicht ihr Erspartes aufbrauchen würde. „Oma mich nicht“, widersprach sie energisch. „Nimm es. Du meinst, du weißt wie schwierig das wird, aber du weißt es nicht. Glaub einer alten Frau was.“ Sie drückte ihm mit Nachdruck die Scheine in die Hand. hide seufzte, doch konnte sich trotz seines schlechten Gewissens nicht der kleinen Erleichterung erwehren, die sich seiner bemächtigte. Es war ein Puffer. Ein wirklich dringend benötigter Puffer. „Danke.“ Er schwang den Rucksack nach vorn und steckte das Geld ordentlich ein. Ein hohes Sirren erfüllte plötzlich die Luft und kam näher. Der Zug in Richtung Tokio fuhr ein. hide spürte, wie das Herz ihm plötzlich bis zum Hals schlug. Es war vorbei. Er schluckte und sah die zwei Köpfe Unterschied zu seiner Großmutter hinunter. Sie lächelte wissend. „Komm her“, sagte sie und breitete die Arme aus. hide ging ein wenig in die Knie und sie drückte ihn innig an sich. Er drückte zurück, so gut das mit dem Rucksack auf dem Rücken und dem Bentobeutel in der Hand eben ging. „Ruf an“, sagte sie irgendwo gegen sein Schlüsselbein. „Mach ich“, versprach hide ihren Haaren. Hinter ihnen war der Zug quietschend zum Stehen gekommen. Er ließ seine Großmutter los. Eine kleine Ewigkeit schauten sie einander noch an, dann drehte er sich um und stieg ein. Der Schaffner pfiff und die Türen schlossen sich und der Zug fuhr an. hide winkte noch zweimal aus dem Fenster der Tür, dann war der Bahnsteig mit seiner Oma darauf verschwunden. Er atmete durch und machte sich auf die Suche nach einem Sitzplatz. In einem Abteil mit einer jungen, häkelnden Frau und einem älteren schlafenden Herren schließlich ließ sich auf den Platz am Fenster fallen, gegen die Fahrtrichtung, weil ihm das nichts ausmachte. hide lehnte den Kopf an die Scheibe und warf einen letzten Blick auf den Okageyama, wie er langsam aus seinem Sichtfeld verschwand. Er fühlte sich nervös und traurig und ein bisschen allein. Keine dieser Empfindungen war angenehm, aber, und daran hielt er sich fest, er fühlte sich irgendwie. Und das war ein Schritt vorwärts. Here's hoping all the days ahead Won't be as bitter as the ones behind you. Be an optimist instead, And somehow happiness will find you. So here's to what the future brings, I know tomorrow you'll find better things. Kapitel 8: And on the 8th Day (Part 1) -------------------------------------- Toshi saß im Bus und betrachtete den schmalen Streifen Meer, der hinter den Häusern auftauchte und wieder verschwand. Kaum zu glauben, dass es schon wieder September war. Der letzte Monat war zwischen Proben, Familie, seinen Sportclubs (die in den Ferien genauso stattfanden wie während der Schulzeit) und hin und wieder doch mal in die Bücher schauen wie im Flug vergangen. Jetzt lag die erste Schulwoche bereits wieder hinter ihnen. Toshi hatte sein erstes Baseballturnier des Trimesters gehabt und seine Ferienhausaufgaben alle bestanden, und Yoshiki hatte schon wieder etwa ein Drittel der Unterrichtszeit damit zugebracht, irgendwo in der Sonne zu liegen. Ausnahmen wie Herr Tanaka bestätigten die traurige Regel: sobald man einmal als hoffnungsloser Fall eingestuft worden war, kümmerte sich eigentlich niemand mehr groß darum, was man tat oder nicht. Es war also vollkommen ausreichend, wenn Yoshiki sich irgendwo auf dem Schulgelände aufhielt und niemandem auf die Nerven ging. An besonders schönen Spätsommertagen beneidete er seinen Freund ein wenig um diese Freiheit. Meist aber nicht. Doch Toshi für seinen Teil war in dieser Woche ohnehin mit der Gesamtsituation unzufrieden. Und wenn er ehrlich mit sich war, dann wusste er auch wieso. Es war nicht das Ende des Sommers. Es war nicht das verlorene Baseballspiel. Er hatte gehofft – und eigentlich fest damit gerechnet – hide am Wochenende, spätestens aber im Lauf der Woche wieder auftauchen zu sehen. Doch der Samstag, der Montag – an dem er selbst nicht hier gewesen war, sondern Volleyball gespielt hatte - und der Donnerstag waren vergangen und nichts, aber auch gar nichts hatte sich geregt. Nur die Tatsache, dass hides Gibson nach wie vor stand, wo er sie zurückgelassen hatte, gab Grund zu der Annahme, dass er überhaupt nochmal zurückkommen würde – und mit jedem Tag wurde die Befürchtung stärker, dass sie eines Tages einfach klanglos verschwunden sein könnte. Jetzt war es wieder einmal Sonntagnachmittag und Toshi versuchte, sich keine zu großen Hoffnungen zu machen, als er über den Parkplatz stiefelte und ein schwülwarmer Ostwind ihm die Haare ins Gesicht wehte. Er hatte Enttäuschungen satt. So satt. Dennoch fiel es ihm schwer. Es nieselte leicht und auf dem Weg die Treppe hinunter bemühte er sich, die wirren, feuchten Strähnen wieder zu glätten. Wetter in Chiba – die Frisur sitzt nicht. Seufzend steckte Toshi den Schlüssel ins Schloss. Nach einer halben Drehung zeigte zusätzlicher Widerstand, dass er den Riegel bereits mitdrehte. Es war schon jemand da. Sein Puls ging um etwa fünfzehn Schläge pro Minute nach oben. Er öffnete die Tür und noch bevor er etwas sah, hörte er das Geräusch von Stahlseiten. Toshi lugte um die Tür herum. hide stand neben seinem Verstärker und hielt seine Gitarre umklammert, offenbar ein wenig erschrocken darüber, nicht mehr allein zu sein. Nervös. „hide!“, rief Toshi glücklich und schloss die Tür hinter sich. Er ist zurück! Es war ihm vorher nie aufgefallen, aber: Das war sein Lieblingssatz! Der Gitarrist räusperte sich. „Ja“, sagte er peinlich berührt und setzte sofort einer Entschuldigung an: „Tut mir leid, dass ich – hmpf!“ Bevor er den Satz hätte zu Ende bringen können, hatte Toshi die wenigen Schritte durch den Raum hinter sich gebracht und ihn an sich gezogen. Es qualifizierte nicht als die schönste Umarmung der Welt. Das Neonlicht flackerte und summte leise, hide war in den ersten Sekunden so perplex, dass er den Überfall einfach stocksteif über sich ergehen ließ und da war eine Gitarre zwischen ihnen, die mehr wert war, als Toshis Vater im Monat verdiente (Netto). Doch eine Hälfte dieser Umarmung war immer noch hide und das katapultierte sie mindestens in Toshis persönliche Top Ten. Er versank in einem Strudel aus Glückshormonen, ausgelöst durch den Jungen in seinen Armen - das weiche Material seines Oberteils und die Wärme des Körpers darunter, das seichte Heben und Senken seines Brustkorbs. Alter Zigarettenrauch und ein Hauch von Vanille stiegen Toshi in die Nase. Das seltsame Gefühl, das sich die ganzen letzten Wochen wenn überhaupt als leichte Bauchschmerzen geäußert hatte, kehrte mit voller Wucht zurück: Schwindel, Herzklopfen und alles. Als der Gitarrist schließlich für ein paar Sekunden ebenfalls eine vorsichtige Hand auf seinen Rücken legte, wünschte Toshi sich, der Moment würde ewig halten. Scheiße, dachte er und öffnete die Augen halb. Es gab definitiv keinen Zweifel mehr: Es hatte ihn so was von erwischt. Vom ersten Moment an, mit dem ersten Blick, mit dem ersten He hatte es ihn erwischt, so plötzlich, so unvorhersehbar und so heftig, als hätte ihn ein Tsunami mitgerissen. Er war verliebt in hide. Und das war wundervoll und schrecklich und unglaublich verwirrend, und es war all das auch noch auf einmal. Toshi gab sich vier Mississippi. Dann ließ er hide los und machte einen halben Schritt zurück. „Wie geht es dir? Seit wann bist du wieder hier? Wo wohnst du jetzt?“ „Ähm…“, begann hide zögerlich und kratzte sich am Kopf. „Also… Sonntagnachmittag. Letzten. Ja. Und mir geht es…“ Er schüttelte den Kopf, stellte die Gitarre weg und sank auf die Sofalehne. „… den Umständen entsprechen“, schloss er von dort aus. „Gerade geht mir ziemlich die Muffe, wenn ich ehrlich bin. War… Waren die anderen sehr sauer?“ Er schaute scheu zu Toshi nach oben. „… bist du sehr sauer?“ Toshi schüttelte den Kopf. Standbein – Spielbein. „Nein. Du bist wieder da, der Rest ist mir egal. Also… nicht egal, aber… ach, du weißt schon. Bei Pata und Taiji weiß ich das nicht genau. Ich denke nicht. Yoshiki… Uhm.“ Er machte eine wellenförmige Handbewegung. „Ändert sich täglich. Aber ich denke, tief drinnen war er nur besorgt. Das darfst du nicht vergessen, weil es, ähm, zeigt sich manchmal auf… eigensinnigen Wegen.“ hide schloss für einen Moment die Augen. „… er reißt mir den Kopf ab, oder?“ Toshi hob die Schultern, aber konnte nichts gegen sein Grinsen tun. Vermutlich war es schon die ganze Zeit da gewesen, doch erst jetzt fiel es ihm auf. Und es wollte einfach nicht verschwinden. Scheiße! Er war doch kein… kein… Grinskissen! … Sein Gehirn war anscheinend so sehr mit der Gesichtsmuskulatur beschäftigt, dass es keine Leistung an anderer Stelle mehr bringen konnte. Wundervoll. hide biss sich auf die Unterlippe, trommelte mit den Fingern auf seine Knie, bemerkte was er tat und erhob sich ertappt wieder von der Lehne, um zu seinem Wasser hinüberzugehen, das er auf seinem Verstärker abgestellt hatte. Er wich Toshis Blick aus, als er fragte: „Also… wisst ihr alle alles, huh?“ „Alles… alles wäre jetzt zu viel gesagt. Aber soweit schon.“ „Oh…“ hide knetete beklommen ein paar Mal die Plastikflasche, bevor er einen kleinen Schluck nahm. Reine Ausweichhandlung aus Nervosität. Er war nicht durstig. Unter dem Vorwand, die Partituren durchsehen zu wollen, die auf der PA lagen, machte Toshi noch drei Schritte von hide weg. Offensichtlich war ihm gerade alles ein wenig zu viel. Vielleicht half etwas Abstand. „Was hast du denn die ganze Zeit gemacht?“, fragte er von dort aus. hide schraubte die Flasche wieder zu und stellte sie zurück. „Ich weiß nicht. Nachgedacht. Nicht nachgedacht. Mich ein bisschen… geerdet. Keine Ahnung. Klingt bescheuert.“ Toshi schüttelte den Kopf. „Hat es geholfen?“ Der andere Junge hob die Schultern und betrachtete den Unsinn an der Kühlschranktür. Taiji hatte ein Bild von der Kleinen aus der Orangeneiswerbung aufgehängt und Toshi einen Magneten in Form einer Tomate. Mehr Unbekanntes gab es dort nicht zu sehen. „Ja. Nein. Teilweise.“ Toshi nickte und versuchte, dabei möglichst verständnisvoll auszusehen. „Und wo wohnst du jetzt?“, wiederholte er dann seine letzte Frage, die irgendwo auf der Strecke geblieben war. „Oh. In einem kleinen Hostel in Shinjuku“, sagte hide betont sachlich. Toshi runzelte die Stirn. „Hostel? So richtig mit Mehrbettzimmer und Gemeinschaftsdusche?“ „Ja, ähm… ja. Aber das… ist nicht so schlimm. Es geht schon. Ja.“ Er wandte sich schnell seinem Verstärker zu, um das aufsteigende Rot seiner Wangen zu verbergen. Blöderweise hatte niemand etwas an den Einstellungen verändert, seit er das letzte Mal hier gewesen war, also setzte der Gitarrist sich schließlich zurück auf die Sofalehne und kaute an den Fingernägeln. „Und du –“, fing Toshi gerade an, als draußen jemand die Treppe hinunterpolterte. An der Art, wie die Person sich halb gegen die Tür warf, erkannte Toshi bereits Yoshiki. „Würdest du mir glauben“, schimpfte dieser als er den Raum betrat genervt und schmiss die Tür hinter sich zu, „dass ich schon wieder-“ Dann sah er hide. „… Hallo“, sagte hide unbehaglich. Yoshiki starrte erst einmal. Ein Teil von ihm wollte hide einfach um den Hals fallen. Optional auch mit Heulkrampf. Der andere Teil aber blieb wo er war und verschränkte schließlich mit versteinertem Gesichtsausdruck die Arme. hide wurde ein Stückchen kleiner. „… Entschuldigung?“ Yoshiki schüttelte abweisend den Kopf. Der Junge auf dem Sofa schaute hilfesuchend zu Toshi. Da dieser allerdings in Yoshikis Sichtfeld stand, blieb ihm nur eine etwas hilflose Grimasse. hide fasste sich ein Herz. „Ok. Ähm. Das… ich weiß nicht, was da passiert ist, ich war einfach total fertig und hab nicht nachgedacht und das war so eine dumme spontane Überreaktion, ich hab das Geld wieder und es tut mir wirklich – “ „hide“, unterbrach ihn Yoshiki schneidend. hide hörte auf zu brabbeln und sah ihn an. „Du bist dir im Klaren darüber, dass wenn du mir gesagt hättest, wo du hinwillst, ich dir das Geld gegeben hätte? Nicht mal geliehen – gegeben? Stattdessen tust du so, als wäre alles in Ordnung und lässt mich in dem Glauben, dass – was ist los in deiner Welt!“ Er löste die Verschränkung seiner Arme und machte ein paar aufgebrachte Schritte durch den Raum, in Richtung hide, dann von ihm weg, dann wieder auf ihn zu. “Wir haben uns totale Sorgen gemacht, du Vollarsch! Meine Mutter war unglaublich sauer! Und dann sagst du auch noch Pata, er soll mir nicht sagen, wo du bist und deinen Eltern auch nicht und mir sagst du, ich soll niemandem sagen, was passiert ist – damit stellst du ihn total in die Mitte und mich auch! Freunde machen so was nicht! Und dann hast du es jetzt wirklich in fünf Wochen – fünf Wochen! – kein einziges Mal geschafft, dich bei mir zu melden! Ein Anruf, hide! Nur einer! Das hätte mir gereicht!“ Yoshiki trat einmal beherzt gegen den Mülleimer, der scheppernd in der Ecke zwischen Sofa und Kühlschrank landete. Zum Glück war er leer. „Echt, Scheiß-Aktion! Alles davon! Wie soll jemand mit dir befreundet sein, wenn man nicht drauf vertrauen kann, dass – Ich meine, gibt es irgendeine anständige Gehirnzelle da drin, die eine Vorstellung davon hat, wofür Freunde da sind?!“ Er hatte vor hide geendet und deutete mit einer Hand auf dessen Kopf. Die andere hatte er in die Hüfte gestemmt. Der Gitarrist schluckte einmal, von dem Ausbruch vollkommen überrumpelt und lugte eingeschüchtert zu der vor ihm aufragenden Gestalt Yoshikis hinauf. Für so einen schmalen Kerl konnte er ziemlich furchteinflößend sein. „… dafür, anderen Freunden zu verzeihen, wenn die sich aufführen wie Vollärsche?“, piepste er vorsichtig. „Gnaaargh!“ Yoshiki hob beide Hände zu einer würgenden Geste und funkelte hide an. „Wenn wir damit jetzt nicht schon so schlechte Erfahrungen hätten, würde ich dir so eine reinhauen!“ Hinter Yoshiki ging Toshi nun vorbeugend in Hab-Acht-Stellung. hide zog eine Schulter hoch und duckte sich gleichzeitig noch ein wenig. „Das kannst du machen, wenn es dir hilft“, bot er an. Doch Yoshiki schnaubte, ging in die Knie, sagte „Du Trottel!“ und umarmte ihn. Nach einem kurzen Moment umarmte hide ihn zurück. „Es tut mir leid“, sagte hide irgendwo in Yoshikis Nacken. „Was auch immer“, murmelte Yoshiki kaum hörbar. „Awww. Rührend“, sagte eine Stimme. Yoshiki wusste nicht, wie lange Taiji bereits am Türrahmen lehnte, doch anscheinend lange genug. Er ließ hide los und richtete sich wieder auf. Der Bassist betrat den Raum vollständig und machte eine grüßende Geste. „Willkommen zurück, Fopdoodle.“ -X- Toshi grinste auch am Montag und am Dienstag und es hielt weiter an, bis in den Mittwoch hinein. Das war ein bisschen anstrengend, aber die Welt war einfach schön. Schrecklich verwirrend schön. hide hätte sich dieser Euphorie nicht ganz anschließen wollen, denn er war in erster Linie müde. Seit vorgestern teilte er sich das Vierbettzimmer, in das er sich wegen der Preise (Tateyama war ein äußerst beliebtes Ausflugszielt für Sonne, Strand und Meer und das merkte man selbst um diese Jahreszeit noch deutlich) eingemietet hatte mit zwei allein reisenden Jungs, die sich scheinbar nicht leiden konnten und das war… fordernd. Außerdem hatte am Morgen eine Gruppe Rucksacktouristen das komplette warme Wasser weggeduscht und danach hatte er in der Gemeinschaftsküche gemerkt, dass irgendjemand seine Dorayaki aus dem Kühlschrank genommen und nicht ersetzt hatte. Traurig. Wenn Tage schon so anfingen, erwartete man eigentlich nichts mehr und deshalb war hide äußerst erfreut gewesen zu sehen, dass zumindest hier im Proberaum niemand die seltsamsten („leckersten!“) seiner Softdrinks angerührt hatte. Ganz hinten in der Ecke des Kühlschranks hatte er noch eine Flasche Limonade mit Melonengeschmack gefunden, bei der Milch eine cremige Note beisteuerte. Nomnomnom. Es war hide ein vollkommenes Rätsel, dass ihm die niemand streitig machte! (Was hide vermutlich nie verstehen würde: Niemandem sonst war das ein Rätsel.) Er versuchte ja seit neustem, seine Laune auf einem annehmbar guten Niveau zu halten, doch ganz ehrlich: Das hier rettete seinen Tag. Sie machten gerade Pause, also setzte er sich aufs Sofa und nahm einen großen Schluck Limo. Vielleicht sollte er einfach viel mehr Zeug hier zwischenlagern. Freunde aßen anderen Freunden nicht das Essen weg. Oder? Nein. Das klang irgendwie nicht richtig. Und wenn er schon dabei war, konnte er vielleicht auch hin und wieder auf dem Sofa ein Mittagsschläfchen halten… Gerade war er mit diesem Gedankengang durch, als er sich einer seltsamen Stille gewahr wurde. Und als er einen Blick in die Runde warf, wurde ihm bewusst, dass alle ihn ansahen. Yoshiki war hinter dem Schlagzeug vorgekommen. „Also, hide…“, begann er. „Oh mein Gott“, sagte dieser tonlos und stellte die Melonenmilchlimonade zur Seite. Vielleicht war die Milch darin umgekippt? Ihm war wieder schlecht. Er hätte aufs Verfallsdatum schauen sollen. „Was passiert? Wirfst … du mich raus?“ „Was? Nein! Nein…“ Yoshiki fasste sich an die Stirn und massierte sich kurz die rechte Schläfe. hide legte die Hände in den Schoß wie ein Schuljunge und schaute verunsichert von einem zum anderen. „Also“, fing Yoshiki noch einmal an, „wir haben lange diskutiert, ob es uns etwas angeht und sind zu keinem eindeutigen Schluss gekommen, aber wir haben dich gern und ja. Pata hat was, das er dich fragen möchte.“ Der Angesprochene nickte leicht und wandte sich an hide. „Wir haben ein kleines Zimmer, das ist gerade die Abstellkammer. Die könnten wir ausräumen. Es ist ein Drei-Quadratmeter-Raum. Ich sage das, damit du dir vorstellen kannst, was klein bedeutet. Aber wenn du möchtest, ist es deiner.“ hides Blick huschte einmal ungläubig über die Band und konzentrierte sich dann auf den anderen Gitarristen. Er fühlte sich seltsam betäubt. „… Du… ich… ich soll…“ „Wie gesagt, wir haben das diskutiert“, sagte Yoshiki. „Toshis Wohnung gibt keinen Zentimeter her, bei mir geht es offenbar nicht so gut und Taiji meinte zwar, er könne seinen Bruder in ein Zelt im Garten umquartieren, aber der tat uns doch leid. Das ist die einzige Lösung, die übrig war.“ „Und machen wir uns nichts vor“, sagte Pata, „du müsstest irgendwas dazuzahlen. Wir haben gerechnet und eine Person mehr… macht sich halt einfach doch bemerkbar.“ „Du… ihr… wer hat gerechnet?“ „Mein Onkel und meine Tante. Es ist ihr Haus. Ihre Nebenkostenrechnung.“ „Du… hast ihnen… das alles erzählt?“ hide wusste nicht ganz, ob er entsetzt, verletzt oder wütend sein sollte. „Nicht im Detail“, wiegelte Pata ab. „Ich hab ihnen gesagt, du hättest familiäre Unstimmigkeiten und bräuchtest für ein paar Monate einen Ort zum Leben, bis du mit der Schule fertig bist. Sie waren relativ offen, nachdem ich ihnen klar gemacht hatte, dass das keinen Rattenschwanz an Problemen nach sich zieht.“ Er warf hide einen Blick zu, der etwa zwei Sekunden zu lang war. „Ich hoffe auch inständig, dass dem so ist.“ hide seufzte und lehnte sich auf dem Sofa zurück. „Was?“, fragte Yoshiki. Offenbar verstand er nicht ganz, warum kein Freudensturm folgte. Pata und Taiji schienen weitaus weniger überrascht. „Nichts“, sagte hide und schaute den Kühlschrank an. „Nur dachte ich als ich hier angefangen hab nicht, dass ich mal derjenige sein würde, auf den sich die allgemeine Fürsorge konzentriert. Das ist… ein bisschen unangenehm. Und peinlich. Und scheiße.“ Er warf dem Schlagzeuger einen flüchtigen Blick zu. Und vielleicht bildete Yoshiki sich das ein, doch er schien ihm ein wenig anklagend. Vielleicht, weil er in hides Welt derjenige war, der zuerst mit der Geschichte hausieren gegangen war. Aber Yoshiki würde sich jetzt sicher nicht dafür entschuldigen. „Du bist gerade ein bisschen in einer Notlage“, sagte er also und ignorierte den unausgesprochenen Vorwurf. „Wir wollen dir bloß helfen. Das hat mit peinlich überhaupt nichts zu tun.“ „Ah ja?“, machte hide zynisch. Ihm kam es eher wie der Beweis vor, dass er sein Leben nicht auf die Reihe brachte. Life of hide. Das beste Teledrama des Jahres. Und seine Bandkollegen hatten Plätze in der VIP Loge. „Ja“, bekräftigte Toshi. Doch was anderes hatte hide auch nicht erwartet. Wenn es um die Wurst ging, würde Toshi vermutlich nie irgendetwas sagen, das Yoshiki dastehen ließ wie einen Volltrottel. Er seufzte und streichelte mit einer Hand über die Sofalehne. Sie war stellenweise noch plüschig und an anderen Stellen bereits abgescheuert und rau. „Leute“, sagte er schließlich. „Das ist… nett gemeint von euch. Aber ich will hier Gitarrist sein, oder Kollege, meinetwegen auch Freund. Und nicht der armselige Typ, der Hilfe braucht. Ok?“ „Du kannst seit dem frühen zwanzigsten Jahrhundert mehrere Dinge auf einmal sein“, bemerkte Taiji trocken. „Da hat das Parlament ein Gesetz drüber erlassen.“ Yoshiki stieß dem Bassisten den Ellenbogen zwischen die Rippen. hide schüttelte verständnislos den Kopf und wandte sich endlich an denjenigen, der hier am wenigsten beisteuerte, obwohl es ihn am meisten betraf. „Können wir mal kurz unter vier Augen sprechen?“ Sie waren halb über den Parkplatz, bevor hide sich zu Pata umdrehte. „Ok“, sagte er und steckte sich die Hände in die Hosentaschen. „Ich hab ein Problem damit.“ Tomoaki nickte, sagte aber nichts. Damit spielte er den Ball sofort wieder zurück zu hide, den das mit einem Mall unendlich nervte. Aber da er inzwischen sicher war, dass der andere Junge auch unangenehme Stille wesentlich gleichgültiger aussitzen konnte als er selbst, seufzte er schließlich resigniert und sprach weiter: „Du kennst mich doch… überhaupt nicht.“ Tomoaki nickte, hob eine Schulter und ließ sie wieder fallen. hide zog die Augenbrauen hoch und machte eine halbkreisförmige Handbewegung. Er hatte keine Lust, dem anderen Jungen hier alles aus der Nase zu ziehen - da kam jetzt besser noch was nach! Ein paar Sekunden lang tat sein Gegenüber nichts; schien stattdessen noch einmal alles zu durchdenken, was er wusste. „Nein“, gab er dann schließlich zu. „Warum machst du das dann?“ Wildfremde Leute zum Abendessen einladen war eine Sache. Ihnen zu einer Bandprobe nachlaufen war eine andere. Aber ihnen anzubieten, unter dem gleichen Dach zu leben – das war verdächtig. Extrem verdächtig. Seltsamerweise schlug nur hides Kopf Alarm – der Rest war erstaunlich ruhig. Ihm war auch nicht schlecht. Pata schwieg und wandte die Augen ab, in Richtung Promenade und Meer und Horizont. Zum ersten Mal schien er einen Moment lang unsicher, als wisse er wirklich nicht, was er sagen sollte. Schließlich erwiderte er hides Blick. „Weil ich weiß, wie es ist, wenn Scheiße passiert.“ hide wartete noch ein paar Sekunden, doch Pata sagte nichts weiter, um sich zu erklären. „Ok“, sagte er also schließlich noch einmal. Wenn jemand verstand, dass man Dinge lieber für sich behielt, dann er. „Nehm ich mal so hin. Das ist …nett(?) von dir. Aber… Gott, das klingt jetzt mega undankbar, aber – ich hab einfach überhaupt keinen Bock darauf, hier den Sozialfall für deine gute Tat des … Jahres zu spielen.“ Tomoaki blinzelte einmal. Dann nochmal. Dann zuckte der mit den Achseln und klemmte sich eine zu lange Haarsträhne hinters linke Ohr, die der Wind ihm ins Gesicht geweht hatte. „Das ist nicht wirklich, worauf ich damit rauswollte, aber gut. Dann nicht.“ Der Leadgitarrist machte eine nicht eindeutig zuzuordnende Kopfbewegung. „Es tut mir wirklich leid… aber ich… glaub nicht, dass ich…“ Der andere Junge hob die Hand und hide brach ab. „Ich hab’s dir angeboten. Das ist alles. Was du letztendlich machst, geht mich nichts an.“ „Ok“, sagte hide. Damit war das hier also geklärt. Warum nur fühlte es sich dann so schlecht an? Er trat unbehaglich vom linken Fuß auf den rechten. „Sind Dinge jetzt komisch zwischen uns?“ Pata zog einen Mundwinkel zu einem schiefen Lächeln hoch und wandte sich ab, um zu der alten Fabrik zurückzugehen. „Dinge waren immer komisch zwischen uns.“ -X- Falls noch nicht in diesem Moment, so hatte hide über die nächsten eineinhalb Wochen ausgiebig Zeit, seine Entscheidung zu bereuen. Hollywood hatte ihm beigebracht, dass das echte Leben anfing, wenn man sich von der Familie löste und selbstständig wurde, und dass diese Zeit bestimmt wurde von großen Veränderungen, tiefen Freundschaften und der großen Liebe. Alles davon erschien ihm mit jedem Tag unwahrscheinlicher. Die Romantik des bei seinen Reisen durch die verwirrende Welt der Moderne in einer mittelmäßigen Herberge gestrandeten Jugendlichen auf der Suche nach Sinn? Am Arsch. Die ersten vier Tage hatte er sich das Zimmer mit einer jungen Familie aus Sapporo geteilt. Das war in Ordnung gewesen. Der kleine Sohn hatte nicht die geringste Achtung für Privatsphäre und integrierte hide sofort als Bruder in die Verwandtschaft, und die Mutter schenkte ihm etwas bröselige aber sehr leckere Kekse. Doch am Sonntag zogen zwei koreanische Mädchen ein, die sich ständig darüber aufregten, dass sie sich das Zimmer mit einem Jungen teilen mussten, aber scheinbar auch nicht willens waren, die paar Yen mehr für ein eigenes Zimmer zu zahlen. Zumindest interpretierte er das aus ihrem Verhalten, denn obwohl sie scheinbar leidlich gut Japanisch sprachen, machten sie sich keine Mühe, es zu benutzen. hide war nicht unglücklich, als sie am Donnerstagmorgen verschwunden waren. Danach zogen für ein paar Tage ein paar junge Männer aus Nikko ein, die zu einem späten Surf- und Badetrip unterwegs waren. Sie verstanden sich eigentlich gut, doch hide, der früh aufstehen und nachts schlafen musste, fand es äußerst schwierig, sich mit ihrem Ferienrhythmus zu arrangieren. Als er am Sonntag von der Bandprobe zurückkam, war er allein. Doch spät am Abend fiel ein ziemlich betrunkener Mann in Anzug und Krawatte ins Zimmer, der erst populäre Schlagerlieder vor sich hin lallte und dann noch angezogen und laut schnarchend im Bett lag, während hide versuchte, seine Englischhausaufgaben für den nächsten Tag zu machen. hide war nicht sonderlich amüsiert und verzog sich in die Küche. Am Montag zog ein junges Pärchen ein, die nachts nach etwas, das hide als romantisches Dinner einstufte, scheinbar vergaßen, dass sie noch einen Mitbewohner hatten. „Und dann“, erzählte hide an der Bandprobe am Dienstagabend, während er eine Flasche Cola öffnete, „hatten die beiden Sex. Im Bett neben mir.“ „Hast du nichts gesagt?“, fragte Toshi ungläubig. Er lehnte am Kühlschrank, aus dem er dem Gitarristen gerade die Flasche gereicht hatte. „Doch“, sagte hide, nahm einen Schluck Koffeingetränk und rieb sich übers Gesicht. Er fühlte sich, wie man sich eben fühlte, wenn man die Nacht auf dem Gang verbracht hatte. „Aber statt sich zu entschuldigen, haltet euch fest, haben sie gefragt, ob ich mitmachen will.“ Geplättet hob er den Blick und warf einen fragenden Gesichtsausdruck in die Runde seiner Kollegen. „Was ist los mit den Leuten?“ „Und?“, fragte Taiji, der runtergedreht eine Bassline übte. „Was und?“, fragte hide zurück und rieb mit dem Daumen Konsenswasser vom Glas. Seine Fingerspitzen wurden kalt. „Hast du?“ hide schaute ihn nach wie vor verständnislos an. „Mitgemacht?“, schob Taiji also hilfsbereit hinterher. hide breitete die Arme aus und rief entgeistert: „Nein!“ „Sahen die beiden nicht gut aus?“ „Nein! Doch! – Das ist nicht der Punkt! Der Punkt ist“, er wandte sich an Pata, „steht das Angebot noch?“ Er fuhr sich einmal über die Haare und schaute kläglich aus der Wäsche. „Ich brauch einfach ein bisschen Zeit, um die Schule auf die Reihe zu kriegen und mir Arbeit zu suchen und das wird nicht besser, wenn ich keinen Ort für mich habe, und den habe ich nur, wenn ich Geld ausgebe, das ich nicht ausgeben kann, weil ich ja noch keinen Job habe, den ich nicht finde, weil ich nichts hinbringe, solange mich ständig was nervt! Und so. Scheiße.“ hide würgte die Colaflasche. Um Hilfe zu fragen war ein beschissenes Gefühl. Um Hilfe zu fragen, die man zuvor nicht auf die höflichste Art abgelehnt hatte, war ein richtig beschissenes Gefühl. Ihm war dezent zum Heulen. Er rechnete es Pata hoch an, dass sein Gesicht nicht die geringste abschätzige Regung zeigte, als er sagte: „Es steht.“ Ohne es zu wollen lehnte hide sich auf dem Sofa zurück. Obwohl er sich kacke und verloren fühlte, nervös war und sich noch nie so geschämt hatte, fiel ihm auch ein Stein vom Herzen. Gut, er wusste nicht, was mit dieser Entscheidung auf ihn zukam und das machte ihm ziemliche Sorgen und ein bisschen Angst… aber es konnte eigentlich fast nur besser sein als das, war er zurückließ. „Danke…“ Immerhin, wie groß war die Chance, dass sich diese vier sehr unterschiedlichen Menschen darin zusammengetan hatten, ihm was Schlechtes zu wollen? Unwahrscheinlich. Oder? „Kein Glück mit Arbeit, hu?“, fragte Taiji, dezent das Thema wechselnd und stoppte damit zum Glück auch hides Gedankengang. Er war mit seiner Baseline fertig und lehnte jetzt an der Wand. „Nein“, sagte hide mit einem Seufzen und stellte die Cola zur Seite. „Ich hab mir fünf Sachen angeschaut. Einmal war ich zu jung und die anderen wollten alle Stundenzahlen oder Zeiten, die ich nicht leisten kann.“ Und beim jetzigen Stand ging ihm irgendwann in der kalten Jahreszeit das Geld aus. Januar war kein guter Monat, um vorübergehend auf einer Parkbank zu schlafen. Die Zeit lief wirklich an allen Fronten gegen ihn… und ein paar Verbündete waren bei so einem mächtigen Widersacher wohl nicht verkehrt. Er wandte sich zurück an Pata. Dieser schien auf diesen Blick gewartet zu haben, denn er antwortete „Freitag“, noch bevor hide die Frage gestellt hatte. hide nickte. -X- Tomoaki wartete bereits auf ihn, als hide am darauffolgenden Freitagnachmittag mit einer unförmigen Reisetasche, dem Rucksack und einem mittelgroßen Koffer aus der Herberge trat. „Das ist alles?“ „Jupp.“ hide grinste, doch er schaffte es nie ganz, bevor die Regung wieder verschwand. „…Irgendwie seltsam, nicht? Dass achtzehn Jahre in zwei Koffer passen… Aber gut“, sagte er betont positiv und unterstrich es mit einem weiteren Lächeln, „so bekomme ich zumindest kein Platzproblem.“ Der andere Junge nickte und nahm ihm die Tasche ab. Sie fuhren vier Stationen mit dem Bus und bogen dann in die schmale Straße, in der die Ishizukas wohnten und arbeiteten. hide wurde mit jedem Schritt nervöser. Seltsam. Das hier war so seltsam. Und peinlich. So peinlich. Einige Meter vom Laden entfernt hielt Tomoaki schließlich inne und wandte sich zu hide um. Dieser blieb ebenfalls stehen. Der ernste Gesichtsausdruck verhieß nichts Gutes. „Gut“, sagte Pata. „Hör zu. Ich möchte glauben, dass du ein lieber Kerl bist und ich will dir helfen. Deswegen sag ich das jetzt einfach und danach gehen wir wieder zu unserem normalen Verhalten über, in Ordnung?“ hide nahm den doch recht schweren Koffer mit beiden Händen und schaute ihn verunsichert an. „… ok?“ „Ich will einfach in Ruhe leben, meine Schwester hat so ihre Probleme und mein Onkel und meine Tante führen hier ein respektables Geschäft. Ich hab keine Lust und keine Ressourcen, um dir zu misstrauen. Deshalb: solange du hier bist, bist du ehrlich, du bist zuverlässig und du bist nüchtern. Wenn du unbedingt rauchen musst, gehst du dazu nach hinten in den Hof. Und wenn irgendetwas verschwindet – aus dem Laden, aus der Wohnung, sonst irgendwo – dann fliegst du hier hochkant raus und wir zwei sind geschiedene Leute. Das sind die Regeln.“ Tomoaki streckte die Hand aus. hide schluckte einmal. Anscheinend hatte er einen so richtig guten Eindruck hinterlassen. Andererseits hatte ihn Pata trotzdem eingeladen, hier mit ihm zu wohnen. Das waren sehr widersprüchliche Signale. Vielleicht war das keine gute Idee gewesen. Aber er war jetzt hier und hatte keinen anderen Ort, an den er gehen konnte. Zögerlich löste er die rechte Hand vom Koffer, doch der andere Junge zog seine noch einmal ein Stück zurück. Als er nach oben sah, begegneten seine Augen Patas, der Blick aus seinen Augen fest und unnachgiebig. „Mach das nur, wenn du’s ehrlich meinst.“ Er streckte die Hand wieder vollständig aus. Obwohl hide es nach Möglichkeit vermied, anderen Menschen länger als nötig in die Augen zu sehen, verharrte er noch ein paar Sekunden, ohne sich zu bewegen. Am Ende war er sich nur in einem sicher: Pata machte keine Witze. Er schlug ein. -X- „Bist du dir sicher, dass das für dich geht. Sei ehrlich.“ „Ja“, sagte hide. „Es ist vollkommen in Ordnung.“ Er stand mit Pata in der Tür der ehemaligen Abstellkammer und schaute hinein. Der andere Junge warf ihm noch einen forschenden Seitenblick zu, doch nickte schließlich. „Ok. Dann lass ich dich jetzt ausräumen und hol dich, wenn das Abendessen fertig ist.“ „Uh-hu“, machte hide. „Danke.“ Pata verschwand von seiner Seite, einmal über den Gang und in die Küche. hide wandte sich dem Raum zu. Er war nur wenig breiter als der gerade noch in der Ecke zusammengelegte Futon und gerade so lang, dass am anderen Ende unter dem winzig kleinen Fenster noch eine schmale Kommode stehen konnte. Außerdem beherbergte der Raum noch einen ebenso winzigen Tisch, gerade groß genug, damit ein durchschnittlich großes Buch, die kleine Leselampe und ein Heft darauf Platz hatten und gerade klein genug, um nachts auf die Kommode gestapelt werden zu können. Löcher in den Wänden deuteten darauf hin, dass man Regale abmontiert hatte, um Wohnraum herzustellen, doch zwei Bretter hatte man gelassen, um mehr Stauraum zu schaffen. hide stellte den Koffer ab und schaute sich unschlüssig um. Auf einmal fühlte er sich ähnlich verloren wie am ersten Abend im Hostel. Vermutlich nur die Umgewöhnung. hide trat sich selbst in den Hintern – mental natürlich – und riss sich zusammen. Für Selbstmitleid hatte er später noch genug Zeit. Er nahm seine Reisetasche um sich daran zu machen, seine Klamotten einzuräumen. Auf der Kommode stand eine kleine rote Okiagarai Koboshi. hide stupste sie an und schaute ihr dabei zu, wie sie sich taumelnd wieder aufrichtete und dabei nie aufhörte, vor sich hinzulächeln. Irgendwie half das ein wenig, also stupste er sie noch einmal. Sie lächelte und richtete sich wieder auf. Seine Tasche und der Koffer waren fast leer, als das Abendessen fertig war. Die Situation war seltsam, aber das Essen war lecker und das glich sich fast aus. Vielleicht, aber nur vielleicht kam er wirklich damit zurecht, dachte hide, als er am Tisch saß, in seinem gebratenen Reis stocherte und versuchte, sich nicht wie der eine schlechte Apfel im Korb vorzukommen – oder wie das mitleiderregend winselnde Hündchen, das man aus dem ramponierten Pappkarton an der Straßenecke gerettet hatte. Es würde auf jeden Fall Zeit brauchen. Nach dem Essen redeten Patas Onkel und er über das Geschäftliche. Er legte ihm eine Schätzrechnung vor und erläuterte hide, wie er auf die einzelnen Teile kam und dass er mit dem Preis auf eine Nullrunde abzielte und nicht auf einen echten Gewinn, was man seiner Meinung nach bei den paar Quadratmetern schon aus moralischen Gründen gar nicht machen könne. Der Preis erschien hide fair. Danach verzog er sich unauffällig. Er packte fertig aus und stapelte Koffer und Tasche hinter der Tür. Funktionierte so halbwegs. Als letztes räumte er seine Regale ein. Auf dem einen reihte er seine Schulbücher aneinander, auf dem anderen ein paar persönliche Dinge, um es ein wenig heimeliger zu machen. Zumindest war das sein Plan gewesen. Denn nachdem er alle seine Sachen einmal durchgeschaut hatte, war das Regal bis auf die Okiagarai Koboshi und seinen uralten Stoffhund immer noch leer. Seine Mutter hatte Prioritäten gesetzt und das war in Ordnung, doch kurz vermisste hide einige der Dinge, die noch zuhause stehen mussten. Die meisten von ihnen hatte er eigentlich seit Jahren nicht mehr angerührt und trotzdem war es seltsam schmerzlich, sich nun endgültig von ihnen zu trennen. Nun, dachte er und setzte sich an den Tisch, mit etwas Glück konnte er irgendwann zurückgehen und zumindest seine Kassetten holen. Aber er war ja eigentlich zum Arbeiten hier. Ein Blick auf die Uhr. Acht. Ja. Da ging noch was. Er angelte nach seiner Mathearbeit fürs Wochenende. Block Eins. Extremwertaufgaben. Eine Fabrik verkauft pro Monat n Stück Maschinen zu einem Preis p. Die Anzahl n der pro Monat verkauften Maschinen und der Stückpreis p hängen wie folgt zusammen: n=n(p)=1200−3⋅p¥ Bestimmen Sie den monatlichen Umsatz in Abhängigkeit vom Stückpreis p. Für welchen Preis p ist der Umsatz maximal? … Ja. Genau. Ganz seine Meinung. Und das hatten sie mal behandelt? hide blätterte in seinem Heft zurück. Tatsächlich. Hahaha. Ha. Scheiße. Ok. Keine Panik. Er musste nur zurückgehen und das letzte finden, das er verstanden hatte und dann aus allem zwischen damals und jetzt kleine, handliche Stückchen machen und die abarbeiten. Das war die Vorgehensweise. hide blätterte zurück. Und weiter zurück. Und dann noch ein Stück zurück. Dann musste er das vorangegangene Heft suchen. Aha. Hier. Oj. Gut. Dann fing er wohl im Januar des letzten Schuljahrs an. Das war… machbar. Ja… Nein… Ok. An welcher Stelle musste er anfangen, um Extremwerte zu verstehen? Analysis. Ableitungen. Ok. Dann fing er erstmal dort an. Mann. Er musste sich einen Plan machen. Sonst sah er da niemals Land. Morgen. Plan morgen. Heute Analysis. hide schlug das Buch zwanzig Seiten weiter vorne auf. Analysis. Höhö, dachte er unwillkürlich und musste kichern, anal. Er räusperte sich und riss sich zusammen. Eine ganze Weile arbeitete er ruhig vor sich hin, während sich langsam die Stille der Nacht über das Haus legte. Als er das nächste Mal auf die Uhr schaute, war es halb zehn. hide legte einen Zettel zwischen die Seiten und klappte das Buch zu. Er war müde und hatte seine maximale Aufnahmefähigkeit ohnehin vor etwa einer Viertelstunde erreicht. Doch was dann? Einen kurzen Moment dachte er darüber nach, noch einmal durch die Wohnung zu geistern und zu sehen, ob er sich irgendwo anschließen konnte, doch es war nur eine halbherzige Überlegung. Gut… Dann… ging er wohl ins Bett. hide wandte sich seiner Kommode zu, um nach seinem Handtuch und einem der übergroßen Shirts zu suchen, die er zum Schlafen trug. Gerade hatte er beides gefunden, den Futon ausgebreitet und wieder begonnen, sich ziemlich einsam zu fühlen, als es klopfte. hide legte Shirt und Handtuch auf das Kopfkissen, rappelte sich hoch und öffnete die Tür. Davor stand Pata. „Hier“, sagte er. „Was ist das?“, fragte hide und nahm einen unförmigen Stapel Papier und eine Rolle Tesafilm entgegen. „Poster für die meine Schwester keinen Platz mehr findet. Sie meinte, wenn dir was gefällt – wörtlich – to get you out of this rock ’n‘ roll hell, kannst du sie dir rausnehmen und ihr den Rest zurückgeben. De facto heißt das, leg es ihr vor die Tür. Außerdem dachte ich, du willst vielleicht zwischendurch was lesen, das nichts mit Schule zu tun hat.“ Er lugte kurz an hide vorbei. „Gehst du ins Bett?“ „Demnächst“, antwortete hide. „Das war alles in allem doch ein… anstrengender Tag. Obwohl ich nichts gemacht hab.“ „Un“, machte Pata verstehend. Dennoch unterzog er hide noch einem prüfenden Blick. „Alles klar?“ „Bisschen Heimweh.“ Obwohl ich nicht genau weiß, wonach, dachte er. „Geht von selbst weg.“ „Ok“, sagte Pata. „Dann… gute Nacht.“ „Gute Nacht. Danke.“ Sachte schloss hide die Tür. Die nächste halbe Stunde brachte er damit zu, auf dem Boden seines neuen Zimmers auf Zeit zu sitzen und durch den Papierhaufen zu blättern. Einiges davon waren echte Poster, andere waren Flyer oder ganzseitige Fotografien aus entsprechenden Magazinen. Nicht alle hatten etwas mit Musik zu tun. Dabei summte er leise Rock ‘n‘ Roll Hell vor sich hin. Am Ende belief sich seine Ausbeute auf Pink Floyd, Kiss, einen traditionell gezeichneten Koikarpfen, The Clash und das Bild eines knuddeligen Koalabären, den er irgendwie nicht mehr hatte zurücklegen können (er hatte es viermal versucht). Er klebte den Karpfen an die Stelle, unter der sonst der Schreibtisch stand, die Bands unter das Fenster und den Koala so, dass er ihn morgens beim Aufstehen anschauen musste. Konnte ja nicht schaden, zu einem schönen Anblick aufzuwachen. Es begann langsam, ein wenig wie ein Zimmer auszusehen. Den Rest der Poster stapelte er wieder ordentlich und legte sie vor die Tür des Nebenzimmers. Danach verschwand er kurz ins Bad und schließlich legte er sich hin. Es war früh für einen Freitagabend, doch ihm fiel nichts mehr ein, was er noch tun konnte. Aber es war ja auch nichts falsch an einer besinnlichen Abendgestaltung, dachte er, ohne koreanische Mädchen, ohne Geschäftsleute, ohne Sorgen darüber, ob morgen früh warmes Wasser da war. Er kuschelte sich in die Decke, nahm wahllos eines der Bücher vom Stapel und schlug es auf. „Sonne und Mond, Tage und Monate verweilen nur kurz als Gäste ewiger Zeiten“, und so ist es mit den Jahren auch, las hide. Sie gehen und kommen, sind stets auf Reisen. Nicht anders ergeht es den Menschen, die ihr ganzes Leben auf Booten dahinschaukeln lassen, oder jenen, die mit ihren am Zügel geführten Pferden dem Alter entgegenziehen: tagtäglich unterwegs, machen sie das Reisen zu ihrem ständigen Aufenthalt. Viele Dichter, die vor uns lebten, starben bereits auf der Wanderschaft. Meine Gedanken hören dennoch nicht auf, wohl angeregt durch den Wind, der die Wolkenfetzen jagt, um das stete Getriebenwerden zu schweifen. hide las noch eine halbe Stunde, dann drehte er sich auf die Seite und knipste das Licht aus. Durch das kleine Fenster fiel ein Quadrat aus Licht herein und erhellte das Zimmer ausreichend, um sich seiner Fremdheit gewahr zu werden. Erneut stieg ein Hauch von Einsamkeit in ihm hoch. hide waren abendliche Depressionsschübe nicht fremd, doch das hier hatte noch einmal eine andere Qualität. Er betrachtete den dunklen Fleck im helleren Rechteck, welcher den Koala im Blätterdickicht darstellte. Irgendjemand, dem er erzählen konnte, wie es ihm ging, dachte hide und wischte sich einmal übers Gesicht, bevor er sein Kissen einweichte. Vielleicht würde das schon helfen. Doch er konnte sich schlecht jetzt in den Gang stellen und seine Großmutter anrufen. Oder Yoshiki, falls es den interessierte. Das wäre den Ishizukas gegenüber mehr als unhöflich und, eigentlich, hatte er ja auch gar keinen Grund, sich zu beschweren. Denn immerhin war es friedlich hier. Alles war gut. Er musste sich nur eingewöhnen und er wusste das. Durchhalten. hide drehte sich in seine Schlafpose auf dem Bauch, atmete tief und versuchte, angemessen zu genießen, dass er ein eigenes Zimmer hatte, egal wie klein, ein eigenes Bett, egal wie spartanisch und seine Ruhe, egal für wie lang. Die Augen geschlossen lag er da und lauschte den ungewohnten Geräuschen des fremden Hauses. Das leise Ticken seiner Uhr. Das ferne Geräusch einer ruhigen Unterhaltung. Knacken im Gebälk. Leise Schritte auf dem Gang. Tür. Geraschel im Nebenzimmer. Terumi musste ihre Poster entdeckt haben. Sein eigener Atem und der Schlag seines Herzens. Die zwei Konstanten im Leben. Er konzentrierte sich darauf. Tateyoko no goshaku ni taranu, kam ihm noch sein letztgelesenes Tanka in den Sinn, kusa no io musubu mo kuyashi ame nakariseba.* Und dann schlief er. -X- Die Uhr in der Küche zeigte am nächsten Vormittag kurz vor zehn, als hide zwar angezogen aber ziemlich zerstrubbelt in die Küche getappt kam. Er war schon einige Zeit wach gewesen, hatte sich aber nicht aufraffen können, den Tag zu beginnen. Einen kurzen Moment hatte er noch überlegt, ob er sich vielleicht erst komplett fertig machen sollte, so wie man das im Hotel tat, doch dann hatte er sich dagegen entschieden. Immerhin würde er mit diesen Leuten mindestens ein halbes Jahr zusammenleben. Er konnte versuchen, nicht gerade bei offener Tür zu masturbieren, aber er konnte nicht über sechs Monate hinweg so tun, als wäre er perfekt. Doch er hätte sich gar keine Sorgen zu machen brauchen – die Küche war nämlich leer, bis auf Terumi, die im angrenzenden Wohnzimmer saß und gerade ein Ei pellte. „Guten Morgen“, sagte hide. „Hallo“, sagte sie. Wunderbar, dachte hide, während er sich der Küchenzeile zuwandte, jetzt hatte er die Wahl zwischen mit ihr reden, was in der Vergangenheit wunderbar geklappt hatte, und nicht mit ihr reden, was noch schlimmer war. Er sammelte Reis, ein Ei und eine Tasse mit Misosuppe zusammen und erwischte sich dabei, wie er einen Moment zögerte. Um es zu überspielen angelte er noch eine Kyohotraube aus dem Obstkorb und zwang sich, sich auch mal in ihre Lage zu versetzen: Da war ein nahezu unbekannter Junge ins Nebenzimmer eingezogen und saß ihr jetzt beim Frühstück gegenüber. Und nun musste sie mit dem Kerl reden. Auch kein toller Start in den Tag. Er ließ sich auf der anderen Seite des Tisches nieder und fühlt sich wieder ein wenig wie bei seinem ersten Besuch: Genauso unwohl. Doch er schaffte ein Lächeln. „Danke für die Poster“, sagte er und zückte sein Besteck. „Sie helfen sehr.“ „Gut“, sagte Terumi. „Ja…“, sagte hide. Dann fiel ihm nichts mehr ein, also konzentrierte er sich auf sein Frühstück. Normalerweise fiel es ihm nicht schwer, sich irgendein Thema an den Haaren herbeizuziehen, doch es war schwierig mit Frauen, noch schwieriger mit Mädchen und das hier, das musste die Königsdisziplin sein. Er schaffte es durch die Misosuppe. Dann hielt er es nicht mehr aus. „Ähm“, begann hide und ließ das Ei sinken, von dem er gerade hatte abbeißen wollen. Terumi sah von ihrem Essen auf. „Ok, ich weiß, das alles muss ein bisschen komisch für euch sein… und ich will nur sagen, ich bin wirklich dankbar und… nicht halb so seltsam, wie das vielleicht… jetzt… erscheint. Ja.“ Kleine Lügen vergab der liebe Gott bestimmt. Er räusperte sich und drückte das Ei ein wenig. Das fühlte sich etwas eklig an. Schlechte Idee… Seine Gegenüber nickte und senkte die Augen wieder. …das hatte ja ganz toll funktioniert. hide biss in sein Ei. Ok. Letzter Versuch. Das Einzige, das sie potentiell gemeinsam hatten. „Ich wollte dir schon länger sagen… du spielst ziemlich smooth Gitarre.“ „Danke.“ Und nichts mehr. Wow. Und er hatte Pata bisher für schweigsam gehalten. Wie man sich irren konnte. Aber sein Stil war ja auch blöd. Man kam mit einem Wort sehr gut aus der Nummer raus. Was würde wohl passieren, wenn er ihr eine offene Frage stellte? Interessantes Gedankenspiel. Doch irgendwie war hide nicht ganz so scharf darauf, das bereits am ersten Morgen auszuprobieren… zu groß das Risiko eines absoluten Desasters. Vielleicht war die beste Strategie – wenn man nicht mit Stille leben konnte – sie einfach ein bisschen zuzuschwallen. Sie konnte ja auf Durchzug stellen, dachte hide, wenn es ihr nicht passte. „Dein Bruder ist ja auch echt gut…“, sagte er also und machte sich an seinen Reis. „Ich werd um ehrlich zu sein nicht so ganz schlau aus ihm. Er redet ja nicht viel. Aber es macht wirklich viel Spaß, mit ihm zu spielen. Das heißt ja was… also… wenn man gute Musik mit jemandem macht, dann muss man sich auch immer irgendwie mögen. Also… da ist was dahinter, nicht? Und ich glaube, die anderen mögen ihn auch. Da war ich froh. Das weiß man ja immer vorher nicht. Yoshiki hat Ansprüche… und Taiji hat auch… irgendwas. Ich nenn es jetzt mal Charakter.“ Er ging einfach mal davon aus, dass Tomoaki zumindest so viel erzählt hatte, dass Terumi die Namen ein Begriff waren. Sie fragte nicht nach – ob das jetzt wirklich ein Zeichen in diese Richtung war, wagte hide aber zu bezweifeln. „Ja…“ hide aß ein wenig schweigend vor sich hin. Essen und gleichzeitig reden konnte man auch nur vor Leuten, die man schon wesentlich besser kannte. Er wollte nicht unbedingt Patas Schwester mit Reisstückchen besprühen. „Umm…“, machte er wieder, als er eine Pause im Kauen einlegte, um die Traube zu schälen. Das war eklig – als würde man ein kleines, glibbriges Tier häuten. Aber der Geschmack war den leichten Ekel wert… „Zum Thema Charakter… hat er dir eigentlich mal erzählt, wie Yoshiki Taiji kennengelernt hat? Ach, warte, das kann er ja gar nicht wissen… Lustige Story.“ Und er erzählte. Die Geschichte war nicht unendlich lang, aber lange genug, um ihn durch das Traubenschälen und den Rest Reis zu retten, und am Ende wurde er mit etwas belohnt, das ein verhaltenes Lachen gewesen sein konnte oder auch nicht. Als er prüfend von der Frucht hochsah, lächelte sie noch, so seicht wie eine Pfütze im Sommer. An dieser Stelle fiel ihm auch auf, dass das Mädchen ihm gegenüber bereits seit einiger Zeit mit dem Essen fertig sein musste. Aber sie saß noch da. War sie einfach nur zu höflich gewesen?, dachte hide, oder interessierte sie tatsächlich was er da so von sich gab? In jedem Fall schaffte er ebenfalls ein Lächeln. Es war einfacher als das erste. Sie machten ja richtig Fortschritte hier! Vielleicht konnte er sich also auch mit dieser weiblichen Freakshow arrangieren. „Ja“, sagte er also und steckte sich den Rest Traube in den Mund. „Und das war das. Sag mal, ist Pata da?“ Er brauchte ihn zwar nicht wirklich, aber eventuell hing davon ab, wann er später zur Probe ging. Sie schaute ihn perplex an. Und antwortete zum ersten Mal mit mehr als einem Wort, als sie zurückfragte: „Wer ist Pata?“ -X- Besagter Pata war nicht da. Er hatte eine Tüte mit Lebensmitteln gepackt und kurz bevor hide sich zum Aufstehen bequemte das Haus verlassen. Der Himmel draußen war bewölkt, aber noch lag ein letzter Rest Spätsommerwärme in der Luft, und da er ohnehin zu früh dran war, sparte er sich also den Bus. Er ging am Kiosk vorbei und kaufte Terumi die Zeitschriften, die sie jeden Monat las. Es war nicht viel, aber zumindest war es eine Verbindung in die echte Welt. Dann schlenderte er noch ein wenig die Promenade entlang, machte einen Umweg zu den Schaufenstern des (sehr kleinen) Musikgeschäfts und gegen elf Uhr schließlich stand er gegenüber des Nachhilfeinstituts in der Nähe des Tempels und wartete. Es wurde elf. Es wurde kurz nach elf. Tomoaki zog eine der Zeitschriften aus der Tüte und blätterte durch. An einem Artikel über Alice Cooper und seinen Rückfall blieb er hängen. Bei der Hälfte des dritten Absatzes etwa piekte ihn etwas in die Seite und machte „Buh!“. „Hallo“, sagte er, nicht wirklich hochschreckend, aber mit einer etwas schnelleren Drehung als sonst für ihn typisch war und schloss das Magazin. „Gut dich zu sehen.“ Neben ihm war ein Mädchen in gestreiftem Pullover aufgetaucht. Masami. Sie lugte in die Zeitschrift, beschloss, dass sie das nicht interessierte und wandte die Aufmerksamkeit lieber wieder ihm zu. „Danke, dass du mich abholen kommst. Soll ich dir was abnehmen?“ Tomoaki ließ den Blick einmal an ihr hinunter und wieder hinaufwandern. Sie hatte bereits drei Bücher auf dem Arm und eines davon sah aus wie ein Lexikon mit mindestens achthundert Seiten. „Ist in Ordnung“, sagte er und packte die Zeitschrift mit einem Rascheln des Plastiks wieder ein. „Eigentlich müsste ich noch deine Bücher nehmen.“ Die eindeutige Geste um Außenstehenden deutlich zu machen, worum es sich bei ihnen beiden handelte. „Ich wollte immer eine moderne Beziehung“, sagte sie und setzte sich in Bewegung. Während sie gingen, richtete sie den verdrehten Schultergurt ihrer Umhängetasche. Ihre Bücher verrutschten dabei bedenklich, doch wurden erfolgreich weiter balanciert. „Interessant“, sagte Tomoaki neben ihr. „Ich wollte immer eine traditionelle Beziehung.“ „Wirklich? So richtig mit Frauchen bleibt zuhause und passt auf die Kinder auf?“ Sie warf ihm einen amüsierten Seitenblick zu. „Ich mag Kinder.“ „Mmh.“ Masami dachte bis zur nächsten Kreuzung darüber nach. Dort bogen sie rechts ab. „Vielleicht in ein paar Jahren. Aber ich steck zu viel Zeit in das hier, um später zuhause zu sitzen…“ Sie hob ihre Bücher ein wenig. „Viel Erfolg.“ „Machst du dich lustig?“ „Nein. Ich unterstütze dich bei jeder Zukunft, die dir vorschwebt. Auch, wenn ich trotzdem hoffe, dass Kinder und deine gebratenen Nudeln darin vorkommen. Außerdem lass mich ehrlich sein: Ich kann nicht bügeln.“ Sie lächelte leicht. „Vorschlag: „Ich koche und ich wasche und bring dir Bügeln bei, und wenn ich eine Kakerlake sehe, steig ich schreiend auf den Stuhl und du darfst du mich vor ihr retten. Über die Kinder reden wir nochmal, wenn ich mit der Ausbildung fertig bin. Und jetzt trage ich meine eigenen Bücher. Wie klingt das?“ „Von einer wie großen Kakerlake sprechen wir?“, fragte Tomoaki. Masami zeigte einige Zentimeter zwischen Daumen und Zeigefinger. „Damit kann ich leben.“ Sie gingen nun durch ein ruhigeres Wohnviertel und hielten wenig später vor einem kleinen Häuschen mit einem noch kleineren Vorgarten. Masami zog mit einem leisen Klingeln ihren Schlüssel mit dem Winkekätzchen daran aus der Tasche und trat schließlich ihm voran in den Flur. Bis Tomoaki die Schuhe ausgezogen und die Jacke an die Garderobe gehängt hatte, war sie bereits in ihre Häschenpuschen geschlüpft und mit der Einkaufstüte in der Küche verschwunden. Das Radio wurde angeschaltet. Er folgte ihr, lehnte sich an den Küchentisch und sah ihr beim Auspacken zu. Sie tat es zum Rhythmus des viel zu fröhlichen Popsongs. Was auch immer sie beide zusammenhielt: ihr Musikgeschmack war es nicht. Als sie drei verschiedene Packen Miso aus der Tüte gezogen hatte, hielt sie inne. „Was ist denn das?“, fragte sie belustigt. „Ich war nicht mehr ganz sicher, welche ihr wolltet.“ Sie drehte sich zu ihm um, ging auf die Zehenspitzen und strich ihm lächelnd die Haare aus der Stirn. „Du bist auch ein wenig neben der Spur zurzeit, nicht?“ Tomoaki seufzte, rieb sich einmal übers Gesicht und setzte sich auf einen der Küchenstühle. „Ja. Ich weiß nicht. Meine Mutter. Terumi. hide. Und dann hab ich ja auch noch ein eigenes Leben. So nebenbei. Ich frag mich schon die ganze Zeit, ob die Idee so schlau war. Die anderen scheinen zu glauben, dass ich da jetzt ein Auge drauf habe. Auf ihn. Ich weiß nicht, ob mir die Rolle so gefällt. Immerhin… er ist praktisch erwachsen. Und…“ Er vollendete den Satz nicht, weil er nicht wusste, wie er alles, was ihm durch den Kopf ging, in wenige, möglichst treffende Worte verpacken konnte: Dass er hide kaum kannte. Dass sie das Freunde-Level in seinen Augen noch nicht erreicht hatten. Dass er nicht noch jemanden brauchen konnte, für den er sich verantwortlich fühlen musste. Also schüttelte er schließlich den Kopf und behielt all das, wie so oft, für sich. Masami schwieg ein paar Sekunden, in denen sie die Packung mit dem weißen Miso in der linken Hand wog und nachdenklich auf ihrer Unterlippe herumkaute. Scheinbar fand sie die Antwort aber nicht selbst, denn schließlich fragte sie: „Warum machst du es dann? hide, meine ich.“ Mit einem schiefen Lächeln wandte Tomoaki den Blick einen Moment lang ab, auf die kleine, etwas traurig in ihrem Topf hängende Pflanze auf der Fensterbank und dann wieder zu seiner Freundin zurück. „Das hat er auch gefragt.“ Masami lehnte sich mit dem Rücken an die Küchenzeile. Manchmal konnte man den Eindruck gewinnen, dass Gespräche mit Tomoaki ein wenig dauerten – bis man darauf kam, dass es genauso wichtig war, auf das zu hören, was er sagte, wie auf das, was er nicht sagte. Also hatte sie Geduld. Als die Stille zu lang wurde, seufzte ihr Gegenüber. „… Hast du dich schon mal gefragt, wie anders alles sein könnte, wenn nur eine kleine Sache ein klein wenig anders gelaufen wäre?“ Sie verlagerte ihr Gewicht ein wenig und legte das Miso zur Seite, das sie die ganze Zeit abwesend geknetet hatte. „Was meinst du?“ „… ich weiß nicht.“ Tomoaki schaute zurück zur Topfpflanze. Masami legte den Kopf schief und wartete ab, ob noch etwas nachkam. Doch dieses Mal passierte nichts. Sie war sich nicht ganz sicher, ob sie alles verstand, was hinter seiner Stirn vorgehen mochte. Doch im Endeffekt war es wohl auch nicht so wichtig. Wichtig war gerade, ihm zu zeigen, dass sie auch da irgendwie durchkamen. Also löste sie sich von der Anrichte, beugte sich vor und legte ihre Finger auf seine Schulter. Nach einigen Sekunden fand seine größere Hand den Weg nach oben, auf ihre, und ein paar Herzschläge lang verharrten sie so. Schließlich ließ seine Hand ihre los und dann ihre seine Schulter, und sie wandte sich zurück zur Tüte. Fast als wäre nichts geschehen. Ganz am Boden begegnete ihr eine Packung Kiwi-Fruchtgummi. „Huch? Nach denen hatte ich dich gar nicht gefragt.“ Sie hielt die Packung zur Veranschaulichung hoch. „Nein. Die sind für dich.“ „Aaah! Das sollst du doch nicht immer machen. Guck mal hier!“ Sie piekte demonstrativ ihren Bauch und rief anklagend: „Waaaabbeeeel!“ Tomoaki blinzelte einmal. „Du bist gut wie du bist.“ „Schleimbolzen! Und das ist überhaupt nicht gut! Ich krieg schon wieder diese roten Pünktchen innen an den Oberschenkeln und die jucken und nerven!“ Sie klatschte sich seitlich an die Beine, um die Problemzone einzugrenzen und verkündete: „Wenn ich nicht mehr in meine Sachen passe, werde ich dich wochenlang damit zuheulen.“ „Ich komme zurecht damit.“ Sie machte ein schnaubendes aber doch amüsiertes Geräusch und warf die Süßigkeit an ihm vorbei auf den Küchentisch, bevor sie sich den letzten zu verstauenden Stücken auf der Anrichte zuwandte. „Bleibst du zum Mittagessen?“ Tomoaki schüttelte den Kopf. „Nein. Probe.“ Masami hob den Rettich zum Himmel und seufzte gespielt theatralisch. „Genau was ich immer wollte. Einen Mann, der mich für andere Männer und eine Gitarre verlässt.“ „Es soll ja Frauen geben, die von diesem Problem träumen“, ertönte ein Murmeln hinter ihr. Statt das mit einer Antwort zu würdigen, packte sie den Daikon in den Kühlschrank und grinste schelmisch. „Kann ich mal mitkommen? Ich würd gerne mal diesen Taiji treffen.“ Tomoaki hatte den Kopf auf den Arm gestützt und runzelte nun die Stirn, was ihm eine sehr grüblerische Aura verlieh. „Wieso gerade Taiji?“ „Ach, ich weiß nicht.“ Sie zwinkerte ihm über die Schulter zu und legte eine Packung Nudeln in den Küchenschrank. „Ich mag die rebellischen Typen.“ Tomoaki verdrehte die Augen. „Genau was ich immer wollte. Eine Frau, die mich für einen Mann mit zwei Saiten weniger verlässt.“ Sie lachte und stellte mit einem letzten Blick auf die Anrichte fest, dass diese nun vollständig leer war. Also drehte sie sich zu dem Jungen in ihrer Küche zurück und ließ sich schließlich auf seinem Knie nieder. Der schon etwas ältere Stuhl protestierte – sie waren beide nicht gerade Bohnenstangen. Doch so konnte sie den Kopf genau auf seiner Schulter ablegen und zu ihm nach oben schielen, als sie leise gegen sein Schlüsselbein flüsterte: „Weißt du was? Mama ist mit Koto beim Fußball und Papa arbeitet heute. Wir haben die Wohnung also noch … eine ganze halbe Stunde für uns.“ Tomoaki, der zur Sicherheit einen Arm um ihre Taille gelegt hatte, musste lächeln und murmelte gegen ihren Haaransatz zurück: „Das sind gute Nachrichten.“ Von denen brauchte er mehr. -X- Als Tomoaki später am Abend mit hide im Schlepptau zurück in die Wohnung kam, geisterte gerade Terumi von der Küche zurück in ihr Zimmer, ein Glas Orangensaft in der Hand. „Abend“, grüßte Tomoaki. „Hallo Pata“, sagte sie. Der solcherart Angesprochene drehte sich vorwurfsvoll in Richtung hide, welcher sich gerade gebückt hatte, um seine Schuhe auszuziehen. „… das ist mir so rausgerutscht“, wehrte sich hide, allerdings sichtlich schuldbewusst, und richtete sich wieder auf. „Ich… äh…“ Er machte einen halben Schritt zur Seite und war damit auch schon in seinem Zimmer. Kleine Entfernungen rockten in manchen Situationen. „Gute Nacht!“ Und weg war er. Tomoaki schüttelte schicksalsergeben den Kopf und wandte sich an seine Schwester. „Ich hab dir was mitgebracht“, sagte er und reichte ihr die Tüte. „Danke“, sagte sie. Sie schob die Tür zu ihrem Zimmer auf und er folgte ihr nach drinnen und schob die Tür wieder zu – die Illusion von Privatsphäre. Terumi knipste zusätzlich zur Lichterkette über dem Bett ihre Schreibtischlampe an. „Pata, hu?“, fragte sie dann. Ihr rechter Mundwinkel wanderte leicht spöttisch nach oben. „Verbreite es nicht…“, antwortete er seufzend. Terumi lächelte halb und ließ sich auf den Boden zwischen eine benutzte Reisschüssel und einen linken Sneaker fallen. Ihr Bruder schaute sich unwillkürlich nach dem rechten um, wunderte sich aber nicht, als er nicht fündig wurde… sie war schon immer ein rechter Messie gewesen. Terumi nahm in der Zwischenzeit mit einem leisen Knistern die Hefte aus der Tüte. „Pata ist süß. Klingt nach einem kleinen Bären. Oder einem großen Hund.“ Sie blätterte durch die Seiten ihres Music Life. „Es passt zu dir.“ „Wundervoll.“ Sie saßen einige Minuten schweigend nebeneinander, in denen Terumi die Bilder in einem Artikel über Paul Stanley begutachtete. „Wie geht’s Masami?“, fragte sie dann. „Wie immer. Beschäftigt.“ „Beschäftigt ist gut.“ „Hhm.“ „Sag ihr einen schönen Gruß. Ihr altes Parfüm war angenehmer.“ „Woher willst du das wissen?“ „Tja, es ist entweder ihres oder du benutzt seit neustem Rosenduft. Es sei dir gegönnt.“ Sie blätterte in einer Art um, von der er wusste, dass es nur dazu diente, die Aura ihrer überlegenen weiblichen Intuition zu unterstreichen. „Pff“, machte Tomoaki. Ein paar Augenblicke lang widerstand er – dann drehte er den Kopf zur Seite, um unauffällig an seiner Schulter zu riechen. Ja. Ein wenig. Mist. Hatte er heute auf Probe etwa nach Rosen gerochen? Wunderbar... Er wandte seine Aufmerksamkeit wieder seiner Schwester zu und fragte sich einen Moment lang, wie viele Informationen aus der Außenwelt sie wohl auf diese Weise aufnahm, ohne das Haus verlassen (oder, wenn man darüber nachdachte, überhaupt kommunizieren) zu müssen. Doch deswegen saß er nicht hier. Er räusperte sich und sagte, so leise, dass es selbst durch die zentimeterdünnen Wände der Wohnung nicht tragen konnte: „Also, du hast mit hide geredet, hu?“ Seine Schwester blätterte noch einmal um. „Reden wäre zu viel gesagt.“ “Mmh.” Er betrachtete einige Augenblicke lang den Teil ihres Gesichts, den er sehen konnte und fragte schließlich, ebenso leise: „Macht es dir sicher nichts aus?“ Terumi ließ die Zeitschrift in den Schoß sinken. „Was meinst du?“ „Dass er hier ist. Ich meine… Naja.“ Terumi blinzelte zweimal, als verstünde sie nicht und sagte nichts. Ihr Bruder seufzte ergeben und setzte zu einer Erklärung an. „Du warst ziemlich… gestresst im letzten Jahr und das hier ist ein Einschnitt. Und ich will wirklich vermeiden, dass es… ein Problem wird.“ Terumi lächelte noch einmal ihr schiefes Lächeln und tauchte wieder hinter der Zeitschrift ab. „Wir hatten dieses Gespräch. Es macht mir wirklich nichts aus. Uh. Schau mal. Paul hat jetzt eine B.C. Rich mit Leo-Muster. Ist das geil oder was?“ Sie drehte das Magazin in Tomoakis Richtung. Dieser ignorierte die Unterbrechung. „Mich irritiert das“, sagte er. „Da gewöhnt man sich dran“, erwiderte sie. „Nicht die Gitarre“, sagte Pata und verdrehte die Augen. „Du. Um ehrlich zu sein hatte ich erwartet, dass du… nicht mehr rauskommst.“ Sie seufzte, ließ die Zeitschrift wieder sinken und erwiderte seinen Blick noch einmal, diesmal fast vorwurfsvoll. „Steht da irgendwo Teen Psycho auf meiner Stirn?“ „Nein“, gab er zu. In einer Ecke hatte er inzwischen den fehlenden rechten Turnschuh entdeckt. Es war ein wenig beruhigend, dass dieses Zimmer immerhin nichts verlor. „Aber angesichts der Tatsache, dass du sonst vor dem Postboten flüchtest, musst du mir ein bisschen Verwunderung schon zugestehen.“ Sie senkte den Blick auf ihre Zeitschrift, doch ihre Augen bewegten sich nicht, wie sie es hätten tun müssen, hätte sie gelesen. „Naja. Er ist ziemlich durch. Das ist mir angenehm in anderen Personen.“ Dann schien sie wieder aus ihrer Kurzzeittrance aufzutauchen, denn sie blinzelte einmal und blätterte weiter zum Artikel über Mick Jagger. Tomoaki runzelte die Stirn, doch sagte nichts weiter dazu. Im Haus war es ruhig und die friedliche Atmosphäre der Nacht machte auch vor Terumis Müllhalde nicht gänzlich Halt. Die kleinen Anhänger der Lichterkette hatten die Form von Sternen und diese Sterne tauchten den Raum in warmes Licht. Doch die helle Leselampe zerstörte die Idylle zu einem gewissen Grad und verlieh dem Ganzen einen Hauch von Akteneinsicht auf der Polizeistation. Von den Wänden beobachteten ihn Katzen, Paul Stanley, Alice Cooper, Paul Stanley und Gene Simmons – mit Paul Stanley. Er bemühte sich, keine Blicke mit den stummen Zeugen ihrer Unterhaltung, den zu Papier gewordenen Geschworenen zu tauschen und wartete stattdessen geduldig. Er hielt Stille besser aus als die meisten anderen Menschen. Das hier war keine Ausnahme. Wie vorhergesagt legte Terumi schließlich Music Life zur Seite und schaute ihn an. „Ok“, sagte sie. „Spuck’s aus.“ Am liebsten hätte Tomoaki jetzt erstmal ‘Was?’ gefragt, nur um den Moment hinauszuzögern, in dem er tatsächlich sagen musste, was er hier wollte. Doch das war nicht sein Stil. Also nutzte er die Zeit, die sie sonst diese zutiefst unnötige Konversation geführt hätten dazu, sich klar zu werden, was er auszuspucken hatte. „Du bist die erste, die nicht fragt, warum hide hier ist“, sagte er schließlich. „Tja“, entgegnete sie und drehte sich nach ihrem Orangensaft um, der irgendwohin verschwunden war. Dieses Zimmer war ein kleines Bermuda-Viereck – wenn man hier etwas aus den Augen verlor, war es vermutlich weg. Für immer. „Dann bin ich wohl die erste, die es sich ohne Professor Pata erklären kann.“ Sie hatte ihren Saft gefunden, trank und stellte ihn dann vor sich ab. Die Geschwister schauten sich im Halbdunkel an und Tomoaki spürte unvermittelt den Drang in sich hochsteigen, sie zum Weitersprechen zu nötigen. Plötzlich war ihm, als müsse er dringend irgendetwas hören: Eine Bestätigung in seiner Entscheidung vielleicht; das Wissen, nicht allein zu sein; die Gewissheit, dass er verstanden wurde. Und es war ihm zuvor selten so bewusst gewesen, dass seine Schwester die Person war, von der er all das brauchte. Doch schließlich kam sie ihm zuvor. Sie fragte: „Was hast du ihnen gesagt, wenn sie gefragt haben?“ Darüber musste er einen Augenblick nachdenken. Schließlich gestand er: „Nichts eigentlich.“ Nur Worte. Manchmal mit Satzzeichen darin. Oft nicht einmal so viel. Und wenn er darüber nachdachte… war er hide gegenüber sogar am offensten gewesen. Und ob dieser ihm nicht nur geglaubt, sondern ihn auch verstanden hatte? Er wagte es zu bezweifeln. “Gut”, sagte sie und leerte ihren Saft. „Gut?“, fragte er. „Gut“, bestätigte Terumi. Und dann lächelte sie und mit ihrem Lächeln verschwand auch das drängende Gefühl in seiner Brust. Es war in Ordnung. Sie verstand wirklich. Und das reichte. He's not a victim, you can see it in his face But he can't see what he's become There ain't nobody gonna tell him what to do Think he's a little like me and you -X- Der September ging bereits in einen feuchten, windigen Oktober über, als Toshi neben hide auf dem Sofa im Proberaum saß und sein Glück nicht fassen konnte. Seit drei Wochen versuchte er jetzt, hide allein zu erwischen. Doch die Gelegenheit hatte sich nie ergeben. Da Toshi den gleichen Weg zum Proberaum hatte wie Yoshiki und/oder Taiji, war es im normalen Alltag nicht ganz einfach, sonderlich viel Extrazeit einzuplanen. Und an den wenigen Tagen, an denen er das geschafft hatte, war der Gitarrist nie als zweites aufgetaucht. Da er nicht rauchte, hatte er auch keine Entschuldigung, hide einmal zu viel hinterherzulaufen und als der Leadgitarrist schließlich bei Pata eingezogen war, hatte Toshi alle seine Hoffnungen begraben und sich schon einmal darauf gefasst gemacht, einsam und allein zu sterben. Doch an diesem Tag war alles anders. Sie hatten Jan-Ken-Pon gespielt, Yoshiki und Pata waren in der Folge losgezogen, um das Abendessen zu kaufen, Taiji war eine rauchen gegangen und plötzlich war er mit hide allein. So einfach. So unglaublich. Der Gitarrist hatte sich vor einigen Minuten aufs Sofa gesetzt und übte ein wenig vor sich hin. Neben ihm stand eine große Taschentuchbox, die erklärte, warum er auf die Raucherpause verzichtet hatte: er war seit vorgestern total erkältet. Gerade nieste er zweimal, sagte „‘Tschuldigung“ und griff sich ein neues Taschentuch. Es war der Wahnsinn, dachte Toshi, dass jemand, der so verrotzt war, immer noch so niedlich sein konnte wie ein niesendes Pandababy. Langsam schwante ihm allerdings, dass seine Wahrnehmung was hide anging möglicherweise manchmal ein ganz klein wenig verzerrt war. „Du hättest vielleicht im Bett bleiben sollen“, sagte Toshi. „Ach“, sagte hide dumpf von hinter dem Taschentuch, schnäuzte sich und hustete einmal. „Nein. Ich war ja auch in der Schule, wenn ich das überstehe, will ich auch hierher kommen... Vermutlich ist das der Stress, der nachlässt… Dabei hab ich überhaupt keine Zeit, um krank zu sein. Naja, egal. Halt einfach ein bisschen Abstand. Ich bin ein Mutterschiff der Viren.“ Er warf das Taschentuch in den Müll und hustete noch einmal. „Magst du einen Tee?“, fragte Toshi. „Ja. Danke. Da ist Erdbeer auf dem Kühlschrank“, nuschelte hide nasal und kehrte endlich zu seiner Melodie zurück. Toshi stand auf, um sein Angebot in die Tat umzusetzen. „Enthält sicher alles außer Erdbeeren“, bemerkte er, kippte aber etwas Wasser von einer Flasche in den Wasserkocher und hängte einen Teebeutel in die Tasse. Dann ging er neben dem Gerät in die Hocke, um abzuwarten. Eine halbe Minute lang lauschte er den ätherischen Gitarrenklängen und dem weniger ätherischen Schniefen vom Sofa und versuchte krampfhaft, einen erneuten Gesprächseinstieg zu finden. Jetzt, wo es wieder halbwegs normal war, hide hier zu haben, war sein altes Problem zurückgekehrt – nicht mit diesem Wesen reden zu können, als wäre es ein Normalsterblicher. Toshi riskierte einen Seitenblick. hide war aber auch wundervoll! Scheiße verdammt. Er knetete seine Finger. Einen nicht unwesentlichen Teil des Augusts hatte er damit zugebracht, sich einzureden, dass es vielleicht gar nicht so schlecht war, hide ein paar Wochen nicht zu sehen, um die Sache noch einmal mit ein wenig Abstand bewerten zu können. Nach ausgiebigem Starren an seine Zimmerdecke, langen Joggingrunden über die Felder und verstohlenen Blicken in einschlägige Magazine war er sich sicher: es waren nicht Männer. Also – was ihm gefiel. Es war absolut nichts falsch an weiblichen Kurven in oder außerhalb spitzenbesetzter Unterwäsche. Auf der anderen Seite tat sich beim Anblick prominenter Kinne und verheißungsvoll praller Boxershorts gar nichts. Und trotzdem bestand absolut kein Zweifel an dem, was hier passiert war. Glückshormone logen nicht. Der Wasserkocher schaltete sich mit einem Klicken ab, als die Maximaltemperatur erreicht war und das Geräusch riss Toshi aus seinem Tagtraum. Was machte er denn hier? Da wartete er die ganze Zeit auf die passende Gelegenheit, dann bekam er eine und jetzt saß er hier und baute Luftschlösser. Toshi löste seine Hände voneinander. Wer wusste, wann Taiji wieder runterkam? Wer wusste, was nach der High School passierte? Wer wusste, ob sie sich noch einmal wiedersahen, wenn sie sich heute Nacht trennten? Selbst jetzt, wo hide eine Bataillon Killerviren auszubrüten schien, konnte sich Toshi keinen schöneren Ort auf der Welt vorstellen als hier. Mit ihm. Das sollte was heißen. Und wenn man einmal wusste, mit wem man einen Abschnitt oder, falls so möglich, den Rest seines Lebens verbringen wollte, dann musste man dafür sorgen, dass dieser Rest so schnell wie möglich begann. Das Leben endete jede Sekunde. Ihre gemeinsame Zeit war begrenzt. Toshi drehte sich in der Hocke zu dem Jungen auf dem Sofa und sagte in einem Ruck und ohne noch einmal darüber nachzudenken: „Willst du mal mit mir Abendessen gehen?“ Die Luft im Raum kam ihm auf einmal drückend und leicht elektrisiert vor, wie kurz vor einem Sommergewitter; schwer mit dem Gewicht hunderter von Dingen, die sich aus diesen Worten ergeben konnten. Die Zeit lief langsamer und langsamer und kam schließlich für einige Sekunden zum Stillstand, in denen Toshi nur seinen eigenen Herzschlag und das letzte Blubbern des heißen Wassers im Wasserkocher hörte. Der Gitarrist hatte bei der Unterbrechung aufgehört zu spielen, schaute sich jetzt einmal suchend über die Schulter, fand dort niemanden, nahm das Plektrum aus dem Mund und fragte überrascht: „Ich?“ Seine Stimme renkte das Raum-Zeit-Kontinuum wieder ein und Toshi antwortete in Echtzeit: „Es ist sonst keiner da.“ „Öhm…“, machte hide also verdutzt, aber nicht unfreundlich. „Klar.“ Die Art, wie er Klar sagte, machte Toshi sehr deutlich, dass hide die Implikation hinter der Einladung nicht verstand. Alle Konversationen, die er sich in seinem Kopf ausgemalt hatte und die irgendwie mit Variationen der Frage ‘Du meinst… als Freunde?‘ und seiner Antwort (‘Nein‘) begannen, waren auf einmal nutzlos. Was jetzt? Er konnte hide schlecht mit der Nase auf die eigentliche Bedeutung seiner Frage stoßen! Oder? Toshi wünschte sich einen Zettel mit einer ausgearbeiteten Liste für einen Fall wie diesen. Doch er hatte keinen gemacht. Und außerdem sprach hide bereits weiter. „Aber ich muss dich warnen“, sagte er. „Ich bin etwas knapp mit dem Do-Re-Mi. Das heißt du hast die grandiose Auswahl zwischen Yakitori-Stand und dem billigen Ramenladen am Hokujo-Park.“ hide schniefte und griff nach einem neuen Taschentuch. Toshi musste lächeln. „Billigramen sind absolut in Ordnung.“ Er wandte sich ab, um den Tee aufzugießen. Gut, dachte er, als er dem Gitarristen die dampfende Tasse anreichte, gerade als Taiji wieder zurückkam. Vielleicht war das als erster Schritt sogar klüger so. Dann war es eben kein offizielles Date. Aber immerhin: er hatte es geschafft. Und ein paar Stunden mit hide allein konnten überall hinführen. Die Zukunft war weit offen. -X - „Also gut“, hörte Toshi eine wohlbekannte Stimme, als er dem schmalen Grünstreifen zwischen der Turnhalle und dem Biologietrakt folgte. „Karten auf den Tisch, Gentlemen.“ „He!“, protestierte eine weibliche Stimme. „Karten auf den Tisch, Gentlemen und die Lady“, verbesserte sich der Sprecher. „Danke. …das gibt es doch nicht! Du Flachwichser!“ „Das ist jetzt schon das, was, siebte Mal?“, sagte eine andere Stimme. Toshi bog um die Ecke der Turnhalle. Unter einem Grinkobaum saßen vier Gestalten, eine davon Yoshiki, um einen Stapel Schulbücher, auf denen Karten und Münzen lagen. Naja, dachte er innerlich seufzend, zumindest benutzten sie die Bücher zu irgendwas. „Ich glaub, Hayashi betrügt“, sagte der Junge mit den zurückgegelten Haaren gerade. Yoshiki sammelte die Münzen ein. „Ich glaub, ihr seid schlechte Verlierer.“ „Was macht ihr denn da?“, fragte Toshi ein wenig leidend und ging die letzten Meter zu ihnen hinüber. Yoshiki hob den Blick, grinste und winkte ihm mit seiner Zigarette zu. „Wir spielen. Ich gewinne.“ Mit einem Seufzen und einem verstohlenen Blick über die Schulter ließ sich Toshi zwischen Yoshiki und den bulligen Daisuke fallen und schaute in die Runde. Diese bestand aus den üblichen Verdächtigen: Mori Taro, einem wie Toshi fand etwas unangenehmen Jungen aus der zehnten Klasse, der zu selten badete, zu viel Gel benutzte und immer eine Adidasjacke trug, Kato Emi, einem Mädchen mit aufgehellten Haaren, das sich die Nägel in schrecklichen Farben lackierte und keinen Satz rausbrachte, ohne mindestens einmal zu fluchen und eben Watanabe Daisuke, der zwar groß und breit und dämlich, aber eigentlich harmlos war. „Is‘ schon Pause?“, fragte Yoshiki und mischte die Karten. „Ja“, sagte Toshi seufzend. „Also du könntest zumindest ein bisschen die Zeit im Auge behalten.“ „Tz“, machte Yoshiki. Er verteilte Karten und alle vertieften sich für einen Augenblick in ihr Blatt, bevor er weitersprach. „Ich geh erst wieder in Japanisch und in Englisch. Das sind die letzten zwei Stunden. Alles cool.“ „Du bist ein ziemlicher Partypupser“, bemerkte Kato. Sie kaute auf eine äußerst enervierende Art Kaugummi. „Ich erhöhe um 300.“ „Danke“, sagte Toshi ungerührt. Er mochte Emi nicht sonderlich. Und bei jemandem, der sonst glaubte, alle Frauen verdienten zumindest den leichten Ansatz ritterlichen Verhaltens, hieß das wirklich was. „Du bluffst“, sagte Taro und dann zu den anderen, „sie blufft.“ „Deine Mutter blufft“, sagte das Mädchen. „Gehst du mit oder bist du raus?“ „Ich geh mit. Und erhöhe um 200.“ „Gibt’s irgendwas oder ist dir einfach langweilig?“, fragte Yoshiki. „Und schau mal bitte bei Dai in die Karten und blinzle, wenn er zwei Damen hat.“ Toshi verdrehte die Augen und machte natürlich nichts dergleichen. Daisuke hatte Oberarme wie er Waden. Auf seiner Todesliste wollte man nicht stehen. „Beides. Urano-san hat mich gerade auf dem Gang angehalten. Er will wissen, ob du an der Zeugnisübergabe Klavier spielst und du sollst mal vorbeischauen. Und ich wollte dich ans Mittagessen erinnern.“ Yoshiki schnaubte und tauschte eine Karte. „Ich hab das zweimal gemacht und trotzdem gibt der Arsch mir immer nur beschissene Noten. Wenn er glaubt, dass ich auch nur noch einmal irgendwas für ihn oder für sonst wen hier tue, dann ist er schief gewickelt. Und ich hab keinen Hunger.“ „Vielleicht würde er dir mal bessere Noten geben, wenn du hingehen würdest, ohne dich die ganze Zeit zu beschweren, dass du seinen Unterricht inkompetent und langweilig findest.“ Toshi, der mit dieser Antwort gerechnet hatte, zog einen Apfel aus seiner Umhängetasche und legte ihn Yoshiki in den Schoß. „Ich bin raus“, sagte Daisuke und warf seine Karten ins Gras. „Ach, geh ihn doch heiraten!“, rief Yoshiki genervt. Er ging 500 Yen mit. „Er hat mir jetzt in zweieinhalb Jahren nichts, aber auch gar nichts beigebracht, das für Musik auch nur annähernd relevant gewesen wäre. Damit muss er leben. Er kann mich mal und ich spiel nicht nochmal Klavier und Nein, ich komponier ihm auch nichts mehr für seine scheiß Bigband! Sag ihm das!“ Yoshiki wandte sich wieder an seine Pokerrunde. „Sag es ihm selbst“, murrte Toshi. „Ich bin doch hier nicht der Postbote. Und iss was.“ „Hör auf, mich zu nerven.“ Yoshiki nahm den Apfel und biss ein zu großes Stück ab. „Tschufried‘n? Mawnn.“ „Wenn ich euch beide so anschaue“, sagte Emi, „dann will ich niemals heiraten.“ Sie tauschte eine Karte. „Ach komm“, sagte Taro und beugte sich ein Stück zu ihr (sie steckte ihre Karten zum Schutz vor seinen Blicken in ihren Ausschnitt). „Tu nicht so. Wir wissen beide, dass man die Spannung zwischen uns beiden mit einem dieser labbrigen Plastikmesser von McDonalds schneiden kann.“ Emi drehte den Kopf in seine Richtung und machte eine Kaugummiblase, die an seiner Nase kleben blieb und mit einem leises ‘Plopp‘ dort platzte. Dann sagte sie: „Du bist in Ordnung. Aber ich könnte mir einen besseren Mann aus einer Banane machen. Keine Beleidigung.“ Taro zog einen missbilligenden Flunsch und entfernte ein Stück Kaugummiblasenaußenhülle von seiner Nasenspitze. „Wo genau ist das keine Beleidigung?“ „Ich will sehen“, unterbrach Yoshiki und nahm noch einen Bissen Apfel. „Full House“, sagte Taro. „Scheiße“, brummte Emi und warf ihre drei Joker, eine Sieben und eine Zehn von sich. „Scheiße“, sagte auch Yoshiki. Toshi hatte bereits gesehen, dass er einen Flush auf der Hand hatte. „Toshi, du hast meine Glückssträhne unterbrochen!“, nörgelte er vorwurfsvoll in die Richtung seines Freundes. „Wurde ja auch mal Zeit“, sagte Daisuke. „Soll ich wieder gehen?“, fragte Toshi pikiert. Er hatte jetzt auch nicht gerade die Zeit seines Lebens hier! „Nein. Oder ja. Aber ich komm mit.“ Yoshiki griff nach seinen Sachen. „Ich wollte eh gerade Schluss machen.“ „He!“, rief Taro. „Du musst uns zumindest die Chance geben, unser Geld zurückzugewinnen!“ „Einen Scheiß muss ich“, verkündete Yoshiki. „Aber um euch zu beweisen, dass ich kein Arsch bin, geht nächste Woche ein Getränk eurer Wahl auf mich.“ „Hört hört“, sagte Emi. Sie stand ebenfalls auf und zog ihre zwei Bücher aus dem Stapel. „Geht ihr jetzt alle oder was?“, fragte Dai. „Ich bin blank“, sagte Emi und fuhr ihm einmal gegen den Strich durch die Haare. „Und ohne Hayashi seid ihr nicht mehr die Runde, wo ich mit was anderem als Geld bezahlen will.“ Langsam schlenderten sie den Weg zurück, den sie gekommen waren. Toshi schien der Einzige hier zu sein, der sich ein wenig unwohl fühlte und erst wieder leichter atmete, als sie ungestört den Pausenhof erreicht hatten. Dort wandte Emi sich an Toshi. „Hast du noch so ‘nen Apfel?“ Wortlos griff er in seine Schultasche und reichte ihr seinen eigenen. Er war ein Gentleman. Und ein Trottel. Toshi seufzte innerlich. Frauen waren einfach sein Kryptonit. „Cool. Danke.“ Sie biss ab und schaffte das irgendwie, ohne sich dabei den Lippenstift zu ruinieren. Dann wandte sie sich weiter an Yoshiki und schlug ihm gegen den Oberarm. „Yo-chan, ich brauch ein paar Yen zurück. Das war mein Busgeld. Ich lauf nicht. Laufen ist für Loser.“ Yoshiki reichte ihr einige Münzen. Sie steckte das Geld ein, nahm noch einen Bissen Apfel, reichte den Rest Toshi zurück und ließ sie dann stehen - nicht ohne ihnen über die Schulter noch eine letzte Kusshand zuzuwerfen. Stirnrunzeln betrachtete Toshi das angebissene Obst mit den Lippenstiftresten in seiner Hand und wandte sich dann an seinen Freund. „Sie ist unglaublich…“ Er ließ den Satz offen enden, weil er nicht wusste, ob er sich für nervig, anstrengend oder das doch etwas harte nuttig entscheiden wollte. Doch Yoshiki zuckte ohnehin mit den Schultern. „Ach, naja. Sie ist nicht so übel.“ Mit sich ringend blickte Toshi zurück auf den Apfel und biss schließlich von der dem lila Lippenabdruck gegenüberliegenden Seite ab. „Warum verteidigst du sie?“ „Ah, ich weiß nicht.“ Yoshiki winkte ab. „Es ist noch kompliziert.“ „Ihr wart einen Sommer zusammen und das ist über ein Jahr her.“ „Ich hab sie nackt gesehen. Das verändert alles.“ Yoshiki warf das Apfelgehäuse im Vorbeigehen in einen Mülleimer. „Also“, sagte er dann. „Was gibt es? Außer Klavier-Geschichten?“ „Kann ich nicht mal nach dir gucken, ohne was zu wollen?“ Toshi arbeitete sich in großzügigem Abstand um die Bissspuren herum. „Doch. Aber wir verbringen normalerweise nicht viel Poker-Zeit miteinander.“ Yoshiki bog in Richtung Bücherei ab. Toshi folgte ihm, ohne darüber nachzudenken.„Ok. Ja. Ich wollte mit dir reden. Und zwar… ähm…“ Er nestelte am Gurt seiner Tasche herum. Der Anfang war immer am Schwersten. Er hatte einen Zettel in der Tasche. Auf diesem stand: Yoshiki, ich muss dir was sagen. Dir wird das nicht gefallen, wegen der Band und allem. Es ist riskant und ich weiß das, aber so ist es halt und du bist mein Freund und deswegen finde ich, solltest du das wissen. Die Sache ist: Ich mag hide ein bisschen mehr, als ursprünglich geplant. Und ich weiß nicht, ob ich eine Chance habe, oder haben sollte, oder… alles. Du kennst ihn besser als ich und du kennst mich manchmal auch besser als ich. Was denkst du? „Also… es…“ Er schaute Yoshiki an. Er konnte das. Ja, er konnte das. Ja. Nein. Er konnte das nicht. Toshi seufzte innerlich. „Ich hab ‘ne Idee für No Connexion.“ Auch das stimmte… Es war also nicht so, dass er log. Er sagte nur nicht ganz die Wahrheit. „Ok?“, machte Yoshiki gedehnt und warf ihm einen etwas argwöhnischen Blick zu. Offenbar fragte er sich, was an dieser Info jetzt so grandios war, dass es rumdrucksen erforderte. Doch vermutlich kam er zu dem Schluss, dass es sich hierbei wohl um eine von Toshis Eigenarten handeln musste, die hin und wieder spontan ausbrachen. „Dann folge mir in die Bibliothek und berichte mir.“ „Was machst du denn freiwillig in der Bibliothek?“, fragte Toshi, während sie die Treppe nach oben stiegen. „Was sind denn das für infame Unterstellungen?“, entrüstete sich Yoshiki neben ihm. „Zu deiner Information, ich bin sehr oft in der Bibliothek.“ Er hatte kein Problem mit Lesen, solange man ihn nicht dazu zwang. „Ok.“ Diesmal war es Toshi, der argwöhnische Blicke verteilte. Genau wie zuvor er selbst, reagierte auch Yoshiki nicht darauf. Einige Minuten später saßen sie an einem der langen weißen Tische am Fenster nebeneinander und schauten auf ein Blatt Papier. Toshi hatte einen (anderen) Zettel aus der Tasche gezogen, auf dem er sich eines Abends ein paar Gedanken notiert hatte. Der Schlagzeuger war jetzt dabei, es mit seinen eigenen Vorstellungen zu verbinden. „Sag mal“, sagte Toshi schließlich unvermittelt, während Yoshiki noch herumkritzelte, „hat hide eigentlich mal was erwähnt, dass er eine Freundin hat? Oder so?“ „Nein“, antwortete Yoshiki abwesend. „Und ich denke auch nicht. Wenn er eine hätte, wäre das doch der erste Ort, an dem er sich einnistet." „Mmh", trug Toshi seinen Teil zur Konversation bei. So betrachtet machte das natürlich schrecklich viel Sinn. Das bedeutete, er hatte theoretisch tatsächlich Chancen. Es gab noch niemanden, dem er hide entreißen musste. Unzählige Stunden Kopfkino also mal wieder völlig umsonst geschaut. Aber es war auch auf allen Kanälen dasselbe gelaufen - was hätte er machen sollen? „- gemacht?", fragte Yoshiki. „Hä?", machte Toshi, aus seiner kurzen Abwesenheit hochfahrend. Das mit diesen Sekundentagträumen wurde noch ein echtes Problem! Sein Freund tippte mit dem Stift aufs Papier und seufzte. „Ich fragte", sagte er, anscheinend nicht zum ersten Mal und deshalb überdeutlich, „ob du eigentlich was mit deiner Stimme gemacht hast." „Wie meinst du?", fragte Toshi zurück. „Ich hab... ein bisschen geübt. Falls du das meinst. Falls du meinst, dass sie scheiße klingt - keine Ahnung. Sorry." „Nein", sagte Yoshiki und verdrehte die Augen. „Klingt gut. Besser. Was auch immer." „Danke", sagte Toshi. „Wie kommt's?", fragte Yoshiki, einige Nuancen leiser. Die Bibliothekarin war wie ein Schatten zwischen den Regalen aufgetaucht, wohl um zu sehen, wer ihren geheiligten Tempel der Stille entweihte. Toshi zuckte mit den Schultern und ließ den Blick über das Regal rechts von sich wandern. An einem dicken Buchrücken blieb er hängen. Es war Tolstois Auferstehung. „Weil es ein paar Sachen gibt", wollte er antworten, „die ich scheinbar anders nicht sagen kann." Er sagte nichts. Kapitel 9: And on the 8th Day (Part 2) -------------------------------------- Drei Tage. Drei Tage hatte er es geschafft, ihm auszuweichen. Diese Schule war einfach nicht groß genug. Jetzt saß er hier, in diesem kleinen Büro mit den vollen Bücherregalen und dem unbequemen Besucherstuhl. Vor ihm auf dem Schreibtisch Notizblöcke. Stiftehalter, aufklappbarer Kalender, ein Familienfoto. Yoshiki hatte sich demonstrativ desinteressiert auf dem Stuhl zurückgelehnt und die Finger vor dem überschlagenen Knie verschränkt. Ja, diese Pose hatte er extra geübt. Für Situationen wie diese. Er war stolz darauf. Ihm gegenüber saß sein Musiklehrer und drehte seinen Füller in den Händen. „Also gut“, sagte Herr Urano schließlich und legte die rechte Hand mit dem Stift darin ab. „Ich mache Ihnen einen Vorschlag. Sie spielen auf der Abschlusszeremonie und ich vergesse, was ich gesehen habe.“ „Uhm…“, machte Yoshiki, als würde er nachdenken, und sagte dann nach einigen Sekunden gedehnt: „Nein?“ Das mochte wieder in die Zeugnisspalte Respektlosigkeit fallen, Yoshiki empfand das anders: Die Alternative war ‘Ich mach Ihnen auch einen Vorschlag, ich gehe und Sie ficken sich ins Knie‘ gewesen. Er hatte schon immer mal das F-Wort zu einem Lehrer sagen wollen… jeder hatte ja irgendwelche Träume. Nach seinem Gesichtsausdruck zu schließen, konnte der ältere Mann hinter dem Schreibtisch jedoch aus seinem Nein scheinbar schon ein gutes Drittel seiner Gedanken herauslesen. Pädagogen. Er tippte zweimal mit dem stupfen Ende seines Füllers auf den Schreibtisch. „Yoshiki. Ihnen ist offenbar nicht ganz klar, wo hier die Grenze verläuft. Schlampig angezogen sein, keine Hausaufgaben machen – das ist eine Sache. Auf dem Schulgelände rauchen ist eine andere. Sie sind minderjährig und der Besitz von Tabakwaren eine Straftat.“ „Ah ja?“, fragte Yoshiki unbeeindruckt. „Also was, wollen Sie mich ernsthaft anzeigen?“ Sein Lehrer atmete ein und mit einem Seufzen wieder aus. Vielleicht hielt ihn das davon ab, den Jungen hier und jetzt einmal kräftig zu schütteln. „Nein. Das will ich nicht. Daher mein Vorschlag. Ich würde Ihnen ungern die Zukunft verbauen, bevor sie überhaupt angefangen hat.“ „Tz“, machte Yoshiki, hart an der Grenze zu abfällig, und sah aus dem Fenster. Draußen regnete es Bindfäden. „Tun Sie nicht, als ginge es Ihnen hier um mich.“ „Bitte. Dann auf Ihre Art. Alle sind gegen Sie.“ Herr Urano schüttelte den Kopf. „Ich versteh das nicht. Sie sind doch nicht dumm. Wenn Sie nicht so strunzfaul wären, könnten Sie das alles hier doch locker schaffen.“ „Ich bin nicht faul“, erwiderte Yoshiki abgeklärt, den Blick weiterhin nach draußen gerichtet. „Ich hab nur einfach keine Lust.“ Ein paar Sekunden lang war nur das Geräusch des Regens zu hören, wie er vom Himmel auf den Asphalt fiel und hin und wieder in einem leisen Trommeln an die Scheiben schlug. Herr Urano seufzte. „Also. Wie schaut’s aus?“ Yoshiki wandte seine Aufmerksamkeit mit einem distanzierten Blick wieder nach drinnen. „Was? Ob ich erpressbar bin?“ „Nein. Ob Sie bereit sind, der Schule etwas zurückzugeben, die so lange beide Augen zugedrückt hat.“ Yoshiki musste lachen. Humorlos. „Was sind Sie, der Pate?“ Jaja, eine Hand wusch die andere oder was auch immer… Olivenölimporte… Pferdeköpfe… was passierte eigentlich mit dem Rest der Pferde? Na egal… Herr Urano machte einen gequälten Laut, legte die Brille neben sich auf den Schreibtisch und rieb sich die Nasenwurzel. „Yoshiki, was ist los mit Ihnen! Ich versuche hier doch ein ganz normales Gespräch! Seien Sie halt nicht ganz so… so…“ „Stur?“, bot Yoshiki an. Sein Lehrer nahm die Brille wieder zur Hand und gestikulierte damit. „Ich wollte kindisch sagen. Aber ja. Von mir aus stur. Warum machen Sie das? Haben Sie darüber schon mal nachgedacht?“ „Ja.“ Ein paar Sekunden wartete Herr Urano darauf, dass sein Schüler weiter ausholte. Doch nichts passierte. Also hakte er nach. „Und?“ Yoshiki lehnte sich ein Stück nach vorne, als wolle er ein Geheimnis teilen, schaute sich sogar noch einmal über die Schulter und sagte dann halblaut: „Das geht Sie einen Scheiß an.“ Herr Urano, der sich unwillkürlich ebenfalls konspirativ über die Tischplatte gelehnt hatte, sank wieder in seinen Stuhl zurück und seufzte. „Gut. In Ordnung. Sie können gehen.“ Yoshiki sah ihn misstrauisch an und bewegte erst einmal nur die Augenbrauen. Verwirrt zusammen. „… wie jetzt?“ Sein Lehrer setzte sich seine Brille wieder auf und griff nach einem Notizblock. „Ja. Ich werde Ihre Mutter anrufen und den Sachverhalt erklären und ab morgen brauchen Sie dann nicht mehr zu kommen. Je nachdem, wie sich die Lage darstellt können wir auch beraten, ob Ihrer Entwicklung ein Eingreifen von staatlicher Seite nicht vielleicht auch zuträglich wäre.“ „Sie verarschen mich.“ Ohne es zu wollen hatte er das überschlagene Bein gelöst und beide Füße auf den Boden gestellt. Nicht mehr so locker. „Nein. Das ist das vorgeschriebene Vorgehen in so einem Fall.“ Herr Urano wandte seine Aufmerksamkeit seinem Papier zu. „Sie können gehen“, wiederholte er nach einigen Sekunden. Yoshiki starrte ihn an. So ein Wichser! Der glaubte, nur weil er hier ein bisschen auf dicke Hose machte, würde er anfangen zu heulen oder was? Ein paar Sekunden, in denen er mit zusammengekniffenen Lippen dasaß und seine Optionen durchging, herrschte Stille. „Ok!“, rief er schließlich. „Ich spiel auf Ihrer hässlichen Abschlusszeremonie!“ „Nein, das tun Sie nicht“, sagte sein Lehrer ruhig. Einen Moment lang traute Yoshiki seinen Ohren nicht. So etwas hatte er noch nie gehört. Er blinzelte verständnislos. Was hatte er gesagt? Hatte er das richtig verstanden? Passierte das jetzt wirklich, oder was war los? Ihm wurde mit einem Mal ein bisschen komisch. War es das etwa gewesen? Das berüchtigte Zu-Weit-Gehen, vor dem ihn alle immer gewarnt hatten? Das hatte er sich irgendwie immer spektakulärer vorgestellt... Herr Urano ließ es ihn genau bemessene fünfzehn Sekunden lang aussitzen. Dann schloss er seinen Füller, legte ihn zur Seite und faltete die Hände auf dem Tisch. „So. Sehen Sie, wie das auch funktionieren kann?“ Yoshiki sagte nichts. Das erschien ihm gerade am Sichersten. Sein Lehrer sah ihn eindringlich an und begann mit der Standpauke. „Yoshiki. Sie sind nicht mehr fünfzehn. Sie sind bald ein erwachsener Mann. Es wird nicht einfacher, wenn Sie sich aufführen, wie… Sie sich eben aufführen. Früher oder später wird Ihnen jemand begegnen, der nicht mehr fünfe gerade sein lässt. Da ist eine Welt da draußen, in der Sie irgendwie zurechtkommen müssen.“ Yoshiki sagte immer noch nichts. Er hatte ein bisschen Bedenken, was ihm vielleicht rausrutschen würde, wenn er es tat. Also nickte er einfach nur einmal kantig. Herr Urano seufzte nachsichtig. „Sie halten sich für so schlau… aber zum Schlausein gehört eben auch, dass man erkennt, wenn man am kürzeren Hebel sitzt.“ Der Junge vor ihm knirschte fast hörbar mit den Zähnen. Er hätte gerne gefragt, ob es das jetzt war und er gehen konnte. Doch vermutlich wäre auch das kindisch. Also hielt er seine versteinerte Miene durch und wartete schweigend ab. Es dauerte noch zehn lange, quälende Sekunden, die die Konsistenz von Toffee zu haben schienen, bis sein älteres Gegenüber noch einmal resigniert seufzte und mit der rechten Hand eine wegwischende Bewegung machte. „Überlegen Sie sich bis nach Neujahr, was Sie spielen wollen. Und jetzt gehen Sie.“ Das musste man ihm nicht zweimal sagen. Dennoch zwang Yoshiki sich, möglichst ruhig und gelassen zu wirken, als er gemächlich seine Sachen einsammelte und sich erhob. Retten, was an Würde noch zu retten war. „Und Yoshiki…“ Der Angesprochene hielt in der Tür inne. Allerdings ohne sich umzudrehen. „Schneiden Sie sich die Haare. Sie sehen aus wie ein Mädchen.“ -X- Toshi stand vor dem kleinen Restaurant und wartete. Während er dieser nicht sehr spannenden Beschäftigung nachging, beobachtete er die Leute, die auf der anderen Straßenseite durch den Park flanierten, die meisten von ihnen scheinbar auf dem Weg nach Hause oder zumindest an einen wärmeren Ort: Den ganzen Tag war es sonnig gewesen, doch in der letzten halben Stunde hatte es zugezogen und ein kühler Wind wehte vom Meer her. Es wurde eindeutig Herbst. hide war zu spät. Toshi ging ein paar kleine Schritte die Straße hinunter und wieder hinauf. Kein Zeichen des anderen Jungen. Vielleicht, dachte er und betrachtete abwesend die Bilder der verschiedenen Gerichte im Fenster des Ladens, war ihm inzwischen doch klar geworden, was Toshi eigentlich gemeint hatte. Gut. Wenn er nicht auftauchte, war das wohl auch eine Antwort. Er war ein erwachsener Mann, er konnte damit umgehen. Enttäuschungen gehörten zum Leben. Man bekam eben nicht alles, was man wollte, vor allem in der Liebe. Es war in Ordnung, wenn hide anders tickte. Irgendwann jemand anderen kennenlernte. Mit dieser Person alltägliche Dinge tat. Über seine bescheuerten Witze lachte. Zärtlichkeiten austauschte. … er konnte nicht damit umgehen. Mit einem Seufzen wandte er sich vom Fenster ab – gerade rechtzeitig, um etwas auf ihn zu rennen zu sehen. Toshi machte sich bereits auf den Zusammenprall gefasst. Doch dieser blieb aus. Der Gitarrist bremste gerade eben noch vor ihm ab. „Hu, ich, da, ich, spät, ‘tschuldigung!“, keuchte hide. Er stützte sich mit einem Arm auf Toshis Schulter und hielt sich mit dem anderen die Seite. „Oh, Gott…“ Er atmete ein paar Mal tief durch und stellte sich dann wieder auf die eigenen Beine. „Hu. Ich bin da.“ „Das freut mich“, sagte Toshi lächelnd. Und meinte es. „Wollen wir reingehen?“ „Worauf du wetten kannst“, stimmte hide zu. Er atmete immer noch etwas schneller als normal. „Ich hab einfach unendlich Hunger.“ Toshi machte zwei Schritte zur Seite und hielt die Tür auf. „Bist du wieder gesund?“, fragte er, während er hinter hide das Restaurant betrat. „Joooaaaa“, sagte hide gedehnt. „Noch ein bisschen verschnupft, aber ich glaube, du bist sicher mit mir. Entschuldige, dass ich zu spät bin. Ich… hab mir keine gute Ausrede überlegt, warum.“ Toshi musste noch etwas breiter lächeln. „Ist in Ordnung.“ Er war aufgetaucht. Das war das Wichtige. Die kleinen Tische entlang der Wand waren belegt, also setzten sie sich nebeneinander an die Theke. Toshi bedauerte ein wenig, hide nicht gegenübersitzen zu können, andererseits waren auf diese Weise keine sechzig Zentimeter Holz zwischen ihnen. Ihre Ellenbogen berührten sich fast. So glich sich im Leben eben alles aus… „Was ist denn das da?“, fragte Toshi. Neben ihm wickelte hide sich aus ungefähr fünf Lagen Wolle. Es war eine meterlange, knallbunte und absolut hässliche Monstrosität. „Das? Das ist mein Schal“, erklärte hide. So weit, so offensichtlich. „Eigentlich wollte ich meine Moneten zusammenhalten, aber den hab ich gesehen und er war dreimal reduziert. Drei Mal! Da musste ich zuschlagen. Ich kann gar nicht verstehen, warum der noch da war. Das ist der geilste Schal der Welt! Er enthält alle meine Lieblingsfarben, hier dieses Pink und da dieses Gelb und dort dieses Rot… Und fühl mal.“ Er hielt Toshi das riesige Knäuel hin. Dieser streichelte es. „Flauschig“, stimmte er zu. „Megaflauschig“, bestätigte hide und hängte seine neuste Modesünde dann hinter sich über die Lehne. Toshi wandte sich schmunzelnd wieder nach vorn und sah einem der Köche dabei zu, wie er Gemüse kleinhackte. Also hatte hide eben einen schrecklichen Modegeschmack. Kleine Schrullen machten liebenswert. Und wen juckte das alles – er redete mit ihm. Heilige Kuh, er redete mit ihm! Ganz normal! Und ganz allein. Er kam gut durch den Plan. Der Plan war: hide zum Essen bitten – Check. Mit ihm reden wie mit einer normalen Person – Check. Einen schönen Abend verbringen, der hide dazu brachte, sich unsterblich in ihn zu verlieben, romantischer Urlaub in Europa und dann glücklich und zufrieden zusammenbleiben, bis sie alt und runzelig waren. Ja. Das war ein guter Plan. Reichte in Teilen etwas weit in die Zukunft, aber dennoch. Neben ihm begutachtete hide jetzt die bebilderte Speisekarte an der Wand gegenüber. Toshi war durch seine Wartezeit draußen schon mit dem Wissen reingekommen, was er wollte. Also konnte er in der Zeit, in der hide die Speisekarte betrachtete, hide betrachten. Unauffällig, verstand sich. Als hide den Blick senkte, kam einer der Beiköche, mit einem kleinen Bärtchen wie eine Ziege, herüber. „Kamo Negi“, sagte Toshi, „und eine Cola.“ „Shoyu“, sagte hide, „und ein Wasser.“ Es verging eine Sekunde, in der Toshi die Karte scannte. Ein Verdacht drängte sich ganz stark auf. Er hob die Hand, um den Koch noch einmal zu bremsen und sagte: „Sumimasen. Vergessen Sie das. Wir brauchen noch zwei Minuten.“ Der Mann nickte und wandte sich einem Herren im Anzug näher an der Tür zu. Als er weit genug weg war, drehte Toshi sich zu hide. „Würdest du dir bitte bestellen, was du wirklich willst?“ Vielleicht irrte er sich, aber Nudelsuppe ohne alles und Wasser war nicht wirklich das Bild, das er von hide hatte. „Die sind… vollkommen in Ordnung“, sagte hide abwehrend und lief ein wenig rot an. Toshi sah ihn einen Moment zu lange an. „hide… Dir ist klar, dass ich einlade?“ Wie nicht anders zu erwarten, ging der Gitarrist sofort auf die Barrikaden. „Ich kann mein eig-“ „hide!“, fuhr Toshi dazwischen, schmunzelnd, aber in einem Tonfall, der keinen Widerstand zuließ. Er war nicht hierhergekommen, um darüber zu diskutieren, wer sich hier was leisten konnte. Er war hierhergekommen, um die einzig wahre Liebe kreieren! Und das konnte man nicht bei faden Nudeln und Wasser! „Das hier passiert! Lass es einfach zu!“ Ein paar Sekunden schaute hide zwischen der Karte, der Tischplatte und ungefähr allen anderen Dingen im Raum außer Toshi hin und her, während er abzuwägen schien. Einen Moment lang fürchtete Toshi, dass er auch die Option bedachte, einfach aufzustehen und zu gehen. Er wünschte sich auf einmal inständig, er hätte lieber nichts gesagt. Fade Nudeln waren besser als gar keine Nudeln. Doch dann wanderte hides Blick weiter zu ihm, stellte für eine Zehntelsekunde scheuen Augenkontakt her und sah dann wieder weg. „Ok“, willigte er schließlich ein. Es klang eher weniger begeistert, doch das reichte Toshi. Es würde sicher besser, wenn das Essen erstmal da war. Liebe ging ja bekanntlich auch ein wenig durch den Magen. Er winkte dem Koch noch einmal. hide warf ihm noch einen schiefen Seitenblick zu und sagte dann, nach einem letzten kurzen Zögern: „… Kakiage und eine Limo bitte.“ Toshi lächelte in sich hinein. „Ich bleib bei Kamo Negi und Cola.“ Der Mann mit dem dünnen Bärtchen nickte und wandte sich wieder seinen Töpfen zu. Ein paar Sekunden schwiegen sie sich an. Dann fragte hide: „Wie komm ich zu der Ehre?“ Er schaffte es ohne Ironie. Das hätte Toshi nicht verdient. „Ich…“ Toshi sah zur Seite und begegnete großen dunklen Mandelaugen. Aus der Nähe war deutlich zu sehen, dass hide gerade zu wenig schlief. Trotzdem hätte Toshi ihn stundenlang anschauen können. Er musste lächeln, diesmal aus sich heraus. „Ich freue mich, dass du wieder zurück bist.“ hide lächelte seicht zurück. „Ich mich auch. Oh, danke.“ Er nahm dem Hilfskoch hinter dem Tresen seine Limonade ab. „Wie ist es bei Pata?“, fragte Toshi und griff mit einem Nicken nach seiner Coke. Zeit, das Thema von der Frage, wer hier für was bezahlen würde auf etwas Erfreulicheres umzuleiten. Sie stießen an. „Oh, es ist ganz schön“, antwortete hide und nahm einen Schluck Limo. „Ich dachte am Anfang, dass es bestimmt anstrengend für die Familie wird, wenn ich auch noch dort herumlungere. Aber alle sind sehr nett zu mir.“ „Und wie sind die drei Quadratmeter?“ „Ich schlafe und lerne dort ja nur“, sagte hide. „Sonst bin ich die meiste Zeit in der Schule oder mit euch zusammen. Wird sogar noch weniger werden, wenn ich endlich Arbeit finde. Und dafür ist es absolut ausreichend. Es hat was von Klosterleben. hides kleine Zelle.“ Er hielt inne und runzelte die Stirn, während er verarbeitete, was er gerade gesagt hatte. „… das klang jetzt frustrierend, aber eigentlich wollte ich damit sagen, dass es mir beim Konzentrieren hilft. Es lenkt mich nichts ab. Weil nichts da ist.“ Ein paar Frauen schoben sich hinter ihnen vorbei und hide angelte in einer unbequemen Verrenkung nach seinem Schal, der im Begriff war, sich auf den Boden zu verabschieden. „Ich schlaf auch besser. Und Patas Tante kann wirklich gut kochen. Also alles in allem geht es mir gut. Es ist nur…“ Er zögerte und verzog schließlich das Gesicht, schüttelte den Kopf. „Vergiss es.“ „Was denn?“, fragte Toshi und lehnte sich in dem Versuch, hide anzuschauen, ein Stück nach vorne. Er versuchte, einen sanften, anteilnehmenden und keinen drängenden Tonfall anzuschlagen, als er anhängte: „Nun sag schon.“ hide schaute ihn nur einen sehr kurzen Moment an, bevor er den Blick lieber auf die Wand gegenüber und dann auf den Tresen unter seinen Händen fixierte. Er seufzte. „Ich weiß nicht. Es läuft so… gut gerade. Das macht mich nervös. Ich warte irgendwie drauf, dass es… sich rächt. Oder so. Ich weiß, das ist bescheuert. Aber ich fühl mich, als wäre das … unnatürlich.“ Toshi runzelte die Stirn. „Dass… du bei Pata wohnst?“ Er verstand nicht. „Nein. Als hätte ich gerade ein bisschen zu viel Glück, als dass das gutgehen kann. Aber gut.“ hide setzte ein neues Lächeln auf. „Bis jetzt klappt es noch, also versuche ich einfach, mich zu freuen, solange es dauert.“ Toshi nahm einen zweiten Schluck Cola, um sich Bedenkzeit zu kaufen. Jetzt hatte er verstanden. Was an verqueren Gedankengängen in der Welt ihres Gitarristen nicht alles Sinn machte! hide“, sagte er dann, „die meisten Menschen sind die meiste Zeit glücklich. Das ist normal. Du musst von dem Gedanken weg, dass es irgendwie… falsch ist, wenn man halbwegs zufrieden sein Leben machen kann.“ Als er zur Seite schaute, wirkte hide ein wenig abwesend. Er hatte die Ärmel seines etwas zu großen Pullis bis zu den Fingerknöcheln vorgezogen und nestelte daran herum. Schließlich aber hörte er so abrupt damit auf, als sei ihm gerade erst klargeworden, was er da tat. „Ja. Ich weiß. Es ist nur… egal. Ja, ich werd’s versuchen… Uh!“ Das letzte Geräusch galt einer großen Schüssel Nudeln, die vor ihm abgesetzt wurde. Darauf schwammen unförmige, tempura-artige Teiggebilde. Ja, das sah Toshi mehr nach hide aus. Er lehnte sich ein Stück zurück, als seine Nudelsuppe mit Ente auftauchte. „Also dann“, sagte er. „Itadakimasu.“ „Itadakimasu“, sagte hide. „Danke.“ Er erschien Toshi immer noch (oder eher wieder?) ein bisschen zerknirscht. Doch die Art, wie hide die ersten Bissen nahm, sagte ihm, dass ihm vermutlich bald vergeben war. Mit einem schiefen Lächeln nahm Toshi seine Stäbchen zur Hand und fing an. Es gab keine gutaussehende Art, Ramen zu essen. Das war Toshi von vorne herein klar gewesen und dennoch war er fast sofort ein bisschen frustriert. Vielleicht war es wirklich besser, dass hide ihm nicht gegenüber saß. Sonst klebte ihm am Ende noch eine Nudel am Kinn. [DIE NUDEL!!!] Er legte die Stäbchen peinlich berührt weg und nahm lieber erst einmal ein paar Löffel Suppe, während hide neben ihm genüsslich vor sich hinschlürfte. Schließlich endete das Schlürfen. „Und, wie war dein Tag?“, nuschelte hide an einem Mund voller Nudeln vorbei. Toshi ließ den Löffel sinken und griff doch wieder zu den Stäbchen. Bei ihm sahen Hamsterbacken vermutlich weniger putzig aus als an hide, aber er hatte Hunger – und wollte dem Gitarristen lieber nicht erklären müssen, warum er nicht aß, wenn die Antwort lautete ‘Ich versuche, für dich möglichst gut auszusehen‘. „In Ordnung“, sagte er und fischte nach Nudeln. „Wie immer. Schule und Volleyball und so. Yoshiki wurde beim Rauchen erwischt und war mega angepisst. Nur als Warnung für die Probe am Samstag. Ich glaub, das hält noch ‘ne Weile vor.“ „Ok?“, machte hide fragend. Er hatte runtergeschluckt. „Ja“, sagte Toshi. „er kam da nur durch einen faustischen Pakt wieder raus. … seine Worte, nicht meine“, hängte er an, als er hides Gesichtsausdruck sah. „Was hat denn eine Faust damit zu tun?“, fragte hide irritiert. „Nicht so wichtig“, sagte Toshi. „Wie war dein Tag?“ „Ganz gut. Stressig. Schule, Kaligrafie, Lernen, hier.“ Er trank einen Schluck Limo und schaute kurz schuldbewusst in Richtung Toshi. „… bin zwischendurch eingeschlafen. Das war nicht geplant.“ „Das ist ok“, sagte Toshi. Immer noch. „Du hast viel um die Ohren. Ich find’s ja schön, dass das hier geklappt hat.“ So schön… Doch neben ihm schob der Gitarrist die Unterlippe ein Stück vor. „Als ich aufgewacht bin, klebte meine Mathehausaufgabe an meiner Stirn“, beschwerte sich hide, so kläglich, dass Toshi in seine Nudeln prusten musste. hide schlug ihm gegen den Oberarm. „Nicht lustig!“ „Naja“, sagte Toshi und klickte zweimal mit seinen Stäbchen, „so ein bisschen lustig?“ „… von mir aus.“ Sie wandten sich ihren jeweiligen Suppen zu. „Willst du mal probieren?“, fragte hide. Toshi warf der äußerst herzinfarktverursachenden Angelegenheit in hides Schüssel einen zweifelnden Blick zu. „Nein Danke“, sagte er also schließlich. Und deutete hides Gesichtsausdruck richtig, als er anbot: „Möchtest du?“ „Darf ich Ente?“, fragte hide, nachdem er sich noch einige wenige Augenblicke geziert hatte. Gutes Essen war in diesem speziellen Fall wichtiger als Stolz. „Ja.“ „Danke.“ Er fischte einen Happen Fleisch aus Toshis Schüssel. „Yaaay!“ Und verschwunden war es. Toshi kehrte mit einem Lächeln zu seinen Ramen zurück. Das hier brauchte ein bisschen Aufmerksamkeit. „Was machst du eigentlich ab Mai?“, fragte hide, als er gerade versuchte, ein Stück Ente so zu falten, dass er es in den Mund bekam. Oder genauer gesagt war er schon beim zweiten Teil. Leider verhielt sich die Scheibe Tierkadaver im Folgenden äußerst unkooperativ und er musste eine Hand vorhalten, um keinen Einblick auf das Innenleben seines Mundraumes zu geben. Und kauen, kauen, kauen, komm schon, runter damit… Die Ente hatte darauf so gar keine Lust. Grandioses Timing… „Ich weiß nicht“, sagte er, als das Fleischstück endlich war, wo es hingehörte. „Ich nehme an, ich suche mir auch eine Arbeit und singe.“ „Einfach so?“, fragte hide. „Naja.“ Toshi zuckte mit den Schultern. „Ich hab Yoshiki gesagt, dass ich es versuche. Also versuch ich es. Wenn ich mit fünfundzwanzig noch keine Erfolge sehe, werde ich mir allmählich Sorgen machen. Auch, was die Wahl meiner Freunde angeht. Bis dahin… schauen wir mal.“ hide stützte den linken Arm auf den Tresen und schaute Toshi direkt an. Dieser hörte auf zu essen. Die Frage musste wichtig sein. „… glaubst du denn, dass das Zukunft hat?“ „Die Band?“ „Ja.“ Eine ganze Weile lang schaute Toshi dem Koch beim Einfüllen viererlei Ramen zu, ohne wirklich etwas wahrzunehmen. Dann blickte er zurück zu hide. „Ich glaube, es ist unmöglich.“ hide nickte langsam, als hätte er diese Antwort befürchtet, biss von einem der Teigbatzen ab und nuschelte: „Warum machst du dann das alles hier?“ Der Sänger zuckte ratlos mit den Schultern. „Weil Yoshiki das schaffen will. Er ist scheiße in Mathe, Wahrscheinlichkeiten halten ihn also nicht auf.“ Der andere Junge lachte leise. Toshi zog einen Mundwinkel hoch, doch seine Augen lächelten nicht mit, als er fortfuhr: „Und ich weiß, er wird es immer weiter versuchen, bis er es schafft. Oder es ihn umbringt. Vielleicht beides.“ Noch einmal rührte er in der Schüssel, als würden ihm die Nudeln darin bei genauerer Untersuchung seine Zukunft vorhersagen. „Und was für ein Freund wäre ich, wenn ich einfach daneben stehen und dabei zuschauen würde.“ Neben ihm war hide wieder ernst geworden und schaute nachdenklich in seine eigene Suppe. Die Fettaugen in der Schüssel schauten zurück. Schließlich fragte er: „Warum will er das eigentlich so sehr?“ Toshi zögerte unmerklich. Es gab Dinge, die auszusprechen ihm nicht zustanden. Also sagte er: „Ich bin nicht sicher. Es hat was mit seinem Vater zu tun, aber was genau da in ihm vorgeht, weiß ich auch nicht. Er redet da nur sehr selten drüber.“ „Ok“, sagte hide. Eine Minute aßen sie schweigend vor sich hin. Als Toshi das nächste Mal zur Seite schaute, betrachtete hide noch einmal die Karte an der Wand. Vielleicht liebäugelte er mit der sehr kurzen Dessert-Spalte. Vielleicht aber auch nicht, denn in diesem Moment sah der andere Junge zurück zu ihm und fragte: „Ich versteh Yoshiki – nehm ich an. Er hat Glück, dass er dich hat. Aber… was hast du denn davon?“ Toshi zog die Augenbrauen zusammen. Was er davon hatte? So hatte er noch nie darüber nachgedacht. Sofort wusste er deshalb, dass er darauf keine Antwort hatte, keine Antwort haben konnte und, dachte er nahtlos weiter, hoffentlich niemals eine brauchen würde. Wenn dieser Moment kam, war es vorbei. „Ich weiß nicht. Er ist mein Freund. Das reicht mir.“ Ein etwas unangenehmer Gedanke kam ihm, während er den Blick weiter auf hides Profil gerichtet hatte: Bewertete er seine Beziehungen denn mit Kosten und Nutzen? Dann bemerkte er eine leichte Bewegung in hides Zügen. „Was?“, fragte Toshi. „Nichts.“ hide grinste leicht, erst in seine Suppe und dann zu Toshi. „Ich frag mich um ehrlich zu sein gerade, ob ich das bewundernswert oder dumm finde. Tut mir leid.“ Nein, dachte Toshi. hide war nicht der Typ, der in wirtschaftlichen Kategorien dachte… zumindest nicht tief drin. Daran würde er einfach glauben. Musste er glauben. Solange er konnte. „Ist in Ordnung. Ich frag mich das auch manchmal.“ Toshi fischte mit einem leichten Lächeln nach einem weiteren Stück Ente. Und beschloss, dass das jetzt definitiv genug Yoshiki für den Abend war. Yoshiki hatten sie so schon genug. „Hast… du irgendwelche Pläne?“, fragte er zögerlich. „Sag bitte, wenn das das falsche Thema ist und wir lieber…“ hide schlürfte Nudelenden in seinen Mund und wischte sich mit dem Handrücken Brühe vom Kinn. „Das ist in Ordnung. Uhm… Pläne… Pläne wäre zu viel gesagt. Hängt davon ab, ob ich einen Abschluss kriege oder nicht. Wenn ich einen kriege, mach ich… irgendwas. Wenn ich keinen kriege, mach ich auch irgendwas, nur ähm… schlechter. Ja.“ Er begann eine neue Stäbchenladung aufzufischen. Die Nudeln wollten nicht. hide ließ sie also in Ruhe und suchte stattdessen nach weiteren Stücken von teigumhülltem Gemüse. Er wurde fündig. „Willst du denn irgendwas Bestimmtes?“, fragte Toshi. „Weiß nicht“, sagte hide kauend. „Muss ich nochmal in mich gehen. Früher wollte ich immer was mit Kunst machen, aber dann hieß es, das wär scheiße und ich soll lieber was Bodenständiges lernen und ja. Jetzt muss ich den ganzen Mist erstmal… aussortieren und rausfinden, was davon wirklich von mir ist und was man mir eingeredet hat. Klingt komisch. Ist aber so. Kann eine Weile dauern. Und gerade hab ich keine Zeit dazu… Was ist mit dir?“ Toshi wurde rot. „Was soll sein?“ „Du guckst so.“ „Ich schau dich halt an, wenn du redest!“, verteidigte sich der Sänger. Dann seufzte er und gestand dem letzten Stück Ente in seiner Schüssel, dass er kein guter Lügner war. „Ich… keine Ahnung. Glaubst du, dass du vielleicht… nicht mehr mit uns spielen wirst, wenn du irgendwas anderes findest?“ „Tz“, machte hide amüsiert und steckte sich den Rest Teigbatzen in den Mund. „Ich hatte jetzt unter anderem wegen euch schon so viel Scheiße am Schuh kleben, dann kann ich jetzt auch sehen, wo das weiter hinläuft.“ „Ist das ein Nein?“, fragte Toshi. „Das ist ein Nein“, bestätigte hide kauend. „Ich spiele.“ „Gut“, sagte Toshi, ungewollt erleichtert. „Gut…“ Er piekte sein letztes Stück Ente auf. „Redest du eigentlich noch mit deiner Mutter?“, fragte er, als sie die Schüsseln etwa zur Hälfte geleert hatten. „Selten“, antwortete hide nach einigen Sekunden der Stille. „Ich hab ihr zuletzt gesagt, dass ich nicht mehr im Hostel bin. Das war alles.“ „Hast du ihr gesagt, dass du bei Pata wohnst?“ hide starrte vor sich hin. „Nein“, gab er schließlich zu. „Es ist mir ganz lieb, wenn sie das nicht weiß.“ „Wieso?“, fragte Toshi leise. „Ich…“, sagte hide sehr langsam und rührte in der Brühe vor sich, „vertrau ihr nicht? Ist schlimm, das von seinen Eltern zu sagen, ich weiß. Aber kann man nichts mehr machen. Der Zug ist abgefahren.“ Er zuckte mit den Schultern, lächelte und angelte ein letztes, versunkenes Stück Tempurateig aus der Schüssel, das sein Rühren zutage gefördert hatte. Toshi wandte sich wieder seiner Suppe zu, knetete seine Stäbchen und räusperte sich schließlich unbehaglich. „Tut mir leid. Jetzt hab ich dich ausgefragt. Ich wollte nicht, dass das hier… ein Verhör wird.“ „Alles gut“, antwortete hide. „Lass uns jetzt einfach das Thema wechseln, ja?“ „Ja.“ Toshi dachte kurz nach. „Ähm… Kunst?“, fragte er dann. „Kannst du?“ hide zuckte mit den Schultern. „Weiß nicht. Vielleicht. Nicht mehr. Keine Ahnung. Ich hab mal ziemlich gern gezeichnet. Aber das ist lang her…“ Das Thema schien ihm nicht unbedingt besser zu gefallen und Toshi begann, krampfhaft seinen Hinterkopf nach fröhlicherem Gesprächsstoff zu durchforsten. Doch hide nahm die Sache bereits selbst in die Hand. Vielleicht wollte er um seiner selbst willen vermeiden, dass Toshi noch einmal ein Thema vorschlug. „Erzähl mir mal von deiner Familie. Du hast doch auch eine, oder nicht?“ Er warf ihm einen Seitenblick zu. Toshi räusperte sich. Sehr gut. Das erschien ihm ein unverfänglicher Gegenstand. „Öhm. Ja. Da gibt es nicht viel zu erzählen. Ich hab eine Mutter, einen Vater und zwei Geschwister. Mein Bruder ist elf und meine Schwester fünf.“ „Süß“, meinte hide. „Naja“, sagte Toshi. „Manchmal vielleicht. Aber sie machen einen auch wahnsinnig.“ Der Gitarrist grinste leicht und angelte ein paar Nudeln. „Möchtest du mir ein paar Anekdoten erzählen?“ Und wenn es nur dem Zweck diente, dass hide wieder fröhlicher aus der Wäsche schaute: Toshi hätte sich mit Freuden den Mund fusselig geredet. Eine gute Stunde später traten sie zusammen aus dem warmen Restaurant hinaus auf die abendliche Straße. „Wo musst du hin?“, fragte hide. „Bahn?“ „Ja“, antwortete Toshi. „Dann begleite ich dich noch.“ „Sicher?“ Es war inzwischen ziemlich kühl geworden und der Wind unangenehm. „Du hast gerade erst aufgehört, in der Gegend rum zu kulchen.“ „Nah“, machte hide. „Wir haben doch gelernt, dass ich jetzt den besten Schal der Welt besitze.“ Um den Punkt zu verdeutlichen, zog er das bunte, riesige, hässliche Ding noch ein Stück höher. „Ich saß den ganzen Tag am Schreibtisch, das hier tut mir vermutlich ganz gut.“ „Na dann“, sagte Toshi setzte sich in Bewegung. Er war der Letzte, der gegen weitere Minuten in hides Gegenwart protestieren würde. Nach einem alles in allem doch recht gelungenen Abendessen neben hide durch die Straßen zu gehen fühlte sich richtig an. Gut, natürlich, warm. Es konnte von ihm aus in Zukunft jeden Tag so sein. Doch eine Sache störte ihn… „hide“, begann er schließlich vorsichtig, „kannst du mir einen Gefallen tun?“ „Klar“, willigte hide freimütig ein. Essen machte ihn immer zufrieden und umgänglich. „Was?“ „Kannst du bitte aufhören zu lächeln, wenn du es nicht meinst?“ Bis zur nächsten Straßenecke gingen sie schweigend nebeneinander her. Dann sagte hide, alle Versuche einer Verteidigung unterlassend: „Ist dir klar, wie sehr das meine Mimik einschränkt?“ „Dann ist das halt so. Aber ich will nicht dauernd drüber nachdenken müssen, ob du’s ehrlich meinst, wenn du fröhlich aussiehst. Das ist… anstrengend. Warum machst du das?“ hide schwieg einige weitere Schritte lang, bevor er antwortete. „Weiß nicht. Ich nehme an, weil es einfacher ist, zu sagen, dass alles in Ordnung ist, als zu erklären, warum … es einem manchmal zu viel wird.“ Darauf wusste Toshi nichts zu sagen. Er verstand auf einer Ebene, was hide sagen wollte, doch gleichzeitig verstand er es auf einer anderen Ebene auch nicht. Also nickte er nur. Als sie das nächste Mal an einer Straßenlaterne vorbeikamen, warf er einen Blick zur Seite. hide sah wirklich ein ganzes Stück älter aus, wenn er nicht auf dem Spaß-Modus lief. Da war ein ernster Zug um seine Augen herum, der von jenen Dingen erzählte, die gerne in den frühen Morgenstunden aus dem Unterbewusstsein gekrochen kamen, um wirre Gedanken und schlechte Träume zu bringen. Aber das machte nichts. Toshi sah wieder nach vorne. Er mochte alle hides, die es gab. Auch die, deren Anblick ihm ein kleines Messer zwischen die Rippen rammte. Schweigend gingen sie nebeneinander her die Viertelstunde zur Bahnstation. Auf dem Gleis angekommen unterhielten sie sich noch einige Minuten über das und jenes, absolut unwichtige Alltagsdinge, von denen Toshi wusste, dass er sie sich merken würde, nur weil sie aus hides Mund kamen. Als in der Ferne der Zug aus der Dunkelheit auftauchte, wandte er sich an ihn. „… du umarmst nicht, oder?“, fragte Toshi. „Mmh, naja, doch. Manche Leute schon. Vielleicht. Ich probier’s mal“, sagte hide mit dem Anflug eines Lächelns und breitete die Arme aus. Toshi zögerte einen Moment, wusste nicht genau, wo er seine Arme hinpacken sollte oder seinen Kopf oder sich selbst. Für den Bruchteil einer Sekunde dachte er entsetzt, er hätte tatsächlich vergessen, wie man jemanden umarmt. Doch dann klinkte sich zum Glück sein Muskelgedächtnis ein. Arme um die Taille, Kopf nach rechts, sich selbst näher, aber nicht zu nah. Trotzdem war es viel zu nah für einen öffentlichen Platz. hide legte das Kinn auf seiner rechten Schulter ab und eine Hand zwischen seine Schulterblätter. Die anderen Menschen am Gleis ignorierten sie. Toshi schloss die Augen. Ihm war plötzlich wieder schwindlig und viel zu warm. Das Herz schlug ihm bis zum Hals, laut und kräftig und so schnell, dass er es für unmöglich hielt, dass hide es nicht merkte und er wünschte sich, er könne hier stehen und diesen Jungen, den er aus ihm unerfindlichen Gründen mochte an sich drücken, bis eines Tages die Sonne ausbrannte. Doch er wollte noch etwas sagen, also ließ er hide nach einigen Sekunden los. Vermutlich war es so schon zu lang gewesen. „hide…“ Der Gitarrist rieb sich den Oberarm, als wisse er nicht genau, wie man mit dem Moment nach einer Umarmung angemessen umging, doch er machte auch keinen Schritt zurück, um wieder mehr Abstand zwischen sie zu bringen. „Ja?“ Toshi ließ den Blick noch einmal über ihn wandern, Großaufnahme aus nächster Nähe. Das kalte Licht der Straßenlaternen ließ hide gräulich und ein wenig krank aussehen, doch Toshi erging es vermutlich nicht besser. Es hatte leicht zu nieseln begonnen, in der Luft lag der Geruch von Elektrizität und Abgasen. Nichts hier war wie in einem Liebesfilm und der riesige hässliche flauschige Wollschal machte es nicht besser. „Ich…“ Toshi steckte die Hände in die Jackentaschen. In der rechten fand seine Hand ein einzelnes Geldstück und beschäftigte sich im Folgenden damit. „Wir kennen uns nicht wirklich gut. Deswegen ist das vielleicht komisch. Aber ich will, dass du weißt… wenn man was für dich tun kann… du kannst mit mir reden, in Ordnung? Wenn irgendwas ist. Oder wenn du irgendwas brauchst. Und wenn es nur… keine Ahnung, ein… Purin ist.” Das war keine Liebeserklärung im traditionellen Sinne, doch alles in allem fand Toshi sie eigentlich gelungen. Leider war die Reaktion eine andere als erwartet. Nach einigen Sekunden Stille blickte hide zur Seite, atmete resigniert durch und auf einmal war da eine kühle Ausdruckslosigkeit in seinem Gesicht. Toshi erkannte fast sofort, wo er falsch abgebogen war. Doch es war bereits zu spät. „… werdet ihr irgendwann wieder aufhören, mich zu behandeln, als wäre ich bedürftig?“, fragte hide. Die Worte versetzten Toshi einen Stich, der mehr wehtat, als er gedacht hätte. Sein Inneres wand sich. „Ich glaube nicht, dass du bedürftig bist“, sagte er beschwichtigend, nach allen Regeln der Kunst um Schadensbegrenzung bemüht. „Ich wollte nur… sagen, dass ich da bin. Für dich. Und so.“ hide starrte einige Sekunden lang an Toshi vorbei ins Gleisbett. „Ok“, sagte er schließlich. Er sagte nicht Danke. „Ok“, sagte Toshi. Eine etwas seltsame Stille trat ein. Neben ihnen hielt der Zug, einige wenige Leute stiegen aus, noch weniger stiegen zu. Toshi hatte gerade noch Zeit sich zu fragen, warum genau dieser eigentlich schöne Abend in die Jauchegrube gefallen war. Dann musste er gehen. „Bis Samstag“, sagte er also. „Ja“, sagte hide. Toshi wandte sich ab. Nach wenigen Schritten stockte er für eine Zehntelsekunde. Er hatte etwas vergessen. Er hatte hide nicht gesagt, dass er ihn mochte. Und noch schlimmer war: Er war sich nicht ganz sicher, ob es einen Unterschied machte. Als er sich auf der obersten Stufe noch einmal umdrehte, war hide bereits verschwunden. Toshi seufzte lautlos, ging weiter in den Wagon zu seiner rechten und ließ sich auf einen Platz am Fenster fallen. Er fühlte sich komisch; seltsam unvollständig, seltsam leer. Vielleicht war es schon länger her und es fiel ihm nur jetzt erst auf, wo ihn seine eigene Unvollständigkeit plötzlich schmerzte. Doch irgendwann, klammheimlich und kommentarlos, hatte er hide einen Teil von sich anvertraut, mit dem dieser jetzt machen konnte, was er wollte. Einen Teil, von dem Toshi wusste, dass hide ihn bewahren und ehren oder auch in hunderttausend Stücke zerbrechen konnte. Und das erschien ihm auf einmal überaus verhängnisvoll. Immerhin – hide war nicht ganz stabil. Vor dieser Wahrheit konnte er die Augen nicht mehr verschließen. Es war offensichtlich, dass ihn bereits normale menschliche Nähe überforderte. Wie sollte man so jemandem sagen, dass man seine Augen mochte, seinen schrecklich infantilen Humor, die Schnute, die er zog, wenn er sich wirklich konzentrierte? Dass man jeden Abend neben ihm einschlafen wollte und sich nichts mehr wünschte, als ihn glücklich zu sehen? Das konnte nicht gut gehen. Und wenn er ehrlich mit sich war, ganz ehrlich, dann wünschte Toshi sich gerade, er könne etwas dagegen tun, wie vollkommen, absolut, Hals über Kopf verliebt er war. Für sich selbst, aber auch für hide. Würde er das Stück von Toshis Herz jemals in seinen Taschen finden, es würde ihn vermutlich mehr belasten, als es ihm gut tat - geschweige denn, dass er wissen würde, was er jetzt damit anfing. Und welche Folgen das für ihn selbst haben konnte… darüber wollte Toshi jetzt lieber noch nicht nachdenken. Wahrscheinlicher war gerade ohnehin, dass der Teil Herz einfach niemals gefunden wurde, weil hide von selbst nicht auf die Idee kam, seine vermutet leeren Taschen durchzuschauen. Toshi war ein kluger junger Mann. Deswegen wusste er, dass es das Schlauste wäre, sich am Samstag bei hide zu entschuldigen, sein Teil Herz unauffällig wieder an sich zu nehmen, es ganz hinten in eine Schublade zu packen und dann wenn möglich dort zu vergessen. Doch er wusste auch, dass es aussichtslos war: Selbst jetzt, wo ihn Zweifel ohne Ende plagten, schloss er die Augen und suchte nach dem leichten, bereits fast wieder verflogenen Geruch von Caster und Vanille, der an seiner Jacke hängen geblieben war und fand ein wenig Trost darin. Es war zum Lachen und zum Heulen. Aber was wollte er machen? Das Herz wollte eben, was es wollte. Da gab es keinen logisch begründbaren Weg raus. Er öffnete die Augen wieder, folgte mit dem Blick den draußen vorbeiziehenden Lichtern und verlor sich in der Dunkelheit zwischen ihnen. Er hatte hide getroffen, ihn für perfekt gehalten und sich verliebt. Und jetzt hatte er hide kennengelernt, gesehen, dass er nicht perfekt war - und liebte ihn noch mehr. Er war ein masochistischer Vollidiot. -X- Als er am Freitag nach der Schule zuhause zur Tür hereinkam, begrüßten ihn Wärme, der Geruch des Abendessens und ein quäkendes Mädchen, das ihm gleich alles erzählen musste, was heute passiert war. Es tat Toshi ernsthaft leid, dass er ihr kein bisschen zuhörte – sein Tag war lang gewesen und seit gestern fand er ohnehin alles irgendwie scheiße. „Ist das Toshi?“, fragte seine Mutter aus der Küche und würgte seine Schwester damit in der Mitte einer Erzählung über eine Spinne im linken Gummistiefel ihrer Freundin ab. „Ja!“, rief Akimi zurück. „Frag ihn mal, was er am Montag für einen Kuchen will.“ „Mir egal“, sagte Toshi lustlos und stellte seine Schuhe ordentlich neben die seines Vaters. Ihm war gerade wirklich nicht nach feiern. „Schokolade!“, rief Akimi zurück. Toshi verdrehte die Augen. Ein Außenstehender könnte sich fragen, wer hier Geburtstag hatte. Aber gut. Sollte ihm Recht sein. Im Endeffekt hatten seine Geschwister bereits seit einigen Jahren wesentlich mehr von diesem Tag als er. Kuchen und Kerzen und Glückwünsche verloren mit jedem Jahr ein wenig mehr von ihrem Zauber, traurig aber wahr. Vielleicht lag es daran, dass man die übrigen 364 Tage im Jahr genug Zeit hatte, um allmählich zu begreifen, was Älterwerden bedeutete – und dass es nicht halb so toll war, wie man es sich ausgemalt hatte. Mit einem lautlosen Seufzen richtete er sich auf, ließ Akimi stehen, warf einen kurzen Gruß in die Wohnküche und betrat dann das Zimmer, dass er sich mit Hiro teilte. Dieser saß gerade am Wohnzimmertisch und machte Hausaufgaben, also hatte er den Raum für sich. Seit er auf der Highschool war, war das die Abmachung: Toshi brauchte tagsüber Ruhe zum Lernen, oder so in der Art lautete die Begründung. Gerade war er einfach nur froh, eine Tür zwischen sich in der Welt zu haben, die er schließen konnte. -X- „… und Momotaro, der Hund, der Affe und der Fasan blieben Freunde bis an ihr Lebensende.“ Toshi klappte das Buch zu. „Nochmal!“, rief Akimi und strampelte einmal mit den kurzen Beinchen. Er saß im Schlafzimmer seiner Eltern auf dem Boden neben Akimis Futon und brachte die allabendliche Zeremonie hinter sich. Normalerweise machte ihm das Freude und er nutzte die Zeit, um selbst mit seinem Tag abzuschließen, doch heute erschien es ihm vollkommen inakzeptabel. „Das kannst du vergessen“, sagte er daher entschieden. „Ich bin müde und ich will ins Bett.“ Er stellte sich innerlich auf eine längere Diskussion ein, doch zu seiner Überraschung blieb seine Schwester still, zog sich die Decke bis unters Kinn und schaute ihn aus großen Augen prüfend an. Toshi schaute zurück. „Bist du traurig?“, fragte sie. Toshi seufzte und betrachtete das Blumenmuster auf ihrer Bettdecke. Kinder hatten manchmal einfach diese Gabe, unangenehm zutreffende Beobachtungen zu machen. Hiro war noch schlimmer gewesen, aber zum Glück allmählich aus dem Alter raus. „Ein bisschen“, sagte er schließlich. „Warum?“, fragte sie. „Du hast doch übermorgen Geburtstag. Wir haben es nicht vergessen!“ Toshi musste schief lächeln. Diese Zeit im Leben, wo Geburtstag und Ausflug in den Zoo alle anderen Probleme erst einmal lösten. Damals war alles noch irgendwie einfacher gewesen… oder so redete man sich ein. „Ja. Das stimmt. Ich freu mich auch.“ „Und warum bist du dann traurig?“ Unverständnis sprach aus ihrem Gesicht. Aber auch ehrliches Interesse. Das konnte er nicht enttäuschen, ohne ein Arsch zu sein. Er seufzte noch einmal. „Da… ist … diese…s Mädchen, das ich mag. Aber sie mag mich, glaube ich, nicht zurück.“ „Warum?“ „Es ist schwierig. Ich glaube, es ist ihr zu viel. Aber egal…“ Toshi lehnte sich zur Seite und legte das Buch zurück in Akimis Buchkiste. „Wir passen eh nicht zusammen.“ „Warum?“ Boah… Warum-Fragen waren schrecklich! Einen Moment war Toshi danach, einfach weil halt zu sagen und das Thema abzuhaken. Doch dann beschloss er, wirklich darüber nachzudenken. Vielleicht kam sogar etwas Nützliches für sein Gespräch mit hide dabei herum. „Wenn wir… Onigiri wären“, sagte er schließlich, „wäre sie Avocado und Mayo und Thunfisch und Wasabi, und ich wäre… Reis ohne alles.“ Akimi betrachtete ihn ein wenig nachdenklich. „Dir wird doch immer schlecht von Mayo“, sagte sie und drehte sich auf die Seite, um ihn besser anschauen zu können. „Ja“, sagte Toshi. „Warum nimmst du dann kein anderes Onigiri? Ohne Mayo?“ „Weil es dann nicht mehr das Onigiri wäre, das ich will.“ „Du bist komisch“, befand seine Schwester und kuschelte sich tiefer ins Kissen. „Ja“, stimmte Toshi ihr zu. Darüber konnte man wohl nicht mehr streiten. Und er wusste nicht, wie er einem fünfjährigen Mädchen erklären sollte, dass das mit dem Mögen komplizierter wurde, wenn man erst einmal Haare an bestimmten Stellen bekam. Nachdenklich nestelte seine Schwester an einem Zipfel ihrer buntgemusterten Zudecke herum. „Mama macht mir immer Reisbällchen ohne alles, wenn ich krank bin.“ „Ja. Da ist das so. Aber die sind halt langweilig.“ Akimi schaute ihn noch eine ganze Weile angestrengt an und vollbrachte eine für ihr Alter bemerkenswerte Transferleistung, als sie schließlich fragte: „Findet sie dich denn langweilig? Ich find dich nicht langweilig.“ Toshi schaute auf seine Hände. „Ich weiß nicht.“ „Hast du nicht gefragt?“ „Nein.“ „Warum?“ „Weil sie dann weiß, dass ich sie mag.“ „Und du willst das nicht?“ „Nein. Noch nicht. Vielleicht auch gar nicht.“ „Warum?“ Toshi seufzte. Warum-Fragen! Wenn man nur genug davon gestellt bekam, reduzierte das wohl jedes halbwegs intelligente Lebewesen irgendwann zu einem heulenden Etwas in einer Gummizelle. Er konnte nur hoffen, dass sie bald damit aufhörte. „Weil es jetzt… in Ordnung ist. So mag sie mich vielleicht nicht so sehr wie ich sie, aber zumindest ist sie da. Wenn ich ihr sage, wie sehr ich sie mag, dann… hab ich sie vielleicht gar nicht mehr.“ Akimi runzelte die Stirn. Das ging jetzt eindeutig über ihr Verständnis hinaus. Vermutlich waren in ihrer Welt mögen und nicht-mögen noch klar voneinander getrennt, mit wenig Luft dazwischen. Mögen war einfach. „Du bist wirklich komisch… Pokko?“ Sie deutete auf ihr Plüschtierregal. Toshi stand auf, angelte nach dem gelben Stoffküken und setze es seiner Schwester aufs Kopfkissen. Diese nahm das Kuscheltier in die Hände und hielt es sich vors Gesicht, bevor sie es in den Arm nahm. „Weißt du“, sagte sie dann, während Toshi sich wieder neben sie auf den Boden setzte, „ich mag kein Wasabi. Wasabi brennt… und Mama mag auch keine Mayo und Hina mag keinen Thunfisch und Sosuke und Yuki sagen, Avocado schmeckt wie altes Ei. Reis ist immer gut.“ Akimi gähnte und drückte das Huhn an sich. „Jeder mag Reis… Reis passt zu allem…“ Ihr Bruder legte die Hände in den Schoß und dachte darüber nach, was sie vielleicht oder vielleicht auch nicht gesagt hatte. Plötzlich war er sich doch nicht ganz sicher, ob Akimi über Reis redete, oder ob sie vielleicht wirklich verstand, worum es ging. Wie viel hatte er in ihrem Alter von diesen Dingen mitgekriegt? Er erinnerte sich beim besten Willen nicht mehr. „Mmh“, machte er nach einiger Zeit. „Mein Onigiri hat es ziemlich schwer dann, was?“ Doch als er nach einer Bestätigung suchend zu dem Mädchen schaute, schlief sie bereits. -X- Mit der Probe am nächsten Tag würde Toshi in seiner Erinnerung vor allem zwei Dinge verbinden: Sie erschien ihm unendlich lang und sie erschien ihm noch unendlicher unangenehm. Obwohl er keine Spannung spüren konnte, die einen aktiven Streit zwischen hide und ihm angezeigt hätte, war da etwas unbeholfenes, sperriges in der Art, wie hide seinem Blick auswich und Toshi versuchte, beim Singen nicht durch den Raum und damit in seine Richtung zu wandern, wie er das sonst gerne machte. In der Pause schließlich traf er den Gitarristen am Kühlschrank, als dieser gerade ein Erdnussmochi aus der Packung zog. Er warf einen Blick über die Schulter, wo Taiji und Yoshiki erstaunlich zivilisiert über einen Chorus sprachen und Pata vom Sofa aus hin und wieder einen qualifizierten Kommentar dazugab und drehte sich dann wieder zu hide. „Können wir kurz reden?“, murmelte er fast lautlos. hide nickte. Schweigend, und ohne den anderen einen Vorwand zu liefern – Toshi wusste genug über solche Situationen, um sich im Klaren zu sein, dass Verhalten, das einem selbst merkwürdig vorkam, erst dann wirklich merkwürdig wurde, wenn man stammelnd zu einer Erklärung desselbigen ansetzte – traten sie nach draußen auf den Gang und gingen einen Treppenabsatz nach oben. Dort hielten sie wie auf ein geheimes Signal hin inne. Ein paar Sekunden lang sahen sie einander unschlüssig an. „Ja“, begann Toshi schließlich, „also, ich wollte mich entschuldigen. Anscheinend hab ich vorgestern was Falsches gesagt und wenn ich dich da irgendwie verletzt habe, tut es mir leid und ich hoffe, wir können einfach vergessen, dass das passiert ist. Ja. So.“ hide seufzte und schüttelte den Kopf. „Nein. Es war auch blöd von mir. Ich weiß ja, du wolltest nur … nett sein, irgendwie. Ihr wollt ja alle nur… egal. Ich bin gerade einfach ein bisschen… angespannt. Also ja. Vergessen klingt gut.“ Er hatte das Mochi noch in der Hand und irgendwie verlieh der inzwischen etwas angedätschte [ein bisschen Mundart hat noch keinem geschadet] Reismehlbatzen der Situation eine ganz eigene Art grotesker Komik. Doch Toshi war nicht nach lachen. „Ok“, sagte er also nur. „Ok“, sagte hide. Déjà-vu. Sie schauten sich weitere Sekunden unschlüssig an. Oder genauer, Toshi schaute hide an. hide schaute auf alles andere: erst den Boden neben Toshi, dann seine eigenen Schuhe, dann schließlich das Mochi und die Spuren von Kinako, die selbiges an seinen Fingerspitzen hinterlassen hatte. Toshi folgte seinem Blick kurz zu diesen filigranen Händen und wanderte dann wieder nach oben. Wenn du weißt, was gut für dich ist, riet ihm seine schlaue Stimme aus dem subgenualen präfrontalen Kortex, Nimm was du zurückkriegen kannst und dann sieh zu, dass du von ihm weg kommst. hide räusperte sich. „Ich… werd dann mal wieder reingehen, ok?“ Der Sänger nickte. „Klar. Ich komm gleich nach.“ Er dachte nicht einmal darüber nach, ob und was er vielleicht sonst noch sagen konnte. Sieh zu, dass du weg kommst. hide lächelte leicht, trat noch einmal vom linken auf den rechten Fuß wie ein nervöser Schuljunge und verschwand dann mit einem letzten flüchtigen Blick in Toshis ungefähre Richtung und einem Biss in sein Mochi wieder in den Raum. Weg. Ein letzter Anblick seines Gesichts im Profil und der Klang von Taijis Stimme, bevor hide die Tür hinter sich zuzog. Toshi starrte auf die nun geschlossene Tür. Versagt, dachte er nach einigen Sekunden. Er hatte versagt. Bei der Rettung seines Herzens genauso wie bei der Eroberung von hides. Und dann dachte er weiter: Aber ich bleibe. Ich kann nicht anders. Und damit hatte er es gedacht. Sein Untergang schien besiegelt. Er wollte sich umdrehen und gehen. Umdrehen und rennen, und dabei niemals auch nur einmal anhalten, um Luft zu holen. Doch er konnte es nicht. Er konnte es einfach nicht. Warum konnte er es nicht? Gut. Er hatte jetzt auch zwölf Schuljahre hinter sich und wusste: Liebe war nichts anderes als ein abgedrehter Hormoncocktail, der in seiner Wirkung einer Drogenabhängigkeit letztlich nicht ganz unähnlich war. War es das? Einfach nur das? Er war ein Junkie? High on hide? Nein. Toshi schüttelte den Kopf. Das klang so gar nicht nach ihm. Was also dann? In diesem Moment ging die Tür wieder auf und Toshi war auf einmal Angesicht zu Angesicht mit Yoshiki. Dieser runzelte die Stirn, folgte Toshis Blick und lugte irritiert auf die Außenseite der Tür. Natürlich gab es dort nichts zu sehen, also schaute er schließlich wieder zurück zu seinem besten Freund. „Was machst du denn da?“ „Nichts. Ich hab noch… was überlegt.“ Yoshiki schaute skeptisch. „Ah ja. Kommst du?“ „Un.“ Toshi wartete, bis Yoshikis Kopf wieder verschwunden war, dann rieb er sich einmal übers Gesicht und seufzte. Was auch immer die Antwort auf diese und alle damit verbundenen Fragen war, er würde sie nicht innerhalb der nächsten zwanzig Sekunden hier im Keller einer alten Fischfabrik finden. Noch einmal durchatmen, dann ging er zurück nach drinnen. Man wartete auf ihn, doch er stellte sich nicht zurück ans Mikro sondern lehnte sich stattdessen gegen die Tür. Wenn man die Aufmerksamkeit schon mal hatte… „Also, wegen unserem Bandnamen… ich hab nachgedacht“, sagte Toshi. „Hoffentlich ging das gut“, murmelte Taiji und streichelte den Basshals. „Und ich denke“, fuhr Toshi unbeirrt fort, als habe er ihn nicht gehört, „X ist eigentlich gar nicht schlecht. Ich meine, wir wissen nicht genau, wer wir sind und was wir machen. Und vielleicht ist es nicht unklug, sich da nicht festzulegen. Und in Mathe ist’s ja so, dass X nur ein Platzhalter ist Für was auch immer. Unendliche Möglichkeiten.“ „Mmh. Nice“, sagte Yoshiki anerkennend und grinste ihm am Crash vorbei zu. „Das ist eigentlich ziemlich cool“, stimmte hide zu. Er saß noch auf der Kante der Armlehne. „Also das ist es?“, fragte Taiji wenig begeistert. „X? Für den Nerd-Scheiß haben wir jetzt wochenlang gebraucht?“ „Und he“, sagte hide und überkreuzte die Unterarme. „X!“ Yoshiki deutete auf ihn. „Gefällt mir. Das nehmen wir.“ „Ist auch eine gute Koordinationsübung“, sagte hide, schielte und verknotete seine Arme weiter. „Wer das nicht mehr hinbekommt, ist eindeutig zu betrunken.“ Selbst Taiji musste grinsen. -X- Am Montagnachmittag dann saß Toshi mit seiner Familie um den Tisch, aß den Schokoladenkuchen und nahm mit überschwänglichem Dank ein Geldgeschenk entgegen. Er sagte seinen Eltern besser nicht, dass das in etwa reichen würde, um die Schulden zu bezahlen, die er sich bei Yoshiki angesammelt hatten. Hiro schenkte ihm eine große Box Süßkram und Akimi hatte ihm mit äußerster Hingabe ein Bild gemalt und es diesmal sogar auf Pappe geklebt und einen Rahmen aus bunten Nudeln außenherum gebastelt - wohl um zu zeigen, dass es diesmal ernst war. „Magst du es?", fragte sie hibbelnd und guckte ihm abwechselnd über die Schulter und ins Gesicht. „Oh ja”, sagte er. Sie musste lange daran gesessen haben, also sagte man das. „Aber was ist das? Ist das… ein Onigiri?“ „Ja!“, sagte sie erfreut und deutete auf das blassere der beiden Dreiecke. „Das ist ein Onigiri mit allem und das ist eins ohne alles und sie halten Händchen!“ „Das ist bescheuert“, schaltete sich Hiro ein. „Onigiri haben keine Hände, du Dummbatz.“ „Das ist gar nicht bescheuert und meine haben welche!“ Toshi schaute auf das Bild in seinen Händen und einen Moment wusste er nicht, ob er lachen oder weinen sollte. Er entschied sich für Lachen und strubbelte ihr einmal durch die Haare. „Danke.“ Später am Abend lag er auf seinem Futon, schaute an die Wand und folgte mit den Augen den dicken Umrandungen der Dreiecke, die er im Halbdunkel gerade noch so ausmachen konnte. Innerhalb dieser Umrandungen, das wusste er, lachten die Reisbällchen viel zu große Lacher, wie zwei bescheuerte, total verliebte Vollidioten. Vielleicht, dachte er, hatte sie Recht. Vielleicht war es das. Vermutlich würde sich nie irgendwer in irgendwen verlieben und gegen Widerstand dranbleiben, wenn es nicht um das Glück wäre. Irgendwie waren Menschen so, nicht wahr? Man glaubte immer, dass Hoffnung größer war als Verzweiflung, Freude größer als Leid und Liebe... Liebe größer als Angst. Wenn man immer Angst hatte, dann konnte man nicht lieben - vor allem nicht auf so eine bescheuerte, selbstzerstörerische Art. Liebe war ein Risiko, und anscheinend eines, das Toshi sich einzugehen nicht ganz ausreden konnte. Die Frage war nur: wie groß genau war das Risiko bei hide? Die Beantwortung dieser Frage, dachte Toshi und drehte sich auf die linke Seite, brauchte definitiv mehr Feldforschung. -X- „Hallo!“, begrüßte hide an einem Spätnachmittag im November ein Mädchen vom Wohnzimmer aus, als er gerade zur Haustür herein und gleich weiter in die Küche gefallen war, um sich Tee zu machen, bevor es mit der Arbeit weiterging. „Öhm“, machte hide, in der Bewegung erstarrt und sehr intelligent. „Hullo?“ Er hatte sie noch nie gesehen. Der erste Gedanke war, dass es eine Freundin von Terumi sein musste, doch erstens war von dieser nichts zu sehen und zweitens erschien sie ihm nicht wie der Typ Mensch, der Freunde hatte. Ja, das war gemein. Und er hatte es gedacht. Nun ja. Weiter im Text. „Ich bin Masami“, sagte das Mädchen, als erkläre das alles. „Ok?“, machte hide, nach wie vor erstarrt wie das Reh im Scheinwerferlicht. Jetzt schaute sie etwas verwirrt und, auf eine freundliche Art, entrüstet. hide hatte seit seiner Kindergartenzeit niemanden mehr getroffen, der diese Kombination schaffte - damals hatte er sich mit dem Gesicht voran in die „Hat Tomo nie von mir erzählt?“ „Öhm…“, machte hide einen weiteren, unbestimmten Laut. Er wusste nicht ganz, welche Antwort hier in Patas Sinne war und vielleicht fiel die Antwort ja in den nächsten drei Sekunden vom Himmel. Und tatsächlich: er wurde gerettet. „Wir hatten noch kein Männergespräch, wo man sich gegenseitig von Mädchen erzählt“, sagte Pata, der mit einer Packung Tee neben hide in die Küche getreten war und sich nun daran machte, Wasser aufzusetzen. „Masami. Meine Freundin.“ „Da hätte ich auch nicht viel zu erzählen“, murmelte hide, wandte sich dann aber endlich ihrem Gast zu. „Ja. Sorry. Ich bin hide. Freut mich.“ „Ich weiß“, sagte sie. „Weil anscheinend haben wir schon Gespräche, wo man sich gegenseitig von anderen Männern erzählt. Freut mich auch.“ hide grinste dümmlich. Er konnte nichts dagegen machen. Ihre gute Laune war hochansteckend. „Wir zelebrieren jetzt altmodisches Teetrinken“, sagte Tomoaki. „Mit Süßkram. Willst du auch?“ hide drehte sich zu ihm um, um höflich abzulehnen. Doch neben dem anderen Jungen auf der Anrichte stand eine Box mit kleinen Reiskuchen – abstrakte Formen, Blumen, Nachbildungen von Früchten. Er klappte den Mund wieder zu. Wow. „Gern“, hörte er sich sagen. „Was ist der Anlass?“ „Ich hab Geburtstag“, sagte Tomoaki. „… oh“, machte hide geplättet. Heute war aber auch ein intelligenter Tag. „Ich… Alles Gute. Ich hab nichts für dich. Weil… ich’s nicht wusste.“ Tomoaki lächelte amüsiert und nahm einen Stapel Teller aus dem Schrank. „Das ist in Ordnung. Ich brauch nichts. Setz dich.“ Die Küchenuhr piepste bei exakt zwei Minuten und er schüttete den ersten Aufguss Tee weg und begann einen zweiten. Froh, dass ihm diese eindeutige Aufforderung das Denken abnahm, ging hide also und setzte sich dem Mädchen gegenüber. Sie winkte fröhlich. hide winkte bereits mit einem weiteren idiotischen Lächeln zurück, bevor er überhaupt darüber nachgedacht hatte. Das hier, dachte er, war so ungefähr das größte Gegenteil dazu, Terumi gegenüberzusitzen, das man sich vorstellen konnte. Ein Blick auf sie und das Leben war mit einem Mal einfach. „Also“, sagte er deshalb, „Paaa-“ Er konnte den Blick des anderen Gitarristen urplötzlich im Hinterkopf spüren und riss sich gerade noch am Riemen. Nicht schon wieder unerlaubt den anscheinend nicht ganz so beliebten Spitznamen verwenden. Äh… Panade, Parameter, Palästina, … Hirn! „-r. Paar, ihr beide, ja?“ Das war knapp! „Jupp“, antwortete seine Gegenüber, sich nicht im Klaren darüber, wie knapp hide hier gerade den Eisberg umschifft hatte. „Seit vier Jahren. Sehr glücklich!“, rief sie den letzten Teil an hide vorbei. „Das freut mich“, kam Tomoakis ruhige Stimme aus der Küche. Die Uhr piepste erneut. Es duftete nach Tee. hide rechnete unwillkürlich zurück. Er wusste nicht genau, wie alt Pata war (und gerade war es ihm wirklich zu peinlich, nachzufragen), doch so oder so bedeutete es vierzehn oder fünfzehn. Diese Zahlen und die Zeiten, die er mit ihnen verband, erschienen ihm unendlich weit weg. „Wow. Das ist lang“, sagte er schließlich. „Nicht so lang“, sagte sie. „Meine Eltern feiern dieses Jahr Zwanzigjähriges. Das ist lang. Und auch wieder nicht so lang. Relativität und so.“ Sie hielt einen wissenden Zeigefinger hoch. hide winkte mit einem Lächeln ab. Er brauchte weder Physik noch Philosophie in seinen fünf Minuten Ruhe. Hinter ihm klirrte es. Masami runzelte die Stirn und lugte an ihrem Gesprächspartner vorbei. „Brauchst du Hilfe?“, fragte sie. „Nein“, sagte Tomoaki. Es klirrte noch einmal. Sie wandte sich an hide. „Er braucht Hilfe…“, meinte sie verschwörerisch, aber nicht so leise, dass ihr Freund es wirklich nicht hörte, und stand auf, um zur Rettung zu eilen. hide drehte sich im Sitzen um und folgte ihr mit dem Blick und beobachtete – aufgrund des Höhenunterschieds nur im obersten Drittel – die Szene in der Küche. Zuerst einmal waren da die Protagonisten. Weibliche Hauptrolle. Sie war überhaupt nicht sein Fall und er wäre nie auf die Idee gekommen, sie als hübsch zu bezeichnen. Wenn er ein positives Adjektiv wählen müsste, er hätte knuffig genommen: Sie war klein, doch weit entfernt von zierlich. Sie hatte kleine Patschehänddchen und kleine Tapsefüßchen, kurze Beine und ein Mondgesicht. Doch als sie lächelte war ihm, als hätte jemand eine Kerze in einem dunklen Raum entzündet. Das, dachte hide, war nicht die Sorte von Mädchen, von der er manchmal nachts träumte – keine Frau, die einem mal nackt die Tür aufmachte oder mit der man wilde Partys schmiss oder so richtig Eindruck machen konnte. Das da, das war die Art von Mädchen, die einem Abendessen kochte und das Kissen aufschüttelte und die Leiter hielt, wenn es was zu reparieren gab. Mit einem Mal fühlte er sich komisch. Er überlegte kurz, ob er neidisch war, doch konnte das Gefühl nicht finden. Also war es nicht das. Ratlos packte er das Gefühl für spätere Untersuchungen in einen sterile Tüte. Dann war da Pata. Auch ihm warfen die Leute vermutlich kaum einen zweiten Blick zu – nicht unbedingt unattraktiv, aber so unauffällig wie Raufasertapete. Pata war ein komischer Kauz. Aber er kümmerte sich um seine Schwester, um seine Verwandten und, wenn man es genau nahm, auch irgendwie um hide und schien dafür nichts zu erwarten. Das sagte einem viel über ihn… oder nicht? Kurz und unwillkürlich wandte sich hides Hirnmasse der Frage zu, ob und was er Pata geschenkt hätte, wenn man ihn rechtzeitig vorgewarnt hätte. Er kam zu keinem eindeutigen Ergebnis – ein eindeutiges Zeichen, dass er den anderen Jungen nicht verstand. In diesem Moment spitzte draußen die Abendsonne ein letztes Mal hinter der Wolkendecke hervor und das kühle, goldene Licht erhellte die Szene vor ihm wie in einem dieser kitschigen Heimatfilme. So idyllisch, das man davon kotzen könnte, dachte hides Hirn ungefragt. Dann schob sich die nächste Wolke vor die Sonne, und der Gedanke verschwand. Das Paar in der Küche hatten inzwischen Geschirr, Tee und Wagashi aufgeteilt und trug alles jetzt weiter ins Wohnzimmer. „Soll ich-“, begann hide, doch das Mädchen schnitt ihm sofort das Wort ab: „Gnah! Das bringt nur das ausgefeilte System durcheinander!“ Also blieb er sitzen, verdammt zum passiven Danke-Sagen. Er bemühte sich redlich, nun überall hinzusehen außer auf die beiden, doch scheinbar gelang ihm das nicht. „Was ist?“, fragte Tomoaki und verteilte Teeschalen rund um den Tisch. hide wurde rot, doch Masami zwinkerte ihm zu, also sagte er: „Nichts. Ihr… passt nur wirklich gut zusammen.“ „Jaja“, sagte Masami fröhlich. „Wie Arsch auf Eimer, wenn ich mal so sagen darf. Entschuldigung, das war mein eines schlimmes Wort am Tag.“ „Wer von uns beiden ist der … Eimer?“, fragte Pata. „Das überlass ich dir.“ Sie stellte vorsichtig die Schachtel Wagashi in die Mitte des Tischs. „Aber Vorsicht: Es gibt nur eine richtige Antwort.“ Er musste nicht lange überlegen. „Du bist der Eimer.“ Ein Kniff in die Wange war die Belohnung. „Ja. Das ist die Antwort. Herzlichen Glückwunsch. Hallo Teru!“ „Hallo.“ Ein Schatten war neben hide aufgetaucht, waberte einmal um den Tisch und ließ sich schräg gegenüber auf das Sitzkissen fallen. Es war wirklich unglaublich, dachte hide, unauffällig zwischen den beiden Mädchen hin- und herschauend, wie unterschiedlich Menschen sein konnten. Wie wohl Pata und er nebeneinander wirkten? Er warf dem anderen Jungen, der sich gerade an die Stirnseite setzte, einen weiteren langen Blick zu. Vielleicht… wollte er es lieber gar nicht wissen. In der Zwischenzeit hatte sich auch Patas Tante dazugesellt und saß jetzt neben ihm. „Kommt er noch hoch?", fragte Masami, die rundherum Tee einschenkte. „In ein paar Minuten", sagte sie. „Wir sollen einfach schon mal anfangen." Masami reichte Tomoaki die Schachtel. „Dann fang mal an." Pata nahm ein Wagashi, das aussah wie eine Kastanie und reichte die Schachtel weiter. „Wann hast du denn Geburtstag, Hideto?“, fragte die Tante, während ihre Hand unentschlossen über den Süßigkeiten kreiste. „Oh. Ähm…“, machte hide und zögerte einen winzigen Moment, bevor er sagte: „Im Frühling.“ Er wusste nicht, warum er log, doch war sich sofort sicher, dass es die richtige Wahl gewesen war. Der Gedanke, wie alle um diesen Tisch saßen um ihn zu feiern, drehte ihm den Magen um. Es war dem Gefühl, das er beim Anblick des glücklichen Paars verspürt hatte, nicht ganz unähnlich. Mit einem Mal wünschte hide sich in die relative Abgeschiedenheit seines Zimmers zurück, um in Ruhe seine Empfindungen ordnen zu können. Doch jetzt band ihn eine unsichtbare Verpflichtung, die da war Patas Geburtstag, an diese Situation. hide schluckte den Kloß im Hals hinunter und versuchte, einfach nicht darüber nachzudenken, dass es etwas zum Nachdenken gab. Die Schachtel tauchte vor ihm auf und nach einigem Zaudern nahm er schließlich eines, das aussah wie eine Kirschblüte. Dann erhoben sie den Tee auf Pata, dieser verbeugte sich und damit war das Essen eingeläutet. hide aber starrte ehrfürchtig auf seinen Teller. Eigentlich sah es viel zu edel aus, um gegessen zu werden… vor allem von ihm. Er hatte ja nicht einmal gewusst, was hier gefeiert wurde. Er schluckte noch einmal. Ihm gegenüber biss Terumi in einen kleinen Kuchen in Form einer Mandarine. Wenn sie das konnte, dachte er plötzlich, konnte er das auch. Er nahm die kleine Blüte vorsichtig in die Hand und biss ab. Sie schmeckte wunderbar. Aber davon einmal abgesehen, dachte er, war es vielleicht bedenklich, dass er sich sehr viel mehr an Patas Schwester als an seiner Freundin maß. -X- „Alles Gute zum Geburtstag, mein Schatz.“ Ein wenig zurückhaltend betrachtete Yoshiki auf den Geburtstagskuchen auf dem Tisch. Er war herzförmig und mit weißer Creme und perfekten roten Früchten bedeckt, und er fragte sich einen Moment lang, wo zum Henker seine Mutter mitten im November Erdbeeren herbekommen hatte. „Ich glaube, ich werde langsam zu alt dafür“, sagte er schließlich, anstatt sich zu bedanken. „Wie lange willst du das noch machen?“ „Noch mindestens zwei Jahre“, antwortete sie. „So lange bist du eben mein Junge. Wenn du zwanzig bist, kannst du machen, was du willst. Tut mir leid, dass ich mich freue, immer noch einen Sohn zu haben.“ Sie klang ein bisschen eingeschnappt. Yoshiki seufzte, ließ sich neben den Tisch fallen und streckte die Waffen. „Ok, ok… danke.“ Reglos sah er zu, wie sie zwei Stück Kuchen abschnitt und ihm eines davon etwas weniger liebevoll über den Tisch schob, als sie das sonst tat. Das war wohl seine eigene Schuld und für einen Moment tat es ihm fast leid – aber er war einfach keine fünf Jahre mehr alt, verflucht! Wie lange wollte diese Frau denn noch so tun, als ob dem so wäre? Er nahm die Gabel in die Hand und probierte den Kuchen. Nach den ersten Bissen wurde er sich bewusst, dass seine Mutter ihn über den Dampf ihres Tees hinweg beobachtete. „Was?“, fragte er. „Wie ist er?“ Yoshiki ließ die Gabel sinken und schaute sie fast vorwurfsvoll an. „Was willst du hören. Er ist fantastisch.“ Er senkte den Blick wieder und setzte seine Obduktion des Kuchenstücks fort. „Wie immer.“ „Nicht zu süß?" „Doch. Aber du weißt, ich mag das so.“ Schweigend arbeitete er sich durch den Kuchen, von den erstaunlich fruchtigen Erdbeeren ganz oben zu der fluffigen Biskuitmassen ganz unten, und als er fertig war, streckte er seiner Mutter den Teller ein zweites Mal hin. Sie schien damit besänftigt. -X- Es war der Abend des dreizehnten Dezember. hide saß über sein Physikbuch gebeugt und versuchte, sich irgendwie die Frequenzen und Wellenlängen von Licht anzueignen. Das dauerte. Konstruktive Interferenz. Was zur Hölle? Der halbe Boden war bereits mit mehr oder weniger erfolgreich gelösten Übungsaufgaben bedeckt und allmählich machten das künstliche Licht und die kleine Schrift ihm Kopfschmerzen. Aber das musste heute noch, oder er kam mit seinem Plan in Verzug. Es war ein ziemlich ehrgeiziger Plan, zugegeben… Also. Die beiden Minima erster Ordnung hatten den Abstand 10 mm. Dann… 4,312 sagte sein Taschenrechner. 2,189 sagte die Musterlösung. „Gnaaaaah!“, machte hide und hielt sich gerade noch davon ab, sich genervt nach hinten fallen lassen zu wollen. Zimmer nicht breit genug. Verfluchte Chihuahuascheiße! Was war los mit diesen bekackten Aufgaben! Er drehte sich zur Seite und boxte sein Kissen. Zwei Mal. Dann atmete er durch, riss das Blatt von seinem Block, suchte seinen Stift, den er frustriert irgendwo in einer Armlänge Radius fallen gelassen hatte, malte einen Erinnerungskringel um die Aufgabe und versuchte eine andere. Ok. Ein Gitter wird vom Licht einer Glühlampe beleuchtet. Hinter dem Gitter ist im Abstand von 60cm ein Schirm. Bestimmen Sie aus den aufgeführten Messergebnissen die Wellenlänge von violettem, blauen, grünem, gelben und rotem Licht. Bluärg. Ja. Doch. Konnte er. Ähm… also… die Augenbrauen zusammengezogen beugte er sich tiefer über den Block und fing an. Ein paar Minuten arbeitete er konzentriert vor sich hin, dann hörte er etwas. Er drehte den Kopf zur Seite, um ein Ohr zur Wand zu haben. Jemand, und er wusste wer, hörte schon wieder KISS. The hard times are dead and gone But the hard times have made me strong And the hard times have made me see That the hard times ain't where I wanna be Terumi war, was Lärmbelästigung anging, eine eher dankbare Nachbarin – die meiste Zeit bemerkte man sie überhaupt nicht. Doch sie hatte jeden Abend etwa eine halbe Stunde, in der sie laut Musik hörte. Manchmal spielte sie mit, so wie heute, manchmal schien sie nur zuzuhören. hide hatte bemerkt, dass dieses musikalische Intermezzo erstaunlich oft mit der Zeit des Abends zusammenfiel, während der er selbst öfter als nicht etwas durchhing. Leise das Solo mitsummend wandte er sich wieder seiner Aufgabe zu. Dann kam der letzte Chorus. Er checkte seine Ergebnisse in der Musterlösung. Uh yeah! “Cool me down, baby, ‘cause I am hot!”, rief hide etwas lauter als beabsichtigt. „… ähem.“ Zum Glück jedoch lief im Nebenzimmer gerade die letzte Strophe. I don't wanna be there or even think back I don't wanna be there, 'cause I'm on the right track Now I'm on the right track I'm finally on the right track Als er gegen ein Uhr morgens schließlich eine Erfolgsquote von etwa siebzig Prozent erreicht zu haben glaubte und ihm der Schädel vor lauter Formeln brummte, rollte er den Futon aus und sich selbst in der Decke ein. Vielleicht gab es so etwas wie eine Zukunft. -X- Pata stand in der Küche Wache und achtete darauf, dass die Soße für die nächtlichen Sobanudeln nicht überkochte. In der nächsten halben Stunde würde er davon erlöst werden, doch bis es soweit war, lehnte hide neben ihm an der Spüle und leistete ihm Gesellschaft. Sie hatten ein bisschen über die Heritage Korina-Serie geredet und über Phil Collins und über eine Stelle im letzten Song, die einfach nicht wollte, wie sie wollten. Danach schauten sie beide in den großen Topf. Schließlich wandte hide sich zum Kühlschrank. Er gönnte sich heute zur Feier des Tages eine Schüssel Cornflakes. Zum Mittagessen. Dekadent. [Und bei den Preisen für das Zeug in Japan ist das hier keine Ironie.] Gerade hatte er die Milch über die Flakes geschüttet und wartete jetzt darauf, dass sie schön durchweichten. Pata stellten sich bei dem Gedanken an Maismatsche die Nackenhaare auf – der Spaß an Flakes war doch, dass sie knusprig waren? Aber egal. „hide“, begann er, gerade als der andere Junge den ersten Löffel Pampe gehoben hatte. „Du weißt, dass du heute mit uns feiern kannst, ja?“ Der Angesprochene ließ den Löffel wieder sinken und schaute ins Wohnzimmer, wo der Tisch festlich für mindestens zehn Personen gedeckt war. hide seufzte und rührte noch einmal sein Mahl durch. Es machte Geräusche, wie wenn man mit Gummistiefeln durch den Sumpf stapfte. „Ja. Aber… das fände ich komisch.“ Er wich Patas Blick aus. „Versteh mich nicht falsch, ihr seid nett und alles und ich würde gern mit euch den Abend verbringen, aber… da werden eure Verwandten und Bekannten da sein und ich kenn niemanden und dann wird jeder fragen, wer ich bin und was ich hier mache und… ich wär lieber nicht dabei, falls und wenn ihr diese Diskussion habt.“ Pata nickte. „In Ordnung.“ Er schaltete den Herd aus und legte den Deckel auf. „Was wirst du stattdessen machen?“ hide hob die Schultern. „Ich weiß noch nicht. Vielleicht geh ich einfach ein bisschen spazieren. Oder zum Tempel. Oder leg mich hin und verschlaf das alles.“ Um sich gekonnt von der Erwartung zu befreien, noch mehr zu diesem Thema sagen zu müssen, stopfte er sich an dieser Stelle entschlossen einen gehäuften Berg Cornpampf in den Mund. Der andere Junge beobachtete in skeptisch beim Kauen, etwas, das hide sehr irritierte. „… wenn es dir nicht gut geht damit, kannst du das sagen“, meinte er schließlich nach einigen langen Sekunden eindringlich. „Ok“, nuschelte hide an seiner Ladung Cornflakes vorbei. Er schluckte runter. „Und wenn du heute im Lauf der Nacht deine Meinung noch änderst, kannst du immer dazukommen.“ „Ok“, sagte hide, diesmal deutlicher. Er schaute in seine Schüssel. Das brauchte mehr… irgendwas. Er wandte sich zum Kühlschrank. Patas Blick folgte ihm. „Und wenn du willst, dass ich aufhöre zu reden, musst du das auch sagen.“ hide tauchte nach einer kurzen Sichtung des Kühlschrankinhalts wieder auf und begann, eine Scheibe Käse in die Cornflakes zu bröckeln. „Ich glaube“, sagte er dabei, „ich würd jetzt lieber einfach essen.“ -X- Frau Sawada mochte Feste. Um das zu wissen reichte es einem völlig Fremden, am letzten Tag des alten Jahres einen Blick in ihr Haus zu werfen. Alles war dem Anlass entsprechend geputzt und dekoriert worden, die guten Klamotten lagen für den Tempelbesuch am nächsten Tag bereits gewaschen und gebügelt bereit und wer vorgestern schon einmal reingeschaut hatte, dem war dabei ein etwa zehn Zentimeter hoher Stapel Neujahrskarten aufgefallen, die inzwischen natürlich den vertrauenswürdigen Händen eifriger Postmitarbeiter übergeben worden waren. In der Küche brodelte das Essen vor sich hin und verströmte sein köstliches Aroma im ganzen Haus. Taiji lag auf dem Sofa im Wohnzimmer und las Per Anhalter durch die Galaxis. Dafür, dass er es nur an einem verregneten Herbsttag aus Ryujis Zimmer entwendet hatte, war es erstaunlich kurzweilig. Im Flur klingelte das Telefon. Er blätterte die Seite um und wartete. Es klingelte weiter. Mit einem Seufzen richtete er sich in eine sitzende Position auf, gähnte einmal, wartete noch etwas. Es klingelte immer noch. Mann. Wozu hatte man eigentlich Mütter und Brüder? Langsam stand er auf und tappe in den Flur. Das Telefon klingelte immer noch, als er davorstand. Ein Blick nach links. Ein Blick nach rechts. Anscheinend blieb es an ihm hängen… alles musste man selbst machen. Er griff nach dem Hörer. „Hai“, sagte er. „Sawada desu kedo.“ „Taiji?“, fragte eine Stimme am anderen Ende der Leitung, die er sofort erkannte. „Ja. Hallo Papa. Wo steckst du? Bist du schon unterwegs?“ Taiji runzelte die Stirn und presste den Hörer fester ans Ohr. Im Hintergrund auf der anderen Seite der Leitung ging es ziemlich laut her. Ein paar Sekunden verstrichen. Sie sagten Taiji bereits alles, was er wissen musste und einen Moment lang wollte er einfach auflegen. Doch gerade sagte die Stimme schließlich „Ja“ und fuhr dann fort: „Wegen heute… Hör zu, es kam was dazwischen und ich war sehr lang im Büro. Wir haben einen sehr großen Kunden verärgert und mussten das ausbügeln.“ „Wen?“, fragte Taiji. „China“, sagte sein Vater. „Auf jeden Fall… Wir sind jetzt hier feiern gegangen. Ich komm dann morgen über die Feiertage nach Hause.“ Eine seltsame Empfindung stieg in Taijis Brustkorb auf, während er den Geräuschen einer Party in vollem Gange zweihundert Kilometer entfernt lauschte. Es fühlte sich an, als streiche ein kalter Winterwind über gefrorene Grashalme. „Ah“, schaffte er schließlich so etwas wie eine Antwort. „Verstehe.” „Richtest du das bitte deiner Mutter aus?“ „Keine Chance“, sagte Taiji frei heraus. In der Mitte stehen war eindeutig kein Teil seiner Jobbeschreibung. Sollte sein Alter selbst sehen, wie er aus der Nummer rauskam. Er drückte den Hörer, aus dem immer noch Worte drangen, unzeremoniell an die Brust und rief: „Mama!“ Und, dann noch einmal: „Maaamaaaa.“ „Die ist draußen!“, rief Ryuji aus seinem Zimmer. Taiji machte einen Schritt zurück und lugte durch das Küchenfenster nach draußen auf die Straße. Tatsache. Seine Mutter plauderte mit den Nachbarn. Einfacher, kurzer Silvestergruß gone wrong. Taiji schüttelte den Kopf, machte noch einen Schritt Richtung Küchenzeile, nahm eine glasierte Babymöhre von einem Teller und kaute gemächlich. Als er damit fertig war, stand sie immer noch draußen. „Ok“, sagte er, den Hörer wieder ans Ohr nehmend und ging langsam zurück in den Flur, „du hast Glück.“ „Danke“, sagte die körperlose Stimme. „Ich muss dann auch. Halt die Ohren steif, Champ.“ „Yo“, machte Taiji. Es klickte in der Leitung. Eine ganze Weile stand er noch da und lauschte dem gleichmäßigen Tuten des Freizeichens. Vor ihm an der Wand hing das Bild ihres Ausflugs zu den Nachi Wasserfällen von vor fünf Jahren. Sein Vater hatte das Bild gemacht und war deswegen nicht drauf. Die Ironie dieses Realismus wurde ihm gerade zum ersten Mal bewusst. „War das Papa?“ Ryuji war neben ihm im Flur aufgetaucht. Seine Stimme riss Taiji aus seiner Trance und er hängte den Hörer langsam in den Wandapparat. „Ja.“ „Wann kommt er denn?“ „Morgen“, antwortete Taiji, wandte sich ab und verschwand mit einem gemurmelten „Vielleicht“ in Richtung Garage. -X- Elf Uhr war gerade vorbei, als Toshi seinen leeren Kuchenteller auf dem niedrigen Tisch vor sich platzierte und es sich auf der Couch bequem machte. Er gähnte einmal. Vielleicht hätte er den Sake nicht trinken sollen. Aber wie Nein sagen, wenn man schon mal den elterlichen Segen zum Alkoholkonsum hatte? Akimi hatte eisern versucht, so lange wie möglich aufzubleiben und damit erwachsen zu sein, doch war Punkt neun am Tisch auf ihren Kunstwerken eingeschlafen und ins Bett verfrachtet worden. Hiro hatte sich danach entsprechend aufgebläht und getönt, dass ihm das nicht passieren würde, immerhin wäre er schon groß und überhaupt wolle er jetzt auch mal Sake probieren. Jetzt, eine gute halbe Stunde und eine kleine Schale Reiswein später, lag er zusammengerollt in der Sofaecke und sabberte im Schlaf auf das Kissen. Toshi überlegte, ein Foto zu machen, doch ließ es bleiben. Es war den Aufwand kaum wert. Stattdessen liebäugelte er mit einem zweiten Nachtisch. Immerhin – da sich nicht abzeichnete, dass er sich in absehbarer Zeit vor dem Objekt seiner Begierde entblößen würde, musste er sich auch keine übertriebenen Diätpläne erstellen. Toshi nahm seinen Teller vom Couchtisch. „Möchtest du noch ein Stück Kasutera?“, fragte er seinen Großvater, der neben ihm in der anderen Ecke des Sofas saß und gedankenverloren den Farbklecks der kleinen Orange auf den Kagami Mochi im Hausaltar betrachtet hatte. Ein etwas schwammiger Blick wanderte zu ihm und schien einen Moment zu brauchen, bis er auf ihn scharfstellte. „Ja, Tomio, sehr gern.“ Toshi schaffte es, dass sein Lächeln keinen Sekundenbruchteil lang kleiner wurde, als er ihrer beider Teller nahm und den kurzen Weg in die Küche zurücklegte, um noch Kuchen abzugreifen. So war das eben im Kopf seines Großvaters: manchmal verdunkelten Wolken die Sonne. Toshi mochte sich nicht vorstellen, wie das war, wenn die eigenen Gedanken und Erinnerungen kamen und gingen wie Ebbe und Flut. Er fragte sich nur manchmal, was sein Großvater wohl denken mochte, wer der mittelalte Mann und seine Frau waren, die auch hier in der Wohnung anwesend waren, solange er Toshi in Gedanken zu einer jungen Version seines Vaters machte. Vielleicht ein entfernter Bekannter. Es musste schlimmer für seinen Vater und für seine Mutter sein als für ihn selbst, dachte Toshi. Immerhin gehörte er in jeder Version dieser Geschichte zur Familie - in dieser Generation oder einer anderen. Aber es war Neujahr, und an Neujahr war Lächeln und damit zurechtkommen, was man eben tat. Dies war eine der Erkenntnisse des Erwachsenwerdens: ein wesentlicher Teil des Lebens bestand aus 'damit zurechtkommen'. Sie aßen noch ein Stück Kuchen, dann verlor Toshi eine Runde Shogi gegen seinen Vater (er würde darauff beharren, dass das nur passiert war, weil er auf seinen Opa gehört hatte) und weckte danach, kurz vor Mitternacht, einen sehr knatschigen Hiro. Oben in seiner Schreibtischschublade lag eine Liste mit Vorsätzen für die kommenden dreihundertfünfundsechzig Tage. Und egal was dabei herumkam: es würde ein sehr interessantes Jahr werden. -X- [Dieses Teilkapitel widme ich A. und seinen grandiosen Kochkünsten im Stadium fortgeschrittener Trunkenheit.] Yoshiki spielte in seiner Jackentasche mit den Schlüsseln für den Proberaum herum, die er dort entdeckt hatte. Eigentlich sollten sie zuhause am Haken hängen, doch nach den drei Bier beim letzten Mal wunderte es ihn nicht wirklich, dass sie den Weg dorthin nicht gefunden hatten. Es war halb zwölf und beißend kalt. Zusammen mit seiner Mutter, einigen Verwandten und engeren Freunden der Familie und vielen anderen unbekannten Menschen stand Yoshiki vor einem der größeren Tempel Tateyamas und bewegte sich von einem Fuß auf den anderen, um die Kälte aus seinen Zehenspitzen zu vertreiben. Er trug seine dicksten Wintersachen und fror dennoch wie ein Schneider. Um ihn herum erzeugte das gemeinsame Atmen vieler, vieler Menschen eine seltsame, abwartende Atmosphäre. Aus irgendeinem Grund schnürte sie ihm die Luft ab. Yoshiki umklammerte den Schlüsselbund fester. Was war nur los? Eine ungute Vorahnung. War er bescheuert oder hatte er Recht? Es gab nur einen Weg, es rauszufinden. Er wandte sich zur Seite, wo seine Mutter in ein Gespräch mit seiner Tante vertieft war und tippte ihr gegen den Arm. Sie unterbrach sich mitten im Satz. „Stör ich?“, fragte er und schaute von einer zur anderen, um am Ende an seiner Mutter hängen zu bleiben. Als beide Frauen verneinten, nahm er sie behutsam zur Seite. „Mama“, sagte Yoshiki, als sie sich ein paar Schritte entfernt hatten. „Ich… ich muss gehen.“ Sie sah ihn entgeistert an. „Aber Yoshiki! Es ist mitten in der Nacht und wir haben Essen zuhause! Wo musst du denn jetzt noch hin?“ „Ich hab ein ganz komisches Gefühl. Keine Sorge, ich mach keinen Unsinn, ich muss nur was nachschauen. Feiert schön. Ich hab dich lieb und ich seh dich morgen früh.“ Er lächelte, drückte ihre schmalen Hände durch die Handschuhe hindurch und wandte sich ab, bevor sie etwas sagen konnte. Ja, das tat ihm weh, wenn auch nicht halb so sehr wie ihr. Aber die Kunst mit Müttern war, dass man sie entwaffnet haben musste, bevor sie über Argumente nachdenken konnten – denn dann verlor man für gewöhnlich. Also schlängelte er sich zwischen wartenden Grüppchen hindurch in Richtung Tor und war schnell in der Dunkelheit und der Menge verschwunden. Seine Tante schaute ihm kopfschüttelnd nach und als Frau Hayashi sich wieder zu ihr gesellt hatte sagte sie: „Er war mal so ein süßes Kind.“ Yoshikis Mutter streifte ihre Schwester mit einem Seitenblick. Schlimm genug, dass ihr Sohn sie vor allen blamierte – Seitenhiebe brauchte sie jetzt nicht auch noch. Also konterte sie etwas angefressen: „Und du hattest mal Kleidergröße 36.“ Die beiden Frauen sahen sich einige Sekunden lang schweigend an und lächelten dann. Das war die tolle Sache an Frauen: ohne Y-Chromosom konnte man sich auch im Stillen hassen. Yoshiki war zwischenzeitlich schon drei Straßenzüge weiter. Er ging schnell, aber verfiel nie ins Rennen. Selbst wenn er gewollt hätte, er käme in den Salonstreichern an seinen Füßen nicht weit. Die kalte Nachtluft brannte in Rachen und Nase und seine Lunge begann zu schmerzen. Probeweise räusperte er sich und zog den Mantel enger, auch wenn das nichts brachte. Noch die Straße runter, rechts, die Straße runter, links. Er schaffte das noch. Wenn er nicht langsamer wurde. Eine gute Viertelstunde später hastete er in die alte Fabrik und schlug die Eingangstür hinter sich zu. Yoshiki hustete zweimal, atmete gezwungen flach und wartete, dass die wärmere Außentemperatur ihn auftaute. Außen war er verschwitzt, innen war ihm kalt. Er hatte tanzende schwarze Pünktchen vor den Augen und alles tat ihm weh. Es kam ihm von früher bekannt vor, wie Fragmente aus halbvergessenen Träumen – seine Erinnerungen, vielleicht. Er hatte lange keine Probleme mehr in dieser Richtung gehabt. Erst als er nicht mehr das dezente Gefühl hatte, dass sich seine Bronchien schmerzhaft verkleinerten, stieg er leise die Treppe ins Untergeschoss hinunter. Kurz fragte er sich, was er hier wollte, wenn er falsch lag. Doch als er den Fuß der Treppe erreicht hatte, überkam ihn ein Gefühl der Gewissheit. Er machte sich gar nicht erst die Mühe, noch einmal seinen Schlüssel aus der Tasche zu ziehen, sondern drückte einfach nur die Klinke nach unten. Die Tür ging auf. „Boah!“, entfuhr es hide. Er griff sich an den Oberkörper und ließ sich wieder in die Sofakissen sinken. Er lag mit der Gitarre auf dem Schoß auf dem Sofa und war ob der unerwarteten Störung hochgefahren. „Yoshiki! Hast du mich erschreckt!“ Der Schlagzeuger nahm die Szenerie in sich auf. hide, Sofa, Bier. hide folgte seinem Blick. „Das ist das erste“, sagte er, Yoshikis Frage zuvorkommend. „Und das einzige.“ „Gut“, sagte Yoshiki. Er ging zum Kühlschrank hinüber, um sich auch eins aufzumachen. „Was machst du denn hier?“, fragte der Gitarrist. Seine Finger waren zu den Saiten zurückgekehrt, als hätten sie ein Eigenleben. Vielleicht hatten sie das auch. „Ich entfliehe meiner Verwandtschaft“, sagte Yoshiki und ließ sich dann vor hides Knie auf die Sofakante sinken. Er warf hide einen Blick zu. Dieser schaute zurück. Und sie tauschten die kleinsten aller Lächeln aus, kaum mehr als eine leichte Veränderung der Augenpartie und mit einem Mal war die Welt in Ordnung. Die seltsame Distanz der letzten Wochen, Dinge, die Yoshiki gerne gesagt und Dinge, die hide vielleicht geantwortet hätte, der Zweifel am jeweils anderen und ein bisschen an sich selbst – all das löste sich mit einem Schlag in der kleinen, feinen, lächelnden Stille zwischen ihnen auf. Sie stießen an. Der Gerstensaft perlte kühl seinen Rachen hinunter und Yoshiki zitterte einmal unwillkürlich von ganz tief drinnen heraus. Raumtemperatur wäre ihm lieber gewesen. Oder warmer Sake. Er bekam Halsweh. „Kann man Bier kochen?“, fragte er und nickte zum Wasserkocher hin. „Man kann alles mindestens einmal kochen“, sagte hide. „Wieso?“ Yoshiki stand auf. „Mir ist kalt.“ Mit einem letzten, versichernden Seitenblick zu dem Gitarristen kippte er den Inhalt seiner Flasche in die Kanne. „Aber nur warm, nicht sprudeln“, sagte hide. „Und mach dann Honig rein. Das wird beim Kochen ‘n wenig bitter.“ „Wieso weißt du sowas?“, fragte Yoshiki. „Wieso weißt du sowas nicht?“, fragte hide zurück. Darauf fiel Yoshiki nichts ein, also wärmte er stattdessen lieber sein Bier auf, füllte sich eine Tasse ab und schüttete dann großzügig Honig hinterher. Dem Geruch nach zu schließen war das keine sonderlich gute Idee. Er hätte sich einfach Tee machen sollen… aber hinterher ist man immer schlauer. „Wie spät ist eigentlich?“, fragte hide, gerade als Yoshiki ernsthaft überlegt hatte, zu trinken. „Fünf vor“, antwortete Yoshiki nach einem Blick auf seine Armbanduhr. „Mmh“, machte hide. Er schaute Yoshiki nachdenklich, aber auch mit etwas in seinem Blick an, das dieser nicht ganz einordnen konnte. Vielleicht war Schuldbewusstsein nicht so weit entfernt – und doch schien es so viel mehr. „Dann… verpasst du ja jetzt alles.“ Yoshiki aber winkte ab. „Ich hab das schon öfter erlebt. Ich muss es nicht mehr sehen…“ Dann kam ihm eine Idee und er lächelte hide verschmitzt zu. „Aber vom Dach aus kann man es sicher hören.“ Besagte fünf Minuten später standen sie oben auf dem Dach. Wie nicht anders zu erwarten, waren sie allein. Gerade hatten sie es sich nebeneinander an der Brüstung so gemütlich gemacht, wie es die winterlichen Temperaturen zuließen, als es begann. Das tiefe, feierliche Läuten der verschiedenen Tempelglocken hallte über die Stadt. Yoshiki wärmte seine Finger an seinem Honigbier und hustete. Er nahm einen vorsichtigen Schluck. Es half gegen das Husten, doch der warme Dampf ließ die kalte Nachtluft gleich noch viel frostiger erscheinen. Etwas flauschiges schlängelte sich um seinen Hals und blieb an seinen Händen hängen, schien aber bereit, diese auch gleich mit einzuschnüren. hide wickelte ihn in seinen Schal ein. Yoshiki setzte zum Protest an, doch besann sich dann eines Besseren: Ja, das Ding war endlos hässlich. Aber warm. Es tat gut. Also befreite er seine Hände mit der Tasse Bier darin und kuschelte sich tiefer ein. Schweigend standen sie nebeneinander, lauschten und hingen ihren Gedanken nach. Das war sie, die merkwürdige Zeit zwischen den Jahren: Gerade noch genug Zeit, um sich über alle Dummheiten des letzten Jahres zu ärgern und Vorsätze zu fassen, wie man im nächsten Jahr die Dummheiten schlauer angehen konnte. Yoshiki für seinen Teil allerdings dachte in diesem Jahr mehr an die Zukunft als an die Vergangenheit. In diesem Jahr würde sich so vieles ändern. Welche Veränderungen genau würden das sein und was würde er aus ihnen machen? Neben ihm hatte hide sich umgedreht und sich mit dem Rücken ans Geländer gelehnt, und schaute jetzt von der Stadt weg und über das tiefschwarze Meer, auf die weit entfernte andere Seite der Bucht. Tief unter ihnen lag ein Parkplatz, und hinter dem Parkplatz lag ein Strand und hinter dem Strand lag das Meer und hinter dem Meer lag Tokio. Tokio... Es dauerte lange, bis der letzte Glockenschlag in der Nacht verhallt war. Etwa eine halbe Minute lang blieben sie noch stehen und lauschten in die unnatürliche Stille, die sich über das Land gesenkt zu haben schien. Dann sagte hide: „Ich hab Hunger.“ „Ich auch“, murmelte Yoshiki. Seine Tasse Bier war leer und seine Fingerspitzen waren so kalt, dass sie sich taub anfühlten. hide lehnte sich weiter zurück und schaute nachdenklich in den Nachthimmel. Die hellsten Sterne waren zu sehen. „Ich glaub, irgendwo auf dem Kühlschrank hab ich noch Fertignudeln.“ „Festlich.“ Der Gitarrist warf ihm einen leicht schelmischen Blick zu. „Ich hab nur eine Packung.“ Sofort änderte Yoshiki die Strategie. „Uh, du sagtest Fertignudeln? Fertignudeln find ich super. Ich kenne nichts Besseres als Fertignudeln.“ „Ich geb dir hundert Punkte fürs Schleimen“, sagte hide mild grinsend, „aber fünfzig zieh ich dir wieder ab für’s zu sehr anbiedern.“ Sie stiegen die Treppe wieder nach unten. Im Keller zauberte hide eine Fertignudelsuppe in der Plastikschüssel hervor, kochte Wasser und goss die Nudeln auf. Sie warteten in etwas, das fast eine feierliche Stille hätte sein können – wenn es feierlicher gewesen wäre. So war es nur eine etwas müde Stille. hide suchte Stäbchen. Yoshiki wickelte sich aus hides Schal. Nach exakt drei Minuten setzten sie sich um die Schüssel auf den Boden. „Es üst angürüchtet“, verkündete hide in etwas, das wohl ein vornehmer französischer Akzent hätte werden sollen. Yoshiki beugte sich über die Schüssel und schnupperte. „Das riecht komisch…“, meinte er und schnupperte noch einmal. Das roch nach… „hide, hast du das Bier raus, bevor du das Wasser reingekippt hast?“ „… Nein“, sagte hide und schlug sich einmal mit der flachen Hand gegen die Stirn. „Du Blödel, warum hast du nichts gesagt?“ „Äh. Du kochst hier Biernudeln und ich bin der Blödel?“ Sie schauten einander an. „… Biernudeln klingt eigentlich ziemlich geil“, sagte hide. Kurzentschlossen rührte er einmal durch und probierte. „Ich find’s gut.“ Yoshiki probierte. Sofort vereinten sich seine sämtlichen Körpersäfte in dem Versuch, das pure Böse abzustoßen, das da soeben die Futterluke passiert hatte. „Boooah. Ich hab noch niemals so was Ekliges gegessen!“, stöhnte er und zog eine Grimasse. Er warf die Stäbchen neben sich aufs Sofa: Auf keinen Fall würde er dieses Zeug essen! hide zuckte mit den Schultern und hob die Schüssel auf seinen Schoß. „Mehr für mich.“ Yoshiki betrachtete ihn mit einem Seufzen und zerfloss ein wenig in Selbstmitleid. „Ich könnte jetzt zuhause bei meiner Mutter und ihrem Silvesteressen sein…“ Ungerührt schlürfte hide eine weitere Fuhre Nudeln. „Und dennoch bist du hier.“ Er grinste Yoshiki neckend zu. „Wer ist jetzt der Blödel?“ -X- Pata schob die Tür zu Terumis Zimmer auf. Es war leer. Das verwunderte ihn nicht. Sie hatte noch den Hausputz und die abendliche Bibellesung überstanden, vor der es kein Entrinnen gab. (Und Gott sprach: Es werde Licht! und es ward Licht. Und Gott sah, daß das Licht gut war. Da schied Gott das Licht von der Finsternis und nannte das Licht Tag und die Finsternis Nacht. Da ward aus Abend und Morgen der erste Tag. Und so weiter. Es hatte Pata immer ein wenig irritiert, dass Gott das Licht vor der Sonne schuf, aber hey, YOLO.) Er selbst hörte einfach mit interessierter Miene zu: so zu tun, als wäre einem etwas wichtig, das den Leuten wichtig war, die einem ein Dach über dem Kopf gaben, war wohl irgendwie das mindeste. Und falls es einen Gott gab, würde er ihm hoffentlich vergeben, dass er dem ganzen Unsinn überhaupt nichts abgewinnen konnte. Terumi auf jeden Fall hatte sich dann vor dem Erscheinen der ersten Gäste unauffällig verzogen und wart seitdem nicht mehr gesehen. Pata hatte es ausgehalten, sowohl das feierliche Abenessen als auch das ganze familiäre Tralala. Es war ja eigentlich ganz nett – so lange es nicht zu häufig passierte. Als die letzten Besucher sich verabschiedet hatten und seine Tante und sein Onkel zu Bett gegangen waren, war er wach geblieben und hatte ein wenig Kawabatas Koto gelesen. Das war ihm lieber als alle Religionen zusammen. Um kurz vor sechs hörte er die Wohnungstür. Um kurz nach sechs schließlich zog er seinen dicksten Pullover über, wärmte in der Küche eine Flasche Sake an und schlüpfte in seine Schuhe. Er ging die Treppe nach unten, durch das kleine Lager und trat nach draußen auf den winzigen Hinterhof. Seit neustem stand ein Aschenbecher auf einer umgedrehten Holzkiste. Und, gerade wesentlich interessanter: Eine Leiter lehnte am Haus. Hatte er es sich doch gedacht. Den Sake in einer Hand balancierend, kletterte er langsam Sprosse für Sprosse nach oben, bis er über den Rand sehen konnte. Vorsichtig zog er sich die letzten Zentimeter aufs Dach. Raureif überzog die Ziegel und schmolz unter seinen Fingern. Es war rutschig und er nahm sich Zeit. Hektik endete in manchen Situationen nur mit einem gebrochenen Genick. Das hier war eine davon. Ganz oben, wo sich Ost- und Westseite des Dachs trafen, fand er Terumi. Wortlos setzte er sich neben sie auf den Dachfirst. Die Stille, welche sie umgab, war mit einem Mal perfekt. Kein Auto fuhr, niemand war unterwegs. Die ganze Welt schien zu schlafen. Zu warten. Pata bewegte die Zehen in den Schuhen. Die Luft war eisig und ihrer beider Atem hinterließ kleine Wölkchen. Es war nicht in der Mitte der Nacht am kältesten, dachte er, sondern am frühen Morgen. So wie jetzt. Er legte den Kopf in den Nacken. Der Himmel war wolkenlos - der letzte Rest einer klaren, klirren kalten Nacht. Dann wandte er den Blick zurück nach Osten. Lila. Rosa. Orange. Gold. Langsam, sehr langsam schob sich die Sonne über den Horizont. Das erste Licht des neuen Jahres vertrieb die Nacht, küsste Dächer und Straßen und erreichte schließlich die beiden Geschwister an ihrem geheimen Treffpunkt. Sie sollten vermutlich hier runter sein, dachte Pata, bevor die Nachbarn aufwachten und aus dem Fenster sahen. Doch er dachte es nur halbherzig - eigentlich war es ihm egal. Er drehte sich zur Seite und schenkte seiner Schwester ein. Sie schenkte ihm ein. „And on the 8th day“, sagte Terumi und hob den Sake. Pata musste lächeln. Er klinkte seine Schale gegen ihre. And on the 8th day… “God created Rock and Roll.” Kapitel 10: Alma Mater ---------------------- Am zweiten Feiertag saß hide mit einem Stapel Bücher im Wohnzimmer und beschäftigte sich mit dem Prinzip von Le Chatelier, als Patas Onkel den Kopf noch einmal zur Tür hereinsteckte. Er war gerade dabei, sich seine Krawatte zu binden. An jedem anderen Tag erinnerte er hide an ein Faultier. Heute erinnerte er ihn an einen Maulwurf. Einen Maulwurf mit Krawatte. „Alles klar?“, fragte er. hide nickte. „Danke, dass ich das Wohnzimmer belegen darf.“ Es war wärmer und heller hier, und das kam sowohl seiner Laune als auch seinem Fortschritt sicher zugute. „Natürlich“, sagte der Onkel. „Also dann, bis heute Nachmittag.“ Er klopfte zur Verabschiedung zweimal an den Türrahmen. Ein paar Sekunden später rief auch die Tante noch ein Wort des Abschieds und dann einen Hinweis an Tomoaki, dass sie schon mal runter zum Wagen gingen. Gerade hatte hide sich wieder in das Buch vergraben, als er Patas Stimme auf dem Gang hörte. Kurz dachte er, der andere Junge spräche mit ihm, doch relativ schnell wurde klar, dass dem nicht so war. Er versuchte also, nicht hinzuhören. Es klappte nicht. „Teru“, sagte Pata etwas lauter als nötig, so als wolle er sicherstellen, dass sie seine Worte auf jeden Fall hörte. „Wir gehen jetzt. Letzte Chance.“ Nichts passierte. „Sie würde dich sicher gern sehen.“ Nichts. hide konnte sich vorstellen, wie Pata an dieser Stelle lautlos seufzte. „Ok.“ Noch drei Sekunden blieb er vor der Tür stehen, dann wandte er sich ab und kam einmal über den Flur in die Küche. hide schaute noch angestrengter in sein Buch und erst davon auf, als er fließendes Wasser hörte. Tomoaki füllte ein Glas mit Leitungswasser. Auch er trug seine guten Klamotten. „Schick“, sagte hide. Pata verzog zur Antwort das Gesicht, trank und stellte das benutzte Glas in die Spüle. „Bis dann“, sagte er. hide winkte zur Antwort. Das hatte er von Masami gelernt und es funktionierte im Zweifelsfall in so gut wie jeder Lebenslage. Dann vertiefte er sich wieder in die Chemie. Man hatte ihm nicht angeboten mitzukommen und er hatte deswegen seinerseits nicht gefragt, wo es hinging. Neugierde war keine Tugend eines Gasts – und eines Freunds nebenbei wohl auch nicht. Als die Wohnungstür zugefallen war und die Schritte auf der Treppe verschwunden waren, lauschte er noch ein paar Sekunden in die Wohnung, ob Terumi auch noch hereinschneien wollte, doch nichts war zu hören. Also hatte er jetzt wohl seine Ruhe. Er las einen Absatz und dann noch einen und dann erwischte er sich dabei, dass er nicht aufpasste. Also ließ er das Buch sinken und nahm nachdenklichen Blickkontakt mit den Mandarinen in der Obstschale auf. Es ging ihn wirklich nichts an, doch einige Sekunden erlaubte er seinen Gedanken, auf Wanderschaft zu gehen. Wer sie wohl war? -X- Eineinhalb Stunden später wandte Tomoaki sich an seinen Onkel. Ein paar Meter hinter ihnen hantierte seine Tante noch mit ihrer Handtasche und einer großen Box Pralinen, doch sie beide standen schon vor der massiv wirkenden Tür. „Könnte ich ein paar Minuten allein mit ihr bekommen?“ Der ältere Mann nickte. Einen Moment lang betrachtete er seinen Neffen mit einem etwas merkwürdigen Gesichtsausdruck, irgendwo zwischen anteilnehmend und hilflos. Es war schwer auszuhalten. Seine Hand machte eine Bewegung, als wolle er sie auf seine Schulter legen, doch er besann sich eines Besseren und ließ sie auf halbem Weg wieder sinken. Tomoaki war dankbar dafür. Nichts brauchte er gerade weniger als eine trostspendende Hand. Er nickte also zurück und schlüpfte durch die Tür nach drinnen. Seine Mutter saß am äußersten Tisch in der dritten Reihe. Obwohl sie ihm den Rücken zugewandt hatte, erkannte er sie sofort: ihren schlanker Nacken, ihre breiten Schultern, ihre freche Kurzhaarfrisur. Ihre Haut war blasser als früher. Er setzte sich ihr gegenüber an den kleinen Holztisch. Die Falten um ihren Mund waren tiefer. Um sie herum im Raum saßen andere Menschen in kleinen Grüppchen zusammen, genau wie sie beide, und unterhielten sich leise. „Hallo“, sagte er, seine Stimme der allgemeinen Lautstärke anpassend. „Frohes neues Jahr.“ „Frohes neues Jahr“, grüßte sie zurück und schaute sich einmal über die Schulter und quer durch den Raum. „Ist Terumi hier?“ Tomoaki blinzelte einmal, atmete durch, schluckte die Enttäuschung darüber hinunter, dass ihre erste Frage wie immer nicht ihm galt und antwortete schließlich: „Nein. Sie lässt dich grüßen. Kazuo und Mina kommen noch.“ Die minimale Verspätung seiner Antwort konnte wohl auch damit erklärt werden, dass es schwer war, unangenehme Nachrichten zu überbringen. Seine Mutter nickte einmal, verstehend aber traurig. „Wie geht es ihr?“ „Unverändert.“ Ein kleines, unglückliches Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus. „Sie hasst mich immer noch, nicht wahr?“ Tomoaki wich ihrem Blick keine Sekunde aus, obwohl es schwer fiel. Kurz dachte er darüber nach zu lügen, doch das war nicht seine Art. Und wer hätte ihm geglaubt? Also nahm er sich selbst ein Stück weit aus der Konversation und antwortete neutral: „Ein wenig.“ Sie nickte noch einmal und senkte die Augen auf ihre Hände. Er folgte ihrem Blick. Es war merkwürdig – doch an den Händen konnte man am deutlichsten sehen, wie die Zeit verging. Gleichzeitig hoben sie die Augen wieder und sahen sich an. „Und wie geht es dir?“, fragte sie mit dem Versuch eines liebevollen Blicks. Na endlich. „Gut. Alles beim Alten.“ Sie legte den Kopf schief unterzog ihn einer genaueren Musterung. „Du wirst so schnell erwachsen… Lass dich nochmal anschauen.“ Er lehnte sich zurück, um ihr mehr Blickfeld zu geben. Wenn Mann die Möglichkeit hatte, ein paar Sekunden im Mittelpunkt zu stehen, nutzte Mann sie. „Gut siehst du aus. Dreh mal den Kopf.“ Tomoaki drehte den Kopf. Seine Mutter lächelte noch etwas breiter. „Hab ich doch richtig gesehen. Ein Zöpfchen. Wie lang sollen die denn werden?“ Tomoaki zuckte mit den Schultern und ließ die Hand, die er unbewusst zu seinen Haaren gehoben hatte, wieder sinken. „Bis es mich nervt oder Masami nicht mehr gefällt.“ „Ah, Masami… Schön, dass ihr noch zusammen seid. Wie geht es ihr?“ „Macht sich zu sehr verrückt wegen der Schule. Sonst auch gut. Ihre Familie verbringt die Feiertage bei ihren Großeltern im Norden. Skifahren und so. Tut ihr sicher mal gut.“ Täte ihm selbst nebenbei vermutlich auch mal gut… aber so sehr ging es hier dann doch nicht um ihn. „Mmh.“ Eine winzig kleine Stille breitete sich zwischen ihnen aus, in der sie sich einfach nur ansahen und in der zumindest Tomoaki versuchte, die richtige Emotion in sich zu finden. Es war schwierig. Man glaubte immer, die Gefühle für die wichtigsten Personen im eigenen Leben seien etwas Ewiges. Doch das stimmte nicht. Man entfernte sich. Man vergaß. Man wurde sich fremd. Mühsam versuchte er, wie schon die letzten Male, sich klar zu machen, dass das dort gegenüber die Frau war, die Nachtschichten in beschissenen Jobs für ihn geschoben, ihm Dino-Pflaster über aufgeschlagene Knie geklebt und in der Badewanne mit ihm Tsunami gespielt hatte, bis das Wasser überall gewesen war, nur nicht in der Wanne. Die Erinnerung erzeugte eine gewisse Wärme in seinem Brustraum, aber drohte auch, alles unter einer Welle von Traurigkeit zu begraben. Er betrachtete seine Mutter genauer, lauschte in die Stille. Sie war auch traurig. Und plötzlich, innerhalb eines Wimpernschlags, wurde ihm etwas klar – und es veränderte alles. Glücklich sein war eine einzige Emotion. Egal worüber man glücklich war, es war immer irgendwie ähnlich. Aber es gab viele verschiedene Arten von Traurigkeit. Hunderte. Tausende. Deswegen war es so viel einfacher, sich mit jemandem zu freuen, als jemanden aufzumuntern: Weil man letzteres niemals ganz verstehen konnte. Jeder war auf seine Art traurig. Und letztlich für sich allein. Diese Erkenntnis war erschütternd. Er wünschte noch, er hätte diesen Gedanken niemals gehabt, als sie weitersprach. Es konnte insgesamt nicht länger als ein paar Sekunden gedauert haben, doch er fühlte sich auf einmal anders, verändert in einer Tiefe, für die man sonst Jahre brauchte. „Du hast geschrieben, du wärst jetzt in einer Band?“ „Ja. Mit vier anderen Jungs. Sie sind alle ziemlich seltsam.“ Er riss sich zusammen und schenkte ihr ein Lächeln aus der Wärme heraus. „Du würdest sie mögen.“ Sie lächelte zurück. „Das glaube ich gerne. Was für Musik macht ihr?“ „Rock“, übernahm Tomoaki ohne darüber nachzudenken hides Beschreibung. „Lauten, westlichen Rock.“ Ihr Lächeln wurde noch ein Stück breiter. „Das klingt gut.“ „Ee. Ich bring dir mal was mit, wenn wir etwas aufgenommen haben. Es ist alles noch sehr am Anfang.“ Er räusperte sich und wechselte das Thema. „Wie geht es dir?“ „In Ordnung.“ Ihr fröhlicher Gesichtsausdruck schwankte nur für Sekundenbruchteile, doch Tomoaki sah es trotzdem. Also gab sie es auf. „Nur, immer besonders an den großen Festen, da denke ich ein wenig darüber nach, was ich verpasse. Immerhin… du wirst dreiundzwanzig sein, wenn wir wieder miteinander Neujahr feiern.“ Sie betrachtete ihn betrübt. „Die Vorstellung ist…“ Ein Kopfschütteln. „Es tut mir so leid.“ Tomoaki lehnte sich vor und legte die Hand auf ihre. Nicht, weil ihm danach war, sondern weil es das war, was man in dieser Situation tat. Er wusste nicht genau, wonach ihm war. Also ging er mechanisch die richtigen Bewegungen und die ebenso richtigen Worte durch. „Lass uns nicht wieder damit anfangen. Alles ist in Ordnung.“ Keine Lüge, eigentlich. Alles war in Ordnung. „Nicht wunderschön vielleicht“, gab er zu, „aber doch ganz… ja. In Ordnung eben.“ „Ein mittelschönes Leben“, sagte sie nachdenklich und schaute auf den Tisch, oder zumindest dachte er das. Dann sah er auch hin. Seine Hand war größer als die seiner Mutter und bedeckte sie vollständig. Einen Moment lang kam es ihm so vor, als läge in diesem Bild eine größere Wahrheit, doch er konnte sie nicht greifen. „Ein mittelschönes Leben ist nicht schlecht“, antwortete er also. Viele Leute hatten mittelschöne Leben. Und er war wohl einer von ihnen. „Mmh“, machte seine Mutter, auf eine seltsam bedrückte Art amüsiert. „Du klingst auch so furchtbar erwachsen…“ Tomoaki zuckte mit den Schultern. Vielleicht hätte er fragen können, ob es ihr lieber wäre, wenn er sich auf den Boden legte, mit den Fäusten trommelte und mit den Beinen strampelte, und sich lauthals über die Ungerechtigkeit der Welt beschwerte. Doch er tat es nicht. Eine der kleinen Entscheidungen, die ausmachten, wer man war. „Aaah, Kimikoooo!“, drang in diesem Moment eine etwas zu laute Frauenstimme zu ihnen herüber. Tomoakis Tante und Onkel schlängelten sich zwischen den Tischen durch. Erstere tippelte in ihren Sonntagsschühchen voran und schien bereit, die etwas jüngere Frau einmal kräftig mit Zuneigung zu überhäufen: damit, und mit Schokolade. Erst, nachdem das ausgiebig und zur Zufriedenheit der Tante passiert war, war der Onkel an der Reihe. Er verharrte einen Moment lang etwas befangen, dann schloss er seine Schwester in die Arme. Pata lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und atmete einmal tiefer durch. Ein paar Minuten vergingen so schnell in diesen Tagen… Auf der Rückfahrt starrte Pata schweigend aus dem Autofenster. Draußen flogen bewaldete Hänge vorbei. Besuche bei seiner Mutter waren wichtig, doch sie kosteten psychisch gesehen sehr viel Kraft und hinterließen ihn immer ein wenig ausgelaugt. Er wünschte, er könne zu seiner Freundin nach Hause gehen und seinen Kopf in ihren Schoß legen, bis es wieder besser war. Aber das konnte er nicht, also blieben ihm gerade nur er selbst, die Landschaft draußen und das Glas dazwischen. Sie hatten auf die Küstenstraße gewechselt. Zwischen den Bäumen spitzte jetzt immer wieder ein eisgraues Wintermeer hervor. Er stellte sich vor, weit draußen im Wasser auf einem Felsen zu stehen, wo ihm die eisige Gischt mit jeder hohen Welle ins Gesicht spritzte, während der Westwind an seinen Kleidern zerrte. Einen Moment lang hatte er ein komisches Gefühl in der Magengegend, eine seltsame wilde Sehnsucht, so als müsse er sofort die Autotür aufreißen und dann rennen, bis er einen Sturm gefunden hatte, in den er sich stellen und einfach mal schreien konnte. „Tomo?“, fragte seine Tante vom Beifahrersitz. „Mmh?“, machte er, nur langsam aus seinen Gedanken auftauchend. Nach ihrem Tonfall hatte sie ihn nicht zum ersten Mal angesprochen. „Wir haben uns gerade überlegt, dass wir ja noch etwas unternehmen könnten. Es ist eigentlich ja ein schöner Nachmittag. Hast du auf irgendetwas Bestimmtes Lust?“ Tomoaki wandte den Blick wieder nach draußen. Er war nicht dumm. Er durchschaute es. Sie versuchten ihn aufzumuntern, ohne es so offensichtlich zu machen, dass er sich schlecht fühlte. Dennoch schüttelte er den Kopf. „Nein. Ich denke, ich geh dann einfach noch ein bisschen spazieren.“ Nach einigen Sekunden hängte er an: „Aber wir könnten heute Abend Yokan machen. Dann haben Teru und hide auch was davon.“ „Ja“, stimmte seine Tante ein wenig zu fröhlich zu. „Das klingt gut. Das machen wir.“ Tomoaki wandte den Blick wieder nach draußen. Sie fuhren über eine Brücke, der Fluss unter ihnen tiefschwarz. Vielleicht, dachte er plötzlich, die Stimme seiner Mutter noch im Ohr, war es letztendlich das, was Erwachsenwerden ausmachte. Über eine Brücke gehen. Lange spielte man glücklich auf einer Seite des Ufers vor sich hin und eines Tages bemerkte man dann, dass es da eine Brücke gab und auf der anderen Seite, vielleicht, noch etwas anderes. Manche gingen die ersten Schritte dann aus Neugierde oder Abenteuerlust. Andere aber gingen, weil sie mussten: weil etwas Unvorhergesehenes die ihnen bekannte Seite des Ufers für immer vernichtete. Aber sie alle gingen letztlich. Und dieses Gehen veränderte einen. Zuerst, weil man auf das zurückgelassene Ufer zurückschaute und erkannte, wo man gespielt hatte. Auf einmal schaute man nicht von sich aus in die Welt, man schaute von der Welt aus auf sich. Das war der erste Teil des Erwachsenwerdens. Dann irgendwann, egal ob einem gefiel, was man dort erblickt hatte oder nicht, drehte man sich um und sah nach vorn und man begann, sich um die Zukunft zu sorgen, die dort lag. Das war der zweite Teil. Und der dritte Teil des Erwachsenwerdens, das war dann der, wo man trotzdem weiterging. Weil man erkannte, dass man gehen musste - ob man wollte oder nicht. Und dann blieb einem nichts anderes als die stete Bewegung in eine unbekannte Zukunft und die Hoffnung, dass es dort schön war. Manchmal war es das. Oft aber nicht. Und was so einfach klang, war in Wirklichkeit ein hochkomplexer Prozess: Manche Leute drehte sich nie zurück und kamen dann auf der anderen Seite an, ohne zu wissen, wer sie waren und warum. Diese Menschen waren dann verloren und unsicher. Dann gab es die, die zu lange zurückschauten, sich vielleicht zurücksehnten oder einfach nicht loslassen konnten, und dabei vergaßen, dass es eine Zukunft gab, um die man sich kümmern musste. Diese Leute wurden dann vermutlich depressiv oder lebensuntaugliche Träumer. Und schließlich gab es noch die, die einfach in der Mitte der Brücke stehen blieben und sich weigerten, weiter zu gehen – gefangen zwischen Angst vor der Zukunft und dem festen Griff der Vergangenheit. Was mit denen passierte… wusste er nicht. Doch früher oder später, dachte er kurz und nicht ohne einen Anflug von Bitterkeit, würde Terumi es ihm wohl vorleben. Doch er kämpfte die Empfindung nieder. Denn vielleicht ging auch jeder Mensch über seine ganz eigene Brücke: manche stabiler als andere, kürzer oder länger, über ruhige Wasser oder tiefe Schluchten. Ja. Erwachsenwerden war ein hochkomplexer Prozess. Kein Wunder, dass so viele Menschen einfach nur alterten. -X- Mit der ersten Schulwoche des neuen Jahres kehrte hides innere Unruhe in einem selten gekannten Ausmaß zurück. Dass im Datum jetzt eine andere Jahreszahl stand, machte ihm schmerzhaft bewusst, wie wenig Zeit er eigentlich hatte. Wenn er gekonnt hätte, er hätte ständig geraucht. So aber griff er geistesabwesend immer wieder in die Cracker-Tüte zu seiner linken, während er in die Bücher starrte. Zum Glück hatte er auch keine Zeit, darüber nachzudenken, was er da tat. Seine Nächte waren kurz und unruhig, und morgens suchte hide, der meist aussah wie eine Kreuzung zwischen Vampir und Albtraum, eigentlich nur nach einem: Kaffee. An einem dieser typischen Morgen saß er am Tisch, blickte tranig aus kleinen Äugelein in die Welt und überflog nebenbei einen Artikel auf der Titelseite der Zeitung, hinter der Patas Onkel abgetaucht war. „Sag mal“, sagte dieser schließlich über die Zeitung hinweg, während er umblätterte. „Mmh?“, machte hide einen wenig artikulierten Laut, bemühte sich aber, schneller wach zu werden. „Suchst du noch nach Arbeit?“ hide stellte den Kaffee ab und legte den Kopf schief. „Ja. Aber keine Sorge, ich hab noch… was zurückgelegt.“ So konnte man das beschreiben… wenn man euphemistisch sein wollte. Nicht, dass der ältere Mann noch auf die Idee kam, ihm ginge das Geld für den Mietzuschuss aus! Die Zeitung wurde noch ein Stück gesenkt und schließlich auf den Tisch gelegt. „Deswegen frage ich nicht.“ Durchschaut. „Nein, ein Bekannter hat die Straße runter ein Restaurant und seine Frau ist im siebten Monat. Das geht nicht mehr so und er braucht zumindest vorübergehend Hilfe. Du könntest mal vorbeischauen, wenn du Interesse hast.“ hide wachte auf. Entweder wirkten der Kaffee oder die Worte. „Wirklich?“ „Ja. Es ist nichts Grandioses. Bedienen, Abspülen, so was.“ „Optimal!“, rief hide und warf, mit einem Mal viel besser gelaunt, drei Stück Zucker in seinen Kaffee. Er wollte zwar gar nicht darüber nachdenken, was das mit seinen letzten verbleibenden Stunden Schlaf machen würde, doch zumindest müsste er nicht die nächsten Wochen von Reis mit Wasser leben. Das klang doch super. „Optimal“, wiederholte er und nahm einen Schluck Koffeinzuckerbrühe. Er konnte schlafen, wenn er tot war. -X- Taiji funkelte Yoshiki an. Yoshiki funkelte zurück. Und dachte: Wieso. Wieso passierte das nur immer? Taiji und er gingen sich schon den ganzen Nachmittag über wegen Kleinigkeiten an die Gurgel und das hier, das schlug dem Fass den Boden aus. Dabei hatte es noch ganz manierlich angefangen: Yoshiki hatte hide darauf hingewiesen, dass ihm ein Teil des Riffs nicht gefiel und er bitte aufhören sollte, an dieser Stell zu improvisieren. Dieser hatte genickt. Taiji allerdings war der Meinung gewesen, der Riff sei vollkommen in Ordnung so – vermutlich, so vermutete Yoshiki danach laut, weil er eine ziemlich elaborierte Bassline darunter gepackt hatte und jetzt unwillig war, sie zu verändern - und Yoshiki solle einfach den Arsch hochkriegen und was Gescheites dazu spielen. Auf die eben schon angedeutete Anschuldigung hin zuckte der Bassist dann mit den Schultern und erklärte ihm, Talent sei keine Schande und wenn Yoshiki welches hätte, würde er das merken, und überhaupt stünde es hier zwei gegen einen, wenn hide denn auch mal was sagen würde. Dieser hatte auf den Druck hin etwas kleinlaut eingeworfen, ihm sei es eigentlich Jacke wie Hose und er könne auch genauso gut was anderes spielen und erntete damit einen langen Seitenblick von Taiji. In jedem Fall aber weigerte sich Taiji in der Folge vehement, Gitarre und Bass dem Schlagzeug anzupassen, weil Yoshiki ja auch mal von seinem Thron runtersteigen und gute Ideen von dritter Seite annehmen könne. Yoshiki war es schnell zu blöd geworden: er hatte nur noch die Augen verdreht. Taiji hatte ihn daraufhin höflich darauf hingewiesen, dass er gar nicht versuchen müsse, sich in den Kopf zu gucken, denn da hinten fände er auch kein Hirn. Dann hatte Yoshiki ihn Asshat genannt und Taiji ihn Fuckface, und ja - damit waren sie auch schon in der Gegenwart angelangt. Sie funkelten sich weiterhin an. Yoshiki wünschte sich auf einmal, ein Instrument zu spielen, bei dem man stand – das hätte den Höhenunterschied zu Taiji verringert. Doch weil der Streit gleich nach dem Song ausgebrochen war, saß er noch, und er wollte dem anderen Jungen nicht die Genugtuung geben, ihm durch Aufstehen zu zeigen, dass er das Bedürfnis verspürte, körperliche Größe zur Einschüchterung zu nutzen wie ein Höhlenmensch. Er biss sich auf die Unterlippe, um dem Drang zu widerstehen. Erst jetzt fiel ihm auf, dass es im Raum so still war, dass man eine Stecknadel hätte fallen hören können. Langsam und ohne den Kopf zu drehen ließ er die Augen über den Rest der Band wandern. Toshi erwiderte seinen Blick eine Sekunde lang, bevor er mit dem leichten Anflug eines Kopfschüttelns wieder wegsah, sein Gesicht ausdruckslos. hide schaute so konzentriert auf seine Gitarre, dass es nur gespielt sein konnte, wohl in dem Versuch, über seine offensichtliche Betretenheit hinwegzutäuschen. Nur Pata erwiderte seinen Blick ohne zu zögern. Doch in seinem Gesicht las Yoshiki ein sehr deutliches ‘Schau mich nicht an. Euer Problem‘. Yoshikis Blick wanderte weiter zur Tür. Dann stand er auf und griff nach seiner Jacke. „Ich brauch frische Luft.“ Auf dem Dach des Komplexes war es angenehm still. Im Westen tauchte die Sonne hinter dem Horizont den Himmel bereits in ein tiefes, kühles Violett und langsam aber sicher senkte sich die Nacht über Tateyama. Yoshiki puhlte eine Zigarette aus der Packung, zündete sie an und nahm zwei Züge, bevor er sie von der Brüstung warf. Rauchen vertrug sich gerade nicht mit der Erkältung, die er seit Silvester mit sich herumschleifte, aber es gab keine bessere Übergangshandlung, wenn man sauer war. Man konnte sich in diesem Moment cool fühlen und unnahbar, wenn schon sonst nichts. Doch er fühlte sich nicht cool. Er fühlte sich wie die nicht mal halbgerauchte Zigarette unten auf dem Asphalt – ungewollt und stinkig. Er lehnte die Unterarme auf die Brüstung und ließ die kalte Brise seinen Kopf durchpusten. Angenehm. Unangenehm. Einzelne Schneeflocken fanden ihren Weg, landeten auf seinen Haaren, schmolzen auf seiner Haut. In der Stadt um ihn herum erloschen die Lichter in den Bürogebäuden und erhellten sich die Fenster der Wohnhäuser. Nach einiger Zeit, vielleicht einer Viertelstunde nach der Kälte seiner Nasenspitze zu schließen, hörte er hinter sich die Tür und dann Schritte. Er musste keinen Blick über die Schulter werfen, um zu wissen, wer da gerade herübergeschlendert kam. „Was willst du?“, fragte er, gerade laut genug, um gehört zu werden. „Weiß nicht.“ „Dann geh wieder!“ Taiji, der neben ihm angekommen war, steckte die Hände in die Taschen seiner coolen und für die Jahreszeit viel zu kalten Lederjacke. „Glaub nicht, dass ich hier sein will. hide meinte, wenn ich nicht mit dir rede, beißt er mir in den Knöchel.“ Yoshiki schnaubte. „Eine ernstzunehmende Drohung.“ „Naah, ich weiß nicht. Er hat ziemlich viele kleine Zähnchen.“ Der Bassist stützte sich mit einer Armlänge Abstand neben ihm auf die Brüstung. Einige Minuten lang schauten sie schweigend auf die Stadt vor ihnen. Es war kein unangenehmes Schweigen per se, doch es wog mindestens drei Tonnen. Schließlich fingerte Taiji seine Zigaretten aus der hinteren Jeanstasche und hantierte eine Weile mit dem Feuerzeug. Der Wind hatte aufgefrischt und blies die kleine Flamme immer wieder aus. Schließlich seufzte Yoshiki tief. „Ich bin mir nicht sicher, dass das hier funktioniert.“ Taiji hatte es geschafft, sich eine anzuzünden und packte die Schachtel wieder weg, ohne Yoshiki anzusehen. „Was, uns reden? Ja, ist mir aufgefallen.“ Er nahm einen Zug. „Nein“, sagte Yoshiki. „Du in meiner Band.“ Das brachte ihm die Aufmerksamkeit, die ihm seiner Meinung nach zustand. Taiji sah ihn über seine Zigarette hinweg an. „Deine Band?“ „Ja. Meine Band.“ „Es ist auch meine Band.“ „Nicht, wenn du nicht dabei bist.“ Taiji drehte sich, immer noch auf die Brüstung gelehnt, in seine Richtung. „Versuchst du hier gerade, mich rauszuwerfen?“ Yoshiki seufzte noch einmal und schaute wieder weg, drehte das Gesicht in den Westwind. „Ich weiß es nicht.“ Der Bassist klappte den Mund zu etwas auf, das vermutlich eine hässliche Tirade hätte werden sollen. Dann schien er zu erkennen, dass er so nicht weiter kam – schon mehr Einsichtsvermögen, als Yoshiki ihm in schlechteren Zeiten zugetraut hätte. Und es war gerade eine schlechte Zeit. Einige Augenblicke lang passierte nichts. Schließlich sagte Taiji beherrscht: „Ok. Gut. Lass uns drüber reden wie erwachsene Menschen. Warum glaubst du, dass es nicht funktioniert?“ Yoshiki stieß sich von der Brüstung ab und drehte sich wieder zu ihm. „Na, schau uns doch mal an! Wir streiten die ganze Zeit und es zieht alle runter!“ „Das nennt man Männerfreundschaft!“ „Nein, das nennt man ‘Taiji ist ein Riesenarsch‘!“ „Bloß, weil du so ein Sensibelchen bist, dem man alles –“ „Ah!“, fuhr ihm Yoshiki entschieden dazwischen. „Hier geht es nicht um mich! Hier geht es um dich! Immer, wenn ich einen Fehler mache, dann behandelst du mich, als wäre ich der größte Loser auf diesem Planeten! Warum machst du das?!“ Taiji hob die Hände, als müsse er hier einem Imbezilen das Einmaleins erklären. „Weil ich groß rauskommen will, Mann! Da ist kein Platz für Fehler!“ „Das will ich auch! Aber siehst du mich deswegen Toshi angiften? Nein! Und hide und Pata machen auch Fehler, falls du es nicht bemerkt hast! Warum also bin es immer nur ich, der nicht gut genug ist, hmm?“ Taiji sah ihn noch ein paar Sekunden lang an, dann schüttelte er den Kopf und wandte den Blick ab, und sagte nichts. Aber so einfach würde Yoshiki ihm das hier nicht machen. Er hatte einen Schritt in Taijis Richtung gemacht und den Bassisten vorn an der Jacke gepackt, bevor dieser auch nur seine Zigarette hätte fallen lassen können. Die rechte Hand hatte er zur Faust geballt, mit dem Daumen außen und nicht innen. Es war ernst. Er bekam jetzt besser eine Antwort, oder er übernahm keine Verantwortung für die Konsequenzen! „Warum?!“ Langsam drehte Taiji den Kopf wieder in seine Richtung und ihre Blicke trafen sich. Die tiefen Schatten des nahenden Abends und das letzte Licht einer kalten Wintersonne machten es noch schwerer als sonst, etwas in seinem Gesicht zu lesen. Gerade konnte Yoshiki eigentlich bloß sagen, dass ihn dieser Ausdruck wahnsinnig machte. Er spannte die Unterarmmuskulatur an und ballte seine Faust unwillkürlich noch etwas fester. Hoffentlich hatte Taiji einen guten Zahnarzt und eine private Zusatzversicherung! Der Bassist legte die linke Hand auf seine und Yoshiki griff fester zu, in der Erwartung, Taiji würde versuchen, seine Finger von der Echtlederjacke zu lösen und sich loszureißen. Doch nichts in dieser Richtung passierte. Und auf einmal tat Taiji das Letzte, womit Yoshiki gerechnet hätte: er lehnte sich nach vorn. Ein unendlicher Augenblick verging, wie in Zeitlupe. Und dann, plötzlich, spürte Yoshiki Lippen auf seinen. Erstaunlich weiche Lippen, war Yoshikis erster Gedanke, ziemlich genau gleichzeitig mit Oh. Mein. Gott. Unvermittelt (und absolut bescheuert, wie er später oft denken würde) schoss ihm die konfuse Überlegung durch den Kopf, wie es sich für Taiji wohl anfühlte. Dann folgten weitere Sinneseindrücke. Taiji schmeckte nach Rauch. Er hatte die Augen geschlossen und dass er das wusste sagte Yoshiki, dass er selbst noch perplex vor sich hinstarren musste. Als er mit dieser Feststellung durch war, hatte sein Hirn wieder zu den Ereignissen aufgeschlossen. Der Teil von Yoshikis Kopf, der fürs Denken zuständig war, lief jetzt heiß. Was passierte hier? Warum passierte es? Warum passierte es mit Taiji? Warum passierte es immer noch? Was bedeutete das? Was, wenn das jemand sah? Und was sollte er jetzt machen? Diese und noch viele ähnliche Fragen mehr schossen ihm durch den Kopf, unterlegt von einem konstanten Rhythmus aus: Oh mein Gott. Oh mein Gott. Ach du Scheiße. Der Teil seines Kopfs allerdings, der für Bewegung zuständig war, machte gerade Mittag und reagierte nicht. Und so blieb er stehen, völlig erstarrt, bis Taiji die Lippen von seinen löste und sich einmal über den Mund wischte. Vermutlich hätte er auch noch einen Schritt zurück gemacht, doch Yoshikis Finger waren immer noch in die Vorderseite seiner Lederjacke gekrallt und schienen jetzt versteinerter als jemals zuvor. Also blieb er stehen, so nah, dass die Wölkchen ihres Atems sich zwischen ihnen vermischten. Sie sahen einander an. Der erste Körperteil, der Yoshiki wieder gehorchte, waren seine Augenbrauen. Sie wanderten langsam immer näher zusammen, bis sich in der Mitte zwischen ihnen eine leichte Falte bildete. Noch ein Gesichtszug, bei dem er aufpassen musste, dass er nicht irgendwann blieb. „Das versteh ich jetzt nicht“, sagte er schließlich. Sein Hals war trocken und er musste sich räuspern. „Ich auch nicht. Ich glaub, ich wollte einfach, dass du die Klappe hältst.“ Taiji drehte sich so gut er konnte zur Seite und schnippte die Kippe vom Dach, bevor sie ihm die Finger versengte. Yoshiki klappte den Mund auf und dann, mit äußerster Willenskraft, wieder zu. Nein. Wenn er Taiji jetzt zur Sau machte, endete das hier wie jede andere Konversation. Er würde es aussitzen. Die meisten Menschen redeten, wenn die Stille nur lang genug wurde. Stückchenweise löste er seine Finger von dem kühlen Leder und als er die Hand schließlich sinken ließ, wandte Taiji sich ab und entfernte sich einige Schritte. Von dort aus schaute er wieder auf die Stadt und dann in den Himmel und trat schließlich ein paar Mal lustlos gegen den unteren Teil der Mauer. Yoshiki knetete in der Zeit seine eiskalten und steifen Fingerglieder und wartete ab. Selbst aus der Entfernung konnte er sehen, dass Taiji die Zähne zusammenbiss. Die Minuten zogen sich in die Länge wie Wochen und Monate, während es um sie herum nun schnell dunkler wurde. Der Wind blies ihm kalt in den Nacken. Yoshiki wünschte sich seinen Schal. Taiji hörte auf, seinen Fuß in die Wand zu bohren, gerade als sich unten auf dem Parkplatz die Beleuchtung anschaltete. Mit einem tiefen Atemzug wandte er sich wieder in Richtung des Schlagzeugers. Vor ihm angekommen stützte er sich mit einer Hand auf der Brüstung ab und sah Yoshiki nicht an, als er sagte: „Hör zu. Ich weiß nicht, ob du das bemerkt hast, aber: die anderen sind liebenswerte, vertrauensvolle Menschen. Sie zeigen das nicht alle auf diese… hündische Art, wie dein Toshi das macht, aber sie glauben an dich. An die Zukunft, die du dir da vorstellst. Aber ich bin keiner von diesen Idioten. Ich hab meine eigene Zukunft.“ Yoshiki starrte ihn an, bis auf seine Augenlider regungslos. Er wusste nicht, worauf Taiji rauswollte. Neben ihm hatte Taiji jetzt angefangen zu lächeln. Es war kein sonderlich schönes Lächeln, denn es lag nicht die geringste Freude darin. Er nickte auf die Straßen hinunter. „Schau sie dir an. Morgens zur Arbeit, abends zurück. Winzig kleine Leute in winzig kleinen Containern mit winzig kleinen Leben. Jeden Tag dasselbe…“ Er drehte den Kopf und sah Yoshiki das erste Mal, seit er zu reden begonnen hatte, in die Augen. „Ich werde eines Tages sterben, Yoshiki. Und das will ich nicht als Niemand tun.“ Yoshiki schluckte einmal. Diese Wendung hatte er nicht erwartet. Er war in das Gespräch eingestiegen mit der Erwartung, Taiji die Fresse polieren zu können und dann zu schauen, ob das seinem Gemütszustand half oder nicht. Aber darauf, hierauf war er nicht vorbereitet. „In Ordnung“, sagte er schließlich, als berühre ihn das emotional alles gar nicht. „Das beantwortet aber immer noch nicht die Grundfrage.“ Er war nicht bereit, das auf sich beruhen zu lassen. Taiji runzelte die Stirn. „Und die war…?“ Yoshiki verschränkte unbewusst die Arme – gegen die Kälte. Und gegen die Antwort. „Die Frage war: Warum bist du immer so scheiße zu mir. Nur zu mir.“ Noch einmal schaute der Bassist zur Seite und gab Yoshiki damit einen guten Ausblick auf eine angespannte Kiefernmuskulatur. Anscheinend knirschte er mit den Zähnen, immer wenn er wirklich nachdachte. Gut zu wissen. „Da ist irgendwas an dir“, begann Taiji schließlich, „das ist faszinierend. Wenn auch nicht unbedingt auf eine gute Weise. Du musst das wissen, weil sonst könntest du nicht so überzeugt von dir als Hauptfigur in deinem eigenen Drama sein.“ Yoshiki löste die Verschränkung seiner Arme und setzte zu vehementem Widerspruch an. „Ich bin nicht –“, begann er. Taiji legte ihm unsanft die Hand über den Mund. „Ich rede noch“, sagte er ruhig, aber bestimmt. Yoshiki dachte darüber nach, ihm in die Finger zu beißen, bis Blut spritzte. Doch wenn er Taiji nicht in den nächsten Minuten rauswarf, und irgendwie zeichnete sich diese Zukunft gerade nicht ab, brauchte er diese Finger noch. Scheiße aber auch. Er nickte minimal, zum Zeichen, dass die Nachricht angekommen und er soweit einverstanden war, doch Taiji ließ seine Finger genau, wo sie waren. Und nach wenigen weiteren Worten wusste Yoshiki auch, wieso. „Ich persönlich halte dich für eine anstrengende, verwöhnte, ichbezogene Dramaqueen mit einem Papakomplex. Aber“, sagte er und an dieser Stelle nahm er seine Hand aus Yoshikis Gesicht, wohl darauf vertrauend, dass dieser den Rest des Satzes würde hören wollen. Er hatte Recht. Yoshiki hatte die Rechte zwar wieder zur Faust geballt, wartete aber ab. „Aber“, sagte Taiji also, „du ziehst die Leute irgendwie an. Sie glauben dir. An dich. Wenn du gehst, wirst du immer jemanden finden, der folgt. Ich weiß nicht genau, was es ist. Warum.“ Er hatte ein paar Vermutungen, doch die gingen den Schlagzeuger gerade nichts an. „Also, ich brauch dich nicht. Aber sie tun es. Wenn ich also will, dass das hier klappt, dann funktioniert das nur durch dich.“ Yoshiki sagte nichts. Doch Taiji war ohnehin noch nicht fertig. Große Bassistenhände legten sich an seine Oberarme, links und rechts, genau über den leicht hervorstehenden Teil des Oberarmknochens. „Du darfst hier nicht scheitern.“ Seine Stimme war fest und eindringlich und seine Augen bohrten sich in Yoshikis, als versuche er irgendeine uralte Zauberei, die ihm diese Weisung in die Hirnrückwand einbrennen sollte. Stille senkte sich über sie, perfekt bis auf den Wind, das leise Knistern der Schneeflocken und ein fernes Auto unten auf der Hauptstraße. Keiner von ihnen rührte auch nur einen Muskel und niemand sagte ein Wort. Einen Herzschlag lang, dann noch einen und schließlich noch drei. Dann hatte Yoshiki in dem Wirbel, den Taijis Worte in seinem Kopf ausgelöst hatte, die Frage gefunden, die er hier stellen wollte. „Willst du für mich, dass ich nicht scheitere, oder willst du es für dich?“ Taiji zog die Augenbrauen zusammen. „Das macht doch überhaupt keinen Unterschied.“ Immer noch hielt er Yoshikis Oberarme fest. „Ich denke doch.“ „Naah“, machte Taiji. „Nicht, wenn wir zusammen nicht scheitern.“ Sie sahen einander an. „Warum hast du mich geküsst?“, fragte Yoshiki. Taiji reagierte ohne zu zögern mit einer Gegenfrage. „Warum hast du mich gelassen?“ Yoshiki blinzelte einmal und öffnete den Mund, hatte allerdings keine Antwort und imitierte deswegen nur für einige Augenblicke einen nach Luft schnappenden Goldfisch. Taiji zog den linken Mundwinkel zu einem schiefen Grinsen hoch. Schach und Matt. Hinter ihnen öffnete sich die schwere Stahltür mit einem Quietschen. Schneller, als Goldfisch-Yoshiki hätte reagieren können, machte Taiji einen halben Schritt zurück und brachte damit wieder einen normalen Abstand zwischen sie. Seine Hände verschwanden von Yoshikis Schultern. Dieser fröstelte. „Ihr seid jetzt schon ziemlich lang hier oben“, rief hide vom windgeschützten Treppenaufgang aus. „Ist alles in Ordnung?“ „Ja. Noch fünf Minuten!“, rief Yoshiki, als ihm seine Zunge einige Sekunden zu spät wieder gehorchte zurück. „K!“ Die Tür fiel wieder zu. Taiji runzelte die Stirn. „Ich empfinde das Gespräch als beendet. Was willst du machen?“ Yoshiki zuckte mit den Schultern und zog noch einmal seine eigenen Zigaretten aus der Tasche, diesmal mit der Intention, eine komplett zu rauchen. Scheiß auf Husten. „Winzig kleine Leute beobachten. In ihren winzig kleinen Leben.“ Er wandte sich wieder Tateyama zu, kaum noch mehr als eine beliebige Ansammlung von erhellten Straßen und Fenstern in der Nacht. Taiji sagte nichts. Aber er ging auch nicht. -X- „Ok“, sagte Toshi, „noch einmal: In welchem Jahr schloss Japan den Nichtangriffspakt mit der UdSSR?“ „Ähm…“, machte Yoshiki, „Neunzehn… Neunzehn… ein ... und… dreißig?“ Toshi ließ das Buch auf den Tisch sinken und stöhnte. „Yoshiki! Mandschukuo existierte nur von zweiunddreißig bis fünfundvierzig!“ Es war Ende Februar. Sie saßen in Yoshikis Zimmer am Schreibtisch und lernten Geschichte. Oder zumindest so in der Art. Yoshiki blinzelte zweimal. „Und?“, fragte er dann. Toshi stützte den Arm neben dem Geschichtsbuch auf den Tisch und seufzte tief. „Du hast keine Ahnung, worum es im Nichtangriffspakt ging, oder?“ „Ich nehme mal an darum, sich nicht anzugreifen.“ „Gut gefolgert, Sherlock“, murmelte Toshi trocken. Er seufzte und blätterte nach hinten. „Ok, versuchen wir mal Nachkriegszeit, vielleicht bist du da besser… bis wann war Japan von den Alliierten besetzt?“ „Neunzehnzweiundfünfzig“, antwortete Yoshiki. Allgemeinwissen. Gut soweit. Sonst hätte Toshi an dieser Stelle bereits das Handtuch geworfen. „Und wann kam es zu einer Normalisierung der Beziehungen mit Südkorea?“ „Neunzehn… äh… puh. Später.“ Und da ging er hin, der lichte Moment. Toshi hob den Blick und sah ihn schweigend und zutiefst vorwurfsvoll an. „... ‘tschuldigung!“, rief Yoshiki nach einigen Sekunden entnervt und hob die Hände, als wolle er Toshi Weintrauben verkaufen. „Dieses ganze Zeug ist uninteressanter für mich als die Luft vor meinem Gesicht!“ Ein paar Sekunden lang tat sein Freund nichts, als eine Schnute zu ziehen und bedächtig vor sich hinzunicken. „Dir ist klar“, sagte er dann langsam, „dass du in weniger als zehn Tagen die wichtigste Prüfung deines Lebens schreiben und vermutlich grandios versagen wirst, ja?“ „Und dir ist klar“, sagte Yoshiki schnippisch, „dass mir das nicht egaler sein könnte?“ Toshi lehnte sich zurück und legte beide Handflächen flach auf den Tisch. Vielleicht um sich auch mental abzustützen, vielleicht um deutlich zu machen, wie wenig Aufwand es für ihn war, jetzt aufzustehen und zu gehen. Er wusste zwar, dass dieser Tonfall Yoshikis Art war, mit Versagensängsten umzugehen, doch gerade war er nicht bereit, es zu übergehen. „Wenn dir das so egal ist, warum hast du mich dann um Hilfe gebeten? Ich hätte selber genug zu tun! Stattdessen sitze ich hier und versuche, einem großen Baby zu helfen, das die ganze Zeit bloß rum mault!“, schimpfte Toshi also. Yoshiki kannte ihn lange genug, um zu erkennen, wann er wirklich angepisst war. Und Toshi war gerade wirklich angepisst. Sein Gegenüber seufzte tief. „Tut mir leid.“ Toshi schnaubte. „Nein, wirklich. Ich… ich will das nicht lernen, das stimmt. Aber ich kann auch nicht… also ich hab durchgerechnet, wie viel ich können muss, um zu bestehen. Und das ist nicht ganz einfach. Ich… brauch Hilfe. Und ich geb mir Mühe, es zu versuchen, wirklich. Es ist bloß… Blääärgh. Sorry. Du… musst das nicht machen. Ich kann’s auch allein. Irgendwie.“ Er ließ die Schultern hängen und sank ein wenig in sich zusammen. „Gnaaah!“, machte Toshi resigniert. Yoshiki war ein Arsch manchmal, aber gleichzeitig tat er einem auch immer irgendwie leid. Das war einer der Umstände, die es so schwer machten, Nein zu ihm zu sagen. Er seufzte und schob Yoshiki das Buch mit Nachdruck in die Hand. „Seite hundertsiebenundachtzig. Nachkriegszeit. Lies, Motherfucker, lies!“ In diesem Moment ging die Schiebetür auf. Yoshikis Mutter trat ein, mit Tee und Keksen auf einem kleinen Tablett. Toshi lief rot an. „… Entschuldigung“, sagte er peinlich berührt und räusperte sich. „Ist schon gut“, sagte sie nachsichtig, stellte Tee und Gebäck auf dem Tisch ab und verschwand wieder nach draußen auf den Gang. „In dieser Situation halte ich das für angebracht.“ -X- Wie vorhergesagt, war das Leben im Allgemeinen noch viel stressiger geworden. hide wusste eigentlich gar nicht, wie er das machte: zwischen Schule, lernen, arbeiten und der Bandprobe dreimal die Woche blieb ihm eigentlich eine negative Stundenzahl für schlafen, essen und duschen. Doch vielleicht war das Universum endlich einmal auf seiner Seite und half nach, indem es unauffällig an jeden Tag ein, zwei Stunden anhängte. Doch der Stress hatte auch Vorteile. Wer keine Zeit hatte, konnte nicht grübeln und wer nicht grübelte, so hatte er gemerkt, konnte auch nicht durchhängen. Außerdem konnte wer keine Zeit hatte auch nicht die ganze Zeit nebenher Süßigkeiten fressen – oder an manchen Tagen überhaupt irgendetwas. Es war fast Abendessenszeit und sein Magen rumorte vor sich hin, doch noch quälte hide sich durch das letzte Stückchen Infinitesimalrechnung. Der Kalender in der Küche sprach eine sehr deutliche Sprache: er hatte keine Sekunde zu verlieren. Nächste Woche um diese Zeit war alles vorbei, so oder so. hide schluckte. Sobald er daran dachte, wurde ihm schon übel. Er zwang sich zurück zu den Aufgaben. Wenige Minuten später klopfte es. „Ja", sagte hide langsam, in Gedanken noch bei seinem letzten Rechenschritt und wandte sich um. Die Tür öffnete sich zur Hälfte. Pata. „Päckchen für dich“, sagte er, trat zwei Schritte in den Raum und reichte ihm einen kleinen Karton. „Danke“, sagte hide, ehrlich überrascht, und streckte die Hände aus. Pata nickte und verließ ihn wieder. Der zurückbleibende Gitarrist legte seinen Stift zur Seite und suchte stattdessen nach der Schere. Er musste nicht auf den Absender schauen – es gab nur eine Person außer Yoshiki, Toshi, Pata und Taiji, die wusste, dass er hier war und nur eine Person, die ihn nicht regelmäßig genug traf, um eventuell die Notwendigkeit zu sehen, ihm Post zu schicken. Er riss den Karton auf. Darin lagen Kit Kat, ein kleiner Talisman und ein eng beschriebenes Blatt Papier. Er legte den Talisman und die Schokolade auf den Schreibtisch und entfaltete den Brief. -X- hide kaute abwechselnd an seinem Stift und seinen Fingernägeln und setzte hin und wieder ein Kreuzchen. Er schaute nicht links und nicht rechts und befolgte eisern die Regel, die ihm Yamamoto-san noch eingebläut hatte: Beantworten, was er beantworten konnte, keine Zeit an Aufgaben verschwenden, über die er nachdenken musste, wenn am Ende noch Zeit übrig war zurückgehen und nachdenken, und in den letzten fünf Minuten einfach überall b) ankreuzen. Statistisch gesehen hatte man dann immer noch fünfundzwanzig Prozent richtige Antworten. Ihm war immer noch schlecht und er hatte das Gefühl, dass der Raum etwas zu eng war. Doch es war besser geworden, als er gemerkt hatte, dass er tatsächlich Fragen beantworten konnte. Nicht alle, aber mehr, als er gedacht hätte. Das beruhigte ihn ein wenig. Ein Blick auf die Uhr. Er konnte das schaffen. Ja, das konnte er. -X- Toshi sah auf die Uhr. Noch zwanzig Minuten. Es war die allerletzte Prüfung und er kam gut durch. Drei Reihen vor ihm hatte Yoshiki bereits vor einer halben Stunde die Arme auf dem Tisch verschränkt und den Kopf darauf abgelegt und schien zu dösen. Unwillkürlich schüttelte Toshi den Kopf, doch hielt sich davon ab, weiter darüber sinnieren zu wollen, was in Yoshiki wohl vorging. Das waren jetzt mal ein paar Stunden, in denen er sich selbst den Vorzug geben musste. Der Minutenzeiger wanderte mit einem leisen Ticken weiter. Neunzehn Minuten. Er konzentriert sich wieder auf die Aufgaben. Man brauchte zum Singen keinen guten Abschluss. Und trotzdem war er nervös. Es war einfach schwer, sich so komplett von allem zu lösen, was einem von klein auf eingebläut worden war: dass das Ziel eines jeden Teenagerlebens sein musste, hier und heute möglichst viele Punkte zu sammeln. Toshi setzte zwei Kreuze und warf einen Blick nach links und noch einen nach rechts. Yoshiki war der einzige, den er sehen konnte ohne sich umzudrehen, der nicht mehr schrieb. Und das obwohl das Mädchen links von ihm schon seit geraumer Zeit zu verzweifeln schien. Noch einmal schüttelte Toshi den Kopf. Konzentration. a). b). b). c). a). b). d). Und fertig. Blick auf die Uhr. Noch acht Minuten. Blick zurück aufs Blatt. Das war es. Das war es? Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. School's out forever, dachte er unwillkürlich und musste ein bisschen grinsen. -X- Eine Woche später saßen Yoshiki, Toshi, Pata und hide im Proberaum zusammen. Toshi, der heute beim Losen verloren hatte, packte gerade Bentoboxen aus der Plastiktüte und verteilte sie reihum. Taiji war zu spät, doch es überrascht Yoshiki gar nicht, dass die Tür in dem Moment aufging, in dem er die Stäbchen zur Hand nahm. Taiji hatte es einfach raus, immer unpassend zu sein… unangebracht… taktlos… welches Wort auch immer man bevorzugen wollte. Doch falls Taiji den Blick bemerkte, den Yoshiki ihm zuwarf, ignorierte er ihn gewohnt gekonnt. „Ende Mai!“, verkündete der Bassist euphorisch und blickte erwartungsvoll in die Runde. „Äh… Anfang September“, nuschelte hide. Er hatte bereits ein großes Stück Omelette im Mund. Taiji schaute ihn verwirrt an. hide schaute unschlüssig zurück. „Ich versteh das Spiel noch nicht“, gab er schließlich zu. Taiji verdrehte die Augen und hätte hide vermutlich eine Kopfnuss verpasst, wenn er sich in erreichbarer Nähe befunden hätte. „Kein Spiel, Idiot. Ende Mai. Auftritt. Da wir jetzt eine Dreiviertelstunde vollkriegen, hab ich nochmal mit meinem Bekannten in Yokohama telefoniert. Er meinte, für ‘nen eigenen Abend ist ihm das noch zu dünn, aber sie haben ‘ne lokale Rockband die an dem Abend spielt und wir könnten davor.“ Yoshiki zog die Stirn in Falten und ließ seine Stäbchen mit einem Sushi dazwischen wieder sinken. „Du hättest mal vorher fragen können“, moserte er. „Was. Willst du absagen?“, fragte Taiji bissig und stemmte einen Arm in die Hüfte. Das war eindeutig nicht das Feedback, das er hier erwartete „Nein“, murmelte Yoshiki. „Es geht mir ums Prinzip.“ „Ok.“ Taiji und ging zum Sofa hinüber. „Rutsch“, sagte er zu hide. hide rutschte. „In Zukunft überlasse ich diese Dinge unserem wundervollen Leader.“ Er tat so, als würde er sich in Richtung des Schlagzeugers verbeugen. Dieser steckte sein Sushi in den Mund, damit ihm nichts Falsches rausrutschte und beschränkte sich auf eine Grimasse. „… das war’s?“, fragte hide nach ein paar Sekunden. Er hatte in der Zwischenzeit runtergeschluckt und schaute jetzt von Taiji zu Yoshiki und wieder zurück, wie ein Strauß, der gerade vorsichtig den Kopf wieder aus dem Sand zog. Offenbar traute er dem Frieden nicht. Yoshiki zuckte mit den Schultern. Taiji schaute von einer Bento-Box zur anderen und dann vorwurfsvoll in die Runde. „Ok – warum hab ich nichts zu essen?“ -X- Eine gute Woche später stieg Toshi zum wiederholten Mal die Treppe in den Keller hinunter. Es waren genau zweiundzwanzig Stufen und er zählte mit, während er ging. Jetzt, wo die Prüfungen vorbei waren, hatte Yoshiki gnadenlos einen Probe-Rhythmus von vier Tagen in der Woche festgesetzt - immerhin, so hatte er verkündet, gäbe es jetzt für niemanden hier mehr einen guten Grund, sich zu drücken. Ihr Bassist hatte es mit einem 'hört hört' quittiert. Er schien über diese Entwicklung erfreut. Toshis Stimmbänder weniger. Man sollte nicht meinen, was vier, fünf Stunden mehr für einen Unterschied machten, doch da war er. Noch im Gehen suchte er in seiner Jackentasche nach den Hustenbonbons, die sich irgendwo im Innenfutter versteckt hatten. Schließlich hielt er inne. Kaum zu glauben, dass man die High School machen, aber an so etwas scheitern konnte. Unten stand der Mülleimer in der Tür, damit sie nicht zufiel. Frische Luft und so weiter. Während er noch suchte, hörte er hides Stimme. „Fester“, sagte sie. „Ah, genau da!“ Toshi runzelte die Stirn. „Das ist anstrengend“, sagte eine andere Stimme, die er als Taiji identifizierte. „Ein Guter hält’s - Au! Auauau, das tut weh!“ Was zur Hölle? „Jaja“, sagte Taiji, „ein Guter hält’s aus. Entspann dich, das wird besser.“ „Das sagst du so leicht! Dir tut ja nicht morgen alles da hinten weh!“ … was?! Toshi ging die letzten Stufen hinunter, öffnete die Tür vollständig und trat ein. hide saß auf dem Sofa. Taiji saß hinter ihm auf der Lehne und massierte ihm den oberen Rücken. „Was wird denn das?“, fragte Toshi irritiert, doch unwillkürlich erleichtert. „Mein Nacken bringt mich um!“, stöhnte hide und neigte den Kopf leicht zur linken Seite, während Taiji auf der anderen beschäftigt war. „Ich kann nicht vier Tage die Woche so lang mit der Gitarre stehen. Das geht einfach nicht!“ „Weißt du“, sagte Taiji, wanderte in sein Genick und zwang hide damit, den Kopf zu senken, „ein wenig Rückenmuskulatur hilft schon Wunder dagegen. Was ist deine persönliche Haltung zu Sport?“ „Am Arsch!“, nuschelte hide undeutlich in Richtung seiner Füße. "Auaaa..." Taiji verdrehte die Augen und sah Toshi an. „Das ist doch mal eine eindeutige Ansage.“ "Mmh-mmh", machte dieser in vager Zustimmung und steckte sich ein Zitronenbonbon in den Mund. Ein paar Minuten früher aufgestanden, und dass da hätte er sein können. Vielleicht wäre Massieren lernen ein guter Anfang. Er hatte ja jetzt Zeit. Kapitel 11: Hells Bells ----------------------- Toshi hätte nicht erklären können, wie sie in diese Situation gekommen waren. Sie hatten lange geprobt und waren dann, noch auf dem Parkplatz, auf einmal allein gewesen. Nur hide und er. Spontan waren sie in ein nettes Restaurant essen gegangen und hatten dann einen Spaziergang durch den Park gemacht, wo ein unglaublich großer Vollmond die blütenbehangenen Bäume erhellt und die Kieswege mit einem silbernen Schimmer überzogen hatte. Es war ein magischer Abend, und Toshi hatte hide angesehen und dieser hatte Toshi angesehen und dann musste Toshi wohl vor Glück ausgestiegen sein, denn auf einmal war er mit hide in einem fremden Bett, in einem Raum, den er nicht kannte und anscheinend auch in einer anderen Stadt: Die Skyline draußen vor dem Panoramafenster sagte deutlich, dass sie nicht mehr in Tateyama waren. Es gab keine Hochhäuser dieser Größe in der Stadt, die Yoshiki manchmal liebevoll als ‘Kaff‘ bezeichnete. Aber es war Toshi auch egal. Was kümmerte es ihn, wo er war? Wichtig war mit wem. An irgendeinem Punkt hatten sie sich ausgezogen, oder zumindest Toshi hatte wohl hide ausgezogen, denn dieser war nackt. Er selbst trug noch Hosen und langsam wurde es unangenehm, doch das war unwichtig. Er konnte hide berühren und das war alles, was zählte. Gott. Jetzt, wo er es tat, fiel ihm plötzlich auf, wie sehr es ihm bisher gefehlt hatte. Seine Hände und Lippen wanderten über den Körper vor ihm, nahmen jedes Detail in sich auf. Er wollte nie vergessen, wie der andere Junge aussah, wie er sich anfühlte, wie er schmeckte. Toshi lehnte sich nach oben, stützte sich auf seine Ellenbogen und nahm die formvollendeten Lippen in Beschlag. Das hier war perfekt. Einfach perfekt. Unglaublich perfekt. Schließlich löste er den Kuss und sah hide an. Sein Daumen fuhr federleicht über hides Wange und hide schaute zurück. Ein überwältigendes Gefühl der Wärme machte sich in Toshis Oberkörper breit und er lächelte und tauchte ab. Hals, Schlüsselbeine, Oberkörper, Bauch, … Scheinbar willkürlich federleichte Küsse verteilend wanderte er langsam tiefer, schwelgte in dem Gefühl warmer, schweißfeuchter Haut unter seinen Lippen und genoss den leisen, lusterfüllten Laut, als er schließlich - „Toshi!“ „…“ Toshi schlug die Augen auf und brauchte ein paar Sekunden, bis er wusste, wo er war – oder eher, bis ihm klar wurde, warum er nicht war, wo er dachte, dass er war. Dann wusste er es. Er war zuhause. Er hatte geträumt. Das Dinner war nicht echt. Der Spaziergang war nicht echt. hide war nicht echt. Nur sein Problem in den niederen Regionen, das war dem Gefühl nach mehr als echt. Toshi stöhnte lautlos. Das war jetzt ein Witz. Zur Sicherheit raffte er die Decke an betreffender Stelle ein wenig mehr zusammen. Mütter sollten nicht alles über ihre Kinder wissen. „… Ja?“, antwortete er. „Du musst aufstehen! Wir kommen sonst zu spät!“ Ah. Ja. Akimis letztes Kindergartenfest. Ganz große Sache. „... bin dabei…“ Toshi lauschte noch ein paar Sekunden, bis er alle seine Familienmitglieder eindeutig in der Wohnung verortet hatte. Dann stand er auf. Ein Körperteil widerstand heiß und pochend der Schwerkraft. Oh Mann. Er war doch keine fünfzehn mehr! Scheiße. Wie peinlich… und das fiel wohl in die Kategorie der Dinge, die man besser niemals einer Menschenseele erzählte. Andererseits war draußen Frühling, die Bäume blühten in den romantischsten Farben und die Natur erwachte – anscheinend in jeglicher Hinsicht. Was konnte er als einfacher Sterblicher dagegen tun? Das war eine höhere Macht! Trotzdem… peinlich. Nach einer halben Minute, in der er krampfhaft versuchte, an etwas Asexuelles zu denken und das seinen Kameraden scheinbar überhaupt nicht beeindruckte (Ach, die Jugend. Kurz kam Toshi der Gedanke, dass er sich diese Art von Problem in dreißig Jahren zurückwünschen würde), entschied er sich, das hier zu verlegen. Hiros Schuluniform lag noch auf der Kommode und er musste auch von seinem Bruder nicht mit einer Morgenlatte gesehen werden. Vorsichtig schob Toshi die Tür auf, lauschte noch einmal, rief „Spring nur kurz unter die Dusche!“ in die Wohnung und huschte ins Badezimmer, bevor ihn irgendjemand sah. Das Badezimmer! Eine wundervolle Erfindung. Der einzige Ort, an dem man seine Ruhe haben konnte, ohne das Klo anzuschauen. Toshi schlüpfte aus seinem Pyjama, dabei etwas durch sein nach wie vor bestehendes Problem behindert, und stellte sich unter die Dusche. Er fuhr sich ein paar Mal mit der Hand übers Gesicht und einmal durch die Haare und genoss dann das angenehme Prasseln des Wassers auf seiner Haut. Dabei wanderte seine Hand langsam tiefer. Die Dusche war nicht der beste Ort für dieses Vorhaben und das wusste er, doch erfahrungsgemäß war es sonst sehr schwierig, in diesem Haushalt mehr als drei Minuten für sich zu haben. Schließlich, endlich schlossen sich seine Finger um seine Erregung und mit einem leisen Seufzen legte er den Kopf in den Nacken und drehte das Gesicht in den sanften, warmen Nieselregen der Brause. Ohne dass er nachhelfen musste, wanderten seine Gedanken zurück zu großen Mandelaugen, wunderschönen Händen und dem Geruch von Vanille. Das Fleisch unter seinen Fingern zuckte begierig. Doch noch bevor er die Hand einmal nach unten und zurück bewegt hatte, hielt er inne und blinzelte durch das Wasser in Richtung der Fliesen an der Wand vor ihm. Ein seltsam schuldiges Gefühl machte sich in seinem Brustkorb breit und lieferte sich einen harten Kampf mit der Hitze im Unterbauch. Es war mehr als eindeutig, dass er das hier wollte – doch wie sollte er hide danach jemals wieder in die Augen schauen? Unwillkürlich schoss ihm die abstruse Vorstellung durch den Kopf, es gäbe eines Tages vielleicht ein Gespräch zu diesem Thema. Jemand könne Gedanken lesen. Oder man sah ihm vielleicht an der Nasenspitze an, dass er sich in Gedanken an einen Freund einen runtergeholt hatte. …scheiße. Er konnte das hier nicht. Toshi boxte einmal frustriert die Wand und drehte das Wasser auf kalt. Er hatte die blöde Vorahnung, dass Sport und kalte Duschen in Zukunft einen wesentlich größeren Teil seiner Zeit einnehmen würden als bisher. -X- Mit Schuhen aus Blei stieg hide die Stufen zum Eingang seiner Schule hoch. Der Weg hierher war ihm noch nie so lang erschienen wie heute: mit jedem Schritt wurde sein Brustkorb etwas enger, sein Puls etwas höher und seine Hände etwas verschwitzter. Oder wem versuchte er hier etwas vorzumachen: Alles wurde verschwitzter. Und bis er die vier kleinen Stufen erklommen hatte, klebte ihm sein T-Shirt endgültig am Rücken. Als er in den langen Gang trat war ihm einen Moment, als würde dessen Ende erst näherkommen, dann in weite Ferne fliehen und sich schließlich etwas zur Seite neigen. Ok, dachte hide und atmete bewusst tief, fahr runter. Wie auch immer das hier ausgeht: keine Panikattacke in der Schule. Kein Ohnmachtsanfall. Diese Peinlichkeiten wollte er für andere Höhepunkte seines Lebens reservieren, wie… und ihm fiel gerade nichts ein. Sein Kopf schien mit Marshmallow-Fluff gefüllt. Die Abschlussprüfungen waren jetzt zwei Wochen her und die Endergebnisse hingen vor der Aula aus. Ein letztes Mal der Vergleich mit allen anderen. Der eigene Wert, schwarz auf weiß. Eine Menschentraube hatte sich vor der Wand mit dem Aushang gebildet und hide brauchte ein paar Minuten, bis er sich so weit nach vorne geschoben hatte, dass er die kleine Schrift lesen konnte. Er orientierte sich kurz, fand das richtige Blatt und scannte die Liste. Da. M. Matsu. Er las. Matsuda Jun. Matsushita Kaede. Zur Sicherheit überflog er noch die nächsten fünf Namen in jede Richtung. Nichts. hide zwang sich, ruhig zu atmen und sich zu konzentrieren. Er las noch einmal. Alle Namen mit M, langsam und sorgfältig. Doch an der Stelle, an der sein Name hätte sein müssen: immer noch nichts. Matsuda Jun. Matsushita Kaede. Langsam, um nicht auf die Füße derjenigen zu treten, die versuchten, ebenfalls endlich einen Blick auf das eigene Ergebnis zu erhaschen, löste hide sich aus der Traube und schlich zu der zweiten Liste einige Schritte entfernt hinüber. Diejenigen, die seinen schweren Gang bemerkten, warfen ihm etwas mitleidige Blicke zu, bevor sie sich wieder ihrem eigenen Leben zuwandten. Eine Zeile eines Gedichts aus einem der Bücher, die Pata ihm im Lauf der Zeit hingelegt hatte, kam hide in den Sinn: No man is an island entire of itself, hatte es begonnen. Als er es gelesen hatte, war es ihm sehr tiefgründig erschienen, doch gerade hätte er nicht zustimmen wollen. Er hatte sich selten mehr wie eine Insel gefühlt. hide schluckte, atmete noch einmal durch und stellte sich vor die Liste. Es war nur eine Seite, beschrieben mit sehr wenigen Namen. Einen Moment lang sah er nur schwarze Symbole auf weißem Grund. Vielleicht, musste er sich gut zureden, war es nur ein Fehler. Ja, ganz bestimmt. Erst durch diese Hoffnung bestärkt war sein Hirn bereit zu lesen. Kusanagi Ran, las er. Matsumoto Hideto. Ogawa Akito. Sein Herz setzte einen Schlag aus und ihm wurde kalt. hide blinzelte und las noch einmal. Vielleicht würde er gleich aufwachen. Doch da war es. Schwarz auf weiß. Matsumoto Hideto. -X- „Er hat’s nicht geschafft, mmh?“, fragte Yoshiki gedämpft, während er aus seinen Schuhen schlüpfte. Pata schüttelte den Kopf. „Seien wir ehrlich: Die Chancen waren immer verschwindend gering.“ Yoshiki nickte langsam und richtete sich wieder auf. Das war das Ding mit Pata – wenn er Wahrheiten aussprach, dann sprach er auch die unangenehmen aus. „Und ist er…“ Er machte eine Faust, spreizte Daumen und kleinen Finger ab und kippte die so symbolisierte Flasche auf Höhe seines Gesichts. Noch einmal schüttelte Pata den Kopf. „Nein. Er schien mir nüchtern.“ „Gut...“, sagte Yoshiki und nochmal, leiser, „gut… Dann… werd ich mal nach ihm sehen.“ „Viel Glück“, meinte Pata und verschwand mit einer vagen Geste in Richtung der ersten Tür auf der rechten Seite wieder nach unten in den Laden. Erst als er verschwunden war, wurde Yoshiki wirklich bewusst, was er gesagt hatte. Er atmete durch, zog sein Shirt zurecht, strich sich seine zu langen Haare aus dem Gesicht und klopfte. Nichts passierte. „hide?“, fragte er also, „kann ich reinkommen?“ Nach einigen Sekunden sagte eine Stimme dumpf durch die Tür: „Es ist ein freies Land.“ Yoshiki runzelte die Stirn. Ok. Er hatte einfach ein ‘Ja‘ gehört. Behutsam drückte er die Klinke hinunter und lugte in den winzigen Raum dahinter. hide lag auf dem Boden und sah an die Decke. Vorsichtig glitt der Schlagzeuger ins Zimmer. Eigentlich bescheuert, dachte Yoshiki dabei, als wäre es schon einmal irgendeiner Person auf diesem Planeten besser gegangen, weil man in ihrer Nähe auf hektische Bewegungen verzichtete. Vielleicht war das noch einer der letzten Urinstinkte: verletzte Wesen reagierten unvorhersehbar und man sollte sich mit Fingerspitzengefühl näher. Ja. Das machte Sinn. hide sah allerdings nicht so aus, als würde er sich demnächst bewegen, geschweige denn jemanden anfallen. „He“, sagte er also sachte. „Wie geht es dir?“ hide zuckte mit den Schultern und sah ihn nicht an. Yoshiki ging neben hides Füßen in die Hocke. Er wusste nicht ganz, was er machen sollte, also legte er leicht die linke Hand auf hides Knöchel und drückte, wie man sonst die Schulter drücken würde. „Ich versteh, dass du frustriert bist“, meinte er leise. „Aber es ist in Ordnung. Du hast es versucht und es hat nicht geklappt und jetzt probieren wir was anderes, ok? Es wird alles gut. Ich versprech’s. Also komm. Lass uns irgendwas machen, was dich ablenkt, wenn schon nicht aufheitert.“ hide schüttelte den Kopf. Yoshiki seufzte lautlos, stellte Augenkontakt mit dem Koala an der Wand her und sagte dann: „Willst du ein Eis essen gehen? Die Bude am Park hat Anfang der Woche aufgemacht. Sie haben einige neue, sehr äh, interessante Sorten.“ Perfekt für jemanden, der Marmelade zu seinen Eiern und Käse zu Schokolade aß. hide schüttelte den Kopf. Ok. Kein Erfolg mit Essen. Ein schlechtes Zeichen. „Dann… Musikgeschäft?“ Yoshiki verlagerte sein Gewicht und musste sich kurz mit der Hand am Boden abstützen. „Ich bin auf der Suche nach einem Keyboard.“ hide schüttelte den Kopf. Yoshiki seufzte noch einmal, diesmal hörbar. hide sollte wissen, dass er nahe dran war, aufzugeben. Aber noch nicht ganz. „Ok… Gibt es… irgendwas anderes? Irgendwas, was ich – oder irgendwer – tun kann?“ hide schüttelte nicht den Kopf. Daraus schloss Yoshiki, dass er nachdachte und wartete ab. „Kannst du die Tür vielleicht zu machen?“, fragte er schließlich. „Klar“, sagte Yoshiki und schloss die Tür. „… das ist mir jetzt ein bisschen unangenehm“, gestand hide nach wenigen Sekunden, „aber ich meinte: von der anderen Seite.“ Die Bedeutung der Worte bahnte sich langsam ihren Weg durch Yoshikis Gehörgang und in seine Hirnwindungen. „Oh“, machte Yoshiki. „Oh. Ja. Auch gut. Klar. Ok.“ Er erhob sich, wenn auch mehr aus Überforderung heraus, konnte sich aber noch nicht ganz zum Gehen überwinden. „Dann… bis übermorgen?“, fragte er also unschlüssig. Die letzte Hoffnung. „Ja“, sagte hide. Ok. Und da ging die letzte Hoffnung hin. Yoshiki nickte noch einmal langsam, sich bewusst, dass hide es nicht sah. Dann öffnete er die Tür, schob sich auf den Gang hinaus und zog sie leise wieder hinter sich zu. Unten im Laden saß Pata an der Kasse. Er fragte nicht, wie es gelaufen war. -X- hide blieb auf dem Boden seines Zimmers liegen und sah dem kleinen Viereck aus Licht, das durch das geöffnete Fenster nach drinnen fiel dabei zu, wie es langsam höher wanderte, dabei zu einem Rechteck wurde und schließlich verschwand. Niemand kam, um ihm zum Abendessen zu holen und obwohl es in seinem Magen etwas zu rumoren begann, konnte er sich nicht aufraffen zu gehen. Draußen wurde es nun langsam dunkel. Die abendliche Schläfrigkeit senkte sich über die Straße, vereinzelt begannen Grillen zu zirpen und der intensive süßliche Geruch der blühenden Büsche und Bäume im kleinen Blumenbeet gegenüber drang durchs Fenster und kitzelte ihn in der Nase. Gerade war es so dunkel geworden, dass man nicht mehr hätte ohne Licht lesen können, als sich Schritte auf dem Gang näherten und vor der Tür stoppten. Es klopfte dreimal. „Mmh“, machte hide. Komm rein, hieß das, oder bleib draußen. Ihm egal. Ein Kopf wurde zur Tür hereingestreckt. Im fahlen Dämmerlicht erweckte das blasse, von langen Haaren umrahmte Mädchengesicht ein wenig den Anschein eines Horrorfilms. Es hätte hide gar nicht gewundert, wenn der Hals auf einmal länger und länger geworden wäre, um dem Kopf zu erlauben, ohne den Körper der Besitzerin im Zimmer herumzuschweben. Zum Glück mochte hide Horrorfilme. „Oh.“ Er setzte sich auf und knipste die Schreibtischlampe an. „Hi.“ „Hallo.“ Terumi blinzelte ein paar Mal gegen das Licht. Erst jetzt wurde hide bewusst, dass sich ihr Kopf auf gleicher Höhe mit seinem befand – sie musste also vor der Tür knien. Hatte sie vorhergesehen, dass er sich zusammen mit seiner Laune in Bodennähe aufhalten würde? Sie legte den Kopf schief und betrachtete ihn einige Wimpernschläge lang. „Bist du ok?“, fragte sie schließlich. hide erwiderte den Blick. Er wollte lügen, doch wem konnte er was vormachen? Er hatte seit heute Mittag sein Zimmer nicht verlassen und das mochte für Terumi normal sein, für ihn selbst war das ein schlechtes Zeichen. Außerdem, alle Mädchen hatten diesen komischen sechsten Sinn für anderer Leute Gefühle, oder etwa nicht? Das traf sicher auch auf die merkwürdigen zu. Und, und das war vielleicht das Wichtigste: Eigentlich fiel ihm kein guter Grund ein, warum er ihr etwas vorspielen müsste. Jemand, der sich seit über einem Jahr drinnen verkroch, konnte ihm schlecht einen Vorwurf aus einem Tief machen, geschweige denn gefährlich werden. Vermutlich, und das fühlte hide mehr als dass er es wirklich dachte, verstand sie es sogar. Schließlich seufzte er also und wandte den Blick ab. „Eigentlich nicht.“ „Mmh“, machte Terumi. Sie rutschte ins Zimmer und zog die Tür hinter sich zu. „Ich hab keine guten Ratschläge“, sagte sie dann, sich mit dem Rücken an der Tür bequemer in den Schneidersitz umsetzend, „aber ich hab Schokolade.“ Sie präsentierte eine etwas lädierte Tafel. hide musste lächeln. „Schokolade wird in diesen Breitengraden als Ratschlag akzeptiert.“ „Un.“ Terumi nickte, wickelte die Tafel aus dem Papier und der Aluminiumfolie, brach eine Reihe ab und reichte hide den Rest. „Was machst du jetzt?“, fragte sie, während sie an einer Ecke herumnibbelte. hide löste zwei Stücke Schokolade aus der Tafel und legte den Rest zwischen sich und das Mädchen auf den Boden, für sie beide in Reichweite. „Weiß nicht. Ich nehme an, ich sehe zu, dass ich ein paar mehr Stunden im Restaurant kriege oder such mir noch eine zweite Arbeit. Das hätte ich vermutlich auch mit Abschluss gemacht, also eigentlich macht es keinen wirklichen Unterschied. Es wäre nur irgendwie schön gewesen… wegen… Optionen oder so. Aber gut. Jetzt ist es so.“ Terumi sagte nichts. Das wunderte hide nicht. Sie hatte ja bereits angekündigt, dass sie keine Ratschläge hatte und hide war seltsamerweise fast dankbar dafür. Gut gemeinte Ratschläge und platte Aufmunterungen hatte er in seinem Leben genug gehört. Schweigend arbeiteten sie sich durch ihre jeweiligen Schokoladenstücke. „Es ist nur“, sagte er dann und wischte seine Hand an der Hose ab, „ich hab den Abschluss um elf Punkte verpasst.“ Er stützte die Stirn auf Daumen, Zeige- und Mittelfinger. „Elf verschissene Punkte. Das ist eine Frage in einer Mathearbeit. Das ist echt frustrierend.“ Terumi sagte nichts. „Es sagen einem immer alle, dass man alles schaffen kann, wenn man es nur wirklich versucht. Aber das stimmt nicht. Manchmal… ist man wirklich einfach nicht gut genug.“ hide ließ die Finger für einen Moment zu seiner Nasenwurzel wandern und hob den Kopf dann wieder. „Ja. Sorry. Genug semidepressives Gebrabbel.“ Er lächelte entschuldigend. Das Mädchen zog die Beine unter dem Körper hervor, stellte die Füße auf den Boden vor sich und schlang einen Arm um die angezogenen Knie. „Weißt du“, sagte sie dann und griff mit der anderen Hand noch einmal nach der Tafel, brach hide eine Reihe ab und nahm die verbliebenen zwei Stücke aus der, die er zuvor geteilt hatte – vielleicht der Fairness halber, vielleicht, weil man sich nicht schlecht fühlen musste, wenn ein anderer genauso viel Süßes fraß wie man selbst, „ich glaube, manchmal, da muss man sich zurücklehnen und gute Musik hören und einfach drauf warten, dass die ganzen… Sachen und Leute, für die man nicht gut genug war oder was auch immer, ihre Hintern aus deinem Leben schieben. Danach fühlt man sich besser.“ hide runzelte die Stirn. „Gibt man dann nicht einfach an vielen Fronten auf?“ „Nein. Ich glaub nicht. Ich glaub, man sieht klarer, was übrig bleibt. Und wofür sich die Anstrengung lohnt.“ „Klingt für mich immer noch nach allgemeinem Standart-Senken.“ hide war nicht überzeugt, aber Terumi schüttelte den Kopf. „Es wird nicht einfacher davon. Aber bei den richtigen Dingen und den richtigen Leuten gibt es nicht so was wie nicht gut genug.“ Ein paar Sekunden lang versuchte hide, einen Sinn für sich in ihren Worten zu finden, doch er schaffte es nicht. „Darüber muss ich nachdenken“, sagte er schließlich. „Sorry. Ich bin nicht mehr ganz bereit für philosophisches Zeug. Heute war ein langer, beschissener Tag.“ Er seufzte. „Ich warte um ehrlich zu sein grade bloß, dass er vorbei geht.“ „Das ist ok. Warten auf morgen.“ hide zögerte einen Augenblick. Dann überwand er sich und sprach etwas aus, das ihm bereits länger auf dem Herzen lag. „Und wenn morgen auch beschissen ist?“ „Dann wartest du auf übermorgen.“ „… und so weiter?“ Terumi nickte. „Und so weiter.“ hide musste lächeln. Sie lächelte zurück. Es ging fast in den Schatten unter. Dann verschwand es wieder. Stattdessen ließ sie ihren Blick einmal durch den kleinen Raum wandern, stellte Augenkontakt mit Paul Stanley her und sah schließlich zurück zu hide. Sie nickte nach links, in Richtung Wand, in Richtung ihres Zimmers. „… willst du Musik hören?“ hide rappelte sich vom Sitzen in die Hocke. „Nichts lieber als das.“ -X- Als hide einige Tage später am frühen Nachmittag durch die Innenstadt zurück nach Hause schlenderte (eine Bezeichnung, die er nur verwendete, weil er nicht die ganze Zeit ‘zu Pata‘ denken wollte), erschien ihm die Welt wieder ein ganzes Stück fröhlicher. Jobsuche erfolgreich. Zwei kleine Jobs waren fast ein großer Job und ließen ihm trotzdem noch Zeit, um Gitarre zu spielen. Das war gut. Jetzt musste er nur noch eine eigene Wohnung finden und schon stand er auf eigenen Beinen. Fürs erste. Ja. Abwesend sah er im Vorbeigehen in die Schaufenster entlang der Straße. Schuhe. Brillen. Künstlerbedarf. hide wurde langsamer und blieb schließlich stehen. Er hatte jetzt zwei Jobs und, noch wichtiger, Zeit. Es gab keinen rationalen Grund dagegen. Und wenn er Musik zum Beruf machte, brauchte er ein neues Hobby. Jeder Mensch brauchte doch eines, oder nicht? Er ging die paar Schritte wieder zurück und trat ein. Irgendwo weiter hinten im Laden klingelte es und obwohl er nicht der einzige Kunde war, war es hier drin sehr ruhig. hide schaute sich um, wanderte die Regale entlang und atmete den Geruch nach Holz und Papier ein. Er hatte eigentlich sofort gesehen, was er wollte und wanderte jetzt nur noch aus Spaß an der Freude. Schließlich aber – zwanzig Minuten später – stand er doch wieder vor der langen Reihe mit Zeichenutensilien. Er liebäugelte ein wenig mit den teuren Aquarellstiften, doch riss sich am Riemen. Klein anfangen. Also beschränkte er sich auf Bunt- und Bleistifte und ein großes, massives Skizzenbuch und verließ den Laden wenig später seltsam beschwingt. Zurück bei den Ishizukas verzog er sich sofort ins stille Kämmerchen, setzte sich in den Schneidersitz und schlug das Buch auf. Leere, wundervoll weiße Seiten begrüßten ihn, perfekt in ihrer Reinheit. Etwas wie Ehrfurcht ergriff hide und er zögerte kurz. Doch er hatte das Ding ja nicht gekauft, um erstarrt davor zu sitzen. Es muss nicht perfekt sein, dachte er fest. Es muss nur deins sein. Seine Hand kreiste über den Stiften und entschied sich schließlich. Bleistift. Der gute alte B2. Es war eine ganze Weile her. -X- Am letzten Dienstag im März saß Toshi in der Aula seiner Schule und wartete. Natürlich saß er dort nicht allein: mit ihm saßen sämtliche Mitglieder seiner Jahrgangsstufe, ihre Familien und die engsten Freunde unten im Zuschauerraum. Oben auf der Bühne saß das Kollegium, inklusive des Rektors, an einer langen Tafel, um noch einen letzten Blick auf ihre Schüler werfen zu können, die sie an diesem heutigen Tag in die Welt hinaus entließen. Das war einfach, denn ihre Schüler nahmen die ersten zwei Reihen ein. Toshi drehte den Kopf und lehnte sich nach vorn, um einen Blick auf Yoshiki werfen zu können. Dieser saß in seiner Reihe ganz am Rand, um später einen kürzeren Weg zur Bühne zu haben. Dann drehte er sich auf seinem Stuhl um und nahm das Getümmel in sich auf. Es waren wirklich erstaunlich viele Leute hier. Der Gedanke, später dort hinauf gehen zu müssen, um sein Zeugnis in Empfang zu nehmen, jagte ihm einen Schauer über den Rücken. Ein weiterer Blick in Richtung Yoshiki. Dieser betrachtete gerade seine Fingernägel und schien trotz seiner anstehenden musikalischen Einlage nicht im Geringsten nervös. Andererseits, dachte Toshi, hatte er das schon des Öfteren gemacht, also war das wohl kein fairer Vergleich. Er drehte sich noch einmal um und suchte im Getümmel nach seinen Eltern und anderen bekannten Gesichtern. Ein paar Lächeln und ein Kopfnicken wurden ausgetaucht und seine Mutter gestikulierte irgendwo auf Kopfhöhe. Vermutlich hieß das, er solle seine Haare noch einmal zurechtlegen, doch bevor er es eindeutig identifiziert hatte, trat eine Lehrerin ans Mikrofon, die Toshi nie gehabt hatte, um auf den Beginn der Veranstaltung hinzuweisen. Gerade wollte Toshi seine Aufmerksamkeit daher wieder nach vorne richten, als sein Blick plötzlich an jemandem hängen blieb, der ganz hinten bei der Tür saß. Er kniff die Augen zusammen und reckte den Hals, um zwischen den vielen Köpfen einen Blick erhaschen zu können. Ja. Kein Zweifel. Er drehte sich wieder um und versuchte, Augenkontakt mit Yoshiki herzustellen, doch Yoshiki schaute jetzt in seine Partitur und beachtete weder ihn noch das Geschehen auf der Bühne. Dort gab die Lehrerin das Mikro jetzt an den Rektor ab. Dieser sprach ehrwürdige und zeremonielle Worte ohne Inhalt und dann folgte die festgelegte und über Jahre eingeübte Choreografie aus zuhören, klatschen, sich erheben, sich verbeugen, sich setzen, während Redner um Redner ans Mikrofon trat. Es dauerte ewig, ganz so, als wollte unbedingt jeder zu Wort kommen, der auch nur im Entferntesten an der Bildung und Erziehung dieser jungen Menschen teilgehabt hatte. Schließlich, nach einer gefühlten Dekade, stand Yoshiki auf und schlich nach vorn. Dort trat gerade Herr Urano ans Mikrofon. „Liebe Eltern, liebe Angehörige“, sagte er, „aber vor allem: Liebe Schülerinnen und Schüler! Viele Jahre sind vergangen, seit Sie – Ihre Kinder, Ihre Geschwister, Ihre Freunde – Ihre Schullaufbahn begonnen haben. Sie haben viel gelernt, viele Erfahrungen gemacht und viele Freunde gewonnen.“ Im Hintergrund setzte sich Yoshiki ans Klavier. Toshi sparte es sich, seinen Blick auffangen zu wollen – es war hell auf der Bühne und der Zuschauerraum konnte für Yoshiki nicht viel mehr sein als eine Ansammlung von Schatten. „Die nächsten Jahre werden für Sie viel Neues bringen, Gutes und nicht so Gutes. Aber ich hoffe, dass Sie sich heute an die schönen Momente zurückerinnern und das immer so beibehalten werden. Deswegen, und bevor wir Ihnen gleich Ihre Zeugnisse überreichen, möchte Ich Sie bitten, noch einmal für fünf Minuten inne zu halten und zu lauschen. Sich zu erinnern – und auch von der Zukunft zu träumen. Ich wünsche Ihnen von Herzen, dass Sie für alle von Ihnen wundervoll wird.“ Applaus brandete auf. Herr Urano machte einen Schritt zur Seite und nickte Yoshiki zu. Dieser nickte zurück. Das letzte Händeklatschen verhallte und es wurde wieder ruhig im Saal. Yoshiki legte die Finger auf die Tasten und verharrte einen Moment regungslos. Dann begann er zu spielen. Die ersten Anschläge kamen sanft und melodisch. Doch dann veränderte sich die Stimmung. Toshi erstarrte. Diese Tonfolge…! Er erkannte fast sofort und beinahe erschrocken, was Yoshiki da spielte. Und nach den plötzlich gefrierenden Mienen der Lehrer und der Schulleitung realisierten sie es auch. Es war ganz eindeutig nicht klassisch. Die Gesichtszüge ihres Musiklehrers entgleisten, langsam aber überraschend beständig. Gleichzeitig wurde er rot, so dass er schließlich aussah wie eine fassungslose Tomate. Doch das sollte vorübergehen: Innerhalb von zehn Sekunden würde er aussehen wie jemand, der sich wünschte, vor Scham im Boden versinken zu können – um dann wenn möglich hinter Yoshiki wieder aufzutauchen und ihn zu erwürgen! Er tauschte Blicke mit der Lehrertafel. Dort wurde hektisch getuschelt. Anscheinend überlegte man, wie man die Situation bestmöglich in den Griff bekam. In der Zwischenzeit hatte Yoshiki sich bereits in Ruhe bis weit in den ersten Refrain vorgearbeitet. Toshi verfolgte all das von seinem Platz in der zweiten Reihe aus nur zu genau. Fast war ihm nach Lachen, doch er war auch seltsam verlegen und machte sich ein wenig Sorgen. Das musste es sein, dieses Fremdschämen, von dem immer alle sprachen. Und es schockierte ihn ein wenig, dass es ihm nun auch einmal bei Yoshiki passierte. Aber das hier, das hier ging auch seinem Empfinden nach bei aller Witzigkeit der Aktion fast ein wenig zu weit. Er sah sich um. Einige seiner Klassenkameraden grinsten, doch viele hatten sich zu ihren Eltern umgedreht oder starrten einfach entgeistert auf die Bühne. Dort diskutierte man noch bemüht unauffällig. Toshi fragte sich, was für Ideen es wohl gab. Stromausfall? Doch es war ein Flügel. Und einem Flügel konnte man nicht einfach den Saft abdrehen. Die einzig Option wäre folglich, Yoshiki vom Klavier zu zerren – und anscheinend war man sich noch nicht einig, was die größere Blamage war: ihn zu Ende spielen zu lassen oder es durch rigoroses Einschreiten zu stoppen. Bliebe noch ein Ablenkungsmanöver, dachte Toshi. Vielleicht ein gefälschter Feueralarm oder ein medizinischer Notfall. Doch so weit würden sie nicht denken. Menschen in Anzügen und Kostümchen dachten nie so weit. Und so kam es, dass durch zu viel Diskussion und zu viel höfliches ‘Aber was halten Sie denn davon? Nein, Nein, Sie zuerst!‘ Yoshiki bereits die letzten Töne ausklingen ließ, lange bevor ein Kompromiss auch nur am Horizont zu sehen gewesen wäre. Toshi schloss die Augen. Das waren mit die längsten Minuten seines bisherigen Lebens gewesen. Er schaute sich noch einmal im Raum um. Auf der anderen Seite, einmal über den Gang und ein Stück weiter hinten, saß Yoshikis Mutter. Sie war bleich wie die Nacht finster. Eine tiefe, schreckliche Stille senkte sich über den Saal und wurde lang, länger – so lang, dass Toshi den Drang verspürte zu husten, nur um ihr ein Ende zu bereiten. Doch dann begann jemand zu klatschen und nach und nach stimmten die meisten anderen mit ein – in dem Versuch so zu tun, als wäre das gerade nicht passiert. Herr Urano fing sich als erster. „Ja, meine lieben Anwesenden“, sagte er mit einem Lächeln, das ehrlich wirkte, „die Jugend für heute ist immer für eine Überraschung gut! Genau wie das Leben, nehme ich an. Und jetzt: Bitte erheben Sie sich für die Zeugnisübergabe!“ Eines musste man ihm lassen, dachte Toshi während er aufstand, er war ein ziemlich souveräner Redner. Doch es täuschte ihn keine Sekunde: der Blick, den Yoshiki und der Musiklehrer tauschten, als ersterer von der Bühne ging, war eisig. Eine halbe Stunde später dann war es vorbei. Yoshiki fand seine Mutter draußen auf dem Gang, wo sie neben einem Wasserspender stand und auf ihn wartete. Er reichte ihr die Urkunde. Sie schaute ihn an. Sie schwiegen. Andere Schüler, ihre Eltern, die Lehrerschaft bahnten sich ihre Wege an ihnen vorbei und um sie herum. Wie Steine im Fluss, dachte Yoshiki, inmitten von allem und doch nicht dabei. „… tut mir leid“, sagte er schließlich. Seine Mutter schüttelte seufzend den Kopf. „Das war so du… Es hätte mich gewundert, wenn du nicht so was in der Art gemacht hättest.“ Sie seufzte noch einmal. „Trotzdem hab ich mich in Grund und Boden geschämt für dich. Und ich will, dass du das weißt.“ Yoshiki senkte die Augen. „Tut mir leid“, sagte er noch einmal. Es stimmte. Der leichte Anflug eines schlechten Gewissens meldete sich. Es war aber nicht so, dass er plötzlich erkannte, dass seine Aktion sie verletzt haben musste. Nein. Yoshiki war zu intelligent für so einen Faux Pas. Nein, es war vielmehr so, dass er das von Anfang an gewusst und es in Kauf genommen hatte. Das war kein schöner Zug und Yoshiki wusste das. Aber manchmal… war er einfach kein sonderlich netter Mensch. Das war die Wahrheit. Und Wahrheiten waren nun einmal selten schön – aber auch nie so einfach. Kurz dachte er darüber nach, ob er ihr erzählen wollte, das mehr dahinter steckte als nur verletzter Stolz und pampige Rebellion. Doch das würde sie nur noch mehr verletzen. Nein. Es war besser, wenn sie glaubte, was sie eben glaubte. Was auch immer das war. „Ich… ich mach irgendwann was, worauf du stolz sein kannst. Das hier… ist es nur einfach noch nicht.“ Yoshiki wich ihrem Blick aus und nickte stattdessen in Richtung Ausgang. „Ich… geh noch ein bisschen…“ Ihm fiel nichts ein, wo er hingehen wollte. „Ich geh noch ein bisschen“, sagte er also schließlich noch einmal, mit einer anderen Betonung, die den Satz an dieser Stelle abschloss. Gerade hatte er Stück weiter im Gewusel Toshis Rücken entdeckt. „Warte nicht auf mich. Ich nehm den Zug.“ Er ließ seine Mutter stehen und sah nicht zurück. „He“, sagte er dreißig Sekunden später und schob sich mitten in das Gespräch zwischen Toshi und einem Jungen aus der Baseballmannschaft. „Meine Mutter ist sauer und ich find’s scheiße hier. Lass uns irgendwohin gehen.“ Kaffee trinken, auf einer Bank sitzen, Steak essen – alles war in Ordnung. Alles. Er hatte sich schon halb umgedreht, in der sicheren Erwartung, dass Toshi für alle Schandtaten bereit sein würde wie sonst auch, als dieser sagte: „Ähm… Yoshiki…“ Yoshiki drehte sich wieder zu ihm. „Ich hab grade meinen Abschluss bekommen“, erklärte Toshi, in einer Art entschuldigender Belustigung, die er soweit er wusste noch nie bei jemand anderem als Yoshiki gebraucht hatte. „Ich… geh das jetzt mit meinen Eltern feiern.“ Yoshiki blinzelte ein paar Mal, als gäbe es an dieser Aussage unendlich viel zu verarbeiten, das er nicht verstand. „Oh“, sagte er schließlich, und dann noch einmal: „Oh. Ja. Klar. Natürlich. Ähm. Ja. Dann… viel Spaß.“ Toshi zog die Augenbrauen zusammen und betrachtete ihn kritisch. „… bist du ok?“, fragte er. „Mmh? Ja. Klar. Warum sollte ich nicht ok sein?“, fragte Yoshiki zurück, zog einen Mundwinkel hoch und machte eine verabschiedende Geste mit der rechten Hand. „Wir sehen uns Samstag.“ „Bis dann“, sagte Toshi. Yoshiki steckte die Hände in die Hosentaschen, wanderte ein letztes Mal über den Schulhof, warf einen letzten Blick auf alles, was er hasste und trat schließlich nach draußen auf die Straße. Dort löste sich die Menge allmählich auf, verstreute sich plappernd und lachend in alle Himmelsrichtungen und ließ ihn als Einzigen etwas ratlos vor dem Tor stehend zurück. Auf einmal fühlte er sich seltsam verloren. Gerade hatte er einmal nach links und einmal nach rechts die Straße hinunter geschaut, in Hoffnung einer spontanen Eingebung, was er mit sich anfangen sollte, als er eine Stimme hinter sich sagen hörte: „Netter Auftritt, Fuckface.“ Yoshiki drehte sich stirnrunzelnd in Richtung des Sprechers um. „Was machst du denn hier?“ „Weiß nicht. Du warst die letzten Wochen immer so angepisst, wenn du darüber geredet hast. Ich dachte mir schon, dass es was zu lachen geben würde.“ Yoshiki schaute skeptisch. „Außerdem mag ich Klavier.“ Taiji zuckte mit den Schultern. „… verdächtig“, murmelte Yoshiki und wandte sich wieder seiner Abendplanung zu. Vielleicht ging er einfach eine Runde durch den Park spazieren – die Kirschblüten waren herrlich um diese Jahreszeit. Andererseits war er nicht der Einzige, der das so empfand und ihm stand der Sinn nicht nach weiteren Menschenansammlungen. Taiji trat neben ihn und warf ihm einen Seitenblick zu. „… also, gehst du jetzt feiern, oder…?“ Yoshiki zuckte mit den Schultern und sagte nichts. Das war vermutlich Antwort genug. „Mmh“, machte Taiji also. Sie standen ein paar Sekunden unschlüssig und seltsam unbeholfen in der Gegend herum. „Willst du irgendwas machen?“, fragte der Bassist dann. „Mit dir?“, fragte Yoshiki zurück, bevor er etwas dagegen machen konnte. Allein?, wollte er noch anhängen, doch dieses Wort fing sein Hirn gerade noch auf der Zunge ab und ersetzte es durch ein weniger unhöfliches: „Zum Beispiel…?“ Taiji zog eine Schnute und trat von einem Bein aufs andere. „Naja. Wir könnten Stop Bloody Rain üben gehen.“ Yoshiki glaubte ihm trotz des recht überzeugenden Gesichtsausdrucks keine Sekunde, dass er wirklich nachgedacht hatte. Taiji musste diesen Vorschlag schon länger im Hinterkopf haben. „Wieso?“ „Weil du da scheiße bist.“ Yoshiki schloss die Augen und seufzte. Genau was er jetzt noch brauchte. „Ich bin auch scheiße“, schob Taiji gedehnt nach. „Wir sind beide scheiße. In dem Song. Und ich werd nicht besser, solange mir hide da ständig ins Ohr dudelt.“ Yoshiki runzelte die Stirn und schenkte ihm einen schiefen, wenig begeisterten Blick. „Heute teilst du nach allen Seiten aus, hu?“ Beschwichtigend hob Taiji die Hände. „Alles was ich sage ist, dass ich dich mal solo hören will. Muss ja nicht heute sein. Alter…“ Eine halbe Minute lang taten sie beide so, als gäbe es plötzlich überall etwas total interessantes zu sehen: Taiji betrachtete eine Gruppe Mädchen, die gerade durch das Schultor traten, Yoshiki die Autos auf der Straße. „Ok“, sagte Yoshiki schließlich. „Lass uns Stop Bloody Rain üben.“ -X- Sich auf dem Hocker aufrechter hinsetzend, bog Yoshiki den Rücken durch und streckte mit einem leisen Seufzen die Arme. Sie hatten in den letzten zwei Stunden wirklich große Fortschritte gemacht. Und an der Art, wie Taiji den Bass abstellte und ebenfalls seine Hände und Schultern dehnte, konnte Yoshiki sehen, dass nicht nur er mit dem Ergebnis zufrieden war. Eigentlich, dachte er, hatte das sogar Spaß gemacht. Vermutlich hätte jede andere Gestaltung des heutigen Abends in ein Tief geführt. Das Erfolgserlebnis hier glich diese schreckliche Zeremonie und dieses schreckliche Zeugnis aus und würde vielleicht, irgendwann in einer schöneren Zukunft, auch einen kleinen Beitrag dazu leisten, diese schrecklichen letzten Jahre einfach für immer hinter sich zu lassen. Yoshiki wusste, wenn er irgendwann auf diese Zeit zurückschaute, würde er nicht von erleben sprechen. Er hatte die meiste Zeit einfach nur überlebt. Doch Abende wie heute… waren gute Abende. Und das besserte seine Laune erheblich. Kaum zu glauben, dass ein solcher Abend Taiji beinhalten konnte. „Ist dir schon mal aufgefallen“, fragte Yoshiki, während Taiji in den Kühlschrank schaute, „wie viel besser das zwischen uns funktioniert, wenn wir einfach überhaupt nicht reden?“ Taiji tauchte mit einer Flasche Bier wieder auf. „Jap.“ „Vielleicht sollten wir das zu einer Grundregel machen.“ „Was?“, fragte Taiji und suchte auf hides Amp, auf der PA und schließlich zwischen den Sofakissen nach dem Flaschenöffner. „Auf Bandproben nicht mehr miteinander sprechen?“ „Ja.“ „Scheißidee, Alter. Aha!“ Der Bassist kehrte zum Kühlschrank zurück und bückte sich. „Dann können wir uns nicht mehr sagen, was gut funktioniert.“ Er öffnete mit dem wiedergefundenen Werkzeug das Bier. „Du sagt mir ja auch immer nur, was scheiße ist.“ „Ja. Und im Umkehrschluss ist alles andere gut – was machst du denn da?“ Yoshiki war aufgestanden und hatte nach seiner Jacke gegriffen. „Wir sind fertig. Ich geh nach Hause.“ Taiji hob entgeistert die Arme. „Jetzt Alter. Ich hab mir grade ein Bier aufgemacht. Sei kein Arsch und trink eins mit. Du hast offiziell die High School bestanden und Stop Bloody Rain ist fertig. Ein bisschen feiern wirst du irgendwas davon ja wohl können, oder was.“ Nach einigen Sekunden des unschlüssig-neben-dem-Schlagzeug-Stehens legte Yoshiki seine Jacke wieder ab – diesmal auf den Hocker – und ging zum Kühlschrank hinüber. Eigentlich stimmte es. Er hatte keine bessere Abendgestaltung parat. Bis er zuhause ankam, wirkte bereits wieder das mütterliche Klavierverbot bei Nacht, müde war er nicht, Schulaufgaben hatten sich ein für alle Mal erledigt, Toshi war heute Abend damit beschäftigt, ein guter Sohn zu sein und mit seiner Mutter konnte er morgen noch nachfeiern… falls sie bis dahin denn etwas zu feiern in seinen Glanzleistungen sah. Er nahm also eine eigene Flasche aus dem Kühlschrank und den Flaschenöffner vom Bassamp und setzte sich in die andere Ecke des Sofas. Das Bier knackte und zischte. Er legte den Flaschenöffner auf Patas Amp und lehnte sich wieder zurück. Plötzlich erschien ihm das Ganze doch etwas komisch. Seit ihrem Gespräch auf dem Dach war er nicht mehr mit Taiji allein gewesen, ohne dass Musik zwischen ihnen gestanden hätte und eigentlich war das kein Umstand, den er bedauerte. Yoshiki nahm einen großen Schluck Bier. Wenn er sich nicht noch ein wenig Toleranz antrank, endete das hier bloß wieder schrecklich. „Manche Leute“, sagte Taiji trocken und Yoshiki drehte den Kopf in seine Richtung, „stoßen ja an, bevor sie trinken. Aber vielleicht bin ich da auch ein wenig komisch.“ Schnell ein wenig Toleranz antrinken, dachte Yoshiki, ganz schnell. „Uh-hu“, machte er und streckte die Flasche über die Weite des Sofas. „Auf deinen Abschluss“, sagte Taiji. „Auf das Ende einer echt beschissenen Ära“, sagte Yoshiki. „Kampai.“ Sie tranken. „Hast –“, begann Taiji. Yoshiki fiel ihm ins Wort. „Ich hab überhaupt kein Problem damit“, sagte er, „einfach schweigend zusammen zu trinken.“ Taiji schob die Unterlippe ein Stück vor, nickte dann aber. „Ok. Fair enough.“ Eine ganze Weile saßen sie also nebeneinander, hingen ihren Gedanken nach und sagten nichts. Doch auch ohne zur Seite zu sehen konnte Yoshiki nicht anders, als die Blicke zu bemerken, die der Bassist ihm in regelmäßigen Abständen zuwarf. „Ok“, sagte er schließlich, doch nicht mal halb so genervt, wie er eigentlich hätte sein müssen. Das Bier half tatsächlich. „Spuck’s aus.“ „Das, was du da eigentlich spielen solltest…“, sagte Taiji, „kannst du’s spielen?“ „Natürlich“ sagte Yoshiki mit einem kurzen Seitenblick. „Ich musste das proben.“ Was war das überhaupt für eine Frage… Er nahm noch einen tiefen Schluck. Der Bassist nickte einmal und puhlte eine Weile am Etikett seiner Bierflasche herum. „Würdest… du’s jetzt tun?“ Yoshiki runzelte die Stirn und stellte Blickkontakt her. „Warum?“ Taiji zuckte mit den Schultern. „Ich mag Klassik hin und wieder. Und ich kann nicht Klavier spielen.“ Er erwiderte Yoshikis Blick. „Wär vielleicht ein schöner Abschluss des Tages, denkst du nicht?“ Ein paar Sekunden lang tat Yoshiki nichts, außer unentschlossen das neue Keyboard zu betrachten und sich zu fragen, ob er jetzt darauf wirklich Lust hatte. Einerseits war es spät und er trank gerade Bier und legte die Füße hoch. Andererseits war es schwer, von der Bitte nicht irgendwie geschmeichelt zu sein, auch wenn er sich nach allen Regeln der Kunst dagegen zu wehren versuchte, er mochte das Klavierspielen und das Lied, das er sich – wenn auch niemals mit der Intention, es wirklich zu spielen – für den heutigen Tag ausgesucht hatte. Er seufzte also und stellte das Bier auf den Boden. „Ok. Von mir aus“, willigte er ein und stand auf. „Aber erwarte nichts. Klavier ist… besser als das da.“ Taiji protestete ihm zu und lächelte schief. „Joa. Von mir aus. Ich hab keinen Vergleich.“ Ein wenig missbilligend zog Yoshiki die Mundwinkel nach hinten, doch nahm die Noten aus seiner Mappe und setzte sich ohne ein weiteres Wort an das Tasteninstrument. Auf einmal war er fast nervös. Das fand er seltsam. Er war zwar ein im Grunde schüchterner Typ, das stimmte, doch er spielte jetzt seit vierzehn Jahren Klavier und da gab es nichts mehr, das ihn abschreckte. Keinen Grund zur Aufregung. Publikum, kein Publikum. Egal. Er legte die Finger auf die Tasten. Es ist Taiji, dachte Yoshiki, gerade als er zu spielen begann. Es war schwieriger, vor Leuten zu spielen, von denen man wusste, dass sie einen kritisch betrachteten. Oder nicht mochten. Und, dachte er weiter, obwohl er es nicht mal in Gedanken hören wollte, es war besonders schwer, wenn man sich um die Meinung der betreffenden Personen scherte. Er hätte es geleugnet, wenn er gekonnt hätte, doch: Taijis Kommentare zogen ihn runter, wenn sie schlecht waren. Auf irgendeiner Ebene war ihm sein Urteil also… Nein, er wollte wirklich nicht 'wichtig' sagen. Bewusst war vielleicht ein besserer Ausdruck. Ja. Und jetzt: Kopf aus! Andante espressivo, mein Herr! Yoshiki machte sein konzentriertes Klaviergesicht und ließ sich auf das Gefühl ein, wie die Zusammenarbeit vieler, vieler Muskeln schließlich Melodie entstehen ließ, verlor sich in den Noten und der Bewegung und dem Gefühl. Doch plötzlich dachte er: Wie Taiji es wohl findet? Und er wusste, er musste eine Antwort haben. Yoshiki persönlich machte die Augen ja bei klassischer Musik gerne zu, zumindest, wenn er nicht selbst spielte. Als er zur Seite schaute, wurde ihm allerdings bewusst, dass Taiji ihn sehr eindringlich beobachtete. Das war… ein bisschen gewöhnungsbedürftig. Yoshiki richtete den Blick wieder auf die Tastatur und versuchte, sich nicht davon irritieren zu lassen. Was für eine Antwort war das nun? Als er geendet hatte, passierte eine gefühlte Ewigkeit nichts. „… Tadaaa“, machte er nach etwas, das trotz allem nur einige wenige Sekunden gewesen sein konnten, nur um die merkwürdige Stille zu beenden. Taiji zog eine Schnute, tippte mit den Fingern ein paar Mal auf die Sofalehne und sah dann, das erste Mal in den letzten Minuten, weg. „Ok“, sagte er dabei, mit einem gesetzten Nicken, als müsse er sich selbst etwas eingestehen. „Das war wundervoll. Danke.“ „Ironie?“ Yoshiki kam hinüber, sammelte sein Bier ein und setzte sich aufs Sofa zurück. „Nein. Arsch.“ „Bitte." Eine Weile saßen sie wieder schweigend nebeneinander und nippten in ihrem Bier. „Weißt du, was diesem Raum fehlt?“, fragte Taiji irgendwann. „Du meinst neben einem gescheiten Anstrich, einem Waschbecken, einer Tonstudio-Einrichtung und einer weniger fischigen Grundnote?“ „‘ne Anlage. Wenn man einfach so dasitzt, ist das schon relativ unspektakulär.“ „Der Raum war auch nicht zum einfach so dasitzen gedacht“, murmelte Yoshiki. „Mmh.“ Eine Viertelstunde später stellte Yoshiki die leere Flasche neben dem Sofa ab und seufzte. „Was?“, fragte Taiji. „Ich wünschte, die Toiletten wären nicht so weit weg.“ Ein ganzes Stockwerk und einmal über den Eingangsbereich… es war ein Trauerspiel. „Tragisch“, spendete der Bassist ihm Mitleid. Yoshiki seufzte noch einmal. Toshi hätte ihm vielleicht angeboten, ihn hinzutragen. Aber das hier war leider nicht Toshi. Also los. Auf drei. Eins, zwei, und dr - Er stand auf und der Raum schwankte kräftig. „Wow“, machte Yoshiki und setzte sich wieder. „Was?“, fragte Taiji. „Ich bin… betrunkener als ich dachte. Glaube ich.“ Dabei fühlte er sich eigentlich überhaupt nicht so dusselig! Yoshiki hielt sich den Kopf und wartete, bis der Raum aufhörte, sich zu drehen. Dann startete er einen erneuten Versuch des Aufstehens. Besser. Der andere Junge beäugte ihn kritisch. „Hast du was gegessen?“ „…ja?“ „Wann?“ „Heute Morgen beim Frühstück.“ Taiji verdrehte mit einem Seufzen die Augen. Der Schlagzeuger war einfach sturzbesoffen. Er nickte nach rechts. „Wunderbar. Schau mal auf den Kühlschrank. hide bunkert da Scheiß.“ Doch Yoshiki hatte einen, wie er fand, viel besseren Vorschlag. „Wie wär’s mit ich geh pissen und du schaust auf den Kühlschrank?“ Er schaute gar nicht mehr zurück um zu sehen, mit welcher Reaktion diese Anregung aufgenommen wurde, sondern drehte sich stattdessen auf den Ballen um, winkte noch einmal über die Schulter und verschwand nach draußen. Als er wiederkam, hatte Taiji eine Schachtel Waffeln mit Cremefüllung zu Tage gefördert. Er reichte Yoshiki einen der einzeln verschweißten Packen. Dieser setzte sich, nestelte eine halbe Minute am Plastik herum, gestand sich ein, dass das nichts wurde und reichte sie mit einem Seufzen Taiji. Knisternd löste dieser die Waffel aus ihrer Verpackung und gab sie dem Schlagzeuger zurück. „Ich versteh nicht, wie hide sich sowas reinschieben kann“, sagte Yoshiki und drehte die Süßigkeit einmal misstrauisch. Sie roch intensiv nach Puderzucker und fühlte sich weich an, wie Pancakes. „Das hat doch keinen einzigen natürlichen Bestandteil mehr.“ Taiji verdrehte die Augen. „Iss einfach“, sagte er. Yoshiki zierte sich noch ein wenig und piekte die unbekannte Lebens(?)form, biss dann aber ab. Die Waffel schmeckte lecker und sahnig und vanillig. Nochmaliges abbeißen. Zu perfekt, um echt zu sein. Aber scheiße – so sahnig! Er steckte sich den Rest in den Mund. „Das Zeug ist pervers“, befand er kauend. Taiji packte noch eine aus und reichte sie ihm. „Kann ich dich was fragen?“ „Von mir aus.“ Yoshiki knabberte am Teigrand. Er war ein bisschen zu müde und zu beschwipst und zu… gleichgültig, um sich groß hinter seine Widerborstigkeit zu klemmen. „Warum hast du das heute gemacht?“ Er drehte den Kopf leicht nach rechts, um Taiji ansehen zu können. „Was meinst du?“ „Naja. Du hast den ganzen Gesichtern einen wichtigen Moment in ihrem Leben versaut. Den meisten zumindest.“ „Rebellion gegen das System“, antwortete Yoshiki knapp. Zu knapp, wie ihm nach einigen Sekunden klar wurde, in denen der andere Junge einmal wissend nickte. „Ok“, sagte Taiji. „Das glaub ich dir soweit. Und jetzt noch der wahre Grund.“ Yoshiki ließ die Waffel, von der er gerade noch einmal abgebissen hatte, in den Schoß sinken und legte den Kopf auf der Lehne ab, um an die Decke sehen zu können. Er sah aus als würde er nachdenken. Vermutlich darüber, ob er Taiji erzählen wollte, was es zu erzählen gab. Er warf dem Bassisten einen kurzen Seitenblick zu. Dieser wartete ab. „Am Anfang der Junior High“, sagte Yoshiki schließlich langsam, Blick immer noch an die Decke gerichtet, „in der siebten Klasse. Da hatten wir einmal die Hausaufgabe aufzuschreiben, was wir werden wollen und warum und was wir dann den ganzen Tag so machen. Man musste aufstehen und es den anderen vorlesen. Alle hatten irgendwas aufgeschrieben – Koch, Geschäftsmann, Sekretärin, … so was. Dann kam ich dran. Und ich hatte Rockstar geschrieben. Ich kam überhaupt nicht dazu, zu erzählen, warum ich das machen will, da hat mir der Lehrer schon das Blatt aus der Hand gerissen und mich gefragt, ob das ein Witz sein soll und warum ich so einen Unsinn schreibe. Dann hab ich ihm gesagt, dass ich das ernst meine. Und rate mal, was dann passiert ist.“ „Du musstest den Rest der Stunde draußen auf dem Gang sitzen und durftest nicht mehr mitmachen?“, riet Taiji. Das war eine der üblichen Strafen, die ihm gerade einfiel. Ihm war aber schon klar, dass es nicht die richtige Antwort sein würde. Und tatsächlich antwortete Yoshiki: „Nope. Ich musste nach vorne kommen und jeder in der Klasse musste aufstehen und mir sagen, warum das Unsinn war. Da waren zwanzig Kinder in meiner Klasse. Es hat die ganze Stunde gedauert und danach hab ich geheult. Ich konnte keinem von ihnen mehr in die Augen schauen. Am Vormittag hatte ich mich noch mit den Jungen neben mir zum Fußballspielen verabredet. Dann bin ich nicht hingegangen. Ich meine - wie sollst du dich mit Leuten anfreunden, die solche Sachen zu dir gesagt haben.“ Yoshiki zog sich aus den Bauchmuskeln wieder nach oben und weiter nach vorne und griff nach seiner Bierflasche. „Seitdem stand in meinen Zeugnissen immer, dass ich mich nicht in die Klassengemeinschaft einbringe und damit liegt die Schuld bei mir. Perfide, wenn man drüber nachdenkt. – Mist.“ Das Bier war immer noch leer. „Trinken wir noch eins?“, fragte Taiji. Yoshiki fiel kein Grund ein, warum nicht. Er zuckte mit den Schultern. „Trinken wir noch eins.“ Eine leichte Bewegung ging durch das Sofa, als der Bassist aufstand, um Nachschub zu holen. Als er wieder saß klinkten sie die Flaschen aneinander und nahmen beide einen Schluck. Taiji legte einen Fuß auf hides Amp ab. Yoshiki aß seine Waffel auf. Sie schauten beide an die Decke. „Was Salziges wär jetzt geil“, sagte Yoshiki und musste aufstoßen. Er klopfte sich auf die Brust. „‘Tschuldigung.“ Vanillewaffel und Bier – keine gute Kombination. „Und warum willst du Rockstar werden?“, fragte Taiji und drehte den Kopf auf der Lehne nach links. Yoshiki schnaubte. „Warum will irgendjemand nicht Rockstar werde…“ „Wichser“, sagte Taiji so entspannt, als stünde diese Einschätzung nicht zur Diskussion. Sie schwiegen kurz. Dann antwortete Yoshiki. „Weil ich nichts anderes kann. Weil ich nichts anderes will. Weil ich keine Lust hab, irgendwo ein Rädchen im System zu sein. Weil ich Probleme hab und anders nicht drauf klar komme. So was. Alles. Und so. Keine Ahnung.“ Er trank. „Ist schon eine Zeit lang her, dass ich das ausformuliert hatte.“ Taiji machte „Mmh“ und nickte. Dann grinste er. „Und was machst du dann so den ganzen Tag?“ Yoshiki musste ebenfalls lächeln. Ja, das war eine schönere Fantasie. „Weiß nicht. Ich mach Musik. Ich spiel Instrumente. Ich hock in meinem eigenen Tonstudio. Ich rauche zu viel und trink manchmal einen. Ich les Fanpost. Ich nehm verboten lange Bäder. Ich kauf mir Zeug, das ich nicht brauche, weil ich’s kann. Ich mach alles, was ich will und Leute müssen es mir durchgehen lassen, weil ich berühmt bin. Ich geb Interviews. Vielleicht mach ich mal ‘nen Fotoshoot. Ich trag die Haare lang.“ Der andere Junge drehte den Kopf ein Stück, um ihm einen schiefen Seitenblick zuwerfen zu können. „Lässt du jetzt wachsen?“ „Ja.“ Yoshiki nahm noch einen Schluck Bier. „Und was machst du als Rockstar den ganzen Tag?“ „Deine Vorschläge waren gar nicht schlecht. Ich würde vielleicht nicht so viel Baden und stattdessen Fangirls abschleppen ergänzen.“ „Daran denkst du?“ Taiji hob eine Hand zu einem seichten Winken nach außen, was signalisierte, dass er seine Gedanken für durchaus normal und natürlich hielt. „Einer der Gründe, warum man berühmt sein will, sind immer die Fans, die alles für einen tun… und wenn ich alles sage, dann meine ich alles.“ Taiji betrachtete kurz und etwas nachdenklich seine Fingerspitzen, wo sich durch den jahrelangen Kontakt mit Stahlsaiten eine dünne Schicht Hornhaut gebildet hatte. „Ein schicker Wagen wäre auch noch nett.“ „Du bist so oberflächlich…“ Ein gleichgültiges Schulterzucken antwortete Yoshiki. „Kann dir doch egal sein. Ist ja mein Leben.“ Der Schlagzeuger verzog das Gesicht. Er hatte Recht… es war ihm nie aufgefallen, aber es war schrecklich, wenn andere Leute Recht hatten! Dann aber riss er sich zusammen. Es gab noch etwas, das er fragen wollte – jetzt erschien ihm eine gute, wenn nicht sogar die einzige Gelegenheit. Er richtete sich etwas auf und redete sich ein, dass es nur war, um es sich bequemer zu machen. „… glaubst du denn, dass… das geht?“ „Rockstar?“ Yoshiki nickte. „Hmm.“ Taiji setzte sich ebenfalls aufrechter hin. „Ich weiß es nicht. Aber ich weiß, dass ich nichts unversucht lassen werde.“ Sein Blick streifte Yoshiki. „Und wenn ich dich inzwischen ein bisschen kenne, dann du mit Sicherheit auch nicht. Und ich glaube“, hängte er an, wieder an dem Etikett herumnestelnd „es gibt nichts Mächtigeres als einen Menschen, der für etwas brennt.“ Yoshiki konnte nicht anders, als ein klein wenig zu lächeln. „Was?“, fragte Taiji und sah kurz von seiner Flasche auf. „Nichts“, sagte Yoshiki instinktiv abwehrend, aber lächelte gleich darauf weiter. „Es… tut nur irgendwie gut, das mal zu hören. Alle anderen sagen immer nur so was wie ‘In Ordnung, mach du mal‘. Aber sie… glauben es nicht wirklich. Das ist manchmal schlimmer als diejenigen, die dir gleich ins Gesicht sagen, dass du irgendwann an einem Straßenstand Hähnchenspießchen wenden wirst.“ Taiji schnaubte, doch es richtete sich eindeutig nicht an Yoshiki. „Ist doch scheißegal, was die Leute reden“, sagte er dann abschätzig. „Die wissen halt nicht, wie das ist. Ich meine… wenn die Leidenschaft dich ruft, dann folgst du. Was willst du sonst machen?“ Er nahm einen weiteren Schluck Bier. „Alle echten Momente im Leben kommen doch irgendwie davon, dass man was wirklich, wirklich fühlt. Und dann muss man damit auch was tun. Du sitzt ja nicht einfach da und denkst dir: Boah geil, Musik, und dann kommt jemand und sagt Ne und du so: Ok, dann nicht. Das passiert nicht.“ Yoshiki musste leise lachen. „Ich meine“, fuhr Taiji fort und pfriemelt weiter das Etikett von der Flasche, „klar. Wenn man weniger… besessen - oder was auch immer - wäre, insgesamt, dann wäre man vielleicht auch… zufriedener. Oder ruhiger. Oder so was. Aber ich glaube, man wäre auch irgendwie… leer. Hohl. Und dann läufst du zwar noch rum, aber eigentlich bist du tot.“ Eine Weile sagte Yoshiki nichts, sein Gesicht ausdruckslos. Vielleicht, weil er nicht verstand, was Taiji ihm sagen wollte. Vielleicht, weil er es nur zu gut verstand und nicht wahrhaben wollte, mit wem er diese Konversation führte. „Du bist ein melancholischer Trinker, oder?“, fragte er dann mit einem Seitenblick. Taiji schüttelte den Kopf. „Eigentlich nicht. Ich wollte nur sagen, Leidenschaft kommt ja von Leiden. Es geht nicht darum, dass alles immer schön ist und glitzert und Leute um einen rumjubeln, die alles geil finden, was man tut. Es geht darum, …“ „Es unbedingt tun zu müssen“, vollendete Yoshiki den Satz, „um noch irgendwie leben zu können, bevor man stirbt.“ „Ja“, sagte Taiji überrascht und sah ihn an, als sehe er ihn zum ersten Mal. „Genau.“ Yoshiki schaute zurück. Ihre Blicke trafen sich und keiner von ihnen sah weg, wie sie das sonst machten. Da lag irgendetwas Seltsames in Taijis Gesichtsausdruck und Yoshiki identifizierte es fast unmittelbar als das gleiche seltsame Etwas, das ihn schon vorhin am Keyboard irritiert hatte. Doch noch bevor er Taijis Blick einordnen konnte, überbrückte der Bassist die Armlänge Abstand zwischen ihnen und legte seine Lippen auf Yoshikis. Dieser hatte, durch jahrelange Übung an Drumsticks, innerhalb von Zehntelsekunden am Flaschenhals umgegriffen, ohne das Bier abstellen zu müssen. Damit war er mehr als bereit, Taiji das Ding wie eine Keule über den Kopf zu ziehen. Doch er tat es nicht. Er kam zwar Taiji nicht entgegen, doch er zog sich auch nicht zurück – wie ein kleiner Dieb saß er da und versuchte sich einzureden, dass es eine vollkommen rationale Erklärung für sein Verhalten gab. Doch welche das sein sollte, das wusste er nicht. Seine Hirnrückwand, an der sonst Gedanken wie Werbetafeln aufflackerten und wieder erloschen, war schwarz. Stromausfall. Testbild. Er hatte keine Ahnung, wie das hier zu allen Dingen in der realen Welt passte – zu ihrer, Nein, seiner Band, zu seinem Leben, zu seinen Plänen für die Zukunft, zu der Tatsache, dass er Taiji doch eigentlich überhaupt nicht wirklich leiden konnte. Doch diese Welt außerhalb der kleinen Blase, in der er und Taiji auf diesem Sofa saßen, wurde kleiner und kleiner und war schließlich verschwunden. Und innerhalb der Blase... war... es... Taiji löste den Kuss und Yoshiki nutzte die Gelegenheit sofort. „Warum –“, begann er. „Shh.“ Der Bassist legte ihm zwei Finger an den Mund und schüttelte den Kopf, bevor er die Finger wieder durch seine Lippen ersetzte. Yoshiki reagierte immer noch nicht. Er musste noch nachdenken und weder sein Pegel noch Taijis Lippen halfen dabei sonderlich. Warum hatte er angefangen. Und diese Frage konnte auf mindestens zwei Arten enden, das hatte Taiji vor einigen Wochen ganz richtig erkannt. Warum der Bassist das machte, das konnte Yoshiki sich nach wie vor nicht erklären. Und er bezweifelte, dass er ohne Taijis Mithilfe sonderliche Fortschritte bei der Beantwortung dieser Frage machen würde. Aber warum er ihn nicht auf der Stelle umbrachte, das war bei Weitem das größere Rätsel. Wow. Yoshiki hatte sich ja schon immer für einen undurchsichtigen Mann gehalten, aber dass er so mysteriös war, war auch ihm neu. An dieser Stelle bemerkte er, dass seine rechte Hand irgendwie auf Taijis Oberarm gelandet war, als dieser sich zu ihm gebeugt hatte – um ihn abzuhalten, oder um ihn zu stützen? Diese Dinge lagen so nahe beieinander, dachte Yoshiki und wusste im selben Moment nicht mehr, ob er es auf die Rolle seiner Hand oder viel mehr bezog. Doch eigentlich war seine linke Hand auch interessanter. Diese hielt immer noch den Hals der Bierflasche umklammert – nicht als Getränk sondern als potentielle Waffe. Langsam löste er die hinteren drei Finger vom Flaschenhals und griff wieder um. Eine Situation. Andere Situation. Alles lag so nah beieinander. Kapitel 12: Hells Bells (You Got Me Ringing) -------------------------------------------- Yoshiki war sich nach wie vor nicht ganz sicher, was hier gerade passierte. Doch da er es nicht unterband, bedeutete das wohl, dass er nichts dagegen hatte. Vielleicht, dass es ihm gefiel. Vielleicht, dass er es wollte. Oder? Bedeutete es das? Er hatte keine Ahnung. Was möglicherweise erklärte, warum er immer noch nichts getan hatte, außer zu beschließen, dass er dem Bassisten keinen Schädelbasisbruch zufügen würde. Er fand auch eigentlich, dass das schon total ausreichte. Taiji andererseits schien ganz genau zu wissen, was hier passierte und wo er damit hinwollte: Er löste seine Lippen von Yoshikis und knabberte leicht an seiner Unterlippe, bevor er zu einem weiteren Kuss ansetzte. Dann fühlte Yoshiki eine Zunge auffordernd über seine Lippen gleiten. Das war jetzt der Punkt, dachte Yoshiki, wo eine Entscheidung gefällt werden musste. Mit passivem Aussitzen kam er hier nicht mehr weiter. Gut, vielleicht sollte er einmal Pro und Contra machen, wie der halbwegs gebildete Mensch, der er war. Contra: Taiji. Pro: Er war beschwipst, er war ein Rockstar, er hatte Stop Bloody Rain fast zur Perfektion gebracht, er hatte die Schule beendet, er konnte machen, was er wollte und der Rest seines Lebens begann gleich heute Nacht. Yoshiki zog die Augenbrauen ein wenig zusammen, als ihm auffiel, dass einige dieser Dinge jetzt wirklich nichts hiermit zu tun – Taiji hauchte ein kurzes Küsschen als Unterbrechung auf seine Lippen, bevor er einen zweiten Versuch startete. Eines musste man ihm lassen: Er ließ so schnell nicht locker. Zusätzlich kraulte er jetzt leicht seinen Nacken. Scheiße, das fühlte sich gut an. Unwillkürlich entspannte sich Yoshiki in die stützende Hand an seinem Hinterkopf und seine Lippen entwickelten ein Eigenleben. Er öffnete den Mund leicht. Taiji nutzte die sich bietende Chance sofort, leckte noch einmal über seine Lippen und vertiefte dann ihren Kuss: Seine Zunge schob sich ungeniert in Yoshikis Mund, erforschte das neue Terrain und begegnete dabei schließlich irgendwann einer anderen ihrer Art, die sich zögernd auf ein gemeinsames Abenteuer einließ. Yoshiki kannte sich da nicht in der Tiefe aus – er war bisher mit zwei Mädchen ausgegangen und das war vermutlich zu wenig, um eine qualifizierte Meinung zu diesem Thema zu haben – doch er befand, dass Taiji ein guter Küsser war. Der Bassist leckte und stupste und saugte, bis Yoshiki ihn wegschieben musste, weil er keine Luft bekam. Ihm war ein bisschen schwindelig. Sie sahen sich ein paar Herzschläge lang schwer atmend an, dann leerte Yoshiki sein Bier in einem Zug, ließ die Flasche mehr neben das Sofa fallen als dass er sie wegstellte und küsste zurück. Alles andere als gekonnt: Es war unkoordiniert und schlabbrig, doch seine jetzt freie Hand vergrub sich in den dunklen Locken und zog den Bassisten entschlossen enger an sich. Es wurde erst weniger ungelenk, als Taiji ihm eine Hand zwischen Wange und Hals legte und wieder die Führung übernahm. Einen Jungen zu küssen, dachte ein Teil seines Kopfs, der nur noch auf Sparmodus lief, war anders, als ein Mädchen zu küssen. Nicht so anders, wie er es erwartet hätte, aber immerhin. Mädchen waren weich und sanft und schmeckten immer irgendwie süßlich – vielleicht, weil er das erwartete. Das hier, das war anders. Da war nichts Sanftes oder Süßes an Taiji: er war energisch und frech und… ja, draufgängerisch war das Wort, und schmeckte ein wenig bitter, wie grüner Tee. Die Haare unter Yoshikis Fingern waren ein bisschen kratzig und seine andere Hand lag immer noch auf einem erstaunlich kräftigen Oberarm. Er dachte nicht mehr darüber nach, was hier passierte. Er dachte auch nicht mehr darüber nach, ob es ihm gefiel. Eigentlich dachte er gar nicht mehr: Denken war überbewertet. Es existierte nur noch Gefühl. Erst als sein Hinterkopf schließlich auf die Armlehne sank, realisierte er, dass sich etwas verändert hatte. An irgendeinem Punkt waren sie zur Seite weggerutscht. Zu Yoshikis Seite, was bedeutete, dass der andere Junge nun halb auf ihm lag. Vermutlich war das irgendwann um die Zeit herum gewesen, als Taiji seine Lippen verlassen und angefangen hatte, seinen Hals zu küssen. Das hatte ihn zu sehr abgelenkt, als dass er noch groß auf Dinge wie Vertikale und Horizontale geachtet hätte. Yoshiki leistete, abgesehen von neuerlichen, zögerlichen Versuchen, den ein oder anderen Kommentar abzugeben – Versuche, die Taiji allesamt im Keim erstickte - keinen nennenswerten Widerstand. Vermutlich, weil der Bassist die Stelle in seinem Nacken gefunden hatte, die immer so schön kitzelte und es sich zu gut anfühlte, als dass er überzeugende Einwände hätte formulieren können. Gerade spürte er an genau dieser Stelle Zähne, dann wieder Lippen und schließlich ein leichtes Saugen. Ein leises Seufzen kam ihm über die Lippen und Taiji ließ von seinem Hals ab und kehrte, mit einem Umweg über seine Kieferpartie, wieder zu eben diesen zurück. Ja… Zärtlichkeiten austauschen war schöner, wenn man dabei lag. Dann brauchte man nicht so viele… Halsmuskeln… und so… Langsam kämmte er mit den Fingern durch Taijis Haare und ließ sich in eine neue Serie aus tiefen, sinnlichen Küssen verwickeln. Doch als sich eine Hand unter sein Hemd mogelte, drehte er den Kopf ein Stück weg, um den Kuss zu brechen. „Ist das jetzt immer noch, damit ich die Klappe halte?“, fragte er gegen Taijis Lippen. „Naja, du warst ruhig“, antwortete dieser mit einem listigen Funkeln in den Augen. „Sieh es als präventive Maßnahme.“ „Ah. Aber-“ „Argh!“, machte Taiji, leise aber entschieden und schnalzte missbilligend mit der Zunge. Seine Stimme war eine Spur tiefer als sonst und vor allem rauer. Er hauchte einen Kuss in die Nähe von Yoshikis linkem Mundwinkel und ließ seine Hand ihren Weg fortsetzen – über prominente Hüftknochen, einen flachen Bauch und sich deutlich abzeichnende Rippenbögen. Als Taijis Finger seinen Oberkörper erreicht hatten, begann Yoshiki sich zu fragen, ob er nicht irgendetwas tun sollte, um hier wieder so etwas wie Ausgeglichenheit herzustellen – seine Hände lagen immer noch passiv dort, wo er sie vor einer gefühlten Ewigkeit geparkt hatte und er fühlte langsam den Druck seiner eigenen Erwartung, der Fairness halber irgendetwas zurückzugeben. Da er auf der rechten Seite nicht viel Spielraum hatte, löste er schließlich seine linke Hand von Taijis Nacken und versuchte, ebenfalls auf Wanderschaft zu gehen. Der Winkel war allerdings merkwürdig und er bezweifelte, dass es sich für den anderen Jungen so anfühlte wie Taijis Fingerspitzen auf seiner Haut, kribbelnd und brennend. Dennoch wurde er mit einem leisen Brummen der Zustimmung belohnt und das spornte ihn an. Er schob das Shirt ein Stück höher. Zu seiner Überraschung fanden seine Finger leichte Erhebungen und er brauchte einen Moment um zu begreifen, dass es Muskeln waren. Taiji musste einen Sixpack haben, und er redete nicht von Bier. Oder naja, dachte Yoshiki etwas fahrig und wanderte mit der Hand nach hinten, zu einem starken Rücken und dem steten Auf und Ab von Taijis Wirbelsäule, zumindest redete er nicht nur von Bier. Hier war der Winkel angenehmer für sein Handgelenk und er beschloss, sich fürs Erste auf die Rückseite zu konzentrieren. Die Hand des Bassisten geisterte inzwischen federleicht über seinen Oberkörper, fand eine besonders interessante Stelle und neckte ihn dort, und irgendwann zwischen dieser Empfindung und dem dazugehörigen Keuchen wurde Yoshiki auf einmal bewusst, dass seine Hosen an gewissen Stellen etwas fester saßen als geplant. Wie konnte Taiji derjenige sein, der das mit seinem Körper anstellte? Erneut bewegten sich ein Paar Lippen begierig gegen seine. Ah ja. So. Frage beantwortet. Am Ende des Kusses lehnte richtete sich Taiji mit einer leichten Grimasse ein Stück auf und veränderte seine Position ein wenig – vermutlich, damit ihm nicht in den nächsten zwei Minuten der Arm vollständig einschlief. Dadurch landete sein Knie etwas höher zwischen Yoshikis Beinen und war auf einmal nah – so nah, dachte Yoshiki mit einem leichten Anflug von Entsetzen, dass der Bassist es bemerken musste. Er hob den Blick und begegnete Augen von der Farbe dunklen Honigs. Yoshiki spürte, wie seine Wangen zu glühen begannen. „Das-“, begann er atemlos, obwohl er noch nicht wusste, wie er nach diesem Wort weitermachen wollte. (Das wurde irgendwie langsam zur Regel.) Doch da schnitt ihm bereits ein weiterer, kompromissloser Kuss das Wort ab. Während er an Yoshikis Unterlippe nippte, lehnte sich Taiji noch ein Stück nach vorne und verlagerte sein Gewicht noch etwas, entlastete dadurch seine Arme und sank dafür mehr auf Yoshiki. Und nun konnte dieser deutlich die Erregung des anderen Jungen an seinem Oberschenkel spüren. Nach einigen langen Sekunden, in denen sich auch der letzte Zweifel in Luft auflöste, unterbrach der Bassist den Kuss und sie blickten sich an. Yoshiki schloss den Mund und schluckte. Er hatte immer gedacht, dass ihm so etwas seltsam, vielleicht abstoßend vorkommen müsste, doch zu seiner Überraschung fühlte er nichts dergleichen. Taiji wollte ihn. Das Wissen, dass ihm das in gewisser Weise Macht über ihn gab und das seltsam berauschende Gefühl, das damit einherging, stiegen Yoshiki mit einem Kribbeln entlang der Wirbelsäule zu Kopf und vermischten sich dort mit dem vorhandenen Alkoholnebel zu einem äußerst aufregenden Cocktail, und als Taiji schließlich den Blickkontakt brach und mit seiner Aufmerksamkeit zu seinem Hals zurückkehrte, schloss Yoshiki die Augen und legte den Kopf genießerisch in den Nacken. Er hatte noch ausreichend Gelegenheit sich zu fragen, ob Taiji wohl ähnliche Gedanken hatte und wer von ihnen beiden die Situation jetzt wirklich kontrollierte. Doch bevor er auch zu einer Antwort gekommen wäre, spürte er Taijis Hand in seinem Schritt, streichelnd und forschend. Yoshiki riss die Augen wieder auf und hob den Kopf ein wenig, gerade genug für einen schockierten Blick. Sein Nacken protestierte gegen die Bewegung. Sofort hörte Taiji auf, seinen Hals zu liebkosen und betrachtete ihn aus einer Handbreit Entfernung, offenbar in Erwartung der Reaktion, die seine Handlung auslösen mochte. Yoshiki zögerte. Die Hand fühlte sich gut an, doch darum ging es nicht. Es überschritt eine Grenze. Alles bisher konnte man vielleicht noch mit jugendlicher Verrücktheit, Bier, Ausprobieren wegerklären. Aber das hier, das fiel definitiv nicht mehr in die Kategorie ‘Selbstfindung‘. Yoshiki schluckte einmal, sein Hals war trocken. Der Bassist hielt mit der Bewegung seiner Hand inne und als Yoshiki ihn ansah wurde er sich in Taijis Augen etwas gewahr, das er noch nie dort gesehen hatte: Unsicherheit. Noch starrten sie einander regungslos an, doch Yoshiki wurde bewusst: wenn er nicht innerhalb der nächsten drei Sekunden irgendwie reagierte, war das alles hier vorbei. Tick. Es war komisch. Gott. Es war so komisch. Aber es war auch interessant. Ihm war heiß. Warum war ihm so heiß? Tock. Mochte er Taiji? War Taiji hübsch? Woran merkte man, ob ein anderer Mann hübsch war oder nicht? War das wichtig? Was waren sie beide nach dem hier? Tick. Falsch. Alles hieran war falsch. Aber auch das war interessant. Crap. Mit ihm war etwas falsch! An dieser Stelle erwartete Yoshiki eine Welle aus Panik oder zumindest angemessenen emotionalen Schmerz, doch nichts passierte. Vielleicht, weil ihn die Erkenntnis im Grunde nicht überraschte. Natürlich war etwas falsch mit ihm. Die meisten Menschen dachten das doch anscheinend, oder nicht? Taijis Worte kamen ihm in den Sinn: Ist doch scheißegal, was die Leute reden. Die wissen halt nicht, wie das ist. Wenn die Leidenschaft dich ruft, dann folgst du. Was willst du sonst machen? Ach, Scheiße, dachte Yoshiki durch den Dunst in seinem Kopf hindurch. Er wollte nicht darüber nachdenken, was das hier bedeutete oder was danach passierte. Er wollte, dass der Moment, in dem es zu Ende war und er irgendwie damit umgehen musste, niemals kam. Er war jung und man lebte nur einmal und er wollte Versuchungen nachgeben, denn wer wusste, wann sie wiederkamen und so weiter. Er wollte einmal nicht nachdenken. Leben, bevor man starb. Ja! Er zog sich aus den Bauchmuskeln nach oben, fing mit der rechten Hand den Hinterkopf eines sich gerade zurückziehenden Taiji ein und küsste ihn, so ungestüm, dass ihre Zähne dabei aneinander schlugen. Aber das war egal: die Nachricht kam an. Als Yoshiki den Kuss löste, um sich wieder bequemer zurückzulehnen und vor allem seinen Nacken von seiner undankbaren Aufgabe zu erlösen, wurde er sich eines Lächelns in Taijis Gesicht gewahr, das zu gleichen Teilen aus freudiger Erwartung und Erleichterung zu bestehen schien. Doch ein wohlwollendes Lächeln reichte ihm gerade nicht. Kurz aber entschieden bewegte sich Yoshiki dem strategisch günstig platzierten Oberschenkel entgegen, um deutlich zu machen, was er wollte. Der Bassist nahm sein Tun wieder auf, eine Spur gröber als zuvor. Ein leiser Laut bildete sich in Yoshikis Kehle, doch wurde von einem weiteren Kuss erstickt, bevor er jemals wirklich eine Stimme gefunden hätte. Schließlich verschwand Taijis Hand von seiner Erregung und Yoshiki quittierte es mit einem unzufriedenen Knurren. Doch über den Kuss hinweg bemerkte er am Rande, wie Taiji an seiner Hose herumnestelte. Schließlich hatte er Erfolg damit und seine Hand schob sich tiefer, eroberte sich Platz in Yoshikis Hose und massierte ihn nur noch durch den dünnen Stoff seiner Shorts hindurch. Es war nun auch für den Bassisten ein merkwürdiger Winkel und er war nicht sonderlich geschickt dabei, doch gerade war jede Stimulation gute Stimulation. Yoshiki seufzte und schloss die Augen und ließ ihn machen. Schließlich stellte er umständlich das rechte Bein auf, hob das Becken leicht an und ermöglichte Taiji einen besseren Griff, was dieser mit einem leisen, etwas amüsierten Geräusch quittierte. Augenblicklich wurden seine Bewegungen sanfter und gezielter, umfassten ihn durch die letzte Lage Kleidung und streiften dabei immer wieder die empfindliche Spitze. Sie hatten irgendwann aufgehört sich zu küssen und Yoshiki biss sich auf die Unterlippe, um die kleinen Laute zurückzuhalten, die sich Bahn zu brechen drohten. Nach einigen Minuten öffnete er die Augen und ließ den Blick über die Szene wandern, in der sie beide die Hauptrollen spielten. Der Anblick, wie Taijis Hand halb in seiner Hose verschwunden war und sich dort aufreizend bewegte, erschien ihm zugleich obszön und in seiner Undeutlichkeit erregend, in seiner Wirkung vielleicht vergleichbar mit der Silhouette einer duschenden Dame. Yoshiki blinzelte und streckte den linken Arm aus, in einem halb durchdachten Versuch, die Nettigkeiten zu erwidern. Doch er konnte nichts erreichen, das unterhalb von Taijis Rücken lag. Also legte er seine Hand schließlich wieder unter seine Schulterblätter und bestaunte die Art und Weise, wie er die Bewegung von Taijis Fingern bis in seinen Rücken hinein spüren konnte. Die Finger seiner anderen Hand hatten sich irgendwo in Taijis Oberarm gekrallt und würden wohl bald Spuren hinterlassen. Ein überraschtes Geräusch kam ihm über die Lippen. Taiji hatte begonnen, sein Becken parallel zu den Bewegungen seiner Hand gegen seinen Oberschenkel zu pressen. Der Bassist stellte Blickkontakt her und einen Moment lang glaubte Yoshiki, dass er einfach auf Augenkontakt während des Akts stand. Dann erkannte er, dass er um Erlaubnis fragte. Ein erneutes Kribbeln wanderte Yoshikis Wirbelsäule nach oben. Taiji bat um etwas. Na, das würde er mal unter F für Fortschritt ablegen! Er lächelte schief, hob den Kopf noch einmal an und hauchte Taiji einen winzigen Kuss auf die Lippen. Dieser lächelte schief zurück und setzte zur Verfolgung seiner eigenen Erfüllung an. Hätte man ihm diese Situation nur beschrieben, Yoshiki wäre sie absonderlich vorgekommen und er hätte jede Zustimmung seinerseits vehement verneint. Doch jetzt, wo es passierte, störte es ihn gar nicht: Das laszive Reiben von Taijis Härte an seiner Seite war nur eine weitere Schicht von Empfindung in einem anregenden Zusammenspiel. Einige Herzschläge lang, in denen sie beide sich ihren jeweiligen Empfindungen hingaben, blieben ihre Gesichter so nah beieinander, dass Yoshiki Taijis heißen Atem auf seiner Wange spüren konnte. Dann wanderten seine Lippen wieder tiefer, zurück zu Yoshikis Hals, wo er küsste, biss und leckte - genau an der richtigen Stelle. Das wohlbekannte Gefühl einer sich immer mehr zusammenziehenden Hitze begann in Yoshikis Unterbauch zu köcheln, immer weiter angeheizt von Taijis Händen und Lippen, seinen leisen Geräuschen und der Wärme seines Körpers auf Yoshikis. Wann genau hatte er ihn so gut gelernt?, dachte Yoshiki matt, und warum konnte er so viele Dinge gleichzeitig tun, wenn er selbst schon Probleme damit hatte, gleichzeitig zu atmen und diesen Rücken zu streicheln? Taijis Hand machte eine äußerst wohltuende Bewegung und etwas wie ein Quieken, das gut eine halbe Oktave über seiner normalen Stimmhöhe lag, verließ Yoshikis Mund. Seine Zehen kringelten sich in seinen Schuhen und seine Beinmuskulatur spannte sich zittrig an. Er wurde noch eine Spur roter, als er ohnehin schon war, als ihm auf einmal bewusst wurde, wo das hier hinführte. Der andere Junge lachte geräuschlos und wiederholte sein Handeln, wieder gewohnt selbstsicher und gekonnt. Yoshikis Fingernägel gruben sich in Taijis Rücken und er drehte das Gesicht ein Stück in Richtung Rückenlehne. Er konnte doch nicht zulassen, dass Taiji ihn so sah! Das war doch viel zu – viel zu – peinlich hatte er noch denken wollen, doch da war es bereits zu spät: Mit einem Mal war die Hitze überall, raste von ihrem Zentrum aus durch seine Adern, schaltete sein Gehirn für ein, zwei Sekunden komplett ab und hinterließ ein leises Klingeln in seinen Ohren. Plötzlich war da wieder ein Mund auf seinem und sein leises Stöhnen ging in einem letzten, tiefen Kuss unter. Noch während die Vereinigung ihrer Lippen andauerte, wurde sich Yoshiki gewahr, wie Taijis Bewegungen energischer wurden und schließlich erschauderte der Bassist mit einem rauen Keuchen, welches ihren Kuss unterbrach. Es dauerte ein paar Sekunden, bis Yoshiki begriff, was soeben passiert war: Taiji war gekommen, ohne dass er ihn auch nur berührt hatte. Yoshiki streichelte ihm einmal über den Kopf und konnte sich ein leichtes Grinsen nicht verkneifen. Er hatte die Situation kontrolliert. Eindeutig. Mit geschlossenen Augen atmete er einige Male durch, bis sich sein Herzschlag wieder etwas beruhigt hatte. Die Stirn an Yoshikis Schulter gelehnt, tat Taiji es ihm gleich. Sie blieben länger so liegen, als es unbedingt nötig gewesen wäre und Yoshiki führte es darauf zurück, dass keiner von ihnen scharf darauf war, dem anderen ins Gesicht sehen zu müssen. Doch schließlich machte Taiji den Anfang. Er zog die Hand aus Yoshikis etwas feuchter Hose, setzte sich auf und richtete umständlich seine eigenen Verhältnisse. Der Schlagzeuger stemmte sich in eine sitzende Position hoch und zog seine Sachen wieder anständig an. Seine Unterwäsche klebte unangenehm an der Haut. Das würde später noch schön werden. Er seufzte lautlos. Dann ließ es sich nicht mehr vermeiden: Sie sahen einander an. Eine tiefe Stille legte sich über den Raum. Offenbar hatte das flüchtige Hoch auch einen Teil ihres Rauschs geklärt. Das war jetzt der Moment, dachte Yoshiki, den er vorhin gemeint hatte. Der schreckliche Moment, in dem einem bereits klar geworden war, was man gerade getan hatte und in dem man eine Entscheidung treffen musste, wie man jetzt damit umging. Bedeutete das hier nun etwas? Yoshiki gab sich einen Wimpernschlag, um in den honigbraunen Augen zu versinken und dachte dann: Nein. Es bedeutete nichts. Emotional war alles unverändert. Er war nicht einmal verwirrt, so eindeutig war es. Er mochte Taiji nicht sonderlich. Er hatte keine Ahnung, ob er ihn zumindest attraktiv fand. Und sie beide – sie beide waren jetzt… zwei Menschen mit demselben Geheimnis. Nicht mehr. Nicht weniger. Gut soweit. Blieb noch eines zu tun: Entscheiden, wie es weiterging. Es fiel ihm erstaunlich leicht. „Das hier“, sagte Yoshiki eindringlich, Taijis Blick nach wie vor erwidernd, „nehmen wir mit ins Grab.“ Taiji blieb still, solange wie er brauchte, um noch einmal zu blinzen. Dann nickte er, ernst und fast feierlich, doch bevor er ganz damit fertig war, begann er zu grinsen - erst ein wenig und dann immer mehr. „Ok“, stimmte er zu. Er lehnte sich zur Seite und griff über die Armlehne, wohin sich seine Jacke vor geraumer Zeit verabschiedet hatte und kramte in den Taschen. Schließlich zog er eine Schachtel Mild Sevens hervor. Mit einem betont unschuldigen Gesichtsausdruck streckte er sie Yoshiki übers Sofa. „Zigarette?“ Yoshiki blickte ihm wenig begeistert entgegen. Hinter seinem lammfrommen Augenaufschlag lag Taiji lachend in der Ecke – es stand quasi auf seiner Stirn, so offensichtlich war es. Der Schlagzeuger seufzte. Er hätte vorhin einfach nach Hause gehen sollen. -X- Yoshiki stand vor dem Badezimmerspiegel und starrte fassungslos hinein. Er wollte einfach nicht glauben, was er dort sah. „Yoshiki!“, sagte seine Mutter von der anderen Seite der Tür und klopfte. „Kann ich reinkommen? Ich muss langsam los!“ „Äh“, machte Yoshiki und griff nach seiner Zahnbürste und trug sie einmal am Wasserhahn vorbei, „klar!“ In dem Moment, in dem sie die Tür öffnete, stellte er das Utensil wieder zurück, wie jemand, der die letzten zehn Minuten mit Zahnpflege zugebracht hatte – und nicht damit, das eigene Ebenbild in einer reflektierenden Glasfläche zu betrachten. Gleichzeitig hob er die Hand zu seinem Hals, hier eine ungeplante Bewegung. Seine Mutter schob sich an ihm vorbei zum Regal und griff nach ihrer Haarbürste. Er war schon auf halbem Weg zur Tür, als sie über das Kämmen hinweg fragte: „Ist alles in Ordnung?“ „Mmh?“ Er drehte sich um, bemerkte, wo seine Hand war und spürte, wie er rot anlief. „Oh. Äh. Ja. Ich hab mich nur… verlegen. Genau. Hab einen schönen Tag!“ Schleunigst flüchtete er auf den Gang und kehrte in sein Zimmer zurück. Erst dort betastete er noch einmal seinen Hals. An der Stelle, die aussah, als habe sich ein fetter Karpfen dort festgesaugt, spürte er zwar nichts ungewöhnliches, doch es tat ein bisschen weh. Er ließ sich auf seinen Futon fallen. Betrachtete seine Hand, als erwarte er, dass das Ding sich ausbreitete. Natürlich nichts zu sehen. Er hörte die Badezimmertür. „Tschüss mein Schatz!“, rief seine Mutter und gleich darauf verschwanden ihre leichten Schritte die Treppe hinunter. „Tschüss!“, rief er zurück, in Gedanken bei etwas ganz anderem: Wie zum Henker tarnte man so was im Frühsommer? Scheiße, verfluchte! Unten fiel die Haustür ins Schloss. Yoshiki zählte bis hundert, bevor er zum Telefon im Flur ging und nach kurzem Suchen eine der Nummern auf den kleinen Zetteln an der Wand wählte. Es tutete. Yoshiki tappte ungeduldig mit dem Fuß. „Sawada de gozaimasu“, meldete sich eine etwas unangenehme Frauenstimme. „Hallo, Hayashi Yoshiki hier“, sagte Yoshiki und stützte sich an der Küchentür ab. „Könnte ich bitte Taiji sprechen?“ „Kleinen Moment bitte“, sagte die Frau. Er hörte ein Klonk, mit dem der Hörer abgelegt wurde, dann nichts und dann Geräusche und Worte, die zu weit entfernt waren, um sie zu verstehen. Schließlich knisterte es, als jemand das Telefon aufhob. „Ja?“, drang Taijis Stimme aus dem Hörer. Yoshiki nahm das Telefon vom Ohr, hielt sich den Sprechmuschelteil frontal vor den Mund und brüllte: „DU ARSCHLOCH!“ Dann legte er auf. Und atmete durch. Schon besser. Kapitel 13: Never Gonna Stop ---------------------------- Yoshiki hatte oft in seinem Leben das Gefühl gehabt, dass Dinge nicht schnell genug gingen. Dass die Zeit sich in die Länge zog wie ein geschmolzenes Karamellbonbon und man gezwungen war, sinnlos in der Gegend herumzusitzen und auf etwas zu warten. Zum Beispiel darauf, am Klavier an die Pedale zu kommen. Darauf, endlich mit der Schule fertig zu sein. Zwanzig zu werden. All das. Doch jetzt, wo ihnen in der zweiten Maihälfte ein Termin ins Haus stand, verging die Zeit auf einmal zu schnell. Nach jeder Bandprobe lag er nachts im Bett, wälzte sich von links nach rechts und wieder nach links und dachte an die Millionen Dinge, die er vor dem Auftritt eigentlich noch getan sehen wollte. Die meisten von ihnen, wurde ihm klar, würde er auf spätere Gelegenheiten verschieben müssen. Es würde nicht perfekt werden. Und obwohl er diesen Anspruch nie realistisch hätte haben können, machte es ihn wahnsinnig, hinter seinen eigenen Erwartungen zurückzubleiben. Drei Tage vor dem besagten Samstag schließlich saßen sie im Proberaum beieinander und gingen ein letztes Mal die Planung durch: wer wann wo sein musste, mit welcher Ausrüstung und wer wann vorher noch irgendwen anrufen musste, um irgendetwas zu klären. Yoshiki schrieb mit und nickte schließlich. Ihm fiel nichts mehr ein, das sie vergessen hatten. Es schien ihm in Ordnung so. Nicht perfekt – aber in Ordnung. (Der Nerv unter seinem linken Auge zuckte immer ein wenig, wenn er ‘in Ordnung‘ sagte oder auch nur dachte. Doch er gewöhnte sich allmählich daran.) „Ok“, sagte er schließlich und wiederholte noch einmal: „Also treffen wir uns um drei Uhr hier.“ „Wir haben’s langsam begriffen“, brummte Taiji. Er hing gelangweilt in seiner Sofaecke herum und drehte sich eine lockige Haarsträhne um den Finger. Eigentlich freute er sich auf den Auftritt, doch Yoshiki nahm den Dingen wirklich auch noch das letzte bisschen Spaß. Der Schlagzeuger war wie die menschliche Version von Mathehausaufgaben. Yoshiki ignorierte ihn. „Ich bring Wasser für unterwegs mit, aber Essen müsst ihr selbst machen.“ „Und du bist sicher, dass dich das nicht stresst?“, fragte Toshi seinen Freund. „Hinfahren, Spielen, Zurückfahren?“ Yoshiki drehte seinen Kugelschreiber zwischen den Finger. „Was ist die Alternative?“, fragte er, ohne es wirklich wie eine Frage klingen zu lassen – er erwartete keine Antwort. Doch er bekam eine. „Ich kann hinfahren“, bot hide an. „Du kannst fahren?“ Toshi schaute überrascht zur Seite. Er hatte sich neben hide auf die Armlehne gesetzt, möglichst so, dass es unauffällig und gleichzeitig locker-lässig war. Zumindest hoffte er das. hide hob die Schultern. „Ich bin neunzehneinhalb, natürlich kann ich fahren.“ „Seit wann?“ „Seit bevor wir uns kannten.“ „Das ist super!“, rief Yoshiki entzückt und zückte seinen Plan. „Dann können wir uns zumindest abwechseln!“ „Äh…“, machte hide. „Ja. Ok. Hör zu. Ich kann fahren, solange es hell ist, aber wenn es dunkel wird, seh ich nichts mehr.“ Yoshiki runzelte die Stirn und ließ seinen Plan wieder sinken. Er hätte es wissen müssen! Sich zu früh freuen führte nur zu Enttäuschungen. „Seit wann siehst du nachts nichts?“ Soweit er sich erinnerte, war er mit hide jetzt schon öfter nach Einbruch der Dunkelheit unterwegs gewesen. „Ja, ich seh schon…“, gab sich hide Mühe, es zu erklären, „aber es… es ist komisch. Also ich fall jetzt nicht über meine eigenen Füße, aber du willst mich nicht bei achtzig Meilen die Stunde ans Steuer einer Blechdose setzen. Wir werden Flecken auf dem Asphalt, glaub mir.“ Igitt… „Danke für dieses schöne Bild“, murrte Yoshiki. „Aber im Ernst, willst du mich verarschen?“ Auch hier erwartete er keine Antwort. Doch wenn er sich Unterstützung gewünscht hatte, dann nachts nach einem vermutlich sehr anstrengenden Tag. „Sorry“, sagte hide und rieb sich schuldbewusst über den Hinterkopf. Seine Haare waren wieder zu lang und puschelten fröhlich in alle Richtungen. „Aber wie gesagt: Ich kann hinfahren, wenn du willst.“ „Hin nehmen wir die Fähre“, sagte Yoshiki und tippte auf seine Liste. Gut, dass er alles fünfmal sagte, denn anscheinend fruchtete es doch nicht! „Da brauch ich keinen zweiten Fahrer.“ „Sorry“, sagte hide noch einmal. „Jaja“, machte Yoshiki und rieb sich über die Augen. Dann hing es also an ihm. Genau wie er es mochte. -X- Drei Tage später schließlich fuhr Yoshiki am frühen Nachmittag mit dem alten Datsun seiner Mutter vor dem Haupteingang vor. Er schaute ein wenig zu oft in die Seiten- und den Rückspiegel, um wirklich den Eindruck eines souveränen Fahrers zu erwecken, doch dass Toshi bereits die Fahrt zum Proberaum überlebt hatte, schien die anderen Anwesenden ein wenig zu beruhigen. Zumindest die meisten. „Ich bin mir nicht ganz sicher“, sagte Taiji, als er zuletzt noch draußen stand, „dass ich mich gut dabei fühle, bei dir einzusteigen.“ „… dann bleib hier“, antwortete Yoshiki betont gleichgültig, ging um den Wagen herum, stieg ein und knallte die Fahrertür lauter, als notwendig gewesen wäre. -X- Insgeheim war Yoshiki allerdings froh, dass Taiji sich noch zum Einsteigen bequemte. Davon abgesehen, dass er jemanden am Bass brauchte, tauschte Taiji nämlich auf der Fähre Platz mit Toshi und lotste Yoshiki ab da in die richtige Richtung. Die Aussage ‘Ich war schon mal dort, ich find wieder hin‘ hatte ihn zwar nicht überzeugt, aber so hatte er zumindest die Möglichkeit, die Schuld im Zweifelsfall auf Taiji abzuwälzen. Doch zu seiner Überraschung hielten sie eine knappe Stunde später vor einem kleinen Gebäude irgendwo zwischen Industriegebiet und Hafen. MOTO stand über der Tür, doch ansonsten schien es unscheinbar und verlassen. Sie stiegen aus und Taiji öffnete die schwere Eingangstür, indem er sich mit der Schulter dagegen lehnte. Dahinter lag ein schmaler Eingangsbereich. Das Licht, das an ihnen vorbei fiel, erhellte alte und neue Plakate an jedem Zentimeter Wand, vermutlich über Jahre hinweg Schicht um Schicht aufgeklebt. Nahe der Tür, zu seiner Rechten, erblickte Yoshiki die Ankündigungen für die kommenden Wochen: Heute EmilY und darunter (wesentlich kleiner gedruckt) X, nächste Woche eine Lesung moderner Literatur, die Woche darauf Strandparty – Mädchen im Bikini trinken umsonst. Ah ja. Er tauschte einen Blick mit Toshi, der seinem Stirnrunzeln nach ebenfalls gelesen hatte. Sympathischer Laden… „Wartet.“ Taiji ging zur anderen Seite hinüber, tastete kurz herum und dann flackerte eine kleine, kahle Glühbirne auf, die an ihrem Kabel einsam von der Decke baumelte. Der Bassist winkte sie zu sich. „Und ach ja“, hängte er an, während sie dem Flur einige Stufen nach unten folgten und zu Taiji aufschlossen, „wenn jemand fragt: wir sind alle zwanzig.“ Hinter ihnen fiel die Außentür laut ins Schloss. Yoshiki runzelte die Stirn. „Hast du deinen Typen da angelogen?“ „Natürlich nicht.“ Taiji blickte ihn über die Schulter hinweg an, als wäre er ein bisschen dämlich und ließ seine Augen einmal rollen. „Aber das muss die Geschichte sein. Klar soweit?“ Der Schlagzeuger betrachtete ihn nochmal genauer. Unter seinem Hut und seiner Mähne sah Taiji einfach scheiße jung aus. Das glaubte doch niemand. „… wie alt bist du nochmal?“, murmelte er, als er hinter Taiji in den Raum trat. „Siebzehn“, murmelte Taiji zurück, dabei kaum die Lippen bewegend. „Und du musst gar nicht so schauen, Mister Acht-Monate-Älter. Ich bin zwanzig, da wo’s zählt.“ Es vergingen zwei Sekunden in denen Yoshiki nur darauf wartete. Und er wurde nicht enttäuscht: „… wie du weißt.“ Yoshiki klappte den Mund auf, um Taiji unauffällig zu sagen, was er von seiner Technik hielt, doch auf der anderen Seite war ein Mann aus den Hinterzimmern aufgetaucht, angelockt vom Geräusch der Eingangstür. Er war in seinen Enddreißigern, hatte einen sorgsam gezüchteten Dreitagebart und trug Jeans in Kombination mit einem Shirt von Queen. Es hatte ein Loch am Unterbauch und jetzt, wo er es bemerkt hatte, konnte Yoshiki nicht anders, als es anzustarren. „Jo“, grüßte Taiji und hob die Hand. Ein Grinsen breitete sich auf dem Gesicht des Mannes aus. „Taijiiii!“ Sie umarmten sich genau so lange, wie man brauchte, um sich gegenseitig zweimal auf den Rücken zu klopfen. „Das ist Soji“, sagte Taiji dann und der Mann verbeugte sich leicht. „Soji, das ist meine neue Band.“ Der Blick des Vorgestellten wanderten einmal über die vier Jungs ihm gegenüber. „Uhm…“ machte Yoshiki. „Hi.“ Er fühlte sich zur Nebenfigur degradiert… und das wollte ihm so gar nicht passen. Zeit, das Ruder wieder an sich zu reißen – Taiji konnte später noch mit seinen Freunden spielen. „Hayashi Yoshiki“, sagte er also mit einer Verbeugung. „Erfreut.“ Soji grinste. „Ihr seid ja höflich." Yoshiki beschloss, den feinen Spott zu übergehen. Immerhin konnte er sich ein ordentliches T-Shirt anziehen. Er musste sich hier nichts beweisen. Also fragte er, statt darauf einzugehen: „Ist die andere Band schon da?" Soji nickte. „Ja“, sagte er. „EmilY haben heute Mittag schon aufgebaut. Sie wollten dann irgendwo was essen und… ‘chillen‘ und dann zurückkommen.“ Er drehte sich um und rief in die Untiefen seines Ladens hinein: „Hide! Hideeee!“ hide schaute verwirrt. Vor allem, als plötzlich eine Stimme erklang. Es rumpelte und klapperte und dann erschien ein junger Mann mit Aknenarben und einem Jack Daniels Shirt aus einer Tür, auf der 'Privat' stand. Soji wandte sich an die Band. „Das ist Hide“, erklärte er unnötiger Weise. „Mein Mensch für den Ton und die Technik. Ich lass euch mal machen. Taiji kennt sich ja schon aus, ist wie beim letzten Mal. Getränke stehen hinten. Ich bin im Büro, wenn ihr was braucht.“ Er hob die Hand und verschwand auf dem Weg, den Hide gerade gekommen war. Dieser nickte. „Ja“, sagte er, „Hallo. Macht euch hier mal irgendwo breit und dann richtet euch auf der Bühne ein und wir schauen mal kurz, ob alles läuft.“ Als Yoshiki seine Tasche auf einem der Stühle abstellte und sich aus seiner Jacke schälte, beugte hide sich zu ihm. „Gerade als ich begonnen hatte zu glauben, ich wäre einzigartig“, murmelte er. „Ich sag dir, irgendwann heute im Lauf des Tages wird mich das irritieren.“ Yoshiki musste schmunzeln. „Glaub mir, einen wie dich gibt’s nur einmal.“ „Und den Göttern sei Dank dafür“, sagte Taiji auf hides anderer Seite, wo er seinen Bass auspackte. Gleich darauf musste er einem Ellenbogen ausweichen und kicherte albern. „Schlagzeug?“, fragte Hide vom Mischpult aus. „Ja?“, fragte Yoshiki zurück. „Du spielst auf dem Set, das da steht, oder?“ Das wurde ja ein richtiges Frage-Frage-Spiel hier! „Becken hab ich eigene dabei.“ So besagte es die Schlagzeuger-Etikette. „Ah“, sagte Hide und wandte sich wieder seinen Schaltern und Reglern zu. „Dann bau die hin. Aber pass auf, dass du die Mikros nicht wegreißt.“ Yoshiki verzog das Gesicht. Was glaubte der Typ, das er war, bescheuert? Doch als er durch den Raum ging, am Mischpult vorbei und vorsichtig über die Kabel hinweg stieg, die quer über die kleine Bühne lagen, wurde er sich bewusst, wie wenig er eigentlich von all dem hier verstand. Er hatte keine Ahnung, wie genau der Sound in die Lautsprecher kam und wofür die vielen kleinen Applikationen auf dem Mischpult da waren. Er musste sich also darauf verlassen, dass der Typ dort wusste, was er tat und es noch dazu so machen würde, wie Yoshiki es wollte. Das… war nicht nur schrecklich. Es war inakzeptabel. Er schraubte also seine Becken auf die Ständer und setzte sich dann auf den Hocker. Wer hier spielte war größer als er. Yoshiki drehte den Hocker ein paar Mal und ließ sich wieder darauf sinken. „Du kannst runter kommen“, sagte Hide. „Ich?“, fragte hide irritiert, der gerade seine Gitarre anschloss. „Nein. Schlagzeug.“ „Wieso?“, fragte Yoshiki und blieb sitzen. „Weil ich die Becken schon hab und der Rest nicht verkabelt ist. Das ist laut genug auf den kleinen Raum.“ Sie lieferten sich ein kurzes Blickduell. Dann stand der Schlagzeuger zähneknirschend auf. Woher auch immer er lernen würde, wie man abmischte – Hide würde er nicht nach Tipps fragen. -X- Die Diskothek hatte einen winzigen Raum im hinteren Teil, der wohl eigentlich das Lager war, aber gleichzeitig auch als Backstage für Gelegenheiten wie diese diente. Es war wenig mehr als vier Wände, ein Tisch und eine Ladung Klappstühle. Sie waren vielleicht eine halbe Stunde dort, als das Hauptevent des Abends einlief. Die vier Jungs Mitte zwanzig fielen lachend und lärmend in den Raum ein und wandten ihre Aufmerksamkeit erst Yoshiki und seiner Band zu, als diese ein paar Sekunden Zeit gehabt hatten, sie zu bewundern. Und man musste ihnen lassen: cool waren sie. Einer von ihnen trug einen Schlangenohrring und Lederarmbänder, einer hatte eine Frisur wie ein Igel, der dritte hatte seinen Haaren auf einer Seite eine weiße Strähne verpasst und der vierte... nun, war eigentlich nur sehr, sehr groß und sehr, sehr breit. Aber auch das machte Eindruck. Auf seine Art. „Jo“, sagte der, der voranging. Der mit dem Schlangenohrring „Was geht. Wir sind EmilY. Ich bin Shinji, das sind Jin und N und der Typ, der schon wieder isst, ist Kaito.“ „He!“, sagte Kaito stumpf an einer Hand voll Crackern vorbei. Yoshiki erkannte seine Stimme – sie hatten telefoniert. „Uhm… Sehr erfreut“, sagte Yoshiki und begann: „Wir sind X. Das –“ „Kraaass!“, unterbrach ihn der Typ mit den stachligen Haaren, den Shinji als Jin vorgestellt hatte. „Du bist ja ein Kerl!“ Yoshiki blinzelte einmal. Dann noch einmal. Dann noch dreimal schnell hintereinander. „Äh“, machte er schließlich. „Ja?“ „Hahaaa!“, rief Shinji und patschte ihm einmal kumpelhaft die Hand auf die Schulter. „Nichts für ungut, Mann. Aber ehrlich – wie wär’s mal mit ein bisschen Bart oder Muskeln, hu?“ „Gut, dass du das noch gemerkt hast“, bemerkte N trocken in Jins Richtung. „Du hättest ihn sonst noch angegraben.“ „Äh…“, machte Yoshiki noch einmal. Er wusste nicht genau, wie er mit dieser Situation umgehen sollte. Irgendwo in seinem optimistischen Hirnteil hatte er sich ausgemalt, dass heute bestimmt wunderbare Musikerfreundschaften entstehen würden, die sie über die Jahre pflegen und ausbauen und nutzen konnten. Doch von diesem schönen Bild musste er sich wohl verabschieden. Er sah EmilY dabei zu, wie sie ihre Instrumente abstellten und schaute schließlich etwas hilflos über die Schulter zu denjenigen seiner Bandmitglieder, die er sehen konnte. Es waren Toshi und Taiji. Der Sänger schien genauso verblüfft und unfähig zu einer angemessenen Reaktion wie er selbst, doch auf Taijis Augen hatten sich gefährlich zu Schlitzen verengt. Als er aber einen halben Schritt nach vorne machte, war er wieder so cool wie immer. „Hört mal-“, begann er. Doch weiter kam er nicht. „He Cowboy“, sagte Shinji, „das Rodeo ist noch ein Stück die Straße runter.“ N und Jin lachten laut auf. Der Schlagzeuger hätte es ihnen vielleicht gleichgetan, doch es musste schwer sein mit vollem Mund. Taiji klappte den Mund wieder zu, nahm wortlos eine Cola vom Tisch und verschwand nach draußen auf den Gang. Entweder war ihm das hier zu blöd oder, und das konnte Yoshiki langsam nachvollziehen, er verspürte den ungesunden Drang, irgendjemandem das Nasenbein neu zu arrangieren. „Boah, scheiße“, sagte Kaito an seinen Chips vorbei. „Ich glaub, jetzt ist er eingeschnappt.“ „Das ist ok“, sagte N mit der hellen Strähne, „ich spendier ihm später im Saloon einen Drink.“ Noch einmal wieherndes Gelächter. Yoshiki seufzte lautlos. Das hier hatte keine Zukunft. Er drehte sich zu den drei verbliebenen Mitgliedern seiner Band um und nickte zur Tür. Sie konnten sich bis sie dran waren auch draußen einrichten. Toshi und Pata nickten, doch hide, der immer noch mit seiner Gitarre auf dem Schoß auf einem der Klappstühle saß, reagierte nicht schnell genug: Man hatte ihn bereits entdeckt. Mit wenigen Schritten war Shinji bei ihm. „Schaut euch das mal an!“, sagte er erheitert bis fasziniert und hob hides Unterarm an. „Was sind denn das für Patschehändchen!“ „He!“, machte hide ungläubig und riss seine Hand los. Shinji lachte. „Nichts für ungut, Kleiner.“ Er setzte hide seine Fingerspitzen wie einen Hut auf den Kopf und beugte sich zu ihm hinunter. „Komm, ich zeig dir ein paar Tricks. Da kannste noch was lernen.“ Er drehte sich um, zog einen Stuhl zu sich herüber und ließ sich darauf fallen. „Ihr seid ja echt ein lustiger Haufen“, murmelte er, während er seine Gitarre auspackte. Über seinen Kopf hinweg warf Yoshiki hide einen fragenden Blick zu und schlug mit der geballten rechten Faust leicht in die flache linke Hand. Er war bereit, Ärsche zu treten, wenn es das war, was passieren musste. Doch hide schenkte ihm nur ein ausdrucksloses Gesicht und wandte sich wieder an Shinji. Dieser fragte gerade: „Kannst du Palm Muting?“ „Ich hörte noch nie von diesen Palmen“, sagte hide blöde und Yoshiki sah zu, dass er nach draußen kam – um sein aufkeimendes Lachen zu verstecken. Sein Gitarrist kam zurecht. Toshi und Pata hatten es sich in einer Ecke der Bar gemütlich gemacht und Yoshiki beschloss, dass jetzt vielleicht ein guter Zeitpunkt war, sich umzuziehen. Auf dem Rückweg vom Auto entdeckte er hinter den Müllcontainern Taiji, der an einer Kippe zog. Einen Moment lang wollte Yoshiki einfach so tun, als habe er ihn nicht bemerkt, doch da stellte Taiji Augenkontakt her und die Option löste sich in Luft auf. „Wieso rauchst du nicht drinnen wie ein normaler Mensch?“, fragte Yoshiki, als er nahe genug herangekommen war. Taiji zuckte mit den Schultern und Yoshiki stellte sich in einer Armlänge Abstand neben ihn. „Hast du noch eine?“ „Mmh“, machte Taiji und zog die Schachtel aus der Jackentasche. Eine halbe Zigarette lang standen sie paffend nebeneinander. Es dämmerte. „Sorry“, sagte Taiji schließlich. Yoshiki hob den Blick. „Wofür?“ Taiji nickte zur Bar hin. „Hierfür. Ich… ich dachte nicht, dass das so laufen würde. Ist nicht gerade der beste Einstieg für die Band… nehme ich an.“ Der Schlagzeuger zuckte mit den Schultern und nahm einen langen Zug an seiner Zigarette. „Naja“, sagte er schließlich. „Wir sind ja nicht wegen denen hier. Warten wir’s ab.“ Er tippte Asche auf den Boden. „Kennst du EmilY?“ Taiji hob eine Schulter. „Nicht in der Zusammensetzung. N und Kaito hab ich schon mal gesehen. Vor einem Jahr oder so. Sie sind eigentlich ganz gut. Dachte nicht, dass sie hinter der Bühne so sein würden.“ Nachdem sie die beiden erlebt hatten, waren keine Ausführungen mehr nötig. Yoshiki wusste, was er sagen wollte. „Ich hoffe bloß, hide hält die aus. Ist er noch drin?“ Yoshiki nickte, doch winkte ab. „Ach… Du unterschätzt ihn. Mach dir keine Gedanken.“ „Mmh“, machte Taiji. Er schnippte den letzten Stummel seiner Zigarette auf den Boden und trat sie mit dem Fuß aus. Beim Aufsehen begutachtete er dann das Kleidungsstück über Yoshikis Arm. „Was ist das eigentlich?“ „Lacklederhosen.“ „Ja. Das seh ich. Aber warum?“ Yoshiki rauchte seine Zigarette auf. „Weil ich’s tragen kann.“ Darauf fiel Taiji offenbar nichts mehr ein, denn bis Yoshiki einige Sekunden später zurück nach drinnen ging, hatte er nicht geantwortet. -X- Eine Dreiviertelstunde später hatte Yoshiki sich umgezogen, ein wenig die Haare gestylt und, ja, ein kleines bisschen Makeup aufgetragen. Jeder wusste doch, dass man sonst unter dem Scheinwerferlicht aussah wie eine wandelnde Leiche! Danach hatte er das Equipment auf der Bühne begutachtet und schließlich noch ein bisschen am Tresen mit Soji geredet, der eigentlich ganz in Ordnung war und überraschend viel über die Musikindustrie wusste, um, wie er sagte nicht ganz aus der Mode zu kommen – was auch immer das heißen mochte. Als die Bar schließlich öffnete und die ersten Gäste hereintröpfelten, machte sich Yoshiki auf die Suche nach hide. Er fand ihn im Möchtegern-Backstage, wo er immer noch dort am Tisch saß, wo ihn seine Band vor etwas über einer Stunde zurückgelassen hatte. Der Rest von EmilY hatte sich im Raum verstreut, rauchte (oder aß) und schlug die Zeit bis zu ihrem Auftritt tot, doch ihr Leadgitarrist hatte noch nicht aufgegeben. Yoshiki kam nicht umhin, sein Durchhaltevermögen ein wenig zu bewundern. Er lehnte sich an den Türrahmen. Die halbe Minute hatte er. „Du musst den Finger da lassen“, sagte Shinji gerade und platzierte hides Hand neu auf den Saiten. „Und jetzt nur mit den anderen tippen. Hammer-on.“ „Was?“, fragte hide betont stumpf, „so?“ Er zog die Saiten unter seinem Zeige- und Mittelfinger mit einem hässlichen Wiauhwiii-Ton einmal nach oben und nach unten und rutschte dann ab, als bestünden seine Hände aus Butter. Shinji stöhnte, bemerkte Yoshiki und deutete stirnrunzelnd auf hide. „Warum genau habt ihr den da?“ Yoshiki zuckte betont desinteressiert mit den Schultern und nahm im Vorbeigehen eine Flasche Wasser vom Tisch. „Man braucht auch was fürs Auge. Wenn du nichts dagegen hast, würde ich ihn aber ganz gerne wieder mitnehmen. Es ist Zeit für seine Medikamente und ich hab versprochen, auf ihn aufzupassen.“ „Ähm… ok?“, fragte der junge Mann stirnrunzelnd und lehnte sich sichtlich verwirrt auf seinem Stuhl zurück. „Uuuh“, sagte hide und deutete auf Yoshikis Unterkörper, „glänzende Hooosen…“ „Ja. Komm jetzt“, sagte Yoshiki, mühsam ein Lachen zurückhaltend, und zog hide am Oberarm in die Höhe und mit sich hinaus auf den Gang. „Boah“, machte hide sich Luft, kaum dass sie außer Hörweite waren. „Danke. Diese Idiotennummer hat mich fertiggemacht.“ „Wieso machst du das?“, fragte Yoshiki, der jetzt angefangen hatte zu kichern. Glänzende Hooosen… Also wirklich! hide zuckte mit den Schultern. „Er hat mich behandelt wie einen Deppen, also ist es das, was er bekommt. Am Anfang wollte er mir ernsthaft beibringen, wie man Barré spielt, kannst du dir das vorstellen?“ Er langte sich ans Hirn. Dann schüttelte er den Kopf. „Naja, egal… Ich hab nicht auf die Uhr geschaut. Wann geht’s los?“ „Halbe Stunde“, antwortete Yoshiki. „Uiuiui“, machte hide, stoppte abrupt und drehte sich einmal um sich selbst. „In diesem Fall brauch ich dringend ein Bier! Mann, der ganze Nachmittag im Arsch!“ Yoshiki hakte sich unter und zog ihn mit sich. „Es ist für alles gesorgt.“ Die Bar war inzwischen ganz gut gefüllt – nicht so gut, wie sie es später am Abend wahrscheinlich sein würde, aber auch nicht die gähnende Leere, die Yoshiki aus seinen Albträumen heraus gegrüßt hatte. Am Tisch in der Ecke fand er Pata und Taiji und das versprochene Bier. „Halbe Stunde“, sagte Yoshiki. „Geht mal hinter demnächst und macht euch mal langsam mental fertig. Und vielleicht auch äußerlich… Und bitte betrinkt euch nicht schon vorher…“ Die Art, wie hide in einem Zug die halbe Flasche leerte, hatte ihn Letzteres anhängen lassen. Der Gitarrist setzte das Bier ab, rülpste unterdrückt, sagte „Jaja, ich benehm mich, tralala“ und schaute dann in die Runde und schließlich einmal durch den Raum. „Wo ist Toshi?“ Zwanzig Minuten später ließ sich Yoshiki auf dem Gang vor dem ‘Backstage‘ auf den Stuhl neben hide fallen. Dieser hatte seine Gitarre auf dem Schoß und wärmte gerade seine Finger auf – ernsthaft diesmal. Pata tat es ihm gleich. Taiji nippte an einem Bier und ging langsam den Gang auf und ab. „Und?“, fragte hide, ohne mit dem Spielen aufzuhören. „Oh, fantastisch“, antwortete Yoshiki und lehnte seinen Hinterkopf an die Wand. „Wir müssen in zehn Minuten auf die Bühne und unser Frontmann kann nicht aufhören, sich zu übergeben. Aber sonst ist alles in bester Ordnung.“ Taiji hielt in seinen langsamen Tigerschritten inne und schien nachzudenken. Schließlich reichte er dem Schlagzeuger sein Bier und verschwand in Richtung Toiletten. „… willst du ihn lassen?“, fragte hide und nickte dem Bassisten hinterher. Yoshiki zuckte mit den Schultern. Die Flasche in seinen Händen war angenehm kühl und er wünschte sich, er könne etwas trinken. „Ich bin so verzweifelt, ich würde alles versuchen.“ Dann stand er auf, stellte das Bier auf den Stuhl und begann, seine Muskeln zu dehnen. -X- „Toshi?“ Taiji streckte den Kopf in die Männertoilette. Bis auf einen Typen an den Pissoirs war sie leer. Wie man das unter Kerlen so machte, ignorierte Taiji ihn und wollte schon wieder gehen, als schließlich ein etwas klägliches „Ja“ aus der hintersten Kabine erklang. Mit einem lautlosen Seufzen trat er also vollständig ein und ging kurze Reihe der Toilettenställe entlang. „Ich bin nicht sicher, dass ich das will, aber: Kann ich reinkommen?“, fragte Taiji durch die Tür. „Von mir aus…“, grunzte Toshi. Taiji legte die Hand auf den Knauf, zögerte aber noch einen Moment. „… du bist angezogen, oder?“, fragte er. Nur um sicherzugehen. „Ja“, kam Toshis Stimme von drinnen, jetzt weniger elend und mehr ungläubig. In manchen einschlägigen Bars gab es einzeln angebrachte Waschbecken, die nur dafür da waren, sich dort übergeben zu können. Würde dieses Etablissement zu ihnen gehören, müsste er das hier jetzt nicht tun! Taiji seufzte lautlos, öffnete die Tür und schob sich halb hinter, halb neben Toshi in die Kabine. „Mann“, sagte er, als er die Tür wieder geschlossen hatte. „Du siehst nicht so gut aus.“ „Danke“, murmelte Toshi. Er kniete vor der Toilette und hatte einen Ellenbogen auf den Sitz gestemmt. Keine Position, in der man sich befand, weil es dort unten so beschaulich war und es so gut roch. Taiji seufzte, diesmal hörbar, zog seine Hose zurecht und ging neben ihm in die Hocke. „Ok“, sagte er, nachdem ihre Köpfe etwa auf der gleichen Höhe waren. „Was ist hier los?“ Toshi fuhr sich einmal mit dem Handrücken über die Stirn, wo einige schweißfeuchte Haarsträhnen klebten und juckten. „Ich… ich kann das nicht. Ich bin zu nervös.“ „Warum?“, fragte Taiji. „Die Leute da draußen sind eh nicht wegen uns hier. Sieh es als Probelauf. Ganz gechillt.“ „Ja… ich weiß… Aber ich… ich glaub, ich bin einfach nicht gemacht für Auftritte.“ „Aber dafür proben wir doch die ganze Zeit, du Idiot.“ „Ja. Genau. Erkennst du, welchen Druck mir das macht? Und jetzt sag bloß nicht“, sagte Toshi und hob abwehrend die Hand über die Schulter, da der Bassist schon Luft für die Antwort geholt hatte, „dass es keinen Druck gibt. Du tust so entspannt und Yoshiki auch, aber wir wissen alle: das ist es nicht. Ihr habt Ziele, wir haben Ziele und egal, was ihr sagte: heute ist wichtig. Irgendwie.“ Für ein paar Sekunden betrachtete Taiji das Schild über dem Klo, das Männer aufforderte, nicht neben die Toilette zu pissen. „In Ordnung“ sagte er dann und änderte die Strategie. „Dann frag ich mal so: Warum glaubst du, dass es schlimm wird? Du kannst doch singen.“ „Jaaa“, machte Toshi gedehnt. „Vielleicht. Aber… ich bin nicht… cool. Ich bin nicht der, den man nach vorne stellen sollte. Das war ich noch nie und das werd ich nie sein. Ich bin… normal. Einfach normal.“ Er legte den Kopf auf den Unterarm und sagte dumpf in Richtung Klobrille: „Das war eine beschissene Idee.“ „Komm mit.“ Taiji packte ihn hinten am Kragen wie ein Kätzchen und zog ihn in die Höhe. Ein anderer Typ, der gerade zur Tür hereingekommen war, betrachtete irritiert, wie er Toshi aus der Kabine schleifte und vor einen der halb blinden, stellenweise gesprungenen Spiegel über den Waschbecken stellte. „Du“, sagte Taiji in seine Richtung und machte eine unwirsche Kopfbewegung, „warum trägst du den halben Liter nicht noch eine Runde spazieren, hu? Ja, genau, so ist brav, raus mit dir!“ Sie waren wieder allein. „So. Und jetzt schau dich mal an“, forderte der Bassist ihn auf. „Und sag mir, was du siehst.“ „Einen Möchtegernsänger“, murmelte Toshi. „Und falsch“, befand Taiji und legte ihm einen Arm um die Schulter. „Versuch’s nochmal.“ Toshi seufzte und schaute den Jungen im Spiegel an. Er hatte sich in der Zwischenzeit auch umgezogen, trug seine schwarzen Hosen mit den sichtbaren Nähten an der Seite und eine halboffene Lederjacke mit nichts drunter, weil Yoshiki gemeint hatte, dass man sich immer die Option offenhalten sollte, möglichst schnell möglichst viel auszuziehen, wenn einen Scheinwerfer anleuchteten. Seine Haare waren in den letzten Wochen schon deutlich rausgewachsen und fielen ihm jetzt rebellisch ins Gesicht. Eigentlich sah er gar nicht so uncool aus… oder naja. Nicht so uncool wie in den ganzen letzten Jahren zumindest. Also der coolste Toshi bisher. Doch es gab deutlich Luft nach oben. „Ja… ich weiß ja, was du sagen willst“, meinte er schließlich. „Man ist anders auf der Bühne.“ „Genau. Du kannst machen, was du willst, Mann.“ Er machte eine Handbewegung zu Toshis Outfit. „Das ist wie eine Rolle. Eine Figur. Der Sänger von X. Keine Sau interessiert sich für Toshimitsu Deyama. Hart, aber wahr.“ „Aber… Gnah!“, begann Toshi noch einmal den Versuch, sein Problem zu erklären. Ihm war nach wie vor elend. „Ich werd nicht da raus gehen und tolle Sachen machen. Oder sagen. Oder… sonst was. Ich… weiß nicht, wie das geht! Ich bin nicht wie du und Yoshiki.“ „Alter“, sagte Taiji. Er packte Toshi an den Schultern und drehte ihn zu sich um, damit er ihn ohne Umweg über den Spiegel anschauen konnte. „Scheiß drauf. Es ist egal, wer oder wie du jetzt bist und was du glaubst, tun zu können und was nicht. Wichtig ist, wer du wirst, in dem Moment, wo du es tust. Und jetzt wirst du dir den Mund ausspülen, dir den Schweiß von der Stirn wischen und singen, oder ich trete dir so fest in den Arsch, dass du nie wieder sitzen wirst.“ Er nahm die Hand von Toshis Schulter und grinste genau zwei Sekunden lang. „Das ist witzig. Weil es wahr ist.“ Eineinhalb Minuten später nahm Taiji sein Bier von Yoshikis Stuhl und nahm noch einen Schluck. „Er ist so weit“, verkündete er und schlug dem Schlagzeuger gegen die Schulter. „Los geht’s.“ -X- Das war es also, dachte Toshi und umklammerte das Mikro. Irgendwo, ganz tief in einem Teil seines Hinterkopfes, hatte er nicht geglaubt, dass dieser Moment wirklich jemals kommen würde. Gehirne waren da komisch. Er konnte kaum etwas sehen, doch er wusste, dass dort unten Leute waren, die sie mäßig interessiert beobachteten und wenn er nach rechts schaute, würde er die Mitglieder von EmilY sehen, die ihnen von hinter den Vorhängen aus zusahen. Außerdem standen dort Pata und Taiji, die noch ein letztes Mal ihre Saiten nachstimmten. Auf seiner anderen Seite tat es hide ihnen gleich und hinter ihm saß Yoshiki und trocknete vermutlich gerade nochmal seine Hände an dem kleinen Handtuch ab, das er mit auf die Bühne geschleift hatte. Es war ein wohlgehütetes Geheimnis, aber der Schlagzeuger hatte ganz gerne mal Flutschfinger – und er redete hier nicht von dem gleichnamigen Wassereis. Es war so weit. Er konnte nicht atmen. Er konnte sich nicht erinnern, was er auf dem kleinen Zettel in seiner Jackentasche ausgearbeitet hatte. Er war so nervös, dass er nicht einmal die Setlist lesen konnte, die er neben sich auf den Boden geklebt hatte, gleich neben die von EmilY. Deren erster Song war Kimi no Tonari. Super. Das half ihm natürlich weiter jetzt! Toshi warf einen Blick hinter sich. Seine Band war mit den Vorbereitungen fertig. Sie warteten auf ihn. Für eine Zehntelsekunde stellte er Augenkontakt mit Yoshiki her. Er wusste, ein Nicken und dieser würde einspringen und etwas sagen. Toshi war versucht, es zu tun. Es war nur eine kurze Kopfbewegung und die peinlichen ersten Worte wären nicht mehr sein Problem. Aber Nein. Die Peinlichkeit würde wesentlich länger vorhalten als das. Außerdem verschob es das Problem letztlich nur nach hinten. Er musste dann immer noch singen. Und wenn er das Gatzen [Bayerisch: Stottern] anfing, wollte er es lieber nicht auf dem hohen C tun. Ohne genickt zu haben, drehte er also sich wieder nach vorne. Dabei streifte sein Blick hide, der ebenfalls abwartend in seine Richtung sah. Und der Gitarrist schenkte ihm ein Zwinkern: ein einäugiges, freches He-Du-Zwinkern auf der linken Seite, komplett mit einem schiefen Lächeln. Toshis Herz setzte einen Schlag aus und legte dann nochmal etwa zehn Schläge pro Minute an Tempo zu. Er stellte sich dem Scheinwerferlicht und den Menschen, die er kaum sah dahinter. Ok, dachte er, der Anfang ist immer am Schwersten. Mach den Mund auf. Mach den Mund auf und sag Worte. Der Typ im Spiegel kann das. Und wenn er es nicht kann, ist das ungefähr so sexy wie ein großes Baby. hide will garantiert alles, aber keines davon. Also los. Drei, zwei, eins. Er erinnerte sich nicht, was er aufgeschrieben hatte. Eins. Keine Chance. Eeeeeins! „He“, hörte Toshi sich sagen. Er senkte das Mikro noch einmal, räusperte sich und hob es wieder. „Wir sind X und wir sind hier heute live zu euch gekommen aus der Partymetropole… Tateyama.“ Ein amüsiertes Raunen. „Die meisten von euch kennen uns nicht und sind wegen EmilY hier… das ist ok, wir sind noch neu. Aber wir werden jetzt die nächste Dreiviertelstunde mit euch rocken…“ Im Hintergrund begann Yoshiki, den Intro-Beat des ersten Songs zu spielen, „… und ich verspreche euch, das nächste Mal kommt ihr wegen uns. Und jetzt: Install!“ -X- „Und jetzt noch viel Spaß mit EmilY!", rief Toshi und die kleine Menge im Raum jubelte - ob wegen ihrer Musik oder aus Freude darüber, dass jetzt endlich der Hauptakt kam, ließ sich nicht sagen und vielleicht war das gut so. Sie winkten noch einmal in den Raum und dann ging die Bühnenbeleuchtung aus und Musik von der Platte erklang. Minimale Umbaupause. Zwanzig Minuten später saßen Toshi, Pata, Taiji und hide wieder an ‘ihrem‘ Tisch in der Ecke, noch gefangen in dem seltsamen Flash, den ihre Dreiviertelstunde Erfolg ausgelöst hatte. In Toshi hatten sich dieser Flash, die abflauende Nervosität, die Erleichterung, dass es vorbei war und das Kribbeln in der Magengegend zu einem riesigen Gefühlsbatzen vermischt, der ihm wie ein verrutschtes Mochi im Hals zu hängen schien und er hatte das Gefühl, dass er bald etwas damit tun musste, oder er würde ersticken. Vielleicht hatte er aber auch einfach schon ein wenig zu viel Cola getrunken und das war das Koffein. Er schob sein Glas beiseite und klinkte sich mental wieder ins Tischgespräch ein. Die drei Meister an den Saiteninstrumenten diskutierten gerade noch Fehler und brillante Einfälle aus dem kurzen Gig und aus der Art, wie hide vor sich hinsprudelte schloss er, dass das noch eine Weile dauern konnte. Im Hintergrund spielten jetzt die Jungs aus Yokohama. Sie machten Spaß, das musste man ihnen lassen, doch ansonsten fand Toshi sie nicht unbedingt überragend – wenn man so etwas über Kollegen denn sagen durfte. Er warf einen Blick über die Schulter, dorthin, wo er Yoshiki das letzte Mal gesehen hatte. „Wenn ich mir schon dieses Konzert gebe, dann geb ich’s mir richtig“, hatte er gesagt. Also musste er irgendwo da unten sein, doch mit den bunten Lichtern und der generellen Untergrund-Atmosphäre war es schwer zu sagen. Kurz überlegte Toshi, ob er vielleicht runtergehen und mitmachen wollte, doch er hatte das Gefühl, dass seine Beine ganz froh waren, wenn er saß (und er nebenbei seine kuschelige Ecke hier nicht verlassen musste). Der Rest seiner Band diskutierte nun ebenfalls EmilY. Doch es kam Toshi so vor – und er war nicht der Einzige, dem es so ging – als beschäftigten sich nur drei von ihnen mit dem Geschehen auf der Bühne. „hide, tut das nicht weh?“, fragte Taiji schließlich. „Mmh?“, machte der Gitarrist, offensichtlich ertappt, aber entschlossen, alles zu leugnen. „Was?“ „Das Ding, das du da mit deinen Augen machst.“ Taiji griff einmal über den Tisch und drehte hides Kopf zur Seite, in Richtung der Mädchen an der einen Seite der Tanzfläche, die er schon seit geraumer Zeit aus den Augenwinkeln zu beobachten versuchte. „Wie ist das?“ „Oh. Ja. Besser.“ Ein leichter Rotschimmer erschien auf hides Wangen. „Ja. Danke.“ Eines der Mädchen sah in ihre Richtung, stieß ihrer Freundin den Ellenbogen in die Seite und nickte zu ihnen hinüber. Alle drei schauten und steckten dann kichernd die Köpfe zusammen und hide drehte sich schnell wieder zum Tisch, sein Kopf so rot wie ein Feuerlöscher. „Du Arsch!“, herrschte er den Bassisten an. „Jetzt haben sie’s gemerkt!“ Taiji grinste schief und lehnte sich wieder zurück. „Alter. Kichern ist gut. Geh halt einfach rüber!“ Langsam wanderte Toshis Blick von hide zu Taiji, langsam wie das unausweichliche und schreckliche Grauen, welches er stumm versprach. Er fühlte den Drang, Taijis Kopf einmal gegen den Tisch zu schlagen, nur damit er aufhörte, den Leadgitarristen zu so einem Unsinn animieren zu wollen. Doch dieser schien ohnehin nicht überzeugt. Er schüttelte heftig den Kopf und umklammerte, immer noch rosafarben, sein Bier. „Ich… Nein. Das kann ich nicht.“ Taiji stützte seinen Kopf auf den Arm. „Ich werde bereuen, gefragt zu haben, aber: warum nicht?“ „Weil… keine Ahnung. Die sind süß und hübsch und zu mehreren und ich bin… ich.“ hide nestelte am Flaschenhals herum. Toshi warf unauffällig einen kritischen Blick über die Schulter und an hide vorbei in Richtung Tanzfläche. Gute Güte! Sie waren nicht so süß! EmilY gingen aus dem Chorus zu einer sehr tanzbaren Bridge über und der Sänger animierte die Zuschauer zu einer kleinen Choreografie. Die Mädchen machten mit, dabei vermutlich darüber lachend, wie sehr zum Affen sie sich machten. Toshi drehte sich wieder zu Tisch. Scheiße. Sie waren so süß. Taiji allerdings schien weniger beeindruckt. „Lass mich was fragen – und ich glaub, ich kenn die Antwort: hast du schon mal mit einem Mädchen geredet?“ Eine etwas verschnupfte Grimasse antwortete ihm. „Natürlich hab ich schon mal mit einem Mädchen geredet!“ „Ich meine, mit einem Mädchen geredet in einem Junge-Mädchen-Szenario.“ hide schaute ausweichend zur Seite, zu Pata und dann zu der Schale mit Wasabi-Nüsschen. Und sagte: „Ähm…“ Das war Antwort genug. „Soll ich rübergehen und dich ihnen vorstellen?“, fragte Taiji. hide, der gerade die Hand nach den Nüsschen ausgestreckt hatte, zog die Hand wieder ein, als hätte er sich verbrannt. Sein Kopf fuhr herum. „Was? Nein! Das… Es ist in Ordnung, wie es ist. Ich… Nein.“ Taiji schob sein Bier zur Seite und lehnte sich ein Stück nach vorne, über den Tisch und in hides Richtung. „hide“, sagte er eindringlich. „Lass mich dir eine Frage stellen.“ hide lehnte sich ein Stück zurück, um den Abstand zwischen ihnen konstant zu halten. „Ok?“ „Und antworte ehrlich.“ Augen wurden misstrauisch zusammengekniffen. „Ooooo…keee…?“ Ein paar Sekunden lang tat Taiji nichts, außer ihn anzustarren. Dann sagte er in einem Aufwasch: „Wäre so ein bisschen Druck ablassen nicht mal ganz schön?“ Das leichte Rosa auf hides Wangen wurde mit einem Schlag wieder zu einem tiefen Feuerwehrauto-Rot. Doch es war Toshi, der ihn entrüstet anherrschte: „Taiji!“ „Ich mein ja nur“, führte der Bassist seelenruhig aus. „Sex passiert nicht, wenn man einfach dasitzt und drauf wartet. Also, vielleicht wenn du eine Frau bist. Aber Mann muss dafür auch was tun. Ranz mich nicht an, Alter. Was ist los mit dir?“ Die Frage richtete sich eindeutig an Toshi. Dieser lehnte sich zurück und bemühte sich, abzukühlen. „Nichts“, sagte er schließlich. „Es ist nur ein sehr persönliches Thema, finde ich. Und man muss das nicht unbedingt… diskutieren. Hier.“ Taiji betrachtete ihn nachdenklich. Dabei machte sich allmählich ein verstehendes Grinsen auf seinem Gesicht breit. „Aaaah. Du hast auch noch keine abgekriegt, nicht wahr?“ Er klopfte zweimal mit der flachen Hand auf den Tisch, zum Zeichen, dass er einen Entschluss getroffen hatte und stand auf. „Glaubt mir, ich tu euch beiden einen Gefallen.“ „Oh Neineineineinein!“, machte hide noch und versuchte, Taiji am Ärmel zu packen, doch dieser wich gelenkig wie ein Wiesel aus und stromerte durch den Raum davon. Der Leadgitarrist knetete seine Hände und schaute ihm nach wie einem Unfall: er wollte nicht hinsehen, aber wegschauen konnte er noch weniger. „Oh Gott“, sagte er dabei, „oh Gott. Ich bin gestorben und in der Hölle. Ja. Das muss es sein.“ Der Bassist hatte die drei inzwischen erreicht und obwohl Toshi natürlich nicht hören konnte, was gesprochen wurde, noch begabt im Lippenlesen war, konnte er die Konversation so genau rekonstruieren, als stünde er direkt daneben. Achtzig Prozent einer Unterhaltung waren nonverbal, das hatte er im Rhetorik-Club in der Mittelschule gelernt. Und diese achtzig Prozent sprachen von einer Mischung aus Komplimenten, Überraschung und unverblümter Selbstdarstellung. Aggressives Flirten nannte man das wohl. Dann gestikulierte Taiji in Richtung Tisch, die Mädchen kicherten und schließlich winkte er sie zu sich hinüber. „Ooouuuh“, stöhnte hide und drehte sich wieder zum Tisch. „Warum tut er mir das an?“ „Ich nehme an, er will das Beste für dich“, sagte Toshi trocken. Dieser Abend war richtig schnell richtig beschissen geworden. In seinem Kopf sah er sich selbst, wie er hide am Arm packte, ihm ins Gesicht sagte, was er empfand und damit diese ganze Situation und alles, was sich aus ihr ergeben konnte, im Keim erstickte. Doch es passierte nicht. Außerhalb seines Kopfes sagte Pata: „Geh einfach und unterhalte dich nett. Ist ja nicht so, als müsstest du eine von ihnen heiraten.“ hide kaute kurz auf seiner Unterlippe herum, dabei nach links und rechts guckend wie ein in die Ecke gedrängter Waschbär. Dann atmete er durch und erhob sich, schaute aber nach wie vor nicht gerade glücklich. „Scheiße, Leute. Ich weiß doch überhaupt nicht, was man da sagt!“ Pata nahm einen Schluck von seinem Wasser und blickte ihn ein paar Sekunden nachsichtig an. „Du bist der Typ mit der Gitarre“, sagte er schließlich. „Es ist erstmal egal, was du darüber hinaus tust.“ Irritation machte sich auf hides Gesicht breit. „Äh… danke?“ Das war offenbar nicht, was er hören wollte. Doch in Gedanken musste Toshi Pata Recht geben – und hoffentlich reichte diese Erkenntnis aus, um hide von den Armen jeder dieser Frauen fernzuhalten. „Gehst du nicht mit?“, wandte hide sich an Toshi. „Nein“, sagte dieser ohne zu zögern. Abschließende Antworten lieferte man am besten kurz und knackig. Etwas verunsichert und nicht ohne sich noch einmal auf halbem Weg zu ihnen umzudrehen, trat hide also seinen schweren Gang also allein an. Pata leerte sein Getränk. „Ich geh mal kurz nach draußen“, teilte er mit. „Auch frische Luft?“ Toshi schüttelte den Kopf. Er blieb am Tisch zurück und schaute den Eiswürfeln in seinem Glas beim Schmelzen zu, bis sich drei Songs später ein verschwitzter Yoshiki neben ihn auf hides Stuhl fallen ließ. „He“, sagte er atemlos und guckte sich um. „Wo sind alle?“ Wortlos nickte Toshi in Richtung Tanzfläche, wo Taiji inzwischen zwei der Mädchen zeigte, wie man unsinnig tanzte („Busfahrer! Pizzabäcker! Taucher!“), während hide sich am Rand mit ihrer Freundin unterhielt. Er schien Toshi nach wie vor etwas unbeholfen, aber hatte offensichtlich Spaß, wenn die Häufigkeit seines Lachens ein Indikator war. Erst da wurde Toshi sein Fehler bewusst: Er hätte mitgehen und das Ganze einfach unauffällig sabotieren sollen. Frustriert wandte er sich wieder seinem Glas zu. Was hatte er sich eigentlich gedacht? Er hatte keine Brüste. Es gab keinen Grund anzunehmen, dass hide sich jemals für ihn interessieren würde. „Ah“, machte Yoshiki und nahm einen großen Schluck von Toshis Cola. Patas Verbleib war damit zwar ungeklärt geblieben, aber um den machte sich Yoshiki auch mit Abstand die wenigsten Gedanken. „Und warum bist du nicht, wo alle sind? Sieht lustig aus.“ Toshi zuckte mit den Schultern. Yoshiki beugte sich nach vorn und sah ihm prüfend ins Gesicht. „Ist dir nicht gut? Noch übel?“ Ein Kopfschütteln. „Bloß müde.“ Yoshiki puhlte einen Eiswürfel aus dem Glas und steckte ihn sich in den Mund, bevor er Toshi die restliche Cola wieder hinstellte. Es knackte, als er kaute. „Aaaah, Toshi!“, rief er dann, schlang ihm einen Arm um die Schultern und zog ihn an sich, „schau ein bisschen fröhlich! Wir haben’s getan! Wir hatten einen Auftritt und haben uns nicht blamiert. Ist doch super!“ Toshi nickte und versuchte ein Lächeln. „Sorry, dass ich’s fast verschissen hab.“ „Hast du ja letztlich nicht. Alles super! Aber…“ Er schob das letzte Stückchen Eiswürfel in seine Backe, „Was genau hat Taiji denn mit dir gemacht?“ „Überzeugend argumentiert.“ Yoshiki runzelte die Stirn. „Und was hab ich die Viertelstunde getan, die ich an dich hingeredet hab?“ „Um ehrlich zu sein hab ich währenddessen dem Affen zugehört, der in meinem Kopf Blockflöte gespielt hat.“ Der Schlagzeuger lachte und drückte ihn noch einmal an sich. „Arsch!“ Toshi musste gegen seinen Willen lächeln, diesmal war es echt. Er legte einen Arm um Yoshiki und drückte zurück. Man wusste, dass man gut mit jemandem befreundet war, wenn man ihn spontan umarmte, egal wie schwitzig dieser Jemand war. An Yoshikis Hinterkopf vorbei erhaschte er noch einen Blick auf hide. Es war jetzt einfacher mit anzusehen. Freundschaft schlug Liebe an sieben Tagen in der Woche. Solange er noch Yoshiki hatte, mit dem er gemeinsam allein sein konnte, hielt er alles andere aus. EmilY spielten bis kurz nach halb elf und kamen ins Backstage zurück, gerade als Yoshiki und die anderen dort ihre Sachen zusammensuchten und zum Aufbruch bliesen. „He“, grüßte Yoshiki. „Gute Show.“ Das konnte man wohl sagen, ohne sich ein Bein auszureißen. „Danke“, sagte N, doch Shinji war schon auf hide fokussiert und hatte ihn offenbar gar nicht gehört. „Du hast mich total verarscht!“, rief er und hob die Hände zum Himmel. „Öhm…“, machte hide und griff sich noch eine Flasche Limonade, „ja.“ Es klang fast ein wenig mitleidig. Er grinste. Dann drehte er sich auf den Fersen um. „Ich wart draußen“, flötete er und verschwand aus der Tür. Shinji drehte sich zu N zurück. „Kannst du das fassen?!“ „Wie schon vor zwei Stunden“, erwiderte N trocken und nahm sich ein Wasser vom Tisch, „ja.“ „Ok“, sagte Yoshiki und nahm seine Hose von der Stuhllehne. Er hatte sich zum Fahren wieder umgezogen. „Also dann. War nett, euch kennen zu lernen.“ Er verbeugte sich halb und schickte sich, den Rest seiner Band im Schlepptau, an, hide zu folgen. Doch eine Stimme sagte: „Warte mal kurz.“ Als Yoshiki, schon halb auf dem Gang, sich umdrehte, merkte er allerdings, dass die Bitte an Taiji gerichtet war. Dieser wandte sich an Jin und wartete mal kurz. Pata und Toshi gingen an ihm vorbei, doch als Yoshiki sich nach rechts drehte, um mit ihnen zu gehen, stand er auf einmal vor einem breiten Oberkörper und einem ausladenden Bauch. Er machte unweigerlich einen Schritt rückwärts, nicht zuletzt wegen des aufsehenerregenden Körpergeruchs der zugehörigen Person. Wenn er jetzt darüber nachdachte, war er aber nicht sicher, ob er selbst gerade nach Veilchen duftete, also konnte er es ihm nicht einmal übelnehmen. Naja. Zumindest nicht so sehr. Kaito hob unschlüssig die Schultern. „Du bist gar nicht übel“, sagte er. „Danke“, sagte Yoshiki. Er hatte zu gute Laune um ihn darauf hinzuweisen, dass ‘nicht übel‘ in seiner Welt die Vorstufe zu ‘kacke‘ war. „Du bist eine ziemliche Maschine am Schlagzeug.“ Es stimmte. Er mochte äußerlich nichts hermachen, doch wenn Yoshiki von der ersten Reihe aus etwas bemerkt hatte, dann war es, dass dieser Junge in den fast zwei Stunden keine Sekunde nachgelassen hatte. Sein Körperumfang stand also nicht in Zusammenhang mit seiner Ausdauer. „Danke. Für so ‘nen schmalen Kerl haust du aber auch ganz schön rein.“ Yoshiki grinste schief. Themawechsel. „Danke nochmal, dass ich auf deinem Set spielen konnte. Ich hätte nicht gewusst, wie ich das herbringen sollte.“ Der andere Schlagzeuger hob noch einmal die Schultern. „Kein Stress… Freunde?“, fragte er und hielt ihm eine Tüte Chips hin, die er scheinbar einmal zur Bühne und zurückgetragen hatte. „… ok“, willigte Yoshiki ein. Er hatte auch zu gute Laune um Kaito zu sagen, dass er diesen Titel nicht oft vergab und wenn, dann garantiert nicht für fettgebackene Gemüsescheiben. Also griff er nach der Tüte und musste grinsen. „Sag mal… wie viele davon hast du?“ „Chips haben nur wenig Vitamine“, erklärte Kaito. „Man muss also relativ viel davon essen.“ Yoshiki blinzelte einmal irritiert. Er war sich nicht sicher, ob der andere Mann Witze machte. In einem Fall war er sehr schlagfertig, im anderen sehr simpel gestrickt. „Aha“, sagte er also schließlich. Dann nickte er in Richtung Ausgang. „Uhm… ich sollte dann. Die anderen warten draußen und ich hab die Schlüssel… Taiji, kommst du?“, warf er die letzte Frage ins Backstage. Der Bassist warf ihm einen kurzen Blick zu und nickte. „Sofort.“ „Also…“ Jin fuhr sich einmal durch die stacheligen Haare. „Hast du Bock, mal zu jammen, oder… so?“ Taiji betrachtete ihn von Kopf bis Fuß wie jemand, der etwas sorgfältig abwog. „Sorry“, sagte er schließlich und schulterte seinen Bass. „Ich reite allein.“ -X- Die Nachtluft war angenehm erfrischend, als sie aus der warmen, stickigen Bar nach draußen traten. Ein kleiner, blasser Dreiviertelmond stand am Himmel und steuerte seinen kalten Schein zur Beleuchtung bei, als die fünf jungen Männer über den Parkplatz gingen. Lachend und sich unterhaltend standen sie beieinander am Wagen, während hide und Yoshiki noch eine rauchten, dann machten sie sich ans Einsteigen. „Ah-ah-ah“, machte Yoshiki und packte hide an der Schulter, der sich angeschickt hatte, Taiji auf den Rücksitz zu folgen. „Wenn du dich schon vor dem Fahren drückst, kannst du zumindest bei mir vorne sitzen und mich wachhalten, mit dem ganzen Scheiß, den du immer von dir gibst. Toshi, hinten rein!“ „He!“, machte hide pikiert. Der Sänger hielt, den Hintern schon halb auf dem Vordersitz, inne, zog eine Grimasse und stieg wieder aus. „Was hab ich heute denn getan!“, schimpfte hide um des Schimpfens willen, aber schob sich und seine Gitarre auf den Beifahrersitz. „Jeder hat es heute mit hide!“ „Jaja, das Schicksal ist hart“, pflichtete ihm Yoshiki bei und schlug die Tür zu, bevor er um den Wagen herumging und sich selbst wieder auf den Fahrersitz platzierte. Als er saß, reichte er hide die Chipstüte. Dieser schien damit befriedet. „Mann“, sagte hide, als sie eine gute Stunde später die Lichter Tokios im Rücken hatten und gerade die Vororte Chibas durchquerten. „Tokio ist so unendlich geil bei Nacht. Oder… eigentlich immer. Ich liebe Tokio. Liebst du Tokio nicht auch?“ Yoshiki, der während des Fahrens kaum Zeit gehabt hatte, die nächtliche Kulisse zu bewundern, machte „Mmh.“ An der nächsten Kreuzung meinte er: „Ja. Besser als Tateyama. Aber das ist auch nicht schwer. Ist halt ein ziemlicher Moloch. Aber man kann viel machen. Also ja. Ich liebe Tokio. Jeder liebt Tokio, denke ich.“ hide drehte sich nach hinten um, vielleicht um noch jemanden nach seiner Meinung zu Tokio zu fragen. Yoshiki schaute in den Rückspiegel. Auf der Rückbank waren Toshi und Taiji eingedöst. Pata sah aus dem Fenster und hide ließ ihn in Ruhe. „Hast du einen dicken Filzstift?“, fragte der Gitarrist und drehte sich wieder nach vorne. „Nein“, antwortete Yoshiki. Die Ampel wurde grün und es ging weiter. „Wieso?“ „Wollte mal ausprobieren, wie Taiji mit Bart aussieht“, meinte hide und beugte sich nach vorn, um an seiner Gitarre vorbei im Fußraum herumzutasten. „Aber dann nicht.“ Er fand mit einem Knistern die Chipstüte und richtete sich wieder auf. „Süßkartoffel?“, fragte er und hielt Yoshiki die Tüte über die Mittelkonsole. „Ja“, antwortete dieser nach einem kurzen, unschlüssigen Blick auf die Verpackung. „Aber ich kann nicht gleichzeitig fahren und essen.“ Scheiße, er konnte ja kaum gleichzeitig fahren und reden! hide seufzte belustigt, öffnete die Tüte, angelte zwei Chips heraus und hielt sie Yoshiki vors Gesicht. Dieser schielte kurz in die richtige Richtung und aß sie hide schließlich aus der Hand – nicht ohne ihm dabei ein wenig über die Finger zu schlabbern. „Iih-Bäh“, machte der Gitarrist und wischte seine Hand an der Hose ab. „Wir haben schon aus der gleichen Flasche getrunken und aus der gleichen Schüssel gegessen“, erinnerte Yoshiki stirnrunzelnd, statt sich zu entschuldigen. „Wo genau ist das jetzt schlimmer?“ „Ok“, gab hide zu. „Argument.“ Er grinste und schleckte sich die gerade gesäuberten Finger ab. „Mmmh, Yoshiki…“ Der Schlagzeuger warf ihm einen ungläubigen Seitenblick zu und zog einen Mundwinkel hoch. „… manchmal ist mir nicht klar, was genau in deinem Kopf passiert.“ hide zuckte mit der linken Schulter und fischte in der Tüte nach einem Chip, der sich zusammengefaltet hatte, weil er die am meisten mochte. [Ich mach das gern. Macht das noch wer hier? XD] „Niiiiiiemand weiß das…“ Der Chip, den er zutage förderte, war allerdings ganz normal und dann auch noch zerbrochen. Enttäuscht streckte er ihn dem Schlagzeuger hinüber. Yoshiki nahm ihn hide mit den Zähnen aus der Hand, diesmal vorsichtiger. „Wir sind ein klasse Team“, sagte er kauend. „Du bist ein Hirni“, antwortete hide, doch seine Mundwinkel zuckten und er musste aus dem Seitenfenster schauen, um es zu kaschieren. „Level der Müdigkeit auf einer Skala von null bis zehn?“, fragte hide, als sie eine weitere halbe Stunde später Kisarazu passierten. Irgendwo im Meer rechts von ihnen sollte in der Zukunft eine Brücke entstehen, die Tokio direkt an die Stadt anbinden würde. Doch seit Jahrzehnten war nichts passiert und so musste man weiterhin einmal um die Bucht herumkurven. Zumindest waren nachts die Straßen leer. „Sieben“, murmelte Yoshiki. „Aber ist ja bloß noch eine Stunde. Das geht schon.“ Die Tatsache, dass er herzhaft gähnen musste, verlieh seinen Worten nicht die größte Überzeugungskraft. „Es geht schon“, wiederholte er also. Nur noch zum Proberaum, dann Toshi nach Hause fahren, dann Taiji absetzen, dann selbst nach Hause kommen. Das ging… ging… „Erzähl mir irgendwas.“ „Ah“, machte hide, „pu. Was soll ich denn erzählen?“ „Keine Ahnung. Ist es nicht das, was du immer sagst?“ hide zog eine Schnute, dachte hart nach und nickte dann einsichtig. „Das stimmt. Also. Ähm. Ja. Gesprächsthema. Kommt sofort. Uhm.“ „Wenn du Rockstar bist“, erlöste Yoshiki ihn von seinem Leid, „was willst du machen?“ Ein Thema, das eine Konversation mit Taiji ausgehalten hatte, war in jedem Fall auch für hide geeignet. Und er war zu müde, um weitere Gedanken für die Suche aufzuwenden. Der Gitarrist warf ihm einen verwunderten, doch amüsierten Seitenblick zu. Dann grinste er noch ein Stück breiter. „Vielleicht einen Alligator in der Badewanne großziehen. Aber im Ernst. Kann ich dir was sagen, ohne dass du lachst?“ „Ich kann dir anbieten, dass ich es zur Not leise tue“, antwortete Yoshiki. Das Licht eines entgegenkommenden Autos erhellte für einige Sekunden das Wageninnere, dann war es wieder dunkel. Anscheinend reichte hide das, denn er sah noch einmal nach hinten, wo inzwischen alle anderen Mitglieder ihrer Band eingenickt zu sein schienen und sagte dann: „Ich hätte unglaublich gern mein eigenes Label.“ „Oh. Cool. Für Musik?“, fragte Yoshiki interessiert und ein wenig überrascht. Es war eine gute Antwort. Besser als alle, die Taiji und ihm selbst im Kopf herumgegangen waren. „Ne“, erklärte hide. Abwesend drehte er seine leere Limoflasche ein wenig, um die kleine Glaskugel darin leise klackern zu lassen. „Für Klamotten. Oder es muss nicht mal ein Label sein. Vielleicht auch einfach nur ein Laden. Wo ich Sachen verkaufe, die ich cool finde und ein paar mit dazu hängen kann, die von mir sind. So Zeug designen. Das ist ziemlich nett.“ Yoshiki nickte einmal, zum Zeichen, dass er verstanden hatte, wusste aber nicht ganz, was er antworten sollte. Sein Gitarrist hatte bisher… nun, einen äußerst eigenwilligen Geschmack bewiesen und wenn Yoshiki ehrlich war, konnte er sich keinen sonderlich großen Erfolg damit ausmalen. Doch das hier war vermutlich keine Situation, in der die Wahrheit die bestmögliche Option war. „Das ist… ein interessanter Traum“, sagte er also. Doch hide war nicht dumm. Er warf ihm einen Seitenblick zu. „Interessant heißt scheiße?“ „Nein. Erstmal heißt das… ja. Interessant. Ich kann mir das nicht vorstellen. Klingt nicht wie was, das mir gefallen würde. Deswegen fällt’s mir schwer, mich da… emotional reinzufühlen. Aber ich hoffe, dass du es schaffst, wenn du das willst.“ „Danke“, sagte hide. Puh! Ein paar Minuten glitten sie durch die Nacht, nur begleitet vom gleichmäßigen – und einschläfernden – Brummen des Motors. hide unterzog Yoshiki in regelmäßigen Abständen einer kritischen Musterung. „Kann ich dir noch was sagen?“, fragte hide, gerade als zu ihrer Rechten die Lichter Kimitsus auftauchten. Yoshiki nickte. „Du musst mit mir reden, Mann“, sagte hide und rüttelte einmal an seiner Schulter. „Ich mach das hier nicht, damit du eine bessere Hintergrunduntermalung zum Schlafen hast.“ „Ok, ok“, sagte Yoshiki, nahm die linke Hand vom Lenkrad und spreizte einmal die Finger. „Ich bin wach. Ja, du kannst noch was sagen. Bitte, danke.“ „Weißt du, heute bei dieser anderen Band“, sagte hide und nestelte am Reißverschluss seiner Gitarrentasche herum, „da dachte ich, die sind schon gut. Und es gibt vermutlich noch einige andere, die genauso gut sind. Also, ich mag unsere Musik, aber… Da hab ich mich gefragt, ob wir nicht… ich weiß nicht, noch was anderes versuchen sollten, um uns abzuheben.“ „Was anderes?“, fragte Yoshiki und warf dem Gitarristen einen Seitenblick zu, so lange wie er sich traute, die Augen von der Straße zu nehmen. Nicht sehr lang. „Ja. Mehr so… äußerlich.“ „Äußerlich?“ hide nickte. „Äußerlich.“ „Wie äußerlich?“ hide zuckte mit den Schultern und arrangierte seine Füße neben seiner Gitarre neu. Sie waren dabei, einzuschlafen. „Weiß nicht. Wie KISS. Oder Led Zeppelin. Mötley Crüe. Einfach cool halt. Haare. Outfit. Vielleicht ein bisschen Schminke, für die ganz Experimentierfreudigen. Du hast ja schon angefangen.“ Die Dunkelheit war so gnädig, den Rotschimmer zu verdecken, der sich auf Yoshikis Gesicht ausbreitete. „Ist ja nicht wahr.“ hide lachte leise und patschte ihm eine Hand auf den Oberschenkel. „Ich erkenn Lippenstift, wenn ich ihn sehe. Und kleiner Tipp: Du bist ein Sommer.“ Yoshiki runzelte die Stirn. „Was bedeutet das?“ „Bin nicht ganz sicher. Aber ich hab‘s aus ‘ner Mädchenzeitschrift und es ist sicher was Gutes.“ „Ahja.“ Sie fuhren über eine Brücke, durch einen Tunnel, über eine Brücke, in den nächsten Tunnel. Chiba war eine sehr hügelige Präfektur. „Ok“, fuhr hide fort, als sie das nächste Mal aus dem Tunnel auftauchten. „Also die Sache ist die: Ich hab mir mal ein paar Sachen ausgedacht. So… für uns. Äußerlich. Das ist mir sehr peinlich und ich werde sterben, wenn du mir sagst, dass es scheiße ist, aber ich würde es dir gern mal zeigen. Wenn du magst.“ Yoshiki dachte einen Kilometer lang darüber nach. Er konnte hide sagen, dass er an ihn glaubte, solange es abstrakt blieb. Aber konnte er ihm sagen, dass er an ihn glaubte, wenn das bedeutete, dass er eine seiner – vielleicht schrecklichen – Kreationen tragen musste? „Klar“, sagte er schließlich. Weil es das war, was Freunde machten. Sie schwiegen ein paar Minuten. Dann knüpfte Yoshiki mit einem Gedanken an, der ihm seit hides Kommentar im Kopf herumging. „Wenn wir schon bei Äußerlichkeiten sind… Weißt du, was ich auch gerne wäre?“ „Mmh?“ „Blond.“ Kapitel 14: A Stranger Here in Paradise --------------------------------------- „Hallooo!“, begrüßte hide Yoshiki und Toshi freudig, als sie am darauffolgenden Abend vor seiner Wohnungstür standen. Seit er Anfang des Monats bei Pata ausgezogen war, stand diese Einladung aus und sie hatten beschlossen, den Anlass mit einer kleinen, nachträglichen Feier des gestrigen Abends zu verbinden. Abgesehen von diesen für sich allein genommen schon guten Gründen war hide nun der Einzige von ihnen, der ausreichend Privatsphäre für geselliges Beisammensein bieten konnte. „Guten Abend“, sagten Yoshiki und Toshi gleichzeitig. Der Gitarrist machte einen Schritt zurück und sie traten ein. Es ging nur hintereinander. Ein winzig kleiner Flur führte an zwei Türen, vermutlich Bad und Toilette, vorbei in einen Raum, der Küche, Schlafzimmer und Wohnzimmer kombinierte. Es war sehr minimalistisch, doch hide hatte durch die Stellung der Möbel auf jeden Fall das Beste daraus gemacht. Durch zwei große Fenster auf der gegenüberliegenden Raumseite fiel das orangefarbene Licht der Abendsonne herein und ließ die Gitarre in der Ecke leuchten. Es duftete nach Essen. „Jaaa, es ist klein“, räumte hide ein und wedelte mit der Hand, als wolle er ihre noch nicht geäußerten Worte aus der Luft fischen und gleich dort zerreißen. „Aber das heißt, ich muss wenig putzen. Disst mich nicht und setzt euch. Taiji trinkt Cola mit Rum, was wollt ihr?“ Abwartend lehnte er sich an die Küchenzeile. Ihr Bassist winkte vom Bett aus. „Weißt du“, sagte Yoshiki und griff in seine Umhängetasche, „du hast mir nie dieses Bier mit Himbeersirup gemacht, von dem du mal erzählt hast. Hier. Sirup. Und hier. Sekt zum Anstoßen.“ „Nice“, sagte hide anerkennend, griff nach den Sektflaschen und tauschte sie im kleinen Kühlschrank gegen eine Flasche Bier. Dann wandte er seine erwartungsvolle Aufmerksamkeit ihrem Sänger zu. Dieser schaute wie eine Kuh bei Gewitter. „Ich weiß nicht“, sagte er überfordert. Er hatte keine Erfahrung mit Mischgetränken. „Mach mir einfach… was ohne Aufwand.“ „Ach Gottchen“, sagte hide beschwingt und griff nach den Limetten. „Du bist so putzig. Ich mach dir einfach auch mal eine Rum-Cola und dann schauen wir, wie’s weiterläuft, ok?“ Toshi grinste schief zur Antwort und wanderte zum Fenster hinüber. Wäre es nicht um die Häuserfront gegenüber, hide könnte direkt das Meer sehen. So betrachtete er einen Augenblick lang die teilweise erleuchteten Fenster und die Leben dahinter. Putzig… putzig war Hamster. Putzig war kleiner Junge in einem Matrosenanzug mit einem großen Lolli. Putzig… war schlecht. Er seufzte innerlich und wandte sich der Auswahl an Sitzmöglichkeiten zu. Es waren nicht viele. Setzte er sich auf den Boden, saß er vermutlich allein. Setzte er sich aufs Sofa, war das Sofa voll. Setzte er sich zu Taiji, setzte sich hide mit hoher Wahrscheinlichkeit zu Yoshiki aufs Sofa. Egal was er tat, er würde nicht in hides Nähe landen. Also dann. Er setzte sich in angemessenem Abstand neben Taiji aufs Bett. Immerhin war das der Ort, an dem hide schlief. Diese Decke hier bedeckte seinen Körper und auf dieses Kissen bettete er seinen Kopf. Toshi wollte sich noch bremsen, doch da dachte er bereits: Ob es wohl auch nach Vanille roch? …uuund das war ein Gedanke, wie ihn eigentlich nur gruselige Freaks hatten. Mann, dachte Toshi. Er musste wirklich aufpassen, wo das mit ihm und seiner Vernarrtheit hinlief. Yoshiki hatte es sich unterdessen auf dem kleinen roten Sofa gemütlich gemacht und sah sich um. „Du brauchst dringend mehr Einrichtung. Ist‘n bisschen kahl.“ „Was willst du?“, fragte hide und gestikulierte mit dem Messer, welches er gerade benutzte, um die Limetten zu schneiden. „Ich hab ein Bett, ein Sofa, einen kleinen Tisch, einen hohen Tisch und einen Stuhl. Und diese Pflanze!“ Er deutete aufs Fensterbrett, wo ein vielleicht daumengroßer Kaktus aus einem winzigen Blumentopf spitzte. „Ich bin fantastisch eingerichtet, du Bonze.“ Er warf die Limetten in zwei Gläser und schüttete seine Mischung hinterher. Dann öffnete er den Sirup. „Trinken wir jetzt Sekt oder später?“, fragte er, während er in den Untiefen seines Küchenschranks verschwand und nach geeigneten Behältnissen suchte. „Stoßen wir später an“, sagte Yoshiki, „wenn Pata da ist. Wo steckt er überhaupt?“ „In Ordnung.“ hide tauchte mit zwei großen Plastikbechern wieder auf und öffnete das Bier. „Ich weiß nicht. Aber da er heute soweit ich weiß nicht gearbeitet hat, schätze ich mal, es hat… ähehehe… schöne Gründe.“ „Was bedeutet ähehehe?“, fragte Toshi. Taiji warf ihm einen nachsichtigen Blick zu und erbarmte sich, zu definieren. „Kopulation.“ „Taiji!“, rief Toshi. Und wurde rot. „Meine Güte“, murmelte der Bassist. „Bist du fünf? Was machst du, wenn jemand Penis sagt?“ „Zumindest bin ich nicht ständig vulgär!“, verteidigte sich der Sänger energisch. „Was ist denn an Kopulation vulgär?“, fragte Taiji verständnislos. „Das ist das biologisch korrekte Wort. Ich hab’s mal nachgeschlagen. Es stimmt.“ „Aber das sagt man ni-“ „Heeee“, machte hide. Er war mit ihren Getränken vor dem Bett aufgetaucht. „Ist wieder gut jetzt. Piep-Piep-Piep, wir haben uns alle lieb.“ Er reichte Taiji und Toshi ihre Colamischung und Yoshiki eins der Sirup-Biere. „Das“, sagte Taiji und beäugte das pinkfarbene, schaumige Getränk in hides Hand, „muss mit Abstand der schwulste Drink sein, den ich je in meinem Leben gesehen hab.“ „Ich mag Pink“, sagte hide entschieden und schaute dann einmal in die Runde, sein Glas erhoben. „Also dann. Freut mich, dass ihr da seid, esst, trinkt und falls ihr kotzen müsst, trefft bitte die Schüssel – ich weiß, dass du mich gerade ungläubig anschaust und es stört mich gar nicht! Prost!“ Yoshiki, an den der letzte Satz gerichtet gewesen war, verzog das Gesicht zu einem halb amüsierten, halb leidenden Lächeln und nahm einen Schluck von seinem Bier. Es war prickelnd und fruchtig und pappig süß. Er verzog das Gesicht. „Boah. hide. Sorry. Aber ich kann das nicht trinken. Da klebt mir alles zusammen.“ Er gestikulierte auf seinen Mund und stellte das rosa Bier auf dem Couchtisch ab. „Und das ist dir nicht gekommen, als du den Sirup gekauft hast?“, fragte hide belustigt und wischte sich einen rosa Schaumbart von der Oberlippe. „Ich hab noch nie Sirup gegessen“, verteidigte sich Yoshiki. „Ich hab das unterschätzt.“ „Wollen wir tauschen?“, bot Toshi an. Gekränkt drehte sich hide zu ihm. „Sag bloß, dir schmeckt’s auch nicht!“ „Nein, Nein. Alles gut. Ich wollt nur mal probieren.“ Er tauschte Drinks mit Yoshiki und nippte an seinem neuen Glas. Gewöhnungsbedürftig… aber irgendwie besser als das Brennen des Rums im Abgang. „Ich behalte das.“ „Aber hide“, begann Taiji dann und setzte sich in den Schneidersitz, „nochmal zu dieser Freundin.“ „Mmh?“, machte hide. Er war zur Küchenzeile hinübergegangen, um sich Nudeln zu nehmen und warf Taiji einen abwartenden Blick zu. „‘s‘ sie echt oder was?“ „Ja. Ich hab sie getroffen. Sie ist einen Meter fünfzig hoch und sehr nett.“ „Mmh“, machte Taiji. Es klang beinahe enttäuscht. „Was?“ „Nichts. Ich dachte nur irgendwie… keine Ahnung. ‘s‘ sie hübsch?“ Der Gitarrist kaufte sich Zeit, indem er Streifen von Omelette, Gurken und Schinken über seine Ramen streute, als wäre es eine Kunst. „Schönheit liegt im Auge des Betrachters“, sagte er schließlich ausweichend. „Aha“, machte Taiji. „Also nicht.“ „Wieso interessiert dich das?“, fragte Yoshiki, der ebenfalls aufgestanden war, um etwas zu Essen abzugreifen. „Ich weiß nicht. Wir sind Männer. Wir trinken gerade. Wir reden über Mädchen. Das ist eine traditionelle Kombination.“ „Ich glaube, ich fänd’s angenehmer, wenn wir über Mädchen reden würden, die nicht schon zu einem von uns gehören“, bemerkte Toshi. „Das hat so was… stalkerhaftes.“ „Ok“, willigte Taiji ein. „Von mir aus. Yoshiki.“ Yoshiki, dem hide gerade als guter Gastgeber Nudeln auflud, hielt mit einem Stück gemopsten Hühnchen auf halbem Weg zum Mund inne. „… was?“ „Beschreib uns mal deine ideale Frau.“ Der Schlagzeuger ließ erst einmal langsam das Fleisch wieder sinken, steckte es sich dann aber doch in den Mund und ging kauend auf seinen Platz zurück. Dabei murmelte er: „Was ist gerade mit diesem Abend passiert… Ich bin nicht betrunken genug hierfür…“ Und damit war die Unterhaltung für ihn anscheinend auch beendet. Taiji runzelte die Stirn. „Ihr seid alle seltsam. Das ist doch wirklich kein peinliches Thema.“ „Dann fang du doch an“, verlangte hide. Wie Toshi vorhergesagt hatte, setzte er sich neben Yoshiki aufs Sofa und nahm noch einen Schluck rosa Bier, bevor er nach seinem Essen griff. „Zwei Brüste, zwei Beine, Kopf, idealerweise einer davon“, erklärte Taiji unbeeindruckt. „… irr ich mich, oder trifft das auf so gut wie jede Frau zu?“, wollte hide sichergehen. „Nicht, wenn du bedenkst, dass ein wichtiger Aspekt fehlt“, murmelte Yoshiki und faltete Omelette. „Welcher?“ „Sie muss mit ihm mitgehen wollen…“ hide kicherte und schlug Yoshiki auf den Rücken. Dieser verschluckte sich an seinem Ei und musste husten. Vielleicht war ihm aber auch einfach nur die Bosheit im Hals stecken geblieben. „Witzig“, bekundete Taiji trocken. „Ok. Du bist dran.“ Der Schlagzeuger hatte einen großen Schluck Rum-Cola genommen und war dadurch zu seiner normalen Gesichtsfarbe zurückgekehrt. Trotzdem ließ er sich mit der Antwort noch gepflegt Zeit. „Kleiner als ich“, sagte er schließlich, während er die Nudeln durch die Soße zog, „vielleicht europäisch. Lieb, still, geht mir nicht auf die Nerven…“ „Hält aus, dass du ein Kontrollfreak bist…“, erweiterte Taiji ungefragt die Liste. Yoshiki reagierte, ohne mit der Wimper zu zucken. „… glatte Haare, spielt kein Instrument, raucht nicht, trink nicht und zieht sich ordentlich an.“ „Wieso bloß warst du jemals mit Emi zusammen?“, fragte Toshi und schwang sich aus dem Bett. Er konnte dem Essen nicht mehr länger widerstehen. Taiji tat es ihm gleich, wenn auch mit einem schiefen Grinsen. Er hatte die feine Spitze als einziger im Raum bemerkt. „Sie war da“, nuschelte Yoshiki in seine Nudeln. hide lachte auf. „Yoshiki!" „Wer ist Emi?“, fragte Taiji halblaut, als er neben Toshi an der Küchenzeile stand. „Eine verflossene, nicht sonderlich epische Sommerromanze“, antwortete Toshi, während er ihnen beiden Nudeln auf die Teller klatschte. Ja… Die vermisste er auch nicht. Taiji verzog konsterniert das Gesicht. „Das hätte ich jetzt nicht gedacht“, murmelte er, mehr zu sich selbst, und nahm sich großzügig Schinken, bevor er zum Tisch ging und sich auf dem Boden hide gegenüber niederließ. „Und sag mal“, wechselte er das Thema, „du hattest doch diese Telefonnummer…“ „Uh-hu“, machte hide und präsentierte seinen Unterarm. Dort standen, halb verwaschen, einige Zahlen. Sein Gegenüber beäugte sie kritisch. „Ah ja. Daraus schließe ich, du möchtest nicht anrufen.“ „Ich hatte mich nicht entschieden“, schmatzte hide an Hühnchen vorbei. „Aber dann hat es das Shampoo für mich getan.“ Er schluckte runter. „Sie war schon nett. Aber… nicht so nett.“ Pata hatte doch gesagt, er müsse keine von ihnen heiraten. Also musste er auch keine anrufen, wenn er nicht wollte. „Hier wartet wohl jemand auf die perfekte Frau…“ Toshi plumpste neben Taiji auf den Boden und stopfte sich in einem Anflug von etwas wie Trotz Gurkenstücke in den Mund. „Daran ist überhaupt nichts falsch.“ Der Bassist schenkte ihm einen amüsierten Blick. „Du bist so ein Romantiker…“ „Ok, Schluss jetzt!“, grätschte hide dazwischen, bevor Toshi etwas erwidern konnte. „Lasst uns über irgendwas anderes reden.“ Abgesehen davon, dass Toshi und Taiji hier wohl in diesem Leben nicht mehr auf einen Nenner kamen, schwieg Yoshiki auffällig unauffällig in sein Essen. Und das war nicht der Anspruch, den hide an diesen Abend hatte. Taiji zuckte mit den Achseln und lenkte ein. „Schlag was vor.“ Der Gitarrist hob seine Schüssel, trank die Brühe aus und stand auf. „Ok. Neues Thema: Jemands Unterwäsche ist zu sehen. Ansprechen oder nicht? Diskutiert.“ Taiji warf ihm einen langen und kritischen Blick zu. „Hast du den Rum schon getestet, bevor ich kam?“ „Nein.“ hide wanderte zurück zur Anrichte, um nochmal vom Schinken zu naschen. „Ich bin so.“ Er zwinkerte ihm über die Schulter hinweg zu. Einen Moment lang verharrte Taiji mit schiefgelegte Kopf. Dann hatte er eine Erkenntnis. „Der Whiskey! Es war der Whiskey!“ hide nahm noch ein Stück Schinken und zeigte gleichzeitig verschmitzt eine winzig kleine Menge zwischen Zeigefinger und Daumen. Doch wenn Yoshiki inzwischen eins gelernt hatte, dann war es, dass man hides Mengenangaben misstrauen musste. „Ich dachte, du kannst keinen Whiskey mehr sehen.“ „Dachte ich auch“, stimmte hide am Schinken vorbei zu. „Aber es geht wieder.“ Der Schlagzeuger betrachtete ihn einige Sekunden lang offensichtlich verurteilend und wandte sich dann wieder zum Tisch. „Glückwunsch.“ Hinter seinem Rücken grinste hide schief. War der Ruf erst ruiniert… Tja. Konnte man nichts machen. Er trug die Finger am Wasserhahn vorbei und verschwand dann um die Ecke in den Flur. „Sei nicht böööse“, kam hides Stimme in einem schiefen Singsang aus dem Badezimmer, „weil ich hab hier noch was!“ Er hüpfte wieder ins Zimmer und präsentierte eine Packung wie die Lottofee ihre Zahl. „Was ist das?“, fragte Toshi. Yoshiki hingegen erkannte es fast sofort. „Ach du Scheiße…“, entfuhr es ihm. hide nickte grinsend. „Ganz genau.“ Fünf Minuten später saß Yoshiki auf hides Schreibtischstuhl und schaute dem Gitarristen skeptisch dabei zu, wie er die Farbe anrührte. Ein schweres Badehandtuch hing über seinen Schultern wie ein Cape. Doch ein Superheld fühlte sich sicher anders. Zum Beispiel nicht von Zweifeln zerfressen. Vielleicht wäre das alles ein bisschen einfacher, dachte Yoshiki, wenn nicht alle Anwesenden meinten, die ganze Zeit kommentieren zu müssen. „Bist du sicher, dass das eine gute Idee ist?“, fragte beispielsweise Toshi gerade. „Keine Ahnung“, antwortete Yoshiki und drehte sich auf dem Stuhl ein wenig nach links und wieder nach rechts. „Hab’s noch nie probiert.“ „Ich glaube nicht, dass er den Kopf hat, um blond zu sein“, sagte Taiji. „Was redest du da?“, fragte hide. „Er hat doch wunderbar androgyne Züge, das läuft. Guck mal hier!“ Er präsentierte Yoshikis Kiefern- und Halspartie. Dieser verzog das Gesicht. Scheinbar hatten sie soeben die nächste Stufe erreicht: Statt mit ihm zu diskutieren, diskutierte man jetzt über ihn. Ganz toll. „Äh“, machte er im Versuch eines Protests, doch Taiji kam ihm zuvor. „Er hat ein Pferdegebiss.“ „He!“, fauchte Yoshiki. Er war schon halb vom Stuhl hochgeschossen, um Taiji eins auf die Fresse zu geben, doch hide drückte ihn energisch wieder zurück. „Das überdecken wir irgendwann mit Makeup“, beruhigte er sie beide. „HE!“ hide lachte. „Ich mach nur Spaß. Aber jetzt mal im Ernst. Wollen wir alle machen oder nur einen Teil?“ Er kämmte mit den Fingern durch Yoshikis Haare und es lag zu einem großen Teil daran, dass dieser bereit war, ihm zu vergeben. „Weiß nicht“, murrte Yoshiki also. „Was sind die Optionen?“ „Tjaaa“, machte hide und teilte den unteren vom oberen Haarteil. „Wir könnten so machen, dass nur oben blond ist und unten schwarz.“ Er ließ die Haare wieder los und zog Yoshiki stattdessen einen etwas schiefen Seitenscheitel. „Oder nur eine Seite.“ „Mmh. Können wir eine Mischung machen?“ „Wie meinst du?“ „Kannst du mir… so was wie einen Sidecut färben? Also alles, was man rasieren würde lassen und den Rest blond.“ „Keine Ahnung“, sagte hide fröhlich und wandte sich zum Schreibtisch, auf dem er seine Utensilien abgelegt hatte. „Probieren wir’s.“ Knisternd entrollte er die Alufolie. „Wo trägst du deinen Scheitel? Rechts, oder?“ „Ja…“ Der Gitarrist fuhrwerkte ein wenig an Yoshikis Kopf herum. „Ach guckt mal, wie süß“, freute er sich nach vielleicht einer halben Minute. „Jetzt, wo deine Haare länger werden, bekommst du Löckchen!“ Er zog an einer von Yoshikis hinteren Haarsträhnen, die sich sofort wieder zusammenzog wie eine Sprungfeder. „… sag noch einmal süß zu mir“, warnte Yoshiki sehr langsam und sehr ernst, „und ich stell meinem Fuß deinen Arsch vor.“ hide klammerte den Großteil von Yoshikis Haaren aus dem Weg und tätschelte ihm die Schulter. „Das würdest du niemals tun.“ Alufolienknistern. Yoshikis Zähneknirschen war fast hörbar. „Ok“, befahl hide, „halt still.“ Yoshiki setzte sich noch einmal aufrechter hin und hide begann, ihm die bläuliche Paste schichtweise in die Haare zu schmieren. „Weißt du, was du da machst?“, fragte Yoshiki und versuchte, an seinem eigenen Kopf vorbei zu schielen, um zu sehen, was hide da trieb. Das stellte sich als schwierig heraus. Ein eklig glibberig-kaltes Gefühl breitete sich auf seiner Kopfhaut aus und der penetrante chemische Geruch stach ihm in der Nase. „Jaja“, beruhigte ihn hide, wischte Yoshiki ein bisschen Farbe vom Ohr, wo er gekleckert hatte und nahm nebenbei einen Schluck von seinem rosa Drink. „Ich bin total on top of things.“ „Ich fänd’s beruhigender, wenn du nicht alkoholisiert wärst“, murmelte Yoshiki. „Ja, das hör ich öfter“, stimmte hide zu und reichte ihm schwungvoll seinen Cocktail. „Aber wenn du das hier getrunken hast, stört’s dich nicht mehr.“ Das war ja wohl die Kunst – immer mindestens so betrunken zu sein wie alle anderen. Sonst konnte man ja keinen Spaß haben! „Aber da“, er drückte Yoshiki die Packung in die noch freie Hand, „schau mal, wie blond genau du werden willst.“ „Ähm…“ Unschlüssig betrachtete Yoshiki die auf der Packung aufgedruckte Farbskala. „… Irgendwas zwischen orange und gelb?“ Taiji streckte die Hand aus und Yoshiki warf ihm die Packung zu. Nachdenklich betrachtete er die Abbildung. „Dafür müsst ihr das glaube ich mehrmals machen. Ihr kriegt das heute nicht viel heller als meine.“ Yoshiki blinzelte irritiert. „Deine sind gebleicht?“ „Was dachtest du? Dass ich zu oft im Schwimmbad war?“ Der Bassist nahm einen tiefen Schluck von seinem Drink. Es klopfte. hide stellte die Schüssel auf dem Tisch ab und verschwand Richtung Tür. „Äh… hide…“, machte Yoshiki vorsichtig. Dem Gefühl nach lief ihm Farbe seitlich den Hals hinunter. „Ich mach gleich weiter!“, kam hides Stimme aus dem Flur. Yoshiki drehte sich mit dem Stuhl in Toshis Richtung. „… das war keine gute Idee.“ Sein bester Freund schaute wenig überrascht zurück. „Nein. War es nicht.“ „Aber das wussten wir vorher“, sagte Taiji. „Hallo Pata!“ Pata nickte ihnen zu und hob die Hand. „Meine Tante sagt Grüße.“ Er reichte hide einen unförmigen Stoffbeutel. Dieser lugte hinein. „Geil. Kuchen.“ „hide…“, sagte Yoshiki. „Jaja.“ Den Kuchen unterwegs auf dem Tisch abstellend, kehrte hide zu seinem Kunstwerk zurück. „Blond?“, fragte Pata und setzte sich aufs Sofa. „Japp“, antwortete hide. „Und wenn ich damit fertig bin, stoßen wir an.“ -X- Eine Dreiviertelstunde brennenden Juckreizes und zwei Gläser Sekt später hing Yoshiki mit dem Kopf nach unten über der Badewanne, während hide ihm die Haare ausspülte. Das war nicht so toll. „Mir ist schlecht…“, blubberte er über das Wasser hinweg, das ihm ins Gesicht lief. „Dann bist du hier ja schonmal am richtigen Ort“, sagte hide fröhlich und griff an ihm vorbei nach dem Shampoo. „Wir haben’s auch gleich." Er drückte Yoshiki den Duschkopf in die Hand und begann, einmal kräftig einzuschäumen. Vanilleduft vermischte sich mit dem chemisch-frischen Geruch der Blondierung zu einem Mix, der Yoshiki sogar dann Kopfschmerzen gemacht hätte, wenn er nicht kopfüber hängen und gegen Sekt ankämpfen würde, der sich seine Speiseröhre hinaufzuwinden versuchte. hide schien das anders zu empfinden, denn er summt gut gelaunt vor sich hin, nahm ihm die Brause wieder ab, spülte seine Haare aus und erlöste Yoshiki dann endlich aus seiner undankbaren Position über dem Badewannenrand. Sein Nacken tat weh, als er sich aufrichtete und er hielt die Augen gegen die Übelkeit geschlossen, während hide ihm die Haare trocken rubbelte. „Jetzt schau schon hin“, sagte hide schließlich und warf das nasse Handtuch in die Wanne. „Du hast keine Glatze.“ Vorsichtig öffnete Yoshiki ein Auge und tastete gleichzeitig in Richtung seines Kopfes. Seine Haare fühlten sich anders an, als er das gewöhnt war – irgendwie zäher und strähniger. Auf einmal wurde ihm klar: Er würde Tonnen an Haarpflegeprodukten brauchen. Dann schaute er in den Spiegel. Seine noch feuchten Fransen hatten die Farbe von Haselnüssen. „Nicht schlecht“, sagte er, nachdem er den Kopf einmal nach links und rechts gedreht und auch die farbliche Zweiteilung begutachtet hatte. Ganz und gar nicht schlecht. „Siehst du?“, sagte hide. „Genial. Ich bin genial!“ „Ja…“ Yoshiki strich sich die Haare nach hinten und wandte sich von seinem Spiegelbild ab. Er sollte den Rest des Abends besser genießen, denn diesmal würde es passieren. Seine Mutter würde ihn umbringen. „Also los, lass uns Whiskey trinken, Einstein.“ -X- Spät am nächsten Morgen saßen sie um den Tisch, aßen den mitgebrachten Kuchen und tranken Kaffee. Das beseitigte den Kater und gab nebenbei Toshi die Möglichkeit festzustellen, dass hide kurz nach dem Aufwachen aussah wie ein Hamster, den man mit einem Luftballon abgerubbelt hatte: seine Haare standen in alle Richtungen und er guckte ziemlich verwirrt. Toshi selbst hatte ein wenig Rückenschmerzen, denn ohne es zu merken war er auf einem Flaschenverschluss eingeschlafen. Aus der Art und Weise, wie Yoshiki hin und wieder seine Schultern dehnte schloss er allerdings, dass das Sofa keine bessere Wahl gewesen war. Doch letztlich ging es bei Feiern wie dieser wohl auch nicht darum, sich morgens erfrischt und munter zu fühlen. Immerhin, sie konnten alle noch nach Hause gehen und jede Party, die man noch eigenständig verlassen konnte, musste man wohl schon als Erfolg werten. Er hatte sich gerade noch einmal Kaffee nachgeschenkt, als etwas klingelte. hide, der sich soeben ein großes Stück Kuchen in den Mund geschoben hatte, strich sich ein paar Krümel von den Fingern und ging kauend zum Telefon auf seinem Schreibtisch hinüber. „Matsumoto desuuu…“, sagte er gedehnt, wohl um deutlich zu machen, dass er es für zu früh hielt. „Das ist echt ziemlich guter Kuchen“, stellte Taiji zum wiederholten Mal fest. „Kompliment an deine Tante.“ Pata nahm noch einen Schluck Kaffee. „Richte ich aus.“ „Was?“, fragte hide. „Wann?“ Etwas in seiner Stimme ließ Toshi die Augenbrauen zusammenziehen. Das Gespräch am Tisch verkam zu Hintergrundrauschen, als er den Kopf ein wenig drehte, um zumindest hides Hälfte der Unterhaltung mitzunehmen. Der Gitarrist hatte angefangen, die Telefonschnur um seine Finger zu wickeln. „Ich nehm an, ihr wollt heute nicht proben?“, fragte Yoshiki auf seinem anderen Ohr. „Aber… wie?“, fragte hide weiter. Vielleicht bildete Toshi es sich ein, aber er wirkte ein ganzes Stück blasser. „Das kannst du vergessen“, beschied ihm Taiji. „Ich werd erstmal hundert Jahre schlafen." „Ok… Und… was…“, murmelte hide. „Ich muss arbeiten“, teilte Pata mit. Yoshiki seufzte. „Ah… Ja… Nein. Ich… ich komm selbst. Ja. Nein… Mama, gib’s auf…“ Vielleicht war es Toshis Schulterblick, der jetzt allmählich Aufmerksamkeit erregte, vielleicht bemerkten sie aber auch nur alle langsam hides angespannten Tonfall, doch spätestens mit dem Wort Mama kam ihr Gespräch zum Erliegen. „Ja. Bis dann. Danke. Ja. Bis… dann…“ hide legte auf, machte aber keine Anstalten, sich wieder an den Tisch zu setzen. Langsam wickelte er das Kabel wieder von seinen Fingern. Die vier Jungs am Tisch sahen ihm beunruhigt entgegen. „Was ist los?“, traute sich Yoshiki nach einigen schweigsamen Sekunden zu fragen. hide schluckte, sah aus dem Fenster, an die Wand über seinem Bett, dann in ihre Richtung. Seine Lippen formten Worte, doch kein Laut gesellte sich zu der Bewegung. Er schluckte noch einmal, ballte die Hand zur Faust und öffnete sie wieder. Dann schließlich sagte er, kaum vernehmbar: „Meine Großmutter ist tot.“ Toshi starrte ihn an. „Oh Fuck", bekundete Taiji leise so etwas wie Beileid. „Wann?“, fragte Yoshiki bestürzt, dabei ohne es zu wissen hides Telefonat wiederholend. hide stützte sich auf seinen Schreibtischstuhl. Er wirkte zu erschüttert, um ein wirkliches Gefühl zu produzieren, doch Toshi fragte sich, wie lange das so bleiben würde. „Vorgestern. Abend.“ Keiner von ihnen sagte etwas, während die Bedeutung seiner Worte langsam einsickerte: Während sie in Yokohama Spaß gehabt, getrunken und geflirtet hatten. “Ich…”, sagte hide tonlos, “ich… entschuldigt mich.” Er drehte sich auf den Ballen um und stürzte an ihnen vorbei ins Badezimmer. Der Schlüssel wurde knirschend im Schloss gedreht und eine schwere Stille senkte sich über die vier am Tisch Zurückgebliebenen. „Wow“, murmelte Taiji nach einigen Sekunden beklommen. „Und ich dachte, ich wüsste, was ein beschissener Morgen ist.“ Langsam stellte Yoshiki seine Tasse ab. Das Frühstück war beendet. „So kann man sich irren…“ Betroffen starrten sie noch ein paar Sekunden auf das, was der Beginn eines schönen, ruhigen Sonntags hätte werden können. Gerade, als Toshi zu der Frage ansetzen wollte, was sie jetzt tun würden, erklang die ruhige Stimme von Pata. „Ok“, sagte sie. „Lasst uns gehen.“ Er erhob sich. „Bist du wahnsinnig?“, fragte Toshi und rappelte sich ebenfalls auf. Da er versuchte, leise zu sprechen, machte sich seine Entrüstung durch ein kobraartiges Zischeln Luft. „Wir können ihn doch jetzt nicht allein lassen!“ Er hoffte, dass sich seine Empörung ausreichend in seinen Augen zeigte, als er versuchte, Pata durch bloßes Anstarren zum Einknicken zu bewegen. Schnell musste er allerdings feststellen, dass das so gar keinen Effekt hatte, also blickte er auf der Suche nach neuen Verbündeten zu Yoshiki. Zu seinem Entsetzen aber schüttelte dieser den Kopf. „Yoshiki!“, flüsterte Toshi bestürzt – so bestürzt, wie man eben flüstern konnte. War er denn von kaltblütigen Reptilien umgeben?! „Toshi“, sagte Yoshiki sachte aber bestimmt und legte ihm eine Hand auf die Schulter, „Pata hat Recht. Wenn wir eins über hide gelernt haben, dann, dass er mit seinen Gefühlen erstmal allein sein will. Geben wir ihm ein bisschen Raum und… schauen morgen oder so nach ihm. Wenn er Zeit hatte, sich zu sortieren.“ Toshi schüttelte widerwillig den Kopf. Yoshiki hatte Recht, doch das wollte er nicht einsehen. Er wollte hier bleiben und für hide da sein. Tee kochen, eine Schulter anbieten und vermutlich irgendwann mal ausgehen und Schokolade kaufen. Doch er konnte jetzt schon absehen, dass er dieses Spiel verlieren würde. Die Hand drückte zu und verschwand dann von seiner Schulter, als Yoshiki sich abwandte und um das Sofa herumging. Er öffnete den Kühlschrank und dann nacheinander alle Küchenschränke. „Was tust du da?“, fragte Toshi, der ihm auf den Fersen folgte argwöhnisch. Er war sich gerade nicht sicher, ob er Yoshiki vertraute, was das alles hier anging. „Ich sagte, wir sollten hide allein lassen“, erklärte dieser, drückte ihm die halbvolle Flasche Bourbon von gestern in die Hand und schüttete den letzten Rest Sekt in die Spüle. „Nicht allein mit Schnaps. Taiji, Zigaretten.“ Taiji, der sich der Säuberungsaktion angeschlossen hatte und gerade Rum und Bier vom Tisch in seine Tasche packte, blickte stirnrunzelnd auf. „Was, wieso?“ „Wir sollten zumindest eins von beidem hier lassen.“ Yoshiki wühlte in seiner Tasche und warf nach kurzem Suchen seine eigenen Zigaretten auf den Tisch, bevor er die letzte Flasche Bier einpackte. Taiji seufzte, nickte dann aber und legte eineinhalb Packungen Mild Sevens dazu. Wenige Minuten später hatten sie alle ihre Sachen und – soweit sich das sagen ließ – sämtliche alkoholische Getränke eingesammelt und schlichen durch den Flur nach draußen ins Treppenhaus. Vor der Badezimmertür pausierte Toshi kurz. Die Stille auf der anderen Seite schien absolut, doch er wusste, dass irgendwo dort drin hide war. Ein, zwei Herzschläge lang hielt er den Atem an – und war sicher, dass hide es ihm gleichtat. -x- Die Rückfahrt war eine schweigsame Angelegenheit. Neben Toshi starrte Yoshiki aus dem Fenster. Ihnen gegenüber hatte Taiji die Arme verschränkt und betrachtete die Spitzen seiner Stiefel. Toshi zählte die Stationen. Als er schließlich gegen Mittag in seine Wohnung trat, begrüßte ihn seine Mutter am Herd stehend, sein Vater ein Buch lesend und Hiro auf dem Boden sitzend, wo er ein Flugzeug zusammenbaute. Akimi kniete am Tisch und lernte allem Anschein nach gerade das Kanji für Vier. „Hallo“, sagte Toshi. Die Normalität erschien ihm auf einmal unwirklich und fragil. Er fragte sich, wie lange sie noch halten würde und erschrak im gleichen Augenblick über seine Gedanken. Das musste es sein, dachte er. So musste sich hide immer fühlen. „Willkommen zurück, Liebling. Na, wie war’s? Essen ist gleich fertig.“ „Ganz gut“, antwortete Toshi. „Nur gegen Ende etwas holprig. Ich… Danke. Ich hab noch keinen Hunger.“ Mit einem entschuldigenden Lächeln schob er sich aus dem verdutzten Radar seiner Mutter und weiter in sein und Hiros Zimmer. Dort ließ er sich an seinen Schreibtisch fallen. Draußen vor dem Fenster war der Himmel leuchtend blau, gespickt mit einigen pittoresken Schäfchenwolken. Es war ein wunderschöner Tag. Ohne wirklich an etwas zu denken blieb Toshi sitzen und starrte über die Felder, bis sich irgendwann ein Arbeitsblatt in sein Blickfeld schob. 3 + 2 = 5, stand da, und 4 – 1 ist 3. Jede Aufgabe hatte Bildchen von Dingen, die man zählen konnte, um auch so auf die Lösung zu kommen. „Kannst du meine Hausaufgaben anschauen?“, fragte die dazugehörige Mädchenstimme. Toshi blinzelte irritiert. Wie lange saß er schon hier? War das Mittagessen schon vorbei? „… klar“, sagte er und nahm das Blatt. Er fühlte sich unwohl. Mit einem Mal war ihm bewusst geworden, wie unendlich fertig er aussehen musste, dass er vermutlich nach Rauch roch und nicht Zähne geputzt hatte. Rock ‘n‘ Roll, yeah. Er zählte Blümchen und Kätzchen und Frösche. „Was machst du denn da?“, fragte sie, während er noch dabei war. 1 + 2 = 3. „Ich schau nachdenklich aus dem Fenster“, murmelte Toshi. Akimi ging zum Fenster hinüber und sah hinaus, konnte aber offensichtlich nichts entdecken, worüber man nachdenken müsste. „Warum?“, fragte sie also. „Mein Reisbällchen ist traurig“, sagte Toshi und spürte unwillkürlich ein Lachen der Überforderung seine Luftröhre hochsteigen. Er unterdrückte es mühsam. Doch zu seiner weitaus größeren Überraschung schossen ihm zusätzlich plötzlich Tränen in die Augen und er musste ein paar Mal zu viel blinzeln. Die Zahlen verschwammen und wurden wieder scharf. Akimi lugte ihm ins Gesicht. „Und deswegen bist du auch traurig?“, fragte sie mit einem so tiefen Verständnis, dass es kein Mensch nach dem zehnten Geburtstag mehr aufbringen konnte. „Ich versteh einfach nicht, warum es immer er sein muss, dem traurige Sachen passieren“, sagte Toshi leise und zählte die letzte Reihe Schnecken ab. 5 – 5 = 0. „Und ich wünschte, ich könnte es besser machen. Aber ich kann’s nicht.“ Er legte seinen Bleistift weg und gab ihr das Blatt zurück. „Sehr schön.“ Seine Schwester nahm ihre Hausaufgaben wieder an sich, ging aber nicht. Stattdessen legte sie den Kopf schief und schaute ihn unschlüssig an. Und in diesem Moment wurde Toshi klar, dass er soeben zugegeben hatte, dass sein Reisball ein Junge war. Doch das schien egal. Gerade war er traurig. Und sie tat das Einzige, das zu tun richtig war: sie legte den Kopf auf seine Schulter, nahm seine Hand und schloss ihre kleinen Finger um seine. Und so blieben sie eine lange Zeit. -X- Eine Woche später stand Toshi vor hides Wohnungstür und wippte von den Fersen auf die Fußballen und wieder zurück. Er stand jetzt bestimmt schon zwei Minuten dort, doch konnte sich noch nicht überwinden, sein Hiersein auch kundzutun. Hinter dieser Tür wartete potentiell ein Spektrum an Emotionen auf ihn, von abgrundtiefen Depressionen auf der einen bis hin zu hirnverbrannter Liebe auf der anderen Seite. Und um ehrlich zu sein fühlte Toshi sich nicht ganz bereit dafür. Für nichts davon. Doch was sollte er sonst tun? Wenn er sich jetzt wieder umdrehte und ging, würde er nicht mehr mit sich leben können. Seufzend nahm er die Plastiktüten in seiner linken Hand mit einem Knistern in die rechte, hob die Hand, zögerte und klopfte dann. Es dauerte. Toshi klopfte noch einmal. Wie alles im Leben wurde auch das hier mit zunehmender Übung einfacher. Weiterhin passierte nichts und Toshi starrte auf das Holz der Tür. Ein großer Kratzer zog sich über den Lack wie ein Blitz über einen Herbsthimmel. Er überlegte, zu gehen. Er überlegte, sich auf die Treppe zu setzen und zu warten. Er überlegte, die Tür aufzubrechen. Doch schließlich hörte er Schritte auf der anderen Seite, die Kette und dann den Türriegel. Mit einem tiefen Durchatmen richtete er seine Wirbelsäule noch ein wenig auf und versuchte, ruhig und stark zu wirken. hide erschien in einem Spalt, erkannte Toshi und öffnete die Tür weiter. „He.“ „Hallo“, sagte Toshi und streckte die Plastiktüten mechanisch vor. „Ich hab Mittagessen und … allgemein Essen mitgebracht. Yoshiki hat gesagt, dass du zurück bist und ich wusste nicht, ob dir nach rausgehen ist und wie dein Kühlschrank von innen aussieht.“ Das gesagt ließ er seinen Blick einmal von hides Gesicht bis zu seinen Zehen und wieder zurück nach oben wandern. Der andere Junge sah aus, als bräuchte er dringend ein paar Stunden erholsamen Schlaf und etwas zwischen die Zähne, doch davon abgesehen hatte er Schlimmeres erwartet. Aus seinem Outfit – T-Shirt (mit Flecken) und Boxershorts – schloss Toshi, dass er nicht mit Besuch gerechnet hatte. „Oh“, machte hide. „Das… danke. Ich… er ist nicht ganz leer, aber… danke.“ Toshi reichte ihm die Tüten und er betrachtete den Sänger unschlüssig. „Willst… du reinkommen?“, fragte hide ein paar Sekunden zu spät. „Ich muss nicht.“ Noch vor dreißig Sekunden hätte Toshi die Frage mit einem festen Ja beantworten wollen, doch gerade war er sich wirklich nicht mehr sicher. In seinem inzwischen berüchtigten Kopfkino hatte er sich – größtenteils zugegebenermaßen höchst unpassende – Szenen ausgemalt, wie aus kumpelhaften Trostspenden gefühlvolle Gesten der Zärtlichkeit wurden. Doch wie hide jetzt so vor ihm stand, müde und ungepflegt und in hellgrünen Kuschelsocken, war ihm bewusst, dass das hier die Wirklichkeit war. Und in dieser Wirklichkeit war noch mehr emotionale Verwirrung vermutlich das Letzte, das er jetzt brauchte. Und vielleicht, dachte ein egoistischerer Nervenstrang in Toshis dorsolateralen präfrontalen Kortex, musste er sich hide wirklich auch nicht in jedem Zustand geben. Er hing ein wenig an seinen letzten verbleibenden Fantasien, die zwischen seinem rosaroten Bild und dem echten hide einen schützenden Kokon gebildet hatten. Toshi stellte also nachdenklichen Augenkontakt mit drei der bestimmt siebenundsechzig Hundchen auf hides Shorts her, zuckte mit den Schultern und wanderte dann mit den Augen wieder nach oben. „Doch. Also – Nein. Du musst nicht. Aber…“ hide schaute in die leichtere Tüte. „Da sind zwei Bentos drin, oder? Ich nehm mal an, das eine war für dich?“ Toshi machte eine vage Kopfbewegung, die ein Nicken sein konnte oder ein ‘Meh, was auch immer‘. hide schaute sich unbehaglich über die Schulter und kratzte sich mit den Zehen des linken Fußes in der rechten Kniekehle, als er fortfuhr: „Es ist bloß… ich… ähm… hab seit letzter Woche nicht aufgeräumt...“ „Mir ist das egal“, sagte Toshi. „Wenn es dir nicht zu unangenehm ist…“ „Nein“, sagte hide, drehte sich um und winkte etwas müde über die Schulter, „das ist ok… ist ok. Bleib hier.“ Toshi trat also ein und schloss die Tür, während hide schon mal die paar Meter durch den schmalen Flur ging. Auf dem Weg sammelte er ein paar Unterhosen ein und warf sie in den Korb neben dem Schrank. Der Sänger schlüpfte aus seinen Schuhen und lugte dann um die Ecke. Die Ein-Zimmer-Wohnung sah aus, als wäre eine Bombe explodiert. Überall – auf dem Schreibtisch, auf dem Sofa, auf dem Boden, im ungemachten Bett – lagen alle möglichen Dinge verstreut, von einem halben, angebräunten Apfel auf dem Tisch bis zu einem einsamen Zahnstocher vor der Badezimmertür. Das ganze Alphabet schien vertreten. Auf dem Fensterbrett lagen vier leere Schachteln neben einem überquellenden Aschenbecher und in der Spüle hatte hide sein Geschirr so nachlässig gestapelt, dass irgendetwas davon beim Versuch des Abwaschs zerbrechen musste. Wollmäuse huschten in die Ecken, als Toshi unsicher die letzten Schritte in den Raum machte. „… Ja“, sagte hide, der sich zu ihm umgedreht und seinen Blick bemerkt hatte, seufzte und ließ die Schultern hängen. „Gib mir drei Minuten.“ Er begann, im Zimmer herumzuwuseln. Um sich halbwegs nützlich zu machen, kramte Toshi die letzten zwei sauberen Behältnisse aus dem Küchenschrank – einen Messbecher und ein Glas mit verwaschenen Luftballons darauf – und kochte Tee. Psychologisch gesehen ein schlauer Move, wenn man wusste, dass Menschen einem geneigter wurden, wenn man ihnen ein warmes Getränk anbot. Als er damit fertig war, hatte hide den Tisch freigeräumt und das gröbste Chaos neben dem Bett gestapelt. Toshi öffnete das Fenster weit gegen den penetranten Geruch nach altem Rauch, dann setzten sie sich aufs Sofa. „Hattest du beim Kaufen eine Vorliebe?“, fragte hide und zog die Bentos aus der Tüte. Toshi schüttelte den Kopf und genau wie er es vorhergesehen hatte, nahm hide die Box mit den Garnelen und dem frittierten Tofu. „Danke“, sagte hide und öffnete seine Box. „Gern“, sagte Toshi und tat es ihm gleich. Sie verbeugten sich zueinander und nahmen schweigend einige Bissen. Das leise Brummen des Kühlschranks vermischte sich mit gedämpften Stimmen aus der Wohnung nebenan und den entfernten Schreien einiger Möwen draußen zu einer Kulisse wie aus einem alten Schwarzweißfilm. „Wie… wie war es?“, stellte Toshi schließlich die schwerste Frage. Sie konnten zwar die nächste Stunde so tun, als wäre nichts gewesen, doch da sie beide genau wussten, dass das nicht stimmte, beschloss er, die Holzhammermethode zu wählen. Es war besser, es am Anfang aus dem Weg zu räumen und dann zu sehen, was zwischen den Trümmern übrigblieb. hide hörte auf, in seinem Algensalat herumzustochern, starrte kurz auf die Tischplatte und zuckte schließlich mit den Schultern. „Keine Ahnung. Anstrengend. Emotional. Auf so vielen Ebenen.“ Toshi nickte auf eine Weise, von der er hoffte, dass es möglichst verständnisvoll aussah. „Also…“, sprach hide weiter, als die Stille zu lang wurde, „es war… in Ordnung. Es war eine schöne Zeremonie... Aber ich war scheiße traurig halt, aber ich konnte nichts damit anfangen, weil meine Mutter mir heulend an der Seite hing und ich wusste nicht, ob sie wegen ihr oder wegen mir weint, während mein Vater und ich die ganze Zeit so getan haben, als würden wir uns nicht kennen… Das war…“ Er lachte heiser auf, und das Geräusch jagte Toshi einen kleinen Schauer über den Rücken, so unnatürlich war es. „Echt seltsam. Ja.“ hide schnitt ihm eine Grimasse, die aussah, als versuche er, über Bauchschmerzen hinweg zu lächeln, dann wandte er sich wieder dem Bento zu. Er angelte ein Stück Tofu und kaute darauf herum wie jemand, der sich gerade noch überlegte, ob er sich übergeben wollte. Toshi senkte den Blick und betrachtete die Fleischstückchen in der oberen rechten Ecke seiner Box. Nie hatte er gedacht, dass etwas Wahres in dieser kitschigen Aussage liegen könnte, doch da war ein Schmerz in seinem Oberkörper, den er sich anders nicht erklären konnte: hide so zu sehen, brach ihm schlicht und einfach das Herz. Und er konnte nichts dagegen tun. Er konnte es ihm ja nicht einmal sagen. Also schwieg er und umklammerte seine Stäbchen, bis hide schließlich weitersprach. „Weißt du, was der echte Scheiß ist?“, fragte er. „Was?“, fragte Toshi bemüht sanft zurück. „Wir hatten zuletzt Anfang April gesprochen. Ich… ich hab’s nicht einmal geschafft, mich nochmal zu melden seitdem.“ Toshi dachte an seinen eigenen Großvater. „Naja“, sagte er schließlich, nicht wissend, ob er mitfühlend oder aufbauend versuchen sollte. „Das… passiert. Wir – du hattest viel um die Ohren. Man… macht halt-“ Doch hide hob die Hand und Toshi verstummte. „Das ist es nicht. Wir… sie hatte mir einen Glücksbringer geschickt. Für die Prüfungen. Und natürlich hat sie dann gefragt, wie es gelaufen ist. Und… ich…“ hide musste einmal schlucken. „Ich hab ihr gesagt, dass ich bestanden hab.“ Toshi schwieg. Er hätte sagen können, dass es in Ordnung war und die Gründe aufzählen, warum es vielleicht sogar stimmte. Doch es war nicht in Ordnung. Und es war zu spät, um noch etwas dagegen zu tun. Ihm gegenüber blickte hide aus dem Fenster. „Das war das Letzte, was ich zu ihr gesagt hab. Und es war ‘ne Lüge.“ Langsam drehte er den Kopf in Richtung des Sängers. „Was ist falsch mit mir, Toshi?“ Einige schreckliche Sekunden lang wusste Toshi nicht, was er hide sagen wollte. Es waren so unendlich viele Dinge falsch mit ihm, wenn man es objektiv betrachtete. Also entschied er, genau das nicht zu tun. hide musste nicht hören, was er bereits wusste. „Nichts“, sagte er schließlich, in einem Tonfall, den er sich nicht erinnern konnte, jemals bei sich selbst gehört zu haben. „Rein gar nichts.“ Ein paar Sekunden lang schauten sie sich über den Tisch hinweg an. hide sah zuerst weg. Sie leerten ihre Boxen schweigend und, falls es hide so ging wie Toshi, ohne echten Appetit. -X- Es war Juni geworden und die typische Witterung Tateyamas hatte ihnen bereits wieder feuchtwarme Luft und die erste Sommerhitze beschert, als Toshi, Yoshiki und Taiji eines Dienstags zusammen zur Probe erschienen. Den Weg über den Parkplatz und die Treppe hinunter diskutierten Toshi und Taiji noch über die Vor- und Nachteile von Ketchup und ob die Europäer diesen zu Nudeln aßen oder nicht, doch unten in der Tür blieb Yoshiki so abrupt stehen, dass Toshi in ihn hineinlief und somit die Unterhaltung zu einem abrupten Ende brachte. „He“, machte Yoshiki überrascht und ging endlich einen halben Schritt nach vorne, damit auch Toshi (sich die schmerzende Nase reibend) und Taiji eine Chance hatten, einzutreten. „Du bist hier.“ „Jap“, sagte hide. Er spielte leise Tonleitern und ging dabei ein paar Schritte vor dem Sofa auf und ab. Auf diesem saß Pata und nickte ihnen zu. „Und du probst mit?“, fragte Yoshiki etwas dämlich, als müsse er sichergehen. „Jap“, sagte hide noch einmal. Seine Hand glitt den Gitarrenhals einmal nach oben und wieder nach unten, dann stoppte er und wanderte in eine Art Solo, das im Grunde ebenfalls nur aus Fingerübungen bestand. „Dann geht’s dir wieder gut?“, fragte Taiji mit einem flüchtigen Blick über die Schulter, während er sich den Bass umhängte. „Nein“, sagte hide, ruhig aber bestimmt, und wanderte in einem Halbkreis um das Sofa und dann wieder zurück, als ihm sein Kabel in die Quere kam. Toshi versuchte, einen Blick mit Pata auszutauschen und in seinen Augen irgendetwas darüber zu lesen, was hier passiert sein mochte, doch wie immer gab sein Gesichtsausdruck nicht das Geringste preis. Vielleicht versuchte er deswegen danach hide. Und zu seiner Überraschung sah dieser nicht weg. Sie tauschten einen Blick in der Länge von vielleicht zwei Mississippi. Dann zog hide einen Mundwinkel zu einem halben Lächeln hoch und trottete an seinen Platz, um Pata mehr Raum zu geben. Der Alltag hatte sie wieder. Doch als Toshi sich selbst zum Mikroständer wandte, war ihm kalt. Er hatte in hides Augen etwas gesehen, das er so bisher nur bei einer anderen Person gefühlt hatte – und die befand sich gerade ebenfalls hier in diesem Raum. Einen Abgrund so breit, dass er hide und ihn immer trennen würde, so wie er Yoshiki und ihn trennt. Und einen Abgrund so tief, dass selbst wenn er sein ganzes Leben lang fallend verbrächte, er nie würde herausfinden können, was genau am Grund lauerte. -X- Es war am nächsten Dienstag, als hide, eine Stunde zu spät und mit vom Rennen rotem Gesicht in den Raum platzte und damit den Chorus von Break the Darkness abwürgte. In seiner rechten Hand hielt er einige Blatt Papier, die er gen Decke streckte, als er außer Atem keuchte: „Ich weiß, was ich machen will!“ „Ah ja?“, fragte Taiji. „Was ist das?“, fragte Toshi und streckte die Hand nach den Seiten aus. „Ich hab einen Brief bekommen“, sagte hide, stützte sich auf seine Oberschenkel und atmete ein paar Mal durch. „Und Entschuldigung, dass ich zu spät bin. Oj. Pu.“ „Von wem?“, fragte Yoshiki, die Entschuldigung ignorierend. Er führte eine Strichliste. Was die für Konsequenzen haben sollte, wusste er zwar noch nicht, aber es erschien ihm dennoch die Mühe wert – wenn auch nur, damit er irgendwann sagen konnte ‘xy, das ist jetzt schon das einundzwanzigste Mal!‘ oder ‘Ach ja? Aber zumindest bin ich nicht einundzwanzig Mal zu spät gekommen!‘. hide richtete sich auf und bog seinen Rücken durch. „Von meiner Oma.“ „Ich nehme an, es hat nichts mit einer Zombie-Apokalypse zu tun“, mutmaßte Taiji. „Nein“, sagte hide und musste lachen. Es klang wieder so, wie es sollte: froh und gelöst. „Meine Mutter hat ihn beim Ausräumen entdeckt. Sie muss nicht mehr dazugekommen sein, ihn abzuschicken.“ „Aber was ist es?“, fragte Pata. „Werbung!“, rief hide. „Roppongi Hills! Hollywood University für Beauty und Fashion! Das ist es! Das will ich machen!“ „hide“, sagte Toshi, der den Brief hielt sachte, „du brauchst immer noch einen Abschluss hierfür. Hier steht’s. Voraussetzung ist der erfolgreiche Abschluss der Oberschule.“ hide machte eine auffordernde, kreisförmige Handbewegung und sagte: „Punkt Fünf!“ Toshi überflog die Seite, blätterte um, blätterte zurück und las die Rückseite. „Begabtenprüfung?“, fragte er. „Begabtenprüfung!“, rief hide. „Begabtenprüfung?“, fragte Yoshiki. „Was ist das?“ „In Ausnahmefällen kann auch bei fehlendem Abschluss eine Zulassung erwirkt werden, wenn in einem gesonderten Auswahlverfahren gezeigt werden kann, dass eine herausragende Begabung und eine für das Bestehen des Ausbildungsgangs hinreichende Allgemeinbildung vorhanden ist“, las Toshi vor. „Seht ihr?“, rief hide begeistert. Er lief aufgedreht im Raum auf und ab. „Ich muss denen nur demonstrieren, dass ich Mode und Style kann und ich bin dabei!“ „Ja“, stimmte Taiji zu, doch sprach aus, was alle dachten, als er sagte: „Aber kannst du das?“ hide hielt abrupt in seinem aufgewühlten Marsch inne und drehte sich mit einem vorwurfsvollen Ausdruck im Gesicht zu ihnen um. „Es ist so schön zu sehen, dass ihr als echte Freunde mich dabei unterstützt“, sagte er, ironisch und eingeschnappt, aber in erster Linie verletzt. „hide“, begann Yoshiki behutsam, „es ist nicht, dass wir dich nicht unterstützen, es ist nur, dass… wir glauben, dass du unterschätzt, wie schwer das werden könnte.“ „Ja Mann“, pflichtete Taiji ihm bei. „Ich meine, du hast doch überhaupt keine Ahnung von diesem ganzen… Zeug. Woher willst du das lernen in… wann auch immer dieses Auswahlverfahren ist. Und noch was anderes: Beauty und Fashion? Ernsthaft? Mal angenommen, du schließt das ab – was bist du denn dann? Mr. Puderquaste?“ Der Leadgitarrist verschränkte die Arme und zog die Augenbrauen mürrisch zusammen. Kein Zweifel: Er war ernsthaft angepisst. „Aufnahmeprüfung ist Anfang Oktober, ein paar Tage bevor’s losgeht. Ist eine Art Nachrückverfahren. Und zu deiner Information, Nein, ich bin dann nicht Mr. Puderquaste, ich bin danach Kosmetiker und das berechtigt einen auch zum Stylisten und zum Friseur.“ In Yoshikis Hinterkopf klickte es. hides Großmutter war Friseurin gewesen. Kein Wunder, dass er jegliche Kritik an seinem Vorhaben sofort abblockte. Wenn er ihn von diesem Trip runterbringen und damit vor weiteren Enttäuschungen bewahren wollte, musste er es mit herausragendem Fingerspitzengefühl tun. Doch noch während er den Mund erneut öffnete, hörte er Toshi sagen: „Das klingt toll. Ich glaube, du schaffst das. Und ich werd dir gerne helfen, wenn ich kann … auch wenn ich nicht weiß, wie.“ Überrascht drehte Yoshiki den Kopf in seine Richtung. hide tat es ihm gleich. „Dankeschön“, sagte er, allerdings mehr vorwurfvoll als dankbar und weniger in Toshis Richtung als in die der anderen Bandmitglieder. „Ich hab meine Unterlagen schon hingeschickt und ich werd das machen. Und ich find das wirklich scheiße von euch. Ihr könntet mal für zwei Sekunden mit dem Nörgeln aufhören und mir lieber dabei helfen, an ein paar Lösungen zu arbeiten. Ihr Arschlöcher.“ Missmutig ließ er sich aufs Sofa fallen und schaute demonstrativ auf seine Knie. Der Rest der Band sah sich betreten an. „In Ordnung“, sagte Yoshiki schließlich. Er kam aus der Nummer nicht raus. „Was brauchst du?“ hide zuckte mit den Schultern, noch unwillig, seine griesgrämige Haltung wieder abzulegen und ihnen zu vergeben. (Dem Schlagzeuger dämmert: Das würde verdammt viele liebe Worte und süße Getränke brauchen.) „Woher soll ich das wissen. Eine positive Grundhaltung. Und ein bisschen Kulanz deinerseits mit den Proben. – Oh komm, mach nicht das Gesicht!“ -X- Drei Wochen später spielten sie in einem kleinen Club in Saitama. Jemand, der jemanden kannte, der einen Bruder hatte, der eine Freundin hatte, die dort arbeitete, hatte sie im MOTO gesehen und weiterempfohlen – sie und die Tatsache, dass sie nichts für die Gunst ihrer Anwesenheit verlangten. Yoshiki, überrumpelt und ein wenig geschmeichelt von dem unerwarteten Angebot, hatte zugesagt, bevor er zweimal drüber nachgedacht hatte. Taiji hatte ihn später dafür getreten. Als sie gegen ein Uhr gut gelaunt, aber müde und mittelmäßig alkoholisiert nach draußen auf die Straße stolperten, war klar, dass keiner von ihnen heute Nacht noch zurückfahren würde. Dennoch folgten sie dem Schlagzeuger zum Parkplatz, der diese Wahrheit erst einsah, als er den Schlüssel auch beim zweiten Versuch nicht ins Schloss brachte. Yoshiki legte den Kopf aufs Autodach. „Ok. Ich kann auf geinen Fall fah’n“, nuschelte er undeutlich und schloss die Augen. Das Auto war bequem… so bequem…! „Hat einer Geld?“ „Um fünf Leute in ein Hotel einzubuchen?“, fragte Taiji zurück. „Träum weiter, Fuckface…“ Und warum hatten sie kein Geld? Er warf Yoshiki einen vorwurfsvollen Blick zu – oder zumindest versuchte er es. Der Schlagzeuger war nicht einmal in der Nähe der nötigen Aufmerksamkeitsspanne. „Und was machen wir jetzt?“, fragte Toshi. Dank der sommerlichen Temperaturen würden sie wohl kaum erfrieren, doch die Gegend erschien ihm nicht sonderlich einladend. Die Vorstellung, hier irgendwo zu nächtigen, gefiel ihm gar nicht. Am liebsten hätte er den Vorschlag gemacht, einen ihrer Eltern anzurufen, doch bis die hier auftauchten, war es schon fast wieder Morgen. Außerdem sträubte sich sein gesunder männlicher Machoverstand dagegen, die Worte auszusprechen. „Vielleicht können wir uns drinnen ein bisschen hinlegen?“, schlug hide vor. „Oder der Typ, der uns eingeladen hat zu spielen, was ist mit dem? Vielleicht nimmt er uns mit?“ „Du willst wirklich zu einem Wildfremden mit nach Hause gehen?“, fragte Taiji. „Hat dir deine Mama denn überhaupt nichts beigebracht? Über fremde Männer und ihre Kaninchenbabys?“ hide verzog das Gesicht, schüttelte aber den Kopf. „Wir sind doch zu fünft. Was soll schon passieren.“ „Ich befürchte, die Diskussion ist hinfällig“, meinte Pata. Er nickte zum Club hinüber, wo gerade flackernd die Lichter über der Tür erloschen. „Und ich glaube, unser Kontakt hat sich auch schon vor einiger Zeit verabschiedet.“ „Ok“, stellte Toshi mit einem leisen Seufzen fest. „Dann sind wir jetzt so weit wie am Anfang.“ Er hatte es bisher nicht gewusst, aber das Führen nächtlicher Diskussionen ohne Ergebnis, während man Alkohol im Blut hatte und eigentlich nur ein bisschen die Augen zumachen wollte, war echt nicht sein Ding. Und zum Thema Augen zumachen… „He, Yoshiki. Nicht hier einschlafen.“ Er rüttelte den Schlagzeuger, der immer noch schlaff auf dem Auto hing. „Ich bin wach…“, murmelte dieser. „Ich hör euch nur einfach nicht zu…“ „Wow“, sagte Taiji mit einem Kopfschütteln. „Eine Stunde Schlagzeugspielen und ein Bier und weg ist er.“ Sah ganz so aus, als wären sie für den Rest der Nacht ihre eigenen Leader. Da das Zepter gerade also herrenlos rumlag, beschloss Taiji, es zu ergreifen: „Ok. Wir kommen hier nicht weg und haben nichts Besseres zu tun. Ich würde sagen, dann können wir auch einen trinken gehen.“ -X- Sie endeten in einem kleinen Restaurant ein paar Blöcke entfernt. Trotz der späten Stunde war es gut besucht und machte einen anständigen Eindruck. An einem Tisch in der Ecke ließen sie sich nieder und bestellten jeder noch ein Bier. Taiji orderte Yakitori, hide ein doppeltes Sesameis und Toshi schließlich Gemeinschafts-Edamame, mehr aus Appetit denn aus Hunger. Nach einigen Minuten Unterhaltung senkte sich eine müde Stille über den Tisch, die sich erst wieder lüftete, als ihr Essen auftauchte. Zu diesem Zeitpunkt hatte Yoshiki bereits den Kopf auf die Unterarme gelegt. „Ich glaub, Eiscreme und Bier ist keine gute Kombination, hide“, gab Taiji zu bedenken. hide piekte ihm zur Antwort mit dem Löffel in die Wange, bis er seinen Kopf drehte. „Ach ja? Und ich glaube, du solltest auf deinen eigenen Teller gucken, yeah.“ „Ok. Mach, was du willst.“ Taiji rollte mit den Augen und biss in seinen ersten Hühnchenspieß. „Mmh. Lecker. Das hier ist ein gutes Restaurant. Sollten wir uns merken. Yoshiki, willst du einen?“ Der Schlagzeuger reagierte nicht und Taiji lehnte sich ein wenig zur Seite, um ihm ins Gesicht sehen zu können. „Yoshiki? Tz. Eingeschlafen.“ „Gut, dass wir nicht gerade fahren“, sagte hide gut gelaunt. Er steckte sich ein wenig zu gierig ein großes Stück Eis in den Mund und schluckte sofort runter. Schlechte Idee. „AAAAH, Gehirnfrost, Gehirnfrost! Auaaaa!“ Er ließ den Löffel auf den Tisch fallen und hielt sich den Schädel. Taiji streichelte ihm ohne hinzusehen das Köpfchen und nickte zu Yoshiki hinüber. „Passiert das öfter?“, fragte er. „Denn falls ja müssen wir uns für die Zukunft ein paar Alternativen überlegen. Vielleicht muss ich mal eine Gage zu verlangen“, hängte er den letzten Satz murmelnd an. „Zwischendurch“, gab Toshi zu. „Aber ist doch logisch. Den ganzen Tag ist er rumgesprungen wie ein Äffchen auf Kaffee, hat nichts gegessen und dann was getrunken. Natürlich knipst es ihm das Licht aus, sobald er mal zur Ruhe kommt.“ Er seufzte und zuzelte ein paar Bohnen aus ihrer Hülle. „Was kriegt man denn so bezahlt als Gage?“, fragte hide, der sich wieder erholt hatte, jetzt aber sein Eis mit einer gewissen Vorsicht genoss. „Unterschiedlich. Auf unserem jetzigen Stand irgendwas zwischen nichts und… keine Ahnung. Fünfundzwanzig, sechsundzwanzigtausend. Hängt von der Zuschauerzahl ab, vom Eintrittspreis, vom Verhandlungsgeschick.“ Er zog mit den Zähnen ein Stück Fleisch vom Spieß. „Ich würd mich eher drauf einstellen, dass wir noch ein paar Nächte wie die hier haben werden.“ „Gage…“, seufzte hide, den Löffel an die Lippen gelegt und schaute dabei so verträumt, dass man sich fragen musste, ob er Taijis Antwort überhaupt gehört hatte. „Das wär so porno…“ „hide, wir können froh sein, wenn unsere Einnahmen die Ausgaben übersteigen…“, murmelte Taiji. Vielleicht war es dem Gitarristen nicht aufgefallen, aber gerade zahlten sie drauf. Und das fand er auf Dauer, nun, überhaupt nicht porno, um es mit hides Worten zu sagen. „Und wenn sie nur dieses Eis abdecken, bin ich froh!“, rief hide ein wenig zu laut. Er räusperte sich und senkte die Stimme wieder. „Hast du eine Ahnung, wie viele Teller ich hierfür spülen muss?“ Der Bassist legte einen leeren Spieß zurück auf seine Platte. „Nein?“ Über den nächsten Löffel Eis hinweg dachte hide nach und sagte schließlich: „Gut. Ich auch nicht.“ Toshis nächste fünf Edamame lang herrschte Stille. „Das Restaurant macht um drei Uhr zu“, brachte Pata dann ein anderes Thema auf. Er hatte wie Toshi angefangen, vor sich einen kleinen Turm aus leeren Edamame-Hüllen zu bauen. „Was machen wir dann?“ Taiji zuckte mit den Schultern. „Das Beste draus.“ -X- Yoshiki wachte davon auf, dass sein Nacken schmerzte und seine Füße kribbelten. Er blinzelte träge und brauchte ein paar Sekunden, bis er wusste, wo er war. Eine vage Erinnerung, wie Toshi ihn zurück zum Wagen geschoben und auf den Sitz verfrachtet hatte, klinkte sich ein. So leise wie möglich öffnete er die Fahrertür und stieg aus. Die Morgenluft draußen war kühl und feucht und winzig kleine Wassertropfen bedeckten seine Haut und hängten sich in seine Klamotten, als er sich ausgiebig streckte und ein paar Meter über den Parkplatz ging, um seine Beine aufzuwecken. Der Himmel im Osten war von einem silbrigen Grau. Es konnte nicht viel später als halb fünf am Morgen sein. Um ihn herum lag die Stadt noch still da – so still zumindest, wie es im Ballungsraum Tokios eben wurde. Unschlüssig schaute Yoshiki sich um. Er kannte sich nicht annähernd genug aus, um zu wissen, wo man hier um diese Uhrzeit einen Kaffee herbekam und es war niemand unterwegs, den er hätte fragen können. Aber eines wusste er sicher: bei ihm zuhause gab es Kaffee. Und Frühstück. Und Kopfschmerztabletten in rauen Mengen. Langsam ging er zum Wagen zurück, glitt auf den Fahrersitz und schloss so leise wie möglich die Tür. Er stellte seine Lehne aufrecht, zurrte den Gurt fest und (Nein, klappte nicht sein Tischchen weg, sondern) ließ den Motor an und zog quer über den Parkplatz und hinaus auf die Straße. Neben ihm gähnte Toshi herzhaft, registrierte die Situation genug, um sich ebenfalls in eine aufrechte Position zu begeben, wachte allerdings nie wirklich vollständig auf. Er lehnte die Stirn an die Scheibe und döste weiter. Auf dem Rücksitz öffnete Taiji müde ein Auge. „Wiespätis‘es“, fragte er undeutlich. „Vier Uhr achtundvierzig“, antwortete Yoshiki nach einem Blick auf die Uhr und beglückwünschte sich im Stillen zu seinem hervorragenden Zeitgefühl. „Was ist falsch mit dir, Mann“, murmelte Taiji unwillig und legte den Kopf wieder auf seiner Jacke ab. Yoshiki ignorierte ihn. Wenn sie jetzt losfuhren, konnten sie sogar in Tateyama sein, bevor der Berufsverkehr auch nur richtig in die Pötte kam. Ein kurzer Blick in den Rückspiegel. Taiji versuchte, die Augenbrauen wenig begeistert zusammengezogen, erneut eine halbwegs bequeme Position für seinen Kopf zu finden. Pata blinzelte zweimal und streckte ein Bein. hide, der an seiner Schulter eingeschlafen war, rührte keinen Muskel und schnarchte ihm leise ins Ohr. Ja. Genau so musste das aussehen nach einer glorreichen Nacht. Yoshiki seufzte. Begleitet von der schläfrigen Stille im Wagen umrundete er die Bucht. Währenddessen fragte er sich, ob sich die Anschaffung eines anderen Autos lohnte. Früher oder später würde er mehr Platz brauchen – schon zweimal, falls sie öfter irgendwo strandeten. Und er konnte nicht mit Anhänger fahren. Noch ein Manko. Guten Morgen, liebes Hirn, dachte Yoshiki. Schön, dass du wach bist und schon wieder zehn Dinge gefunden hast, die nicht funktionieren. Ich liebe dich auch. „Ich will uns nicht aufhalten“, meinte Pata schließlich wenige Kilometer vor Ichihara, gerade als Yoshiki die Blende gegen die Morgensonne runterklappte, „aber ich müsste schon seit zwanzig Meilen.“ „Ich hab Hunger“, monierte Taiji, der anscheinend wenig Erfolg damit gehabt hatte, erneut Schlaf zu finden und jetzt dementsprechend gelaunt war. „Mir ist schlecht. Und ich hab Durst“, quengelte hide. Yoshiki warf mit gerunzelter Stirn einen Blick in den Rückspiegel. Er hatte noch nicht mal bemerkt, dass sie alle drei wach waren und schon hatte er eine Meuterei am Hals. Das hier war ein undankbarer Scheißjob. „Wie lange noch?“, machte der Leadgitarrist weiter und versuchte, an Pata vorbei nach draußen zu sehen, um herauszufinden, wo sie waren. „Sind wir bald da?“, hängte Taiji an, der scheinbar auf den Geschmack gekommen war. „Meine Knie tun weh und mein Nacken auch“, moserte hide weiter und lehnte sich wieder zurück. „hide nervt mich“, quäkte Taiji. „Gar nicht wahr, Taiji nervt!“ hide schlug dem Bassisten gegen die Schulter. Dieser zog ein Bein an und schob hide mit seinem Fuß mehr in Richtung Pata. „Yoshiki, hide schlägt mich!“ „Vielleicht hilft’s“, murmelte Yoshiki, und hörte auf, nach hinten zu sehen. Der Verkehr wurde minütlich dichter und er hatte keine Aufmerksamkeit zu verschenken. Wenn die sich auf der Rückbank gegenseitig umbringen wollten, war das ihre Sache. Tunnel. Brücke. Tunnel. Bergstraße. Wie oft er diese Strecke wohl in nächster Zeit noch fahren würde? Kurzer Blick in den Spiegel. Taiji hielt hide gerade den Mund zu, doch zog die Hand fast sofort mit einem angewiderten „Bäh! Hast du mir gerade über die Finger geleckt?!“ wieder zurück. Die beiden konnten einem wirklich auf die Nerven gehen. Der Unterschied zwischen hide und Taiji war allerdings, dass Taiji nur versuchte, ihn zu nerven, während hide tatsächlich zu einem knatschigen, übermüdeten, hungrigen Fünfjährigen mutiert zu sein schien. Yoshiki setzte einige Dinge auf seine geistige Liste, die er in Zukunft dabeihaben würde. Diese Variante von hide war nämlich wirklich, wirklich anstrengend. Er warf einen Blick auf die Uhr. Immer noch fast eine Stunde nach Tateyama. Und dann musste ja auch noch Pata mal wohin. „Toshi, schau mal auf die Karte", sagte er und nickte zum Handschuhfach hin. „Nicht nötig. Da ist eine Tankstelle nach dem Golfplatz“, sagte hide, gerade mit einem Finger in Taijis Ohr, und deutete mit der freien Hand auf die Ausfahrt. „Ich hab sie das letzte Mal gesehen, sie war beleuchtet. Tu mir den Gefallen und fahr da raus.“ Yoshiki hatte kaum geparkt, da drehte sich hide nach links und sagte seltsam gepresst: „Taiji, wenn du an deiner Jacke hängst, steigst du aus.“ Taiji stieg aus und hide kraxelte hinterher. Dann entfernte er sich so schnell er konnte ein paar Meter und übergab sich unter den irritierten Blicken seiner Band, einiger Kunden und des Service-Mitarbeiters in den Straßengraben. Das war es, was Bier, Eiscreme und zu viel Bewegung auf zu wenig Schlaf mit einem Menschen machten. „Wow“, sagte Yoshiki perplex. „Ihm war wirklich schlecht.“ „Ich hab ihn gestern gewarnt.“ Taiji, der kopfschüttelnd neben ihm aufgetaucht war, beobachtete die Szene mit verschränkten Armen. „Aber er hört ja nie.“ hide zeigte ihm über die Schulter hinweg den Mittelfinger. Dieses Multitasking-Ding, dachte Yoshiki, hatte wirklich was für sich. Kapitel 15: All I've Ever Had ----------------------------- Frau Sawada mochte Feste. Wer es immer noch nicht verstanden hatte, den begrüßte an diesem Tag im Kühlschrank eine kunstvoll angerichtete Platte mit Sushi und überbrachte durch ihre bloße Anwesenheit diese Information. In die Sushiröllchen hatten detailverliebte Hände kleine Bilder eingearbeitet – Blumen, Gesichter, abstrakte Formen – und wäre Taiji nicht dezent beeindruckt gewesen, er hätte sich vielleicht über die mädchenhaften Rosen beschwert. So aber sagte er, wie er so in Boxershorts und Shirt vor dem Kühlschrank stand und hineinschaute: „Ich glaube, ich bin zu schlecht angezogen.“ Aber was wollte man erwarten? Er war immerhin vor zehn Minuten erst aufgestanden! Hinter ihm am Tisch prustete Reiji in seinen Reis, doch seine Mutter nickte mit diesem tadelnden Zug um den linken Mundwinkel. „Es wäre schön, wenn du dich noch umziehst, Liebling, ja.“ Taiji griff sich endlich eine Mango aus der Tür und machte den Kühlschrank wieder zu. Jeder andere hätte vermutlich gefragt, warum sie immer so einen Aufwand betrieb, wo ihn selbst sein Geburtstag eigentlich so gar nicht interessierte. Doch Taiji kannte die Antwort. Also stellte er eine andere, wenn auch verwandte Frage: „Wie stehen die Chancen, dass wir mal mit Burgern vor dem Fernseher feiern?“ Der versteckte Tadel verwandelte sich in offene Missbilligung. „Das will ich jetzt nicht gehört haben.“ Und so stand Taiji einige Stunden später, immer noch in Jeans aber zumindest im Hemd, am Wohnzimmerfenster und sah hinaus. Es war ein schöner Sommerabend und zwei kleine Nachbarsmädchen saßen neben ihren Rollern in der Einfahrt gegenüber und malten mit Kreide große Blumen auf die Steine. Das Telefon klingelte. Taiji drehte sich um und sah über den festlich gedeckten Tisch hinweg zu Reiji. Dieser hatte sich mit The Shining im Sessel am Fenster eingerollt und schüttelte den Kopf, als er den Blick seines Bruders bemerkte. „Oh, komm schon!“, rief Taiji. „Ich hab heute schon zweiundzwanzig Anrufe bekommen und die Hälfte von Verwandten, an die ich mich nicht mal erinnere!“ Und die andere Hälfte von Mädchen, bei denen es irgendwie ähnlich war. Nach dem zehnten Anruf hatte Taiji begonnen zu befürchten, dass das Problem eventuell bei ihm lag. Doch sein Bruder blätterte seelenruhig eine Seite um und murmelte mit einem leichten Singsang in der Stimme: „Keine Chance…“ Taiji verzog also das Gesicht und ging so langsam er konnte in den Flur. Es klingelte immer noch. Wieso waren alle Leute, die hier anriefen, nur immer so hartnäckig? Gnah. Er hob ab. „Sawada desu kedo…“, schlurrte er lustlos. Eine Männerstimme drang aus dem Hörer. „He Champ. Alles Gute.“ Taiji umfasste den Türrahmen neben sich. Telefon. Der Mann befand sich noch in der Nähe eines Telefons! Doch vielleicht war er irgendwo rausgefahren und benutzte eine Telefonzelle. Oder die Leitung in einem Laden? Er beherrschte sich also mühsam, als er fragte: „Wo bist du?“ Nur zu gern hätte er gesagt ‘das Essen wird kalt‘, aber dieses Risiko war bei Sushi eher gering. Vielleicht sollte er sagen ‘Das Essen bildet Salmonellen aus‘. Gerade als ihm dieser geniale Gedanke kam, seufzte die Stimme am anderen Ende der Leitung jedoch. „Taiji, hör zu…“ Taiji unterbrach ihn. Er wollte es nicht hören. „Du hast versprochen, dass du es schaffst.“ „Ich weiß. Und ich wollte. Wirklich. Aber es gab eine wichtige-“ „Versprochen“, wiederholte Taiji, auch wenn er begann sich zu fühlen wie ein Grundschulkind, das seinen Trotzkopf durchsetzen wollte. Eine Bewegung neben ihm ließ ihn aufsehen. Reiji war in der Tür aufgetaucht und hatte die Stirn in Falten gelegt. Er gestikulierte in seine Richtung, vermutlich um ihn aufzufordern, das Telefon vom Ohr zu nehmen, damit er mithören konnte, doch Taiji schob ihn weg und wandte sich ab. Das hier gehörte ihm. Ein Seufzen. „Ich weiß, ich weiß. Aber was soll ich machen? Sei nicht enttäuscht, ja? Wir können feiern, wenn ich nächstes Wochenende nach Hause komme, in Ordnung?“ Taiji schwieg. „Und wenn es irgendetwas gibt, das du brauchst… also…“ Taiji dachte unwillkürlich darüber nach. Bisher war ihm immer noch was eingefallen. Er war nicht dumm. Er erkannte, wenn man versuchte, sich von Verantwortung frei- und Liebe zu erkaufen. Das hieß nicht zwangsweise, dass man es nicht mal mitmachen konnte. Doch heute hörte er sich sagen: „Ich brauche nichts.“ Und es stimmte. Ein paar Sekunden passierte nichts. Dann sagte sein Vater am anderen Ende der Leitung: „In Ordnung.“ Sein Tonfall war über das Rauschen hinweg nicht ganz einzuordnen. Vielleicht Resignation, vielleicht aber auch nur, was es war: ein in Ordnung. Taiji schwieg. „Sag deiner Mutter Entschuldigung von mir.“ „Von mir aus“, sagte Taiji, auf einmal wütend. Und wer sagte ihm Entschuldigung? „Was auch immer.“ Er warf den Hörer ohne Abschiedswort auf die Halterung an der Wand. Reiji stehenlassend ging er die paar Schritte in die Küche und nahm sich eine Packung Kokosnusswasser aus dem Kühlschrank. Seine Mutter hatte sich vom Fenster weg und ihm zugewandt, in den Händen noch die Sahne, mit der sie anscheinend gerade den Nachtisch auf der Anrichte bedeckt hatte. „Papa kommt nicht. Er bittet, sein Arsch-Sein zu entschuldigen“, teilte Taiji ihr sachlich mit, schlug die Kühlschranktür zu und verschwand wieder auf den Flur. Reiji, der ihm vorsichtig gefolgt war, ging ihm intelligenter Weise aus dem Weg. Seine Mutter aber folgte ihm einige Schritte. „Was? Er… Wo willst du hin…?“ „Garage.“ Er schaffte einen Tonfall, der offenbar frustriert genug klang, um keine empörten mütterlichen Worte zu provozieren und gleichzeitig so abschließend, dass man ihn nicht umzustimmen oder gar zu trösten versuchte. Er warf die Tür mit einem befriedigenden Knall hinter sich zu, schlüpfte aus seinen Hausschuhen und in die alten Stiefel, die er hier meist trug und trat einmal herzhaft gegen die in der Ecke gestapelten Winterreifen. Dann stellte er das Wasser auf dem Tisch ab, legte wahllos eine der herumliegenden Kassetten in den Recorder und schaltete den Amp an. Daneben stand sein alter Greco. Es war kein guter Bass, aber er taugte, um darauf zu üben und das vertraute Material unter seinen Fingern half im Normalfall dabei, ihn zu beruhigen. Heute nicht. Die Kassette, bemerkte er, als er auf Play drückte, war ein zehn Jahre altes Album von Deep Purple und war nicht ganz auf Anfang zurückgespult. Während er also halbherzig zum Solo von Burn einstieg, dachte er plötzlich unwillkürlich an Yoshiki. Yoshiki sah seinen Vater auch nie. Yoshiki hatte nie zusehen müssen, wie sich sein Vater in einen Arsch verwandelt hatte. Seine Vorstellungen konnten nicht mehr von der Realität zerquetscht werden wie eine Kakerlake unter einer Schuhsohle. Einen Moment lang spürte er schrecklicherweise etwas, das Eifersucht ziemlich nahe kam. Taiji hielt inne und verpasste drei Takte. Was dachte er denn da? Er riss sich zusammen. Im Grunde, dachte er weiter und stieg wieder ein, wurden Yoshikis Vorstellungen ja genauso enttäuscht wie seine. Denn egal, was er sich ausmalte: Es würde nicht mehr passieren. Sein Vater war nicht zu Arsch geworden, sondern zu Asche. Vielleicht doch nicht besser. Der Track lief aus, ein paar Sekunden herrschte Stille, bis die kratzigen Gitarrensounds von Might Just Take Your Life erklangen, dicht gefolgt von der melodischen Stimme Coverdales. I've been called by many names And all of them are bad I can take it all the same It's all I've ever had Einen kurzen Moment kam ihm der Gedanke, was wohl wäre, wenn er Yoshiki wäre und Yoshiki er. Wäre Yoshiki glücklich mit einem Vater, den er nie sah, einfach weil es ihn noch irgendwo gab? Wäre er selbst glücklich ohne Vater, weil er aufhören könnte, sich Hoffnungen zu machen? Schwer zu sagen. Aber der Unterschied zwischen Yoshiki und ihm war eindeutig, dass sein eigener Vater ein Arschloch war, während Yoshikis einfach nur Pech gehabt hatte. Und zu dieser Schlussfolgerung gekommen beschloss Taiji, sich jetzt ein wenig selbst zu bemitleiden – sofern man bei einer Mischung, die so viel Wut auf jemand anderen enthielt denn noch von Selbstmitleid sprechen wollte. You can't hold me I have told you Might just take your life Might just take your life Das Wasser war halb leer und der Himmel hatte sich bereits dunkelviolett gefärbt, als seine eremitische Ruhe schließlich gestört wurde. Zu diesem Zeitpunkt saß Taiji auf seinem Klappstuhl und warf Plektren in den Aschenbecher, der auf einem alten Karton stand. Die Einrichtung hier hatte deutlich darunter gelitten, dass er den Proberaum ausgestattet hatte. „Alles in Ordnung?“ Reiji. „Ja“, beschied Taiji knapp. Ein weiteres Plektrum fand klappernd sein Ziel. „Was soll sein.“ Sein Bruder schob sich vollständig zur Tür herein. „Meh. Es ist nur, du bist jetzt schon seit zwei Stunden hier drin…“ Taiji drehte endlich den Kopf, sah ihn aber nur ausdruckslos an. „Ich bin jeden Tag mehrere Stunden hier drin.“ Mit einem Nicken lehnte sich der jüngste Sawada an die Tür. Zwei weitere Plektren landeten auf dem Boden. Dann sagte er: „Komm schon. Iss zumindest was. Mama hat sich da wirklich Mühe gemacht.“ Seufzend unterbrach Taiji sein Spiel und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. „Wie viel muss ich dir zahlen, damit du dich verpisst?“ „Ey. Ich hab nichts falsch gemacht.“ Reiji verschränkte vorwurfsvoll die Arme. Taiji seufzte noch einmal. „Ich weiß… ich weiß.“ Sein Bruder stimmte in das Seufzen mit ein, nahm den anderen Klappstuhl von der Wand, entfaltete ihn und ließ sich mit den Armen auf der Rückenlehne darauf sinken. „Das ist doch jetzt nicht der erste Geburtstag, den er nicht hier ist… Was ist los?“ „Ich weiß nicht. Ich find’s einfach scheiße.“ Ein weiteres Plektrum prallte vom Karton ab und sprang einen Meter über den Boden. Kein gutes Zielgefühl, wenn man sich zurücklehnte, dachte Taiji. „Ist dir klar, dass ich jetzt achtzehn bin? So lange hatten wir Zeit, um eine echte Beziehung zueinander aufzubauen und… wir haben’s nicht. Ich kenn nicht mal… keine Ahnung, seine Lieblingsfarbe. Findest du das nicht schräg?“ „Naja. Er will uns was bieten.“ Reiji machte eine vage Geste um sie herum. Ganz versagt hatte er nicht, das mussten das Haus, die zwei Autos, der Jacuzzi im Garten und letztlich Taiji, der sich jetzt immerhin seit zwei Jahren nicht um einen Job bemüht hatte, irgendwie zugeben. „Das frisst halt Zeit. Ich glaub nicht, dass ihm das nur Freude macht.“ „Und ich glaub, er schläft mit seiner Sekretärin.“ Etwas in Taijis Stimme war ätzend wie Batteriesäure. „Ja…“ Reiji verdrehte die Augen. Unbeeindruckt. „Du glaubst das, ich glaub das, Mama glaubt das. Dein Punkt?“ Taiji stand auf, klaubte seine Plektren aus dem Aschenbecher und sammelte die Ausreißer vom Boden ein. „Erinnerst du dich an den Kodomo no Hi in dem Jahr, wo wir im Sommer in diesem Beach Resort in Ishigaki waren? Du warst… boah, keine Ahnung, sieben oder so?“ „… so grob.“ „Auf jeden Fall kam er nach Hause und ihr… keine Ahnung mehr, wo ihr wart, ich glaub, ihr habt noch Mochi gerollt. Ich bin also in den Flur, weil ich die Tür gehört hab und im ersten Moment wusste ich echt nicht, wer er ist und warum er in unser Haus kann. War nicht lang, vielleicht eine Sekunde oder so. Aber… das ist krass, oder?“ Reiji runzelte die Stirn. „Ja, gut. Er ist schon länger nicht viel zu Hause. Aber ich versteh’s immer noch nicht.“ Kurz dachte Taiji noch einmal an Yoshikis Vater und dann an hide mit seiner Großmutter. Wie sehr sie scheinbar darunter litten, dass diese Leute aus ihrem Leben verschwunden waren – und wie wenig manche Menschen scheinbar mit solchen Verlusten abschließen konnten. In hides Fall mochte es andere Ursachen haben, aber niemand konnte ihm erzählen, dass Yoshiki ganz normal im Kopf war. „Ok. Es ist das: wenn er mal nicht mehr da ist, dann wird er jemand gewesen sein, der mir Sachen bezahlt hat, aber niemand, den ich…“ Taiji rang ein paar Herzschläge lang nach Worten, bis ihm klar wurde, dass er nicht sicher war, was er hier einfügen wollte und dass er es nicht aussprechen konnte, selbst wenn ihm ein passendes Verb einfiel. Weil es zu schrecklich war. Er entschied sich, ein wenig Empathie seitens des Jungen vorauszusetzen, mit dem er fünfzig Prozent seiner DNA teilte und sprach einfach weiter. „Ich meine… das war dann sein Leben! Wie kann man damit glücklich sein?“ „Also… willst du, dass er mehr hier ist und eine engere Bindung zu uns aufbaut?“ „Ja! Nein. Keine Ahnung.“ Frustriert warf Taiji drei weitere Plektren in den Aschenbecher. Sein Vater war fast ein Fremder. Wollte er jetzt noch die Kraft investieren, aus ihm wieder eine Bezugsperson zu machen? Machte das irgendwas besser? Bluärgh. Eigentlich wollte er nur, dass dieses Gespräch vorbei war. Und dieser Tag. Dann konnte er wieder aufhören, darüber nachzudenken. „Ja, wenn du das auch nicht willst - warum bist du dann sauer?“ Taiji legte die restlichen Plektren auf den Tisch und wischte seine schweißfeuchte Hand an der Hose ab. Es war warm in der Garage. „Ich weiß es nicht.“ Eigentlich machte sein Vater nichts, was nicht tausende von anderen Vätern auf allen Inseln genauso machten. Guter Job, stabile Familie, Universitätsausbildung der Kinder praktisch vorprogrammiert, wenn es nicht an Idioten wie Taiji scheiterte. Und trotzdem kotzte ihn irgendetwas hier an und er konnte einfach nicht den Finger darauflegen, was es war. Vermutlich, weil 'darauf' in diesem Fall 'auf die Wunde' bedeutete. Manchmal musste das jemand anderes tun. Und es war gerade nur eine andere Person hier. Er drehte den Kopf in Richtung seines Bruders. „Ok. Warum bin ich sauer?“ Reiji lehnte sich nach vorne und kaute eine Weile nachdenklich auf seiner Unterlippe herum. Schließlich sagte er: „Mmh. Ok. Theorie.“ Taiji setzte sich bequemer hin. Super, jetzt ging er schon zu Dr. Nerdface in die Garagensprechstunde. Dennoch nickte er. Was hatte er zu verlieren. „Ok. Du hast jetzt vor eineinhalb Jahren die Schule geschmissen, weil du Musik machen willst. Wir werten diese Entscheidung jetzt mal nicht, aber du erkennst, dass du wieder ein Jahr älter bist, der bisherige Erfolg ist mäßig und… ich kenn mich jetzt nicht aus, aber sagen wir mal, der Markt ist hart, ja?“ Taiji nickte. „Komm mir nicht mit Midlife Crisis“, wandte er dennoch ein. Er war achtzehn, verdammte Scheiße. Sein Bruder winkte ab. „Nein, keine Sorge. Also. Du älter, Erfolgsaussichten unsicher. Jetzt siehst du Papa und du weißt, dass das das Leben ist, das man normalerweise so führt. Das lehnst du ab, weil – Gründe. Du weißt also, dass du nicht so leben willst. Ein Teil von dir, von dem ich vermute, dass du ihm normalerweise nicht zuhörst, fragt sich aber, ob das hier so eine schlaue Idee war. Und umso mehr Zeit vergeht, desto deutlicher siehst du, dass du keine Alternativen mehr hast. Du hast auf dein eines Pferd gesetzt und wenn der Gaul schlapp macht, wird es zu spät sein, um noch das zu kriegen, was Papa hat. Du musst also zwei Dinge befürchten: Dass das auch dein Leben sein könnte und dass es nicht dein Leben sein wird. Auf der einen Seite bist du frustriert, auf der andern neidisch. Und dadurch belegst du das Bild von Papa gleich doppelt mit einer negativen Empfindung. Du bist nicht sauer. Du hast Angst.“ Schweigend ließ Taiji die Worte einsinken. Diese Erklärung gefiel ihm nicht, doch leider fühlte sie sich so falsch nicht an. „Jupp“, sagte er schließlich, streckte die Waffen. „Du hast Recht. Das ist es.“ „Tja. Du bist der Hübsche, ich bin der Schlaue. Gene sind unberechenbar.“ „… schon mal über eine Karriere in der Psychologie nachgedacht?“, fragte Taiji nach einigen Sekunden, in denen er abgewogen hatte, ob Reiji ihn als etwas blöde bezeichnete. Wann hatte er ihn eigentlich das letzte Mal in die Mülltonne gesteckt? War sicher schon ein paar Jahre her… das war gefährlich bei jüngeren Brüdern. Sie verloren so schnell den nötigen Respekt! Reiji grinste schief. „Ich dachte eher in Richtung Architektur.“ „Ah. Dann viel Erfolg dabei.“ Der Klappstuhl ächzte leise, als Taiji sich erhob. „Ich geh spazieren.“ „Ok…“ Der jüngste Sawada stand auf, um den Klappstuhl zurück an die Wand zu stellen, wo er ihn gefunden hatte. „Taiji?“ Der Angesprochene pausierte an der Garagentür. „Mmh.“ „Es ist Blau.“ Draußen hing die Wärme des Tages noch schwer und drückend zwischen den Häusern. Überall standen Fenster offen oder saßen diejenigen, die ausreichend Grund und Boden hatten im Garten. Es war nicht annähernd so still, wie Taiji sich das wünschte und er bog bei der nächsten Gelegenheit auf die Straße ab, die ihn aus dem Vorort hinausbringen würde. Ein Blick an sich hinunter. Er trug immer noch seine alten, ausgelatschten Schuhe. Naja. Drauf geschissen, er war schön. Fast musste er lachen, als ihm der Gedanke durch den Kopf schoss, ob Reiji ihn seinen Freunden wohl mit den Worten dumm aber sexy beschrieb. Doch die Empfindung hielt nicht lange vor. Die Worte seines Bruders hatten ein tiefsitzendes, unangenehmes Jucken irgendwo im Oberkörper verursacht und Taiji wusste, dass er das nicht ignorieren konnte – und dass es vermutlich erst verschwinden würde, wenn er sich entweder ernsthaft damit auseinandersetzte oder sich so dermaßen betrank, dass er das Gespräch wieder vergaß. Heute war? Freitag. hide spülte irgendwo Teller. Und da ging diese zweite Option den Bach runter… Mit einem stillen Seufzen nur für sich fügte Taiji sich in sein Schicksal. Na dann los. Mal angenommen, es stimmte so weit. Warum hatte er Angst? Gut. Es war einfach eine große Sache. Wie Reiji gesagt hatte. Der eine Gaul. Und es wurde immer schwerer, nochmal umzusatteln. Doch er hatte Vertrauen zu sich. Er hatte Vertrauen in diese komische, geniale, manchmal nervtötende Band, die er sich angelacht hatte. Warum also sollte er sich Sorgen machen? Sorgen so unbewusst, dass er nicht mal von selbst darauf gekommen war? Auf der Frage herumkauend wie ein Hund auf einem Gummiknochen, ging Taiji durch die Siedlung, übers Feld, wieder durch die Siedlung, ohne zu einer Antwort zu kommen. Er endete vor einem Haus, das seinem eigenen sehr ähnlich sah und das er nur ein einziges Mal betreten hatte. Im Schatten zwischen zwei Straßenlaternen schließlich blieb er stehen und lauschte. Kein Geräusch erhob sich über das Zirpen der Zikaden. Obwohl es vermutlich Unsinn war, stellte Taijis Hirn sofort die Verbindung her, dass wo kein Klavier war, auch kein Yoshiki sein konnte. Kurz wanderten seine Augen über die oberen Fenster. Eines davon musste seines sein, aber er wusste nicht einmal welches. War auch egal, denn sie waren alle dunkel. Sollte er trotzdem mal klingeln? Doch worüber sollten sie reden. Ein Teil von ihm wollte Yoshiki nach seinem Vater fragen. Wie er gewesen war. Woran er gestorben war. Und ob Yoshiki sich manchmal vorstellte, er wäre noch hier. Aber ein anderer – größerer – Teil von ihm wusste, dass Yoshiki nicht antworten würde. Aus dem gleichen Grund, aus dem Taiji ihm nicht sagen würde, dass er so was wie Sorgen hatte. Langsam wandte er sich ab und schlug den Weg zurück nach Hause ein. Vielleicht war es das, dachte er plötzlich, als er gerade den Lichtkegel der letzten Straßenlaterne verließ und auf den schmalen Feldweg abbog. Als er noch zur Schule gegangen war, hatte er jeden Tag davon gehasst, obwohl er nie Probleme gehabt hatte. Er hatte sich jeden Tag gefragt, was er da eigentlich machte und warum und ob er nicht gerade sein Leben verschwendete mit dieser bescheuerten Routine, die ihn nirgendwo hinzubringen schien. Dann hatte er aufgehört. Ein paar Wochen lang war er sehr enthusiastisch gewesen und dann hatte sich allmählich wieder die Routine eingestellt. Er hatte seine Band in den Eimer getreten, um sich wieder auf sich zu konzentrieren. Enthusiasmus. Routine. Und jetzt X. Enthusiasmus. Routine? Irgendwo fragte er sich anscheinend, ob da noch was kam oder ob es das jetzt wieder gewesen war. Er war so was von bereit für die nächste Stufe. Und wenn man Reijis Worten Glauben schenkte, dann war es eigentlich völlig unwichtig, wie die aussah. Egal, ob er ins Büro ging, ein Haus baute und Kinder in die Welt setzte oder sich in der Garage einschloss und dort versuchte, perfekte Triolen zu spielen: Irgendwas würde ihn wohl immer stören, spätestens ab dem Zeitpunkt, an dem es keine Neuheit mehr war. Was die Frage aufwarf: Würde er irgendwann mal zufrieden sein oder lag es einfach in seiner Natur, immer zu wollen, was er gerade nicht hatte? Sich einzureden, dass nur noch eine kleine Sache fehlte zum Glück? Wenn das stimmte, musste er eventuell hart an sich arbeiten. Doch er wusste nicht, wie er das machen sollte. Leute sagten ja gerne, Zufriedenheit wäre eine Sache der Einstellung. Taiji glaubte allerdings nicht, dass er sich dieser Einschätzung anschließen konnte. Wenn man wusste, was es dort draußen alles gab, wie konnte man sich dann damit zufriedengeben, es nicht zu haben? Wie konnte man eine Krawatte tragen, wenn es Lederjacken gab? Einem Vorgesetzten in den Hintern kriechen, wenn man sein eigener Boss sein konnte? Limo trinken, wenn Whiskey zu haben war? Und dennoch... er konnte doch nicht sein ganzes Leben in mehr oder minder selbstgeschaffener Frustration verbringen. Nein. Er musste er sich einfach zu weigern, irgendetwas anderes zu sein als entschlossen und an irgendetwas anderes zu glauben als an Erfolg. Wenn er anfing, in Optionen zu denken, war er wieder so weit, wie er am dritten Schultag der Oberstufe gewesen war – das Schwanken, die Unsicherheit, die Fragen, die alle mit Aber begannen. Er hatte damals entschieden, dass er nur auf eine Art leben wollte. Er hatte bereits viel darüber nachgedacht. Und jetzt musste er es durchziehen. Wenn er schon immer ein wenig unzufrieden bleiben würde, wollte er es zumindest mit dem Wissen sein, wirklich alles versucht zu haben. Taiji hatte den Gartenzaun noch nicht ganz erreicht, als die Haustür aufschwang und die Silhouette seiner Mutter im Gegenlicht erschien. Dagegen anblinzelnd legte er die letzten Meter zurück und schaffte ein Lächeln. Und bis er an den Punkt kam, an dem er alles versucht hatte, konnte er sich vielleicht zumindest ein bisschen über... naja. Den Rest freuen? Bestimmt. Wenn er es nur hart genug versuchte. Er hatte eine Mutter und einen Bruder und Sushi und irgendeinen Nachtisch mit viel Sahne drauf. Und außerdem noch etwa vier Stunden Geburtstag. Damit konnte man arbeiten. Er stieg die Verandastufen hinauf. „Tabeyou.“   -X- An einem Nachmittag der darauffolgenden Woche saß Toshi am Strand, vergrub seine nackten Zehen im warmen Sand und sah übers Meer. Er wünschte, er wäre vorher auf die grandiose Idee gekommen, eine Badehose einzupacken. So blieb ihm nur, die kühlen Wassermassen sehnsüchtig anzuschauen. Neben ihm lag Yoshiki auf einem Handtuch und las mit zusammengekniffenen Augen eine Einführung ins Aufnehmen, Abmischen und Homogenisieren von Songs (oder, wie der Kenner es nannte und wie es groß auf dem Cover geschrieben stand: Recording – Mixing – Mastering). Taiji hatte zwar mit einem Kopfschütteln erklärt, dass man das nicht aus einem Buch lernen konnte, schon gar nicht ohne Equipment, doch das hatte Yoshiki nicht aufgehalten. Natürlich könne man das, das würden sie ja noch sehen und überhaupt, so hatte Yoshiki erklärt, habe er nicht ein Buch, sondern vier. Weiter vorne am Strand watete Hiro im seichten Wasser herum und suchte Muscheln und hübsche Steine. hide baute in der Zeit einen Kopf an ihre Sandschildkröte und hatte allem Anschein nach sogar mehr Spaß dabei als sein Bruder – und der war ziemlich begeistert. „Wie die Kinder“, sagte eine belustigte Stimme hinter ihm. Taiji war von drinnen zurück und hatte kühle Getränke dabei, sein Blick allerdings war Toshis gefolgt. „Mmh“, machte Toshi und griff nach einem Wasser. Vielleicht war sein Gesicht nur deshalb so heiß, weil er allmählich einen Sonnenbrand bekam. Ja. Das musste es sein. „Hast du Orangensaft dabei?“, fragte Yoshiki an seinem Buch vorbei. Taiji zog eine Grimasse und ließ sich auf Yoshikis andere Seite fallen. „… ja. Das war eigentlich meiner, aber natürlich gehst du vor.“ Er reichte dem Schlagzeuger den Saft. „Gut“, sagte Yoshiki und verschwand wieder hinter dem geschriebenen Wort. Taiji schaute stirnrunzelnd in die Runde. „Sagt eigentlich irgendeiner von euch mal Danke?“ „Danke“, sagte Toshi ertappt. „Mmh“, machte Yoshiki. Er hatte ganz offensichtlich überhaupt nicht zugehört. Es brachte ihm ein ungläubiges Kopfschütteln seitens des Bassisten ein. „Ok. Was auch immer.“ Taiji legte sich hin und zog seinen Hut übers Gesicht. Um sie her erklangen die Geräusche eines Nachmittags am Strand – Kinder spielten, junge Frauen lachten, das Meer rauschte und irgendwo über ihnen schrie hin und wieder eine Möwe. Ein Sommertag wie gemalt. Toshi sah sich verstohlen einmal links über die Schulter und dann wieder rechts. Dann geradeaus. hide und Hiro verzierten jetzt den Rücken der Sandschildkröte mit den Steinen und Muscheln. Yoshiki war in sein Buch versunken. Auf seiner anderen Seite lag Pata in seinem Schatten und schaute in den Himmel. Toshi legte den Kopf in den Nacken. Eine einzige kleine Wolke wanderte langsam über die azurblauen Weiten. Sie sah aus wie ein Kätzchen, bis sich irgendwann der Kopf ablöste. „Sag mal…“, begann Toshi an dieser Stelle leise und wandte sich dem Gitarristen zu. „Kurz nach der Beerdigung, da hab ich hide nochmal besucht.“ „Hmm?“, machte Pata, zum Zeichen, dass er hörte. „Und da war er… gelinde gesagt ein Wrack.“ „Hmm“, machte Pata noch einmal. „Was ist zwischen da und dem Tag, als ihr zwei allein im Proberaum wart, passiert? Hat er irgendwas erzählt?“ Pata dachte ein wenig darüber nach, oder zumindest interpretierte Toshi das so. „Naja“, sagte er schließlich. „Zeit ist vergangen. hide hat zwei Jobs, von denen er abhängt. Da ist zuhause sitzen und Trübsal blasen ein Luxus, den man sich nicht leisten kann.“ Toshi machte ein ungläubiges Gesicht. Sollte es das gewesen sein? Doch Nein: „Er hat mal angerufen. Wegen ein paar Sachen, von denen meine Tante meinte, dass er sie haben könnte, als er ausgezogen ist. Dann hab ich mich noch ein bisschen so mit ihm unterhalten und dann hat er noch eine Weile mit meiner Schwester telefoniert und mehr weiß ich nicht.“ „Ah“, machte Toshi. Er wusste nicht, ob er damit zufrieden war. Zu gerne hätte er gefragt, worüber genau sie geredet hatten, am Telefon und an dem Tag im Proberaum, doch entweder sah Pata keine Verbindung, welche rechtfertigte, es zu erwähnen oder aber, er fand, dass das doch zu privat war. So oder so kam er hier wohl nicht weiter. Vielleicht hatte sich hide wirklich einfach selbst gefangen, weil er musste. Zum Thema hide: dieser stapfte gerade vom Wasser aus wieder zu ihnen nach oben. „Wir sollten mal weitermachen“, sagte er, als er nahe genug herangekommen war und ging neben Taijis Füßen in die Hocke, um einen Schluck Orangensaft aus dem Tetrapack zu nehmen. „Ich muss um vier weg.“ „Oh, hide!“, rief Yoshiki. Er setzte sich schwungvoll auf und warf Gitarristen einen vorwurfsvollen Blick zu, so vorwurfsvoll, wie man eben schaffte, wenn man dabei gegen die Sonne blinzelte wie ein Küken unter der Wärmelampe. Seine inzwischen noch einmal nachblondierten Haare glänzten golden im Licht des Nachmittags. „Nix hide!“, rief hide zurück. „Ich muss um fünf auf Arbeit sein und morgen früh aufstehen und was für mein Portfolio machen, bevor ich wieder auf Arbeit muss. Mach mich nicht an, ich hab gesagt, dass das jetzt erstmal schwierig wird!“ Yoshiki machte eine ausholende Bewegung mit beiden Armen, den Zeigefinger der rechten Hand immer noch an der richtigen Stelle in seinem Buch. „Ja, aber du hast auch gesagt, dass du Zeit für uns findest und warst jetzt seit zwei Wochen bei keiner Probe länger als drei Stunden!“ hide schnippte ihm eine Muschel an den Kopf und stand auf. „Ja, meine Schuld, buhu. Proben wir jetzt oder willst du noch ein bisschen nörgeln?“ „Noch zwei Minuten nörgeln, danke.“ Yoshiki warf hides Silhouette einen finsteren Blick zu. Toshi schüttelte den Kopf und winkte Hiro, der noch die letzten Steinchen auf den Panzer setzte. Er winkte zurück und tappte noch einmal ein Stück ins Wasser, um seine Hände zu entsanden. „Gut denn. Ich warte drinnen.“ hide wandte sich unbeeindruckt ab und machte sich auf den Weg zur Treppe, um den Sand aus seinen Schuhen zu kippen. „… das war jetzt aber ein erstaunlich glimpflicher Ausgang“, bemerkte Taiji dumpf unter seinem Hut hervor. Yoshiki zuckte mit den Achseln und vergrub sich wieder in seinem Buch, um den Absatz zu Ende zu lesen, in dessen Mitte hide ihn unterbrochen hatte.     -X- Es gab mehrere Gründe, warum Yoshiki hide einfach nicht böse sein konnte. Es war ein bisschen, dass sie befreundet waren und ein weiteres bisschen, dass man hide einfach wirklich, wirklich schwer böse sein konnte, egal wie er sich aufführte. Aber es war auch, dass Druck von außen bei hide in etwa so gut funktionierte wie bei ihm selbst und dass er wusste wie es war, wenn man etwas unbedingt wollte. Zwar hatte er immer gehofft, dass hide und er die gleichen Ziele hatten, doch da dem gerade anscheinend nicht so war, musste er da wohl durch, bis hide auf Granit biss. Yoshiki konnte Dinge aussitzen. Nörgelnd und stellenweise bissig, aber aussitzen. Es hatte ja auch gute Seiten. hide war ausreichend beschäftigt und solange hide ausreichend beschäftigt war, hatte er keine weiteren Durchhänger. Er schien eine feste Routine aus Schlafen, Arbeiten, Zeichnen und Gitarre spielen entwickelt zu haben und es begann bereits jetzt, sich zu zeigen – wenn auch meist darin, dass hide begonnen hatte, sich das rechte Handgelenk zu bandagieren. Seit er die Gitarre mit nach Hause nehmen konnte und tatsächlich übte, wurde er fast wöchentlich besser. Und er tat es mit einer Konzentration, die ihm Yoshiki vor einigen Monaten niemals zugetraut hätte. Unter Stress, gutem Stress, verschwand der fröhliche, überdrehte hide, der keine drei Sekunden stillhalten konnte und machte Platz für eine kühle, ernste Form von Konzentration, um die ihn Yoshiki fast beneidete. Aber nur fast. Das auf jeden Fall waren die beiden hide, zwischen denen er wechseln wollte. Und solange es so blieb, war ihm alles andere erst einmal Recht.   -X- Um Punkt vier Uhr packte hide seine Sachen, schenkte Hiro ein Plektrum und winkte noch einmal in die Runde, bevor er zur Tür hinausglitt. Er war etwa zehn Sekunden weg, als Toshi der Hoodie auffiel, der noch über der Sofalehne hing. Seinen Bruder mit der Aussicht auf eine kurze Einlage am Mikro ablenkend, entschuldigte Toshi sich und eilte dem Gitarristen nach. Chancen musste man ergreifen und das Glück war mit den Waghalsigen und den Vollidioten. Er holte hide wenige Schritte vom Haupteingang ein. Wie nicht anders zu erwarten, hatte er bereits wieder eine Kippe im Mund. Toshi konnte einen Moment lang nicht anders, als sich zu fragen, ob er ihm diese Angewohnheit wohl wieder austreiben konnte, falls die Notwendigkeit entstand. Vermutlich nicht… „Du hast deine Jacke vergessen“, sagte er also, um nicht länger darüber nachzudenken. „Oh. Danke.“ hide nahm das Kleidungsstück an sich. „Knuffigen Bruder hast du da“, sagte er an der Zigarette vorbei und steckte sie sich etwas umständlich an. „Hast du gesehen, wie süß er die Schildkröte gebaut hat?“ „Er hatte mich schon ewig gebeten, ihn mal zu einer Probe mitzunehmen…“ Toshi lächelte. Vermutlich hatten sie jetzt einen Fan. „Und um ehrlich zu sein hab ich gesehen, wie süß du die Schildkröte gebaut hast.“ hide grinste breit zur Antwort. Sie schauten einander noch etwa drei Sekunden lang an, dann nickte er in Richtung Stadt. Er musste los. „Ok, also dann. Danke nochmal und… bis übermorgen.“ Toshi hob verlegen die Hand. „Uhm… hide?“ „Ja?“ Der Gitarrist machte seine halbe Drehung auf dem Ballen elegant wieder rückgängig. „Hast du… Lust, übermorgen nach der Probe noch was Essen zu gehen? Da ist ein neuer Italiener am Krankenhaus und Yoshiki mag das Zeug nicht sonderlich.“ Um ehrlich zu sein stimmte das soweit Toshi wusste nur zur Hälfte, aber hoffentlich würde hide den Wahrheitsgehalt der Aussage nicht überprüfen. Kleine Lügen vergab der liebe Gott sofort, oder so ähnlich sagte man doch? Ohnehin aber zog hide eine entschuldigende Schnute. „Ano… Da muss ich arbeiten.“ „Und am Freitag?“ Zweiter Versuch. „Auch.“ Ok, einer noch, einer ging noch! „Uhm… in Ordnung… Wie ist’s am Wochenende?“ hide lächelte beschämt. „Ich glaub, da muss ich mal schlafen. Und bis zum Ende bei der Probe bleiben. Yoshiki ist so ruhig geblieben die letzten Wochen, das… ist enorm gruselig. Will nicht derjenige sein, bei dem es sich entlädt, wenn du verstehst.“ Toshi tat sein Bestes, seine Enttäuschung zu verbergen. Er schaffte ein schiefes Grinsen, das aber vermutlich sehr gut zu der Art und Weise passte, wie er sagte: „Ja. Versteh ich.“ Mist. Wenn er weiterhin in diesem Tempo Fortschritte machte, würde er irgendwann um die nächste Eiszeit herum Ergebnisse sehen. Er brauchte irgendwie eine andere Strategie. Wenn das Pferd nicht zur Tränke kam… „Und… wenn ich dich mal auf Arbeit besuchen würde?“ … musste die Tränke eben zum Pferd. hides guckte einen Moment lang verdutzt. Dann lächelte er noch etwas breiter. „Das ist ja mal eine gute Idee. Mensch, Yoshiki hatte Recht. Du bist klug. Freitag dann?“ „Ja“, stimmte Toshi zu. „Aber weißt du was, bring Taiji mit. Wir haben so ein extrascharfes Curry, ich glaub, da steht er drauf. Und du langweilst dich nicht so. Ich meine, ich kann nicht dauernd bei dir rumhängen. Vielleicht servier ich euch sogar heimlich was Ordentliches zu trinken.“ hide zwinkerte schelmisch. „Äh…“, machte Toshi zögerlich. So hatte er sich das aber nicht vorgestellt! (Um ehrlich zu sein hatte er sich ein romantisches Dinner im zwanzigsten Stock ausgemalt, mit Kerzen auf dem Tisch und sanfter Swing-Untermalung im Hintergrund. Ein Glas Wein nachdem die letzten Gäste lange gegangen waren. Kein Wunder also, dass die Realität immer hinter seinen Erwartungen zurückblieb.) Gegenargument, gutes Gegenargument… „Vielleicht bring ich dann einfach alle mit?“, hörte er sich sagen. Ja… Und das war nicht, wonach er gesucht hatte. Da schleppte man den Wassereimer einmal durch die Wüste. Doch es half alles nichts, wenn der scheiß Gaul nicht saufen wollte! hide allerdings war begeistert. „Mega. Ich freu mich.“ „Ja“, sagte Toshi und lächelte, in der Hoffnung, dass es nicht so gezwungen aussah, wie es sich anfühlte. Sie verabschiedeten sich noch zweimal zu viel, dann flitzte hide los. Ok, dachte Toshi, dessen Lächelns in dem Moment verschwunden war, in dem hide sich umgedreht hatte, und wandte sich wieder dem Hauptgang zu. Er hatte nicht versagt. Er hatte nur wieder zwei Varianten gefunden, die nicht funktionierten. Das war das Wesen der Wissenschaft.   -X- Yoshiki lag auf dem Boden im Wohnzimmer und las im zweiten seiner vier Bücher. Der Ventilator brummte leise und pustete ihm beständig nur geringfügig kühlere Luft ins Gesicht. Sein Shirt klebte ihm am Rücken und er spielte schon seit geraumer Zeit mit dem Gedanken, es auszuziehen, doch es schien ihm viel zu viel Arbeit, mehr zu bewegen als die drei Finger, die er zum Umblättern brauchte. Eigentlich hatte er auch Durst. Doch die paar Meter in die Küche waren so weit… Wenn er nur noch ein bisschen wartete, kam sicher seine Mutter von der Arbeit und konnte ihm dann etwas zu trinken antragen. Ja. Das war ein guter Plan. Und als würde es das Schicksal heute besonders gut mit ihm meinen, hörte er just in diesem Moment die Haustür. „Tadaima!“, rief seine Mutter, nach der Lautstärke zu schließen die Treppe hinauf. „Okaeri“, sagte Yoshiki. Da er nur einmal um die Ecke lag, musste er nicht brüllen. „Ah“, kam die Stimme seiner Mutter aus dem Flur und ein paar Sekunden später lugte sie in den Raum. „Ouh… Yoshiki!“, entfuhr es ihr. Der Angesprochene sah von seinem Buch hoch. „Mmh?“ Irgendwie lud ihr Tonfall plötzlich nicht mehr dazu ein, sie um ein Getränk zu bitten. Und die in die Hüften gestemmten Arme sprachen auch eine deutliche Sprache. „Sag mir bitte mal, was du da siehst?“ Sie gestikulierte zur Küche hin. „Uhm… ich hatte Wassermelone.“ Er vermied einen schuldbewussten Blick in die entsprechende Richtung. „Wenn du schon den ganzen Tag zuhause bist, könntest du zumindest hinter dir aufräumen!“ „Das tu ich noch“, murrte Yoshiki. Man musste sich nichts vormachen, die Küche sah aus wie Scheiße. Aber sich unterstellen lassen, er würde die ganze Zeit nur rumhängen, das ging ihm entschieden zu weit! Seine Mutter seufzte und ihr Fuß, auf den Yoshiki aufgrund seiner Position einen besonders guten Ausblick hatte, tappte ungeduldig auf den Boden. „Ich hab gesagt, es ist in Ordnung, wenn du ein bisschen das mit der Musik versuchst und ich verlang wirklich nicht viel. Aber so funktioniert das nicht. Ich geh mich jetzt umziehen und wenn ich wiederkomme, will ich dich das Aufräumen sehen.“ „Aber-“, setzte Yoshiki noch an, doch sie fiel ihm ins Wort: „Sofort.“ Sie verließ den Raum. Mit einem unwilligen Seufzen richtete Yoshiki sich auf und betrachtete die Küchenzeile aus der Ferne. Das war anscheinend keines dieser Probleme, das sich löste, wenn man es nur lange genug ignorierte. Langsam und beschwerlich richtete er sich auf und machte sich an die Arbeit. Gerade hatte er den letzten Melonensabber vom Edelstahl gewischt, als das Telefon klingelte. Er nahm sich noch ausgiebig Zeit, um den Lappen auszuwaschen und seine Hände abzutrocknen, dann ging er in den Flur und nahm ab. „Hayashi…“ Scheiße, seine Finger sahen schon wieder aus wie Walnüsse! Handcreme. Er brauchte tatsächlich Handcreme! Wie ein Mädchen… unglaublich. „Yoshiki, was tust du gerade?“, fragte hide ohne Einleitung. „Ich leide vor mich hin. Das Übliche. Wieso?“ „Du musst vorbeikommen. Ich brauch anatomische Hilfe.“ „…was?“ „Ich hab Probleme mit Körpern und ich krieg das allein nicht hin.“ „Uhm… wenn du Probleme mit deinem Körper hast, die du allein nicht gelöst bekommst, bin ich da nicht ganz der Richtige, Schatz.“ Er hatte so eine Vermutung, was hide eigentlich wollte, aber den Witz konnte er nicht an sich vorbeiziehen lassen. Yoshiki war kein von Natur aus witziger Typ und dieser Spaß wurde ihm quasi frontal ins Gesicht geklatscht. Er konnte nicht widerstehen. hide war für simplen Humor immer ein dankbares Publikum. Er kicherte. „Nicht so. Arsch. Aber ja, vielleicht musst du dich ausziehen. Hrrr.“ Yoshiki verdrehte die Augen. „Ok. Die Kombination beunruhigt mich, aber ich nehme an, ich komme trotzdem.“ hide prustete in den Hörer. „Haha, kommen…“ Yoshiki legte auf. Trauriger Weise war das immer noch besser als sein echtes Leben. Eine gute halbe Stunde später saß er auf hides Sofa und blinzelte wenig begeistert in dessen Richtung. „Du willst… was?“ „Ich brauch ein Model. Ich hab versucht, mich selber abzuzeichnen vor dem Spiegel, aber bei dem Tempo werd ich nie fertig und sonderlich herausragend sah’s jetzt bisher auch nicht aus. Bitte. Ich brauch nur ein Standardset von zehn oder so und wir sind durch. Und… ähm… vielleicht noch Hand- und Fußstudien, wenn du’s aushältst.“ Yoshiki runzelte die Stirn und sah sich um. Auf jeder Oberfläche des Zimmers und auf dem Bett war Papier verteilt, manchmal bekritzelt, manchmal zerknüllt. Der Papierkorb lief über und auf dem Schreibtisch stand ein Set Aquarellfarben. Auf dem Couchtisch stapelten sich Modemagazine. Nach den Artikeln auf dem Cover zu urteilen, richteten sie sich vor allem an Mädchen im Alter von vierzehn bis zwanzig. Nun ja. Zumindest wusste er jetzt, wen er für die zehn besten Tipps zum Thema Dating oder zwölf Wege, Pickel loszuwerden ansprechen musste. „Ja“, sagte hide, seinem Blick folgend, „ich hab auch aus denen abgezeichnet, aber was auf Fotos gut aussieht, wirkt gezeichnet total unnatürlich. Und oft geht es ihnen auch um die Models und weniger um die Klamotten. Die Posen sind alle falsch für meine Zwecke.“ Yoshiki seufzte. „Bittäää“, machte hide und setzte einen Dackelblick auf. Yoshiki seufzte noch einmal. „Fein… Was soll ich machen?“ Zwei Stunden später saß er wieder auf dem Sofa, während hide noch die letzten Striche an seinem großen Zeh vollendete. 'Für den Fall, dass ich noch irgendwas mit Füßen mache‘, hatte er gesagt. Yoshiki hatte zwar gefragt, warum hide nicht einfach seine eigenen Füße abmalte, aber dieser hatte erwidert, dass es genauso schwierig war, die eigenen Füße von vorne zu sehen wie den eigenen Kopf von hinten. Das wiederum war Yoshiki irgendwie eingeleuchtet. „Uuund fertig!“, teilte hide mit. „Du kannst dich wieder bewegen.“ „Halleluja“, sagte Yoshiki und wackelte mit den Zehen. Sie kitzelten. „Hast du was zu trinken?“ „Oh Gott, ja!“ hide schoss hoch. „Ich bin so ein schrecklicher Gastgeber! Wieso sagst du auch nichts?!“ „Du warst so vertieft.“ Höflicher wäre vermutlich die Antwort gewesen, dass er keinen Durst gehabt hatte, aber das wäre gelogen. Er hatte schon seit geraumer Zeit ziemlichen Durst. „Gnah!“, machte hide und tauchte in den Kühlschrank. „Wünsche?“ „Wasser ist in Ordnung.“ Yoshiki stand auf und trat zum Schreibtisch hinüber. Neben den Skizzen, die hide in den letzten Stunden gemacht hatte, lagen dort auch einige Arbeiten, die bereits coloriert worden waren. In einem Bilderrahmen, der Yoshiki bei seinem letzten Besuch nicht aufgefallen war, steckte die Schwarzweißfotografie einer jungen Frau, die es irgendwie schaffte, im Kimono auf einem Fahrrad zu sitzen und dabei vorwitzig in die Kamera zu grinsen. Yoshiki betrachtete sie einen Moment lang nachdenklich. Sie hatte hides Nasen- und Augenpartie. Die Verbindung war dann einfach. Er wandte sich den colorierten Skizzen zu. Sie zeigten verschiedene Outfits, manchmal nur in Teilen, manchmal komplett mit Makeup und Frisur, spielten mit westlichem Schnitt und traditionellen Färbungen oder traditionellen Schnitten und westlichem Design. Ein Räuspern erklang neben ihm. „Uhm…“ hide reichte ihm ein Glas Wasser mit Sprudel. Sein Gesichtsausdruck war der eines Schuljungen, wie er so von einem Bein aufs andere Trat und Yoshiki mit einer Mischung aus Neugierde und Scheu ansah. Schließlich überwand er sich. „Was denkst du?“ „Ich mag das Businessoutfit“, sagte Yoshiki und deutete auf eine junge Frau in Jeans, deren locker sitzender Blazer entfernt an einen Yukata erinnerte. Das Stück Stoff, das hide daneben platziert hatte, war das ausgewaschene Blau eines lange auf dem Dachboden vergessenen Festtagskimonos. hide lächelte dankbar. „Ja, das mag ich bisher auch am liebsten.“ Er zog eine Mappe aus dem Regal neben dem Bett. „Magst du die anderen auch sehen? Es sind noch nicht viele.“ Yoshiki nickte. Er setzte sich auf den Schreibtischstuhl, blätterte die restlichen Seiten durch und legte sie dann vorsichtig in die Mappe zurück. „Weißt du“, sagte er und reichte sie hide, „wenn ich ganz ehrlich bin… hatte ich so meine Zweifel. Aber das hier, das ist ziemlich gut. Vielleicht ist das ja wirklich dein Ding.“ „Total mein Ding“, bekräftigte hide fröhlich und legte die Mappe wieder ins Regal. Er glühte ein wenig. Ob vor Stolz oder vor Aufregung war schwer zu sagen. Und vielleicht lag es an diesem Glühen, dass Yoshiki sich auf einmal bewusst wurde, wie wenig er sich für ihn freute.   -X- Toshi hielt, was er angekündigt hatte. Und so saßen sie am Freitagabend an einen Tisch im Restaurant und betrachteten die Curryauswahl. Oder nun, drei von ihnen zumindest. hide machte seine Arbeit und Yoshiki hatte sich nach den ersten Schluck Tee nach draußen verabschiedet und ward seither nicht mehr gesehen. Toshis Augen folgten über die Karte hinweg hides Weg durch den Raum. Das Restaurant war etwa zur Hälfte besetzt – der Nachmittagsansturm war vorbei und der Nachtbetrieb noch nicht wirklich angekommen. hide wuselte gerade mit einem Umweg zum Nachbartisch zu ihnen zurück und gewährte ihm dadurch noch einen guten Rundumblick auf seine Person in schwarzer Schürze und weißem Hemd. Er war immer noch schnuckelig. Wenn einen dieses Kellner-Outfit nicht hässlich machte, dachte Toshi und senkte den Blick gerade noch rechtzeitig wieder auf das laminierte Papier, dann schaffte es nichts. Sie bestellten. Taiji machte einen bescheuerten Witz, der das Adjektiv ‘scharf‘ beinhaltete, hide kicherte in seinen Block und dann war er wieder verschwunden. Toshi wandte den Blick zum Fenster, doch konnte in der Dämmerung draußen nichts sehen. „Yoshiki ist schon ziemlich lange weg…“, merkte er an. „Ich geh mal nachschauen“, sagte Taiji und stand, sich dabei einmal die Schultern dehnend, auf. „Wollte eh noch eine rauchen…“ Yoshiki ging in langsamen Schritten vor dem Restaurant auf und ab und sah erst auf, als Taiji durch die Tür kam und sich eine Zigarette ansteckte. Er rauchte ebenfalls, was Taiji aufgrund seiner etwas zerknirschten Miene nicht verwunderte. „Warum rauchst du nicht drinnen?“ „Draußen ist schöner“, sagte Yoshiki abweisend. „Ah. Ist alles klar?“, fragte Taiji und blies einen dünnen Strahl Rauch in die Luft. „Mmh.“ „Es ist nur, du hast den ganzen Nachmittag fast nichts gesagt. Und nichts zu essen bestellt.“ Tajii machte eine Geste über die Schulter, dorthin, wo Bestellen von Essen im Allgemeinen möglich war. Der Schlagzeuger aber rauchte nur auf, warf den Zigarettenstummel auf den Boden und trat ihn aus. „Hör zu.“ Er bückte sich nach dem Stummel und drückte ihn mit etwas zu viel Nachdruck in den Aschenbecher auf dem Blumenkübel neben der Tür. „Ich hab schon eine Mutter und einen Toshi, die mir mit solchem Scheiß auf die Nerven gehen. Fang du jetzt nicht auch noch an.“ Taiji legte den Kopf schief und sagte nichts. Am Anfang hatte ihn allein Yoshikis Tonfall schon auf die Palme gebracht, aber inzwischen war er immun dagegen. Also konnte er Yoshiki in aller Ruhe abwartend anstarren, während dieser eine zweite Zigarette aus der Schachtel schüttelte. Schließlich knickte er ein. Mit einem tiefen Seufzen lehnte er sich an die Hauswand. „Ich hab hides Sachen gesehen.“ Taiji legte den Kopf verständnislos noch ein wenig schiefer. „Wie, seine… Unterwäsche?“ „Nein, du Vollidiot. Seine Mappe.“ „Und? Schlecht?“ „Nein. Sie ist gut.“ „Ah. Und?“ Yoshiki betrachtete betont intensiv ein Werbeplakat auf der anderen Straßenseite und zuckte schließlich mit den Achseln. „Oh…“, machte Taiji nach einigen Sekunden verstehend. „Oh mein Gott. Du machst dir Sorgen, dass er es schafft...“ Er klang wie jemand, der nicht wusste, ob er schockiert oder amüsiert sein sollte. Der Schlagzeuger hob in einem Anflug von Verzweiflung die Hände. „Ich würd mich für ihn freuen, wirklich! Er verdient das! Aber das sind dann wieder zwei Jahre, in denen er mit dem Kopf woanders sein wird und … ja, da hab ich noch nicht über den Rest von ihm nachgedacht! Immerhin ist das Ding in Tokio. Und was ist danach? Vielleicht wird wirklich was aus ihm und dann kriegt er einen normalen Job und…“ Yoshiki wandte sich ab, um die Zigarette auszudrücken. Als er sich zurückdrehte, war sein Gesicht ernst. „Wenn hides Mappe durchgeht, könnte das X ruinieren, Mann.“ Taiji tippte ein wenig Asche auf den Boden. „Hast du denn schon mal mit hide darüber geredet, wie er sich das vorstellt?“ Der andere Junge schüttelte den Kopf. „Nein. Ich fand es schlauer, erstmal die schlafenden Hunde nicht zu wecken… Ich meine, vielleicht löst sich das Problem ja von selbst.“ Yoshiki stockte, als ihm auffiel, was er da gerade gesagt hatte. „Oh mein Gott“, murmelte er und hob den Blick zu Taiji, ernsthaft betroffen. „Das… das klang... böse.“ Taiji trat an ihm vorbei zur Pflanze, drückte seine Zigarette aus und fragte in Richtung Aschenbecher: „Willst du wissen, was ich glaube?“ „Nein“, sagte Yoshiki entschieden. „Ich glaube, du bist eingeschüchtert davon.“ „Ok, wo bist du hängengeblieben, beim N oder beim ein?“ Taiji machte einen halben Schritt zur Seite und warf einen Blick nach drinnen. Schemenhaft konnte er immer noch Pata und Toshi am Tisch sitzen sehen. hide stand hinter dem Tresen. Er trat zurück zu Yoshiki, ein bisschen näher als unbedingt nötig. Doch was er sagen würde, eignete sich nicht dafür, lauter als in einem Wispern ausgesprochen zu werden. Reijis Stimme erklang so deutlich in seinem Ohr, dass er keinen Zweifel an der Richtigkeit seiner Vermutung hatte. Er war vielleicht der dümmere Bruder, aber hin und wieder hatte auch er Eingebungen. Und diese hier war eine der unangenehm-wahren Sorte. „Denk mal drüber nach. Die ganze Zeit haben wir geglaubt, hide wär ein etwas trotteliger, emotional... naja, sagen wir instabiler Typ ohne echte Ziele im Leben. Aber jetzt merkst du, er ist ein Trottel, aber er steht einfach immer wieder auf. Und jetzt könnte es sein, dass er, stell dir vor, vielleicht sogar fähig ist, eigene Träume und Pläne zu haben. Was heißt, dass er auf deine eventuell nicht angewiesen ist. Und dir ist klar: wenn du das verlierst, gibt es nichts mehr an hide, das du kontrollieren kannst. Und du weißt auch, was das bedeutet.“ Yoshiki versuchte den Unbeeindruckten. „Dass du weniger unbekannte Pflanzen rauchen solltest?“ „Er könnte gehen.“ Ein paar Sekunden starrten sie einander wortlos an. Nichts regte sich, außer ein paar feinen Härchen auf ihren Köpfen, über die eine kaum merkliche Brise strich. Dann verzog Yoshiki das Gesicht und schob sich unsanft an Taiji vorbei. Mit wenigen Schritten erreichte er die kleine Gasse neben dem Haus, bog darin ab und war verschwunden.   -X- „Taiji!!!“ Wohow, dachte der Bassist und lehnte sich unwillkürlich ein wenig in seinem Stuhl zurück, um mehr Abstand zwischen sich und sein Gegenüber zu bringen. Er hatte Toshi noch nie sauer erlebt und es war ein wenig ehrfurchteinflößender, als er das vermutet hätte. „Ich hab nichts falsches gesagt!“, verteidigte er sich vehement. So weit kam es noch, dass er sich hier für die psychischen Aussetzer des Planeten verantwortlich machen ließ! „Ja, aber anscheinend hast du irgendwas gesagt!“ Taiji verschränkte die Arme und ließ sich nicht zu einer Aussage hinreißen. hide lugte ein wenig zu neugierig über die Schulter zu ihnen hinüber und der Inhalt des Gesprächs mit Yoshiki war etwas, das er ihm besser nicht gestand, wenn es kein Bier dazu gab. Aber das hieß noch lange nicht, dass er stattdessen in einem Anflug von Heldenmut die Schuld auf sich nehmen musste! „Ok.“ Toshi lehnte sich auf den Tisch und atmete durch. „Ich weiß nicht genau, was du gemacht hast und vielleicht geht's mich auch nichts an. Aber das ist kein normales Yoshiki-Verhalten. Deswegen sag ich dir jetzt, wie es läuft. Ich hab grade was zu essen bekommen und ich will es auch genießen. Ich hab die letzten neun Jahre babygesittet, jetzt bist du alt genug. Deshalb wirst du jetzt gehen, ihn suchen, dich entschuldigen für egal-was du gesagt hast und ihn wieder herbringen.“ „Aber ich will mich nicht entschuldigen!“, beharrte Taiji trotzig und wiederholte sein Hauptargument: „Ich hab nichts falsches gesagt!“ Und außerdem hatte er auch Curry hier! Was war mit seinem Genuss, hu? „Und jetzt beißt sich gerade die Katze in den Schwanz“, stellte Toshi trocken fest. „Ok, dann einigen wir uns darauf: Du siehst tough aus, aber ich bin doppelt so breit wie du und das sind alles Muskeln.“ Der Bassist dachte darüber nach und verzog schließlich das Gesicht. „Deal.“ Und so kam es, dass Taiji ziellos durch die Straßen der Stadt streifte und nach Yoshiki suchte. Er versuchte es unten an der Promenade, beim kleinen Musikgeschäft in der Innenstadt, im Schlosspark. Während er ging, kühlte er allmählich ab und seine ohnehin nie sonderlich große Wut – immerhin, es war ein Problem zwischen Yoshiki und hide und diese seltsame Männerliebe zwischen Toshi und Yoshiki, und das ging ihn beides nichts an – verwandelte sich erst in Unruhe und schließlich in so etwas wie Besorgnis. Als er aber eine erfolglose Stunde später wieder in die schmale Straße einbog, in der der Curry-Tempel lag, lehnte Yoshiki am Auto und starrte vor sich hin. Taiji wurde schneller, so dass er schließlich aus dem Laufschritt heraus neben Yoshiki stoppte, und legte sofort los. „Mann! Du kannst nicht einfach so verschwinden! Es ist ok, wenn du sauer bist, aber-“ „Ich bin nicht sauer.“ „-du musst dich irgendwie mel-… du bist nicht sauer?“ Yoshiki schüttelte den Kopf und bohrte die Fußspitze in einen Riss im Asphalt. „Mm-Mm. Ich meine, ich war sauer auf dich. So etwa eine halbe Stunde. Danach war ich sauer auf mich.“ Taiji blinzelte zweimal und schaute verständnislos. Er zog die Augenbrauen zusammen und lehnte sich vorsichtig neben Yoshiki ans Auto. „Warum?“ „Weil… es vielleicht ein bisschen stimmt. Was du gesagt hast. Ich weiß nicht. Vielleicht bin ich wirklich nicht so gut darin, wenn Leute…“ Yoshiki seufzte und schüttelte den Kopf. Einige Haarsträhnen hatten sich aus seinem Zopf gelöst und verdeckten für den Moment sein Gesicht, dann sah er wieder auf. „Egal…“ „Nicht egal", beharrte Taiji. „Erklär's mir." Der Schlagzeuger verzog unwillig das Gesicht und starrte auf seine Schuhe. „Weil es scheiße ist, wenn Leute gehen." „Aber es passiert. Nicht jeder, den du triffst, bleibt dein Leben lang." „Nein. Und das will ich gar nicht. Aber manche gehen, ohne dir zu sagen, warum. Und dieses Warum... bleibt." Einen Augenblick lang wusste Taiji nicht, was er sagen sollte. Er warf einen Blick auf Yoshikis Gesicht im Profil. Yoshiki sah stur geradeaus. Ein älteres Ehepaar bog aus einem Hauseingang, tippelte zusammen die Straße hinunter und an ihnen vorbei. „Also“, begann er zögerlich, „ist alles… in Ordnung? Zwischen uns?“ „Yeah.“ „Sorry“, sagte Taiji trotzdem. Irgendwie war es einfacher, sich zu entschuldigen, wenn es nicht von einem erwartet wurde. „Is‘ ok.“ Sie blieben schweigend nebeneinander ans Auto gelehnt stehen, bis die älteren Herrschaften um die Ecke gebogen waren. „Willst du wieder reingehen?“, fragte Taiji schließlich. Immerhin saß dort drinnen noch ein alles andere als begeisterter Toshi, der überzeugt werden wollte, dass er Yoshiki keinen irreversiblen Schaden zugefügt hatte. Und wenn er Glück hatte, war sein Curry auch noch da. Yoshiki zuckte mit den Schultern, stieß sich aber vom Auto ab und schlurfte langsam in Richtung Restaurant. Vor der Tür aber hielt er inne. „Denkst du, ich sollte hide fragen, wie er sich das weiter vorstellt?“, fragte er. Taiji sah ihn nachdenklich an. Dann schüttelte er den Kopf. „Man merkt, dass es dir dabei um dich geht. Sitz es aus. Und versuch, nicht so viel… zu zicken.“ „Und wenn er es schafft?“ „Dann schaust du ihm in die Augen, lächelst und sagst ‘Ich freue mich für dich‘.“ „Und wenn er die Band verlässt?“ Taiji seufzte innerlich. Yoshiki war wesentlich einfacher gewesen, als sie einfach die ganze Zeit nur gestritten hatten. „Das wird schon. Und falls nicht, schreibst du ihn oben auf die Liste der Dinge, die du mal mit einem Therapeuten besprechen solltest. Ich hab da jemand verlässlichen. Und jetzt rein da.“ Er schob Yoshiki durch die Tür.   -X- Die anderen hatten bereits gegessen. Man hätte sicher auf sie gewartet, doch Yoshiki erklärte etwas müde, er habe keinen großen Hunger und wolle eigentlich nur nach Hause. Also packten sie eine halbe Stunde später zusammen, Pata ging in die eine Richtung, Toshi, Taiji und Yoshiki in die andere. hide blieb zurück – es warteten noch etwa eineinhalb Stunde voller Kundenwünsche auf ihn. Yoshiki fuhr sie heim. Er setzte Toshi ab und schließlich, gegen zehn Uhr, hielt er vor Taijis Haus. Dieser machte allerdings keine Anstalten auszusteigen. Gerade als Yoshiki überlegte zu fragen, ob das heute noch was wurde, drehte der Bassist den Kopf in seine Richtung. „Willst du auf ‘nen Kaffee reinkommen?“, fragte er. Yoshiki blinzelte einmal überrascht, erlaubte sich aber auch den Luxus einer nach oben wandernden Augenbraue. Er hatte genug Ahnung von einschlägigen Filmen, um diese Zeile als das Klischee zu erkennen, das sie war. „Und wenn du Kaffee sagst, dann meist du…“ Taiji grinste schief und lehnte sich zum Fahrersitz hinüber, so nah, dass Yoshiki seinen Atem auf seiner Haut spüren konnte, als Taiji ihm ins Ohr wisperte: „Nicht Kaffee.“ Kapitel 16: Out of the Blue --------------------------- Wenig später trat Yoshiki schüchtern hinter Taiji in den Flur. Gleich hinter der Tür blieb er stehen, um zu warten, bis der andere Junge das Licht angeschaltet hatte. Als er schließlich sehen konnte, blickte er sich einmal verstohlen um. Er hatte sich nie eine Vorstellung gemacht, wie Taiji wohl wohnen mochte und jetzt wollte er sichergehen, dass ihn keine bösen Überraschungen erwarteten, bevor er ihm weiter folgte. Das Haus der Sawadas, das merkte er sofort, sah seinem eigenen nur von außen ähnlich. Drinnen war es ein Unterschied wie Tag und Nacht. Reispapier und Schiebetüren suchte man vergeblich. Stattdessen begrüßte ihn moderne, westliche Bauart: Feste Wände, feste Türen, Parkettboden. Der Tisch, den Yoshiki vom Flur aus im Esszimmer erspähen konnte, war hoch. Alles war aufgeräumt, perfekt arrangiert und blitzblank. Wachsfrüchte lagen in einer Schale auf dem Tischchen im Flur. Einen Moment lang fragte Yoshiki sich ernsthaft, ob hier tatsächlich jemand wohnte oder ob es sich um eines dieser Vorzeigehäuser handelte, anhand derer man als zukünftiger Käufer sehen konnte, worauf man sein Geld setzte. Etwas hier fühlte sich zutiefst unnatürlich an – als wäre man ein lebendiges Ausstellungsstück im gruseligsten Museum der Welt. Dieses Haus, dachte Yoshiki unwillkürlich, passte so gar nicht zu Taiji. Er zögerte einen Moment, bevor er aus seinen Turnschuhen schlüpfte und sie neben Taijis Stiefel stellte. „Hast du jetzt Hunger?“, fragte der Bassist und warf seine Schlüssel in eine kleine Keramikschale neben den Wachsfrüchten. Es klickerte hell. Yoshiki schüttelte den Kopf. Mit einem Mal war er unendlich nervös. „Nur ein bisschen Durst. Und… wo ist das Bad?“ Eine halbe Minute später schloss er die Tür der Toilette hinter sich und atmete durch. Was machte er hier? Nein. Blöde Frage. Er wusste ganz genau, was er hier machte: Er überließ das Denken seinem Penis. Die echte Frage war: War er eigentlich bescheuert? Die hatte er nur kurz zuvor draußen im Wagen noch Taiji gestellt: „Bist du bescheuert?“ Und dieser hatte ohne die geringste Scheu geantwortet: „Niemand muss es wissen.“ Und das hatte ihm anscheinend gereicht. Denn jetzt war er hier. Mit seinem Seufzen klappte Yoshiki den Klodeckel hoch und folgte dem Ruf der Natur. Dabei stimmte das nicht mal, dachte er währenddessen. Mindestens zwei Leute würden es wissen: Taiji und er selbst. Niemand sah in seiner Welt anders aus. Er vollendete, wozu er reingekommen war und wusch sich die Hände mit einer der perfekten kleinen Seifen aus der Schale am Waschbecken, die aussahen wie bunte Muscheln und kleine Seepferdchen. Die flauschigen Gästehandtücher waren minutiös zu Quadraten gefaltet. Dann stützte er die Arme auf das Waschbecken und betrachtete sich selbst im Spiegel. Ein Junge an der Grenze zur Erwachsenenwelt sah ihm entgegen, ein wenig zu schmal und ein wenig zu blass. Die Lichter um den Spiegel summten leise und trugen nichts dazu bei, seinen hämmernden Herzschlag zu überdecken. Yoshiki schluckte einmal und riss sich zusammen. Es gab nur eine gewisse Zeiteinheit, die man als Gast im Bad verbringen sollte, und vielleicht wollte er sie anders nutzen. Kurzerhand hielt er das Handtuch also einmal unter den Wasserhahn, rubbelte sich übers Gesicht und fuhrwerkte kurz damit unter seinem Shirt herum, bevor er es in den kleinen Wäschekorb beförderte. Einmal Haare kämmen mit den Fingern. Er warf noch einen Blick in den Spiegel. Ja… besser wurde es nicht. So war er halt. Bewusst ruhig atmend trat er schließlich wieder zurück in den Flur. Von oben hörte er leise Geräusche und die Küche war leer, also folgte er zögerlich dem Rascheln und einem schmalen Lichtstrahl die Treppe hinauf. Gerade hatte er das obere Ende erreicht, als der Bassist auf den Gang trat und die Tür, die er hatte zuziehen wollen, wieder öffnete. Er deutete wortlos auf das Zimmer, aus dem er gerade gekommen war und verschwand noch einmal an Yoshiki vorbei die Treppe nach unten. Dieser schaute ihm unschlüssig nach und trat dann, etwas befangen, über die Schwelle. Es überraschte ihn nicht mehr, dass ihn in Taijis Zimmer kein Futon begrüßte. Er hatte ein breites, westliches Bett mit dunkelblauer Bettwäsche, über dem für die warme Jahreszeit ein Moskitonetz hing. Gerade war es an der Kopfseite zusammengerafft. Ein hoher Schreibtisch, ein gemütlich aussehendes Sofa, ein Bücherregal, ein Fernseher. Auf dem Schränkchen neben der Tür stand Taijis Anlage, darunter stapelten sich auf den Regalbrettern Platten und Kassetten. An den Wänden hingen einige Poster, meist Männer, die ihre Gitarre oder ihren Bass an sich gedrückt hatten und herausfordernd in die Kamera starrten. Es war unordentlich und als Yoshiki zu der Kanne mit Wasser auf dem Couchtisch hinübergetreten war, um sich ein Glas einzuschenken, fiel ihm eine dünne Staubschicht auf. Irgendwie beruhigte ihn das. Dieser Raum war nicht so perfekt gestriegelt, wie es der Rest des Hauses scheinbar war. Das machte ihn lebendig und weniger gruselig. Auf der Kommode blubberte eine rote Lavalampe gemächlich vor sich hin. Ihr rötliches Wabern und der goldene Schein der Nachttischlampe waren die einzigen Lichtquellen im Raum. Es war schummrig. Yoshiki trank sein Wasser aus. Danach blieb er mitten im Raum stehen und schaute ein bisschen dumm. Er könnte sich aufs Sofa setzen, doch wenn passierte, weswegen er hier war, wollte er das nicht dort. (Das kannte er ja jetzt schon.) Da das hier ein Boden war, auf dem man lief und kein Boden, auf dem man lebte, konnte er sich auch nicht einfach in eine Ecke setzen, in der es ihm gefiel. Und gleich aufs Bett? Das erschien ihm ein bisschen arg forsch. Yoshiki schenkte sich noch einen Schluck Wasser gegen seinen trockenen Mund ein, trank und stellte das Glas zurück auf den Tisch. Schließlich setzte er sich auf die Kante des Schreibtischstuhls. Diese Situation war unwirklich. Vielleicht war das doch keine gute Idee gewesen. Ideen und gute Ideen, dachte Yoshiki. Er hatte das mit der Unterscheidung immer noch nicht ganz umrissen. Er saß noch nicht ganz eine Minute, als Taiji zurückkehrte und die Tür mit dem Ellenbogen hinter sich zudrückte. In den Händen hatte er zwei Gläser mit Eiswürfeln und eine Flasche Whiskey. „Drink?“, fragte er. „Bitte“, sagte Yoshiki. Taiji stellte die Gläser auf den Schreibtisch und schenkte ein. „Musik?“, fragte er währenddessen weiter. „Bitte“, sagte Yoshiki noch einmal. Als Taiji auf dem Weg zu seiner Anlage an der Tür vorbeiging, sperrte er ab. Der Schlagzeuger war auf einmal ein wenig neidisch. Wie viel einfacher es das Leben machen musste, wenn man diese Möglichkeit hatte! Taiji bemerkte seinen Blick, interpretierte ihn aber falsch. „Bin unten noch in meine Mutter gerannt“, erklärte er halblaut, während er eine Platte auflegte. Yoshiki erkannte Neil Young. Es war keine Musik, die er von sich aus für diesen Anlass gewählt hätte, aber mit einem Mal erschien sie ihm seltsam perfekt. Kurz fragte er sich, ob es sich vielleicht um eine von Taijis üblichen Scheiben für Momente wie diesen handelte, doch er wollte nicht darüber nachdenken. Also fragte er stattdessen lieber leise: „Denkt sich deine Mutter jetzt nichts?“ Taiji lehnte die leere Hülle an den Plattenspieler und warf ihm einen amüsierten Blick über die Schulter zu, während er die Lautstärke minutiös so weit runterdrehte, dass die Musik ein präsentes aber sanftes Hintergrundgeräusch bildete. „Wenn du einen Typen mit nach Hause bringst, glaubst du ernsthaft, das Erste, woran deine Mutter denkt, ist, dass ihr ficken könntet?“ Yoshiki konnte spüren, wie er rot anlief. Er hatte mit allen möglichen Ausdrücken rund um den Akt nie Probleme gehabt und deswegen irritierte ihn die plötzliche Hitze auf seinen Wangen. Anscheinend bekam es durch den ganzen Er-mit-Ihm-Aspekt noch einmal eine ganz neue Qualität. Er räusperte sich und gab schließlich peinlich berührt zu: „Nein.“ Wenn dem so wäre, müsste seine Mutter Toshi für perfektes Schwiegersohnmaterial halten. „Siehst du. Eltern sind blöde, was das angeht.“ Taiji kam zu ihm hinüber, nahm die Gläser vom Schreibtisch und reichte ihm eines davon. Dankbar schloss Yoshiki seine Finger darum. Es war kühl und angenehm auf seiner in Flammen stehenden Haut und gab ihm nebenbei eine Möglichkeit, sich an etwas festzuhalten und sich mit irgendetwas anderem zu beschäftigten als der durchgeknallten, unglaublichen und absolut abwegigen Tatsache, dass er hier im Zimmer eines anderen Mannes saß, um… ja. Das wusste er jetzt auch nicht so genau. Doch dass es nicht darum gehen würde, ausführlich das Konzept der Eudaimonie bei Aristoteles zu diskutieren – tja, darauf kam auch der letzte Idiot. Und dass dieser andere Mann dann auch noch Taiji war, das nahm die ganze Situation und verschob sie aus dem Bereich des Surrealismus weit hinein in den Bereich der Fantastik. In der Realität… konnte das hier eigentlich nicht passieren. Yoshiki hob das Glas und nahm er einen tiefen Schluck. Vielleicht machte es das besser: wenn es die Situation schon nicht wieder zurückholte, schob es möglicherweise wenigstens ihn selbst hinterher. Dann wären sie zumindest alle wieder am gleichen Ort. Der Whiskey war aromatisch und mild und nur im Abgang leicht rauchig. Er schmeckte angenehm. Er schmeckte teuer. Yoshiki schwenkte das Glas und betrachtete noch einen Moment die bernsteinfarbene Flüssigkeit darin, als verstünde er genug von Whiskey, um eine qualitative Einschätzung vorzunehmen. Schließlich aber hob er den Blick. Taiji beobachtete ihn abwartend. Ihre Blicke trafen sich nur Bruchsteile von Sekunden, bevor sich Taiji zu ihm hinunter lehnte und ihre Lippen vereinigte. Yoshiki ließ seine Hände mit dem Whiskey darin auf seine Oberschenkel sinken und ergab sich in den Kuss. Taijis Haare kitzelten ihn leicht an der linken Wanke und ein Daumen strich über seine Kiefernpartie. Es war unglaublich, wie natürlich es sich anfühlte. Der Kuss dauerte vielleicht zehn Sekunden. Dann nahm Taiji ihn an der Hand und zog ihn mit sich zum Bett. Yoshiki setzte sich so weit an den Rand wie er konnte, ohne sofort abzustürzen. Der Bassist ließ sich neben ihm nieder, näher am Kopfende, und hauchte ihm noch einen Kuss auf die Lippen, bevor er ihm sanft das Glas aus der Hand wand und es auf den Nachttisch stellte, immer noch in Reichweite, aber aus dem Weg. Im Hintergrund sang Neill Young vor sich hin und Yoshiki wusste, er würde die Platte nie wieder hören können, ohne diesen Moment damit zu verbinden. My my, hey hey Rock and roll is here to stay It’s better to burn out Than to fade away My my, hey hey. Eine kleine Weile, die nicht länger als eine Viertelstunde dauern konnte, saßen sie beide auf der Bettkante wie ein Pärchen in einer seichten Teenagerkomödie, küssten und berührten sich, vorsichtig, fast zögerlich. Doch irgendwann wurde Yoshiki bewusst, dass es das noch nicht gewesen sein konnte. Taijis Hand lag schon seit geraumer Zeit auf seinem Rücken, schob immer wieder sein Shirt nach oben, um seinen unteren Rücken zu streicheln und schließlich begann er, leicht am Stoff zu zupfen. Eine eindeutige Aufforderung lag darin. Sich von Taijis Lippen losreißend fragte Yoshiki atemlos: „Soll ich’s ausziehen?“ Eine bescheuerte, unsichere Frage, für die er sich noch im gleichen Moment gerne geohrfeigt hätte, doch an der scheinbar auch kein Weg vorbeigeführt hatte. Anweisungen. Er brauchte hier eindeutig Anweisungen. „Naja“, antwortete Taiji leise gegen seine Lippen, „nur zwei Lagen Kleidung trennen uns von totaler Zügellosigkeit...“ Yoshiki spürte, wie seine Wangen wieder anfingen zu glühen. Vielleicht Taijis Stimme. Vielleicht, was er sagte. Vielleicht, wie er es sagte. Er schluckte zweimal. „Ich zieh’s aus“, sagte er schließlich mit einem leichten Kratzen in der Stimme, „wenn du auch was ausziehst.“ Das erschien ihm auf einmal wie ein enorm verwegener Deal. Vorausgesetzt er wollte, dass sie beide irgendwann nackt waren. Er wollte das… wollte er das? Yoshiki schluckte nochmal. Ihm gegenüber hatte sich ein schiefes und etwas belustigtes Grinsen auf Taijis Gesicht ausgebreitet. „Das hätte ich sowieso getan…“, murmelte er. Dann setzte er sich auf und befreite sich von seinem Tanktop. Yoshiki starrte einen Moment. Jetzt hatte er ein Bild zu dem, was er vor einigen Monaten unter seinen Fingern gespürt hatte: Taijis Oberkörper bestand aus schlanken, sehnigen Muskeln unter karamellfarbener Haut. Er hatte nie zuvor darüber nachgedacht, doch jetzt, wo er die weiten Flächen und harten Kanten sah, die beiden dunkleren Erhebungen und die feinen Härchen, die vom Bauchnabel aus den Weg nach Süden wiesen, befand er, dass das tatsächlich was hatte. Erst als er sich Taijis abwartendem Blick gewahr wurde, erinnerte er sich, dass es einen Deal gegeben hatte. Bevor ihn der Mut verließ, packte er also den Saum seines Shirts und zog es sich, vermutlich wenig erotisch, über den Kopf. Es blieb kurz an seinem Kinn hängen und er musste noch einmal nachhelfen. Jetzt betrachtete Taiji ihn. Mühsam widerstand Yoshiki dem Wunsch, seinen Oberkörper mit den Händen zu bedecken wie ein Mädchen, versuchte sich daran zu erinnern, dass er dort nichts zu verbergen hatte. Nach wenigen Sekunden lächelte der Jüngere, küsste ihn noch einmal und schob Yoshiki dabei mit sanftem Nachdruck nach hinten aufs Bett. Doch ihre Beine hingen noch über die Bettkante. Für Yoshiki war das in Ordnung, aber er lag auch auf dem Rücken. Taiji sah das, verständlicher Weise, anders. „Das ist scheiße“, befand er nach dem ersten Versuch, eine gemütliche Position zu finden leise. „Rutsch rauf.“ Er nickte zum Kopfende hin. Yoshiki, unfähig zu eigenen Gedanken, leistete Folge und rutschte rauf, kuschelte sich dabei unter die Decke und bettete den Kopf auf die Kissen. Innerhalb weniger Augenblicke war Taiji ebenfalls dort, neben ihm, zog ihn an sich und in einen weiteren Kuss. Seine Hand wanderte über Yoshikis Rücken, streichelten seinen Nacken, seine Schulterblätter; folgten der sanften Biegung seiner Wirbelsäule tiefer, bis sie über den oberen Rand seiner Shorts und seiner etwas verrutschten Jeans strichen. Yoshikis eigene Hände waren ein wenig nutzlos zwischen ihnen gefangen, doch allmählich erkannte er, dass er durchaus auch einen gewissen Spielraum hatte, ohne Taiji in die Quere zu kommen. Die Haut unter seinen Fingerspitzen war warm und weich und spannte sich angenehm über die Höhen und Täler aus Knochen und Muskeln. Wie bereits vor einigen Wochen war es ein angenehmes Gefühl. Yoshiki ließ den Blick noch einmal über den Körper unter seinen Händen wandern und dann weiter nach oben, zu einem Schmollmund in einem davon abgesehen zweifellos sehr männlichen Gesicht. „Was?“, murmelte Taiji. „Nichts“, antwortete Yoshiki nach einigen Sekunden und riss sich zusammen. Nicht zu viel denken. Nicht hier. Nicht jetzt. Er lehnte sich noch ein Stück nach vorne und begann damit eine neue Reihe aus kleinen Küssen. Besser als Reden. Man widersprach ihm nicht. Schließlich war es Taiji, der sich ein Stück zurückzog und sich einmal über die Lippen leckte. Yoshiki konnte die Bewegung bis in den Oberarm hinein spüren, auf dem gerade seine Hand lag. Die andere streichelte abwesend Taijis Schlüsselbein. „Wie stehen meine Chancen“, murmelte der Bassist rau, „dass wir noch was ausziehen?“ Yoshiki schluckte einmal. Da war eine ziemliche Hitze zwischen ihnen, die dort am Größten war, wo Taijis Hand sich irgendwie in seine Jeans verirrt hatte und jetzt seinen Po massierte. Wenn er ehrlich war, war das schon so ein bisschen geil, aber es machte die Enge im Schritt nicht besser. Ausziehen… ausziehen war nicht schlecht. Doch wo wollte Taiji hiermit hin und wollte er das auch? Taiji erwiderte seinen forschenden Blick aus halbgeschlossenen Augen, doch es täuschte Yoshiki keine Sekunde: Sein Gegenüber war hellwach und, wenn er dieses Glühen richtig interpretierte, begierig auf mehr. Auf ihn. Wie konnte man Nein sagen zu diesem Kompliment? „Ok“, murmelte Yoshiki schließlich. Er verharrte unbewegt, bis Taiji seine Hände wieder zu sich nahm, dann setzte er sich auf und streifte etwas umständlich die Jeans von den Beinen. Dabei nahm er die Socken mit, wie man das machte, wenn man wusste, was man tat. Mit einem Rascheln und einem leisen ‚Flomp‘ verabschiedete sich das Ganze auf den Fußboden. Er kuschelte sich zurück unter die Decke, bevor noch jemand zu viel sah. Ja… das war besser untenrum. Neben ihm hatte Taiji sich noch die Zeit genommen, ihn beim Ausziehen zu beobachten und schlüpfte jetzt ungeniert aus seiner eigenen Hose, die er irgendwo ans Fußende und vielleicht weiter aus dem Bett schob. Er schenkte dem keine große Aufmerksamkeit, sondern wandte sich lieber wieder Yoshiki zu. Seine Erregung war jetzt offensichtlich: hart und heiß und nur zu deutlich zu spüren, als Taiji die Arme um ihn schlang und seinen Körper wieder an den des Schlagzeugers schmiegte. Seine Hand kehrte zurück, fasste seinen Po durch den Stoff seiner Unterwäsche hindurch, drückte sich dabei jedes Mal ein wenig enger an ihn. Ihre Küsse und Berührungen waren jetzt anders: fahriger, hitziger. Oh Gott, dachte Yoshiki. Das hier passierte. Das hier passierte wirklich. Warum machte er das? Er war so bescheuert. Guten Tag, hier ist Ihr Hirn. Eine Außenstelle Ihres Penis. An dieser Stelle seiner Gedanken hätte er fast aufgelacht, doch just in diesem Moment schob sich Taijis streichelnde Forscherhand schwuppdiwupp unter den Stoff und knetete nun seinen blanken Hintern. Das Lachen verließ seine Kehle als Keuchen. Taiji sah ihn aufmerksam an, offenbar damit rechnend, gleich seinen Kiefer oder seine Juwelen schützen zu müssen, doch Yoshiki, überrascht über sich selbst, krallte sich an Taijis Schultern fest und küsste zwei-, dreimal seinen Hals. Taiji grinste und setzte sein Tun fort. Ein paar Minuten ging es so weiter und Yoshikis Nervosität flaute wieder auf ein annehmbares Niveau ab, während Erregung langsam das Ruder übernahm. Dann spürte er, wie Taiji die Finger in den Bund seiner Shorts einhakte. Yoshiki biss sich auf die Oberlippe, um ein Quieken zurückzuhalten. Ok. Keine Panik. Da war nichts dabei. Taiji hatte dasselbe wie er. Er kannte das schon. Der Bassist hatte ihn all seinem Tun innegehalten, blickte ihm in die Augen und schien auf ein OK zu warten. Langsam nickte Yoshiki und hob das Becken ein wenig an, als Taiji ihm das letzte Kleidungsstück langsam von der Hüfte streifte, dabei behutsam um sein steifes Glied herummanövrierend. Das hier mit jemandem zu machen, der die gleiche Ausstattung hatte, dachte Yoshiki anerkennend, begann wirklich Vorteile zu zeigen. Bevor Taiji groß zum Gucken oder weiteren Handeln kam, schob Yoshiki einen Daumen in den Bund seiner Unterwäsche und zog auffordernd. Auf keinen Fall würde er hier der Einzige sein, der nicht mehr bekleidet war! Taiji lachte leise und half bereitwillig mit. Und dann waren sie beide nackt. Einige Sekunden lang betrachteten sie einander im Halbdunkel zwischen ihnen und der Bettdecke, dann schmunzelte Taiji. „Komisch?“, fragte er leise. „Mmh“, machte Yoshiki. Aber es war auch aufregend. Und überhaupt, Taiji und er hatten ja quasi schon mal … oder so. Wie viel schlimmer konnte es das hier machen? Da war überhaupt nichts Angsteinflößendes daran! Als Taijis Mund zu seinem zurückkehrte, schloss er die Augen und gab sich dem Gefühl von Händen auf Haut, Haut auf Haut, Lippen auf Haut hin. Taijis Hände wagten sich in Regionen, vor denen Yoshiki noch zurückschreckte und das war wundervoll. Doch irgendwas… irgendwas war anders als vorher. Sie waren beide nackt. Sie waren beide bereit. Wie ging es ab hier weiter? Sollte er… machte man… ähm… wer würde… wenn es war wie auf dem Sofa, dann… musste er… aber… aber… Oh Gott. Er hatte das hier so was von nicht bis zum Ende durchdacht! Taiji löste ihren derzeitigen Kuss und sah ihn unter zusammengezogenen Augenbrauen heraus an. Sofort erkannte Yoshiki seinen Fehler: Ohne es zu merken, hatte er sich angespannt und vergessen, weiter Dinge mit seinen Händen zu machen. Er lächelte entschuldigend, doch das rettete ihn auch nicht mehr. „Ok“, sagte der andere Junge und stützte sich auf den Ellenbogen hoch. „Was ist das Problem?“ „Kein Problem. Es ist… schön. Aber… Also… weißt du… Ich glaube nicht, dass… also… ich… kann… ich will nicht…“, stammelte Yoshiki in Richtung Zudecke. Er konnte spüren, dass sein Gesicht leuchtete wie eine Boje. Taiji runzelte die Stirn, reimte sich aus seinem Gestammel etwas zusammen und seufzte leise. „Yoshiki. Glaubst du ernsthaft, dass ich dich hier zu irgendwas zwingen werde?“ Der Angesprochene hob den Blick und sah Taiji in die Augen. Glaubte er das? Taiji war ein Besserwisser, ein Schnösel, ein Rüpel. Aber er war kein schlechter Kerl… „Nein“, sagte er also schließlich. „Na also.“ „Aber ich glaube, dass du schon… irgendwie… also… was… erwartest…“ Er wandte den Blick wieder ab. Eine Blase stieg in Taijis Lavalampe auf, klebte sich an die Decke und sank dann langsam wieder nach unten. „Und was erwarte ich?“ Yoshiki spürte, wie er noch eine Spur röter wurde. „Also… uhm…“ Er nestelte an der Decke herum. „Dass… wir…“ Er wurde immer leiser und vollendete den Satz nie. „Das Wort, nach dem du suchst“, sagte Taiji sachlich, „ist Analsex. Und jetzt entspann dich, du Idiot. Es gibt ungefähr hunderttausend Wege, die hier zu atemberaubenden Orgasmen führen könnten. Also lehn dich zurück, mach, womit du dich wohlfühlst und lass den Rest einfach sein. Meine Fresse. Warum ist in deiner Welt alles gleich immer ein kompliziertes Drama.“ Yoshiki biss sich noch einmal auf die Lippe, jetzt die untere, tat aber wie ihm geheißen. Er kuschelte sich in die Laken zurück und atmete einmal etwas tiefer durch. Immer noch war er nervös, doch insgesamt fühlte er sich ein bisschen besser hiermit. Wow. Das mit dem Drüber-Reden half. Wer hätte das gedacht. Wie zur Wiedergutmachung öffnete er die Arme ein Stück und Taiji kam der Aufforderung nach. Als er sich wieder an ihn schmiegte, wurde sich Yoshiki allerdings gewahr, dass Taijis Flagge gerade nur noch auf Halbmast hing. Schuldbewusst fragte er: „… hab ich jetzt die Stimmung ruiniert?“ „Ein bisschen“, gab Taiji zu und küsste vergebend einen Viertelkreis auf seinen Oberkörper. „Aber das krieg ich wieder hin.“ Vielleicht fünf Minuten später lag Taiji auf ihm, bewegte sanft sein Becken in einem jahrtausendealten Rhythmus gegen Yoshikis und küsste dabei abwechselnd seine Lippen und seinen Hals. Er hatte die kribbelnde Stelle gleich über der Schulter nicht vergessen. Ihre Glieder berührten sich, rieben aufreizend aneinander, und Yoshiki fühlte sich, als könne er einfach so kommen, wenn es nur lange genug dauerte. Doch das wollte er nicht. „Taiji“, hauchte er leise und versuchte, genug Aufforderung und, ja, Sinnlichkeit in seine Stimme zu legen, um eine weitere Erklärung unnötig zu machen. Mit einem schiefen Lächeln auf den Lippen löste der Bassist sich von ihm und drehte sich zum Nachttisch auf der anderen Seite des Bettes, in dem er kurz herumkramte. Dann rollte er sich wieder zurück, neben ihn. Wortlos reichte er Yoshiki eine kleine Tube. Dieser schaute unsicher zwischen ihr und Taiji hin und her. Was genau sollte er damit anfangen? Erwartete Taiji, dass er sich… oder dass er ihn… hatte er nicht vorhin gesagt, dass sie beide nicht… Zögerlich schraubte er sie auf. Und schluckte. Der andere Junge verdrehte mit einem leichten Seufzen die Augen und nahm Yoshiki das Gleitmittel wieder weg. „Hand“, forderte er und drückte ihm einen großzügigen Blobb auf die zögerlich ausgestreckten Finger. Dann ließ er die Tube achtlos irgendwo auf die andere Seite seines Kopfkissens fallen und lehnte sich entspannt in die Kissen zurück. „Wenn du so freundlich wärst…“ Yoshiki blinzelte noch einmal wie der Ochse vorm Berg. Taiji seufzte und sah ihn etwas mitleidig an. „Hast du dein Hirn im Bad gelassen? Du hast auch einen, du weißt, wie das geht…“ Einen… einen was? Yoshiki runzelte die Stirn. Wie was geht? Oh. Oooh. Endlich machte es Klick. Hier wurde aber auch viel Hirnleistung verlangt! Ok. Also… Das. Ja. Keine Panik. Fast hätte er sich geräuspert. Puh. Ok. Taiji hatte Recht. Er hatte auch einen und er wusste, wie das ging… theeeoretisch. Yoshiki atmete noch einmal in Gedanken tief durch und überwand sich dann. Bevor ihm sein eigenes Hirn noch einmal einen Strich durch etwas machen konnte, das sich bisher eigentlich so schlecht nicht anfühlte. Vorsichtig kuschelte er sich zurück an Taijis Seite, schloss die Finger um das harte Fleisch, und begann, es langsam zu streicheln. Es fühlte sich wirklich nicht sehr viel anders an, als es bei sich selbst zu tun und das vereinfachte die Sache. Etwa mutiger geworden, ließ der den Daumen einmal über die Eichel wandern und wurde schneller. Dann spürte er Taijis Hand auf seiner. Sanfter Druck forderte ihn auf, eine engere Faust zu bilden und als er der Forderung nachkam, wurde er mit einem unterdrückten doch wohligen Stöhnen belohnt. Yoshiki machte weiter, veränderte hin und wieder Geschwindigkeit und Druck, reagierte auf hitzige Küsse, ließ zu, dass Taiji sich ihm entgegenbewegte. Noch einmal strich er mit dem Daumen über die empfindliche Spitze, an der sich bereits Feuchtigkeit sammelte. Das hier würde nicht lange dauern. Er machte noch etwa eine halbe Minute weiter, dann zog Taiji die Augenbrauen zusammen, erzitterte leichte und kam, über Yoshikis Hand, seinen Unterbauch und ein wenig über die Bettdecke, weil Yoshiki nicht aufpasste. Noch einige Male bewegte er seine Finger den jetzt etwas klebrigen Schaft entlang, dann nahm er sie zu sich und wartete, bis Taijis wieder ansprechbar war. Dieser hatte seine Stirn gegen Yoshikis gelehnt und atmete noch einige Male tief durch, bevor er die Augen wieder öffnete. „Siehst du?“, murmelte er entspannt gegen Yoshikis Lippen, „war doch gar nicht so schlimm.“ „Uh-hu“, machte Yoshiki in vager Zustimmung, schaute aber fragend. Nicht, dass ihm das nicht auch Spaß gemacht hätte, irgendwie... aber Taiji wollte jetzt doch nicht etwa aufhören, oder? Er für seinen Teil hatte da nämlich durchaus noch ein prominentes Problem… oder war das hier etwa eine Art Rache für das Proberaum-Erlebnis? Taiji angelte sein Shirt vom Boden und reichte es Yoshiki, damit dieser seine Finger abwischen konnte, bevor er selbst seinen Bauch säuberte und das Kleidungsstück dann unzeremoniell wieder nebens Bett fallen ließ. Dann schmiegte er sich für einen weiteren Kuss zurück an den Jungen in seinem Bett, streichelte dabei sanft seine Seite, seine Hüfte und schließlich seine Erregung. Es war allerdings nichts, das baldige Erlösung versprach und Yoshikis Blick blieb skeptisch, sogar noch, als er sich der Hand auffordernd entgegenbewegte. Taiji schenkte ihm ein schiefes, wissendes Lächeln und bedeutete ihm durch leichten Druck gegen die Schulter, sich wieder auf den Rücken zu legen. Als Yoshiki der Aufforderung gefolgt war, küsste noch einmal seinen Hals, dann seine Brust, versenkte die Zunge kurz in der Vertiefung seines Bauchnabels und küsste sich dann langsam tiefer. Yoshiki spürte, wie seine Wangen wieder zu brennen begannen. Er wollte doch nicht… Er konnte doch nicht…? Er würde doch wohl nicht…! „Ta-“, begann er noch unsicher, dann spürte er etwas Weiches und Feuchtes an seiner Spitze und beendete den Satz mit einem Keuchen. Taiji wollte, konnte und hatte. Über das Rauschen des Bluts in seinen Ohren hörte er deutlich etwas wie ein lautloses Lachen, doch bevor er sich aufraffen konnte, Taiji einen Blick zuzuwerfen, war die Zunge zurück, wanderte einmal von unten nach oben und umkreiste dann frech die Spitze. Yoshiki wand sich ein wenig und legte den Kopf in den Nacken. Oh Gott. Das war peinlich. Aber auch so.unverschämt.gut. Kein Mädchen hatte das bisher für ihn gemacht! Als sich Taijis Lippen fester um ihn schlossen und er leicht zu saugen begann, kam Yoshiki ein wenig dezentes Stöhnen über die Lippen und nur Taijis fester Griff an seinen Hüften verhinderte, dass sein Becken ein Eigenleben entwickelte und versuchte, sich der Wärme entgegen zu drängen. Taiji ließ von ihm ab und kehrte zurück nach oben. „Shh“, murmelte er leise aber bestimmt und leckte ihm über die Ohrmuschel, bevor er, einzelne Küsse auf der verschwitzten Haut des anderen Jungen verteilend, wieder nach unten verschwand. Da er auf einmal wenig Vertrauen in seine blanke Willenskraft hatte, hielt Yoshiki sich die linke Hand vor den Mund, um sein Organ ein wenig zu dämpfen. Nur weil es spät war und Taiji einen Schlüssel für seine Tür besaß, waren die Wände nicht dicker als anderswo. Und mit einem hatte der Bassist recht: Er musste wirklich nicht von Taijis Eltern dabei gehört werden, wie ihr Sohn ihn um den Verstand brachte. Seine rechte Hand hatte die Bettdecke losgelassen und sich in Taijis Haaren vergraben und als der Bassist ihn noch ein wenig tiefer in sich aufnahm, griff er fester zu als beabsichtigt. Taiji löste die Hand vom Stamm, wo sie zusätzliche Unterstützung geleistet hatte und griff nach hinten, um Yoshikis Finger von seinem Hinterkopf zu lösen. Stattdessen legte er die Hand des Schlagzeugers auf seiner Schulter ab. Yoshiki akzeptierte den Wechsel und erkannte bald, dass es ihnen eine Möglichkeit gab, ohne Worte zu kommunizieren: streichelte er nur, war es schön, aber nicht sonderlich spannend, krallte er sich schmerzhaft fest, war es fast ein wenig zu viel. Taiji schien zu verstehen, denn nach einer Weile des Experimentierens fand er einen Rhythmus, der die richtige Mischung aus entspanntem Streicheln und dem Einsatz von Fingernägeln auslöste. Yoshiki war zunehmend froh, dass er sich selbst den Mund zuhielt. Er hatte wie erwähnt keine Vergleichswerte, aber das hier war fantastisch. Es war besser als Sex und definitiv besser als Hände, egal ob sie zu ihm gehörten oder zu … irgendwem anders. Taijis Zungenspitze dippte neckend in die kleine Vertiefung an der Spitze und Yoshiki musste der Versuchung wiederstehen, seinen Hinterkopf gegen die Kissen zu schlagen. Oh Gott…! Es erschien ihm gerade zutiefst unwahrscheinlich, dass er mit der gleichen Anzahl an Hirnzellen aus dieser Nummer rausgehen würde, mit der er reingegangen war. Heiß. Gott, war ihm heiß! Die Hand auf Taijis Schulter hatte ganz leicht zu zittern begonnen. Yoshiki nahm seine Linke von seinen Lippen. „Taiji, ich-“, begann er, überrascht vom erstickten Klang seiner eigenen Stimme. Doch weiter kam er nicht, bevor der Bassist noch einmal ein wenig an Tempo zulegte und eine warme, geschickte Hand plötzlich seine Hoden umfasste. Er kam mit einem tiefen Stöhnen, welches gerade noch so durch seine Hand gedämpft wurde, den Kopf in den Nacken gelegt und die Augen so eng zusammengekniffen, dass für einen Außenstehenden nicht ganz ersichtlich wäre, ob er gerade den bisher besten Orgasmus seines Lebens hatte oder unter höllischen Schmerzen litt. Er erholte sich noch davon, als der Bassist schließlich, lange nachdem die letzte kribbelnde Welle verebbt war, mit einem etwas selbstgefälligen Lächeln von ihm abließ und sein Gesicht wieder auf eine Höhe mit Yoshikis brachte. Ohne Widerstand ließ dieser sich in einen letzten, entspannten Kuss ziehen. Er konnte sich selbst auf Taijis Zunge schmecken und die Intimität des Ganzen stach ein wenig in der Brust. Was zum Henker machte er hier? Ein paar Minuten blieben sie so liegen, Yoshiki als wäre er gerade einfach ins Bett gefallen und Taiji neben ihm, von wo aus der verschlungene Formen auf seine Brust malte. Es war warm und gemütlich und friedlich, und sehr viel weiter wollte sein Hirn eigentlich auch nicht mehr machen heute. Schließlich atmete der Schlagzeuger durch und drehte den Kopf in Richtung des Bassisten. „Soll ich gehen?“, fragte er schläfrig. „Willst du?“, murmelte Taiji. Yoshiki dachte kaum über die Frage nach, bevor er antwortete. Die Vorstellung, er müsse jetzt aufstehen, sich anziehen, nach Hause gehen, dort noch einmal die Treppen hinaufsteigen… „Nein…“ Er gähnte. Morgen früh würde es sicher peinliche, unangenehme Szenen geben, aber darüber konnte er sich Gedanken machen, wenn es so weit war. Jetzt wollte er sich hier zwischen den weichen Laken einrollen und (falls möglich) ein Jahr lang schlafen. „Gut“, sagte Taiji und raffte sich auf. Er ging zur Anlage hinüber und schaltete sie aus, dann weiter zur Lavalampe. Danach kehrte er ins Bett zurück und ließ sich mit einem Seufzen zurück in die Kissen sinken, als wäre er zehn Meilen gewandert. Etwas grummelte. Yoshiki blinzelte einmal. „… ich bekomm von Sex Hunger“, erklärte Taiji mit einem peinlich berührten Grinsen und rieb sich über den Bauch. „Tu dir keinen Zwang an“, sagte Yoshiki und gähnte noch einmal. Er wurde nur müde. Müde und zufrieden und dösig. War dösig nicht dasselbe wie müde? Na egal… Er drehte sich auf die rechte Seite in seine Schlafposition und wurde sich fast gleichzeitig gewahr, dass Taiji es ihm gleichtat. „… wenn du Löffelchen versuchst“, murmelte der Schlagzeuger undeutlich ins Kissen, „wirst du die nächsten Wochen eines zum Essen brauchen.“ „… verstanden“, sagte Taiji hinter seinem Rücken, rollte sich auf die andere Seite des Betts und knipste das Licht aus. Es raschelte noch ein paar Sekunden, als er nach einer bequemen Lage suchte, dann war es still. Yoshiki war schon fast eingeschlafen, als Taiji leise ins Dunkel murmelte: „… du solltest ein bisschen mehr essen.“ Der Schlagzeuger machte ein murrendes Geräusch. Vielleicht gefiel ihm der Inhalt nicht, oder aber er wollte einfach nur seine Ruhe. „Nur ein kleines bisschen…“, wiederholte Taiji. „Mmh“, machte Yoshiki noch einmal. Ja, Nein, Fick dich. Und ab da wusste er nichts mehr. Kapitel 17: Today Your Love, Tomorrow the World ----------------------------------------------- Am nächsten Morgen wachte Yoshiki von selbst auf. Noch angenehm schläfrig drehte er sich auf den Rücken und streckte sich genüsslich mit einem leisen Quieken. Er hatte durchgeschlafen. Das kam so selten vor. Jetzt gemütlich noch ein bisschen kuscheln und dann Kaffee, dachte er. Und gähnte ausgiebig. Dann erst wurde ihm bewusst, dass irgendetwas nicht stimmte. Das Licht kam von der falschen Seite. Die Matratze war zu weich. Der Geruch des Kopfkissens war nicht seiner. Und er war nicht allein. „WOW!“ Yoshiki schreckte hoch und fiel in seinem Bemühen, möglichst schnell Abstand zwischen sich und den Atem an seinem Ohr zu bringen, fast aus dem Bett. Er blinzelte gegen das morgendliche Dämmerlicht im Raum an, während sein Gehirn in Windeseile die Puzzlestücke zusammensetzte. Er. Taiji. Gestern. Oh. Neben ihm rieb sich Taiji unwillig übers Gesicht und legte schließlich einen Unterarm über seine Augen. Es war zu früh hierfür! „Was is’n nun los…?“, murmelte er undeutlich. „… nichts“, gab Yoshiki leise zu. Sein rasender Herzschlag hatte sich ein wenig beruhigt. Das Bett war bequem, Taiji war ihm nicht auf die Pelle gerückt und niemand hatte ihn gezwungen, herzukommen oder hierzubleiben. Er musste gestehen, dass es im Grunde tatsächlich nichts gab, über das er sich beschweren konnte. Das Problem war nur, dass ihm das überhaupt nicht gefiel. Unschlüssig, ob er sich nochmal hinlegen oder unauffällig anziehen und gehen sollte, blieb Yoshiki also erstmal sitzen. Erst nach einer guten Minute ließ er sich schließlich wieder in die Kissen zurückfallen und bemerkte nun auch, dass Taiji den Arm bewegt hatte und ihn anblinzelte. „Morgen“, sagte Yoshiki also. „He“, murmelte Taiji. Stille. Yoshiki fuhr sich einmal durch die Haare. „Bin’s nur ich oder ist das ein bisschen seltsam?“ „Ich würd eher sagen, das ist, was es ist und du bist ein bisschen seltsam“, murmelte Taiji, gähnte und dehnte seine Schultern. „Haha“, machte Yoshiki. Sie sahen einander noch eine halbe Minute an, Yoshiki ausdruckslos und Taiji mit diesem leichten Zug der Erheiterung um seine Mundwinkel, der Yoshiki ein bisschen wahnsinnig machte. Schließlich hielt er es nicht mehr aus und verzog missbilligend das Gesicht. Nur die Tatsache, dass er sich aufsetzte und sich zum Aufstehen abwandte, versteckte Taijis Grinsen. Yoshiki blieb im Bett liegen. Abwesend drehte er den Zipfel der Bettdecke zwischen den Fingern, während er beobachtete, wie Taiji in frische Unterwäsche aus der Kommode und seine Jeans von gestern schlüpfte. Schockierender Weise war es kein unangenehmer Anblick. „Was?“, fragte Taiji mit einem kurzen Blick in Yoshikis Richtung, bevor er zu seinem Schrank hinüberging. Er hatte sein Top aufgehoben und war daran erinnert worden, dass es nicht mehr tragbar war (und warum). „Nichts“, antwortete Yoshiki zum zweiten Mal an diesem Morgen, ließ das Laken los und schüttelte den Kopf. Er schlug die Bettdecke zurück, schwang langsam die Beine aus dem Bett und sah sich nach seinem Oberteil um. Noch bevor er es gefunden hatte, verließ ihn allerdings wieder die Motivation. Er seufzte. „Ich überleg nur gerade, ob ich schwul bin.“ Taiji hatte ein frisches Shirt aus dem Schrank gezogen, es auseinandergefaltet und zog es sich gerade über den Kopf. „Und wenn?“, fragte er unbeeindruckt, als sein Kopf wieder auftauchte. „Naja“, sagte Yoshiki, ein wenig verstimmt wegen des mangelnden Einfühlungsvermögens. „Dann bin ich schwul und das verändert alles.“ „Inwiefern?“ Suchend drehte Taiji sich einmal um sich selbst. Er hatte einen Socken gefunden, doch der zweite war verschollen. Vielleicht war er noch irgendwo im Hosenbein? Yoshiki dachte über die Frage nach, doch ihm fehlten die Worte, um seine Verwirrung zu beschreiben. Es kam ihm vor, als müsse er einem Blinden die Farbe Grün erklären. Wie konnte man als Mann denn nicht instinktiv begreifen, warum schwul sein eventuell eine große Sache war? „… weil halt!“, griff er schließlich auf das bestmögliche Argument zurück, das ihm einfiel. Taiji hatte den zweiten Socken gefunden und zog ihn unten aus der Hose. „Ok, Fuckface. Sag mir eine Sache, die sich in deinem Alltag ändern würde, weil du lieber Männern auf den Arsch schaust als Frauen.“ „Das… also…“ Yoshiki verzog das Gesicht. Ihm fiel nichts ein. Diskutieren war scheiße! Kein Wunder, dass er es so gerne vermied! „Ich… es…“ Ha! „Ich kann nie mehr jemandem von meinen Beziehungen erzählen.“ Das war doch was! „Und vor allem nicht von dir“, schob er nach, ein wenig gemeiner als nur stichelnd. „Kam das bisher wirklich so oft vor?“, fragte Taiji unbeeindruckt weiter. Er war zum Nachttisch zurückgekehrt und streifte seine Armbänder übers Handgelenk. Das machte Yoshiki bewusst, dass Taiji jetzt vollständig bekleidet war, während er selbst immer noch nackt auf der Bettkante saß. Er überwand sich und angelte seine Unterhose vom Boden. Während er hineinschlüpfte, sagte er: „Nicht direkt. Aber irgendwann werden mich Leute fragen, wo meine Frau und meine Kinder bleiben. Oder wann sie mal meine Freundin kennenlernen. Oder… keine Ahnung. Ob sie mir mal wen vorstellen sollen. Und was, wenn ich Probleme habe? Ich kann nicht einfach zu meiner Mutter oder sonst wem gehen und sagen ‘He, also wenn mein… mein Freund und ich und so, ist das normal, dass – irgendwas. Und stell dir vor, ich – wir – was auch immer – werden berühmt. Und irgendwer fragt mich im Interview, wie es eigentlich privat aussieht. Was sag ich denn dann? Ach, das ist doch Scheiße. Ich will nicht die Schwuchtel sein.“ Gestern war er noch hetero gewesen und die Welt einfach. Er hätte es so lassen sollen. Aber nein, warum einfach, wenn es auch kompliziert ging? Es war offiziell. Er war ein Vollpfosten. Taiji verdrehte die Augen und warf Yoshiki seine Jeans zu. „Du denkst zu viel nach. Sag einfach gar nichts. Kann dich niemand zwingen. Und wenn du mal dreißig Jahre berühmt warst und immer noch keiner weißt, was du mit wem treibst und wo und wie oft – tja, das ist auch ‘ne Leistung.“ Er grinste. „Sieh’s als Herausforderung. Und ganz ehrlich?“ Er betrachtete Yoshiki einmal übergenau von Kopf bis Fuß und zog die Augenbrauen hoch: „Du kamst noch nie als der maskulinste Typ in Chiba rüber.“ „Das überzeugt mich nicht.“ Irgendwie schaffte es Yoshiki, noch während er sich in seine Jeans füllte, wenig begeisterte Blicke auszuteilen. Doch der andere Junge zuckte nur gleichgültig mit den Schultern. „Zu schade. Ich geh frühstücken. Du kannst kommen oder nicht.“ „Du bist wirklich unsensibel!“, stellte Yoshiki unzufrieden fest. „Stört dich das denn gar nicht? Ich wollte ohnehin noch fragen, woher du eigent- He! Warte!“ -X- Taiji wartete, wenn auch nur, damit Yoshiki seine Socken anziehen konnte und nicht, um seine Fragen zu beantworten. Vielleicht wäre es schlauer gewesen, sich einfach zu verabschieden. Doch war es nicht normaleres Nur-Freunde-Verhalten, wenn er frühstückte, statt sich heimlich aus dem Haus zu schleichen? Yoshiki wusste es nicht mit Sicherheit, doch es kam ihm so vor, als könne er sich dann gleich den One-Night-Stand-Stempel auf die Stirn kleistern. „Wer hat das Zimmer neben deinem?“, fragte er leise, während er Taiji die Treppe hinunter folgte. „Mein Bruder“, antwortete dieser. „Glaubst du, der hat uns gehört?“ „Wenn dann dich. Und unwahrscheinlich“, murmelte Taiji zurück. Dass sein Bruder die unangenehme Eigenschaft hatte, schneller zu kombinieren als seine Eltern, behielt er wohl besser für sich. Er war nicht gänzlich überzeugt, dass Yoshiki ihn nicht die Treppe runter treten und es wie einen Unfall aussehen lassen würde. Am unteren Ende der Treppe bogen sie in die Küche ab. Anscheinend wurde das Esszimmer nur für besondere Anlässe genutzt und Frühstück gehörte nicht dazu. Dort begrüßten sie ein Junge, der vielleicht zwei Jahre jünger sein mochte als Taiji – die Brille machte die Schätzung schwer – der am Tisch saß und gerade ein Spiegelei zerschnitt und eine Frau mittleren Alters, die am Herd stand und mit der Bratpfanne hantierte. Auf den ersten Blick stellte Yoshiki bereits fest, dass sie ohne jeden Tadel war. Ihre Kleidung war farblich abgestimmt, ihr Nagellack saß, keine Strähne löste sich aus ihrer perfekten Frisur. Sie schenkte ihnen ein genau bemessenes, ausgefeiltes Lächeln zu ihrem „Guten Morgen“ und Yoshiki tat sich ungebührlich schwer damit, zurückzulächeln. Sie passte zu diesem Haus – und vielleicht stellten sich ihm deswegen ein wenig die Nackenhaare auf. Wenn das die Alternative war, dachte er (vielleicht ein wenig fies, aber was sollte er machen?), war schwul sein vielleicht doch nicht so schlecht. Er brachte die peinliche Vorstellungssache hinter sich und setzte sich dann vorsichtig an den Tisch, als habe er Angst, der Stuhl könne unter seinem Hintern wegbrechen. Diese komische Situation, wenn man das erste Mal bei jemandem zu Gast war. Andere Leute machten Dinge einfach komisch – auch, wenn sie sie genauso machten wie man selbst. Zuhause war es eben doch am schönsten... Taiji schenkte ihm Tee ein und plötzlich durstig nahm er einen Schluck. Noch während er dabei war, tauchte eine Schale Reis vor ihm auf. Er versuchte noch ein dankbares Lächeln in die entsprechende Richtung. Es klappte ein bisschen besser. „Auch ein Ei?“ Yoshiki hatte den ersten Bissen Reis bereits im Mund, bis ihm auffiel, dass sie mit ihm redete. „Äh…“, machte er überfordert, kaute kaum und schluckte runter. Er hatte oft Toshi zu Gast. Und da endete seine Erfahrung mit Situationen wie diesen auch schon. Es aus dieser Perspektive zu erleben war er nicht gewohnt und es war etwas unangenehm. „Ja. Bitte. Danke. Wenn es keine Umstände macht.“ Er räusperte sich. Und erkannte seinen Fehler. Wenn er solche Situationen in Zukunft umgehen wollte, musste er seine Dates einfach mit zu sich nehmen. Dann war es sein Haus, seine Entscheidung, wann er jemanden rauswarf, seine Eier. …äh. Also… die mit dem kleinen Huhn drin. Nicht die anderen. Oh Mann. Einen kurzen Moment verspürte Yoshiki den Drang, mit dem Gesicht voran in seinen Tee fallen und dort ertrinken zu wollen. Die andere Lösung des Problems war, einfach keine peinlichen Dates mehr zu haben. Vor allem keine mit Taiji. Crap. Was hatte er sich eigentlich dabei gedacht? Das war alles hides Schuld! … irgendwie. Er nahm noch eine Ladung Reis und hob den Blick um Taiji anzusehen, wie um sich zu versichern, dass er hier alles richtig machte und keine Verhaltensregeln übersah, die es innerhalb des Sawada-Haushalts vielleicht gab. Doch Taiji war damit beschäftigt, seinen Bruder zu taxieren. Dieser wiederum schaute von Taiji zu Yoshiki und wieder zurück. Taiji erwiderte seinen Blick für exakt zehn Sekunden und als Reiji schließlich zurück auf seinen Teller blickte und begann, sein zweites Spiegelei zu zerlegen, wusste Yoshiki, dass eine stille Unterhaltung zwischen den Brüdern stattgefunden hatte – in einem Code, den man als Außenstehender nicht knacken konnte. In diesem Moment erreichte ihn sein eigenes Ei, zusammen mit dem Wunsch für einen guten Appetit. Das Spiegelei hatte die Form einer Blume, mit dem Dotter als Innenteil. Wow. Und er hatte bisher immer gedacht, dass seine Mutter hart übertrieb. Gruselig. Dennoch bedankte Yoshiki sich pflichtbewusst und griff zum Besteck. Er konnte es kaum erwarten, hier rauszukommen. -X- Eine halbe Stunde und ein – wenn er ehrlich war – ziemlich gutes Frühstück später schlüpfte Yoshiki im Flur in seine Schuhe. Jemand hatte sie ordentlicher hingestellt, als er das gestern Nacht gemacht hatte. Das irritierte ihn, ließ ihn jedoch unweigerlich auch denken, dass er irgendwann wirklich gerne ein Hausmädchen hätte. Wie geil wäre das? Er richtete sich wieder auf und plötzlich war sein Gastgeber zu nah. Unwillkürlich machte er einen Schritt zurück, doch hatte sofort die Tür im Rücken. „Ä h m“, machte er langsam und sehr deutlich, um seinem Unbehagen eine Stimme zu geben. Taiji warf einen Blick über die Schulter, lauschte dabei ins Haus hinein und als er sich überzeugt hatte, dass sie ausreichend Privatsphäre hatte, flüsterte er schließlich: „Abschiedskuss?“ „Ähm…“, machte Yoshiki noch einmal, diesmal wirklich unschlüssig, tastete neben sich nach der Türklinke und war sehr erleichtert, als seine Hand das Gesuchte fand. „Lieber nicht…“ Er wandte sich ab, schlüpfte zur Tür hinaus und war schon die paar Stufen hinunter, bevor Taiji zu ihm aufschloss. „Was ist los?“, fragte der Bassist. Er war nur Sekunden zu langsam um Yoshiki davon abzuhalten, das Gartentürchen zu öffnen. Doch er ließ es sich nicht nehmen, ihm die Straße hinunter zu folgen, bis dorthin, wo Yoshiki am Vorabend geparkt hatte. „Ich… ich bin nicht sicher, dass das hier… eine gute Idee war. Ich… keine Ahnung“, murmelte Yoshiki. Schlüssel. Wo war der Schlüssel? Nacheinander tastete er alle seine Taschen ab. „Warum bist du dann mit reingekommen?“, fragte Taiji verständnislos und lehnte sich aufs Autodach. Yoshiki seufzte. Er hatte den Schlüssel gefunden, doch der Bassist stand ihm im Weg. „Ich weiß auch nicht… Weil ich mich schlecht gefühlt hab und Angst hab, dass hide weggeht und… keine Ahnung. Weil ich’s irgendwie wissen wollte.“ Er spielte am Autoschlüssel herum. Neben dem kleinen Ledertäschchen hing eine Plastikblume, die sich gut eignete für Gelegenheiten wie diese. „Und wie ist’s jetzt?“, fragte Taiji weiter. Yoshiki hob die Schultern. „Ich hab immer noch Angst und bin vielleicht schwul.“ Taiji legte den Kopf schief und machte den Abgleich. „Aber du fühlst dich besser?“, wollte er das Ergebnis bestätigt sehen. Yoshiki hob noch einmal die Schultern, betrachtete durch die Scheibe den Talisman am Rückspiegel und antwortete nicht. Doch Taijis Gesicht schob sich in sein Sichtfeld, ob er wollte oder nicht. „Würdest du’s wieder tun?“, fragte der andere Junge. Ein zweifelnder Blick wurde ihm zuteil, als Yoshiki versuchte herauszufinden, ob Taiji gerade vorschlug, was er glaubte, dass er vorschlug. „Was wird das dann?“ „Uhm…“ Taiji sah nachdenklich nach oben und antwortete schließlich: „Ich möchte sagen Freunde mit Vorzügen.“ „Findest du, wir sind Freunde?“ „Weiß nicht. Sind wir?“ Taiji brachte seinen Kopf wieder in die Senkrechte. Wohl um den Ernst der Frage zu unterstreichen. Yoshiki stemmte den linken Arm in die Taille. „Was ist mein Lieblingssushi?“ „Äh… Thun…fisch? Was hat das überhaupt damit zu tun!?“ „Und falsch.“ Er schob sich vor Taiji, um die Tür aufzuschließen. Dieser machte kaum Platz und seine Nähe war verwirrend. Das brauchte er jetzt echt gar nicht. „Mann, Ok. Ok. Kollegen mit Vorzügen.“ Yoshiki seufzte und Taiji ging notgedrungen nun doch einen halben Schritt zurück, als er die Autotür öffnete. „Ich muss darüber nachdenken.“ Als er eingestiegen war, trat Taiji allerdings wieder zurück und lehnte sich zum Schlagzeuger hinunter. „Und wie lange wird das dauern?“ Yoshiki seufzte noch einmal, ließ den Motor an und lehnte sich ein Stück nach rechts. „Tschüss, Taiji…“ Er schob den Bassisten zur Seite. Dann zog er die Tür zu. -X- „Und, bereit?“, fragte Taiji. „Nein“, sagte hide. Sie saßen auf hides Sofa, aßen Curry, das hide aus dem Restaurant mitgebracht hatte und nippten jeder an einem Bier. hide war elend. Morgen Abend würde er in den Zug nach Tokio steigen und am darauffolgenden Tag ging es um alles oder nichts. Allein die Flasche in seiner Hand hielt ihn davon ab, schreiend im Kreis zu rennen. Die Flasche und Taiji. Allerdings tatsächlich in dieser Reihenfolge. „Was ist dein Plan?“ hide seufzte. „Mich nicht übergeben.“ „Guter Plan. Zieh ihn durch.“ hide seufzte noch einmal. „Keine Ahnung. Ich nehm an, ich bin einfach ich selbst. Ich meine, was bringt es mir, wenn die mich mögen, aber ich mich selbst nicht mag… Oder glaubst du, das ist bescheuert?“ Er warf Taiji einen fragenden, etwas verzweifelten Blick zu. „Ich weiß nicht, wie die dort ticken. Vielleicht sollte ich… keine Ahnung. Mich verstellen, damit ich dazu passe. Was ist schlauer?“ „Mmh. Weiß nicht. Wie würdest du dich denn verstellen?“, fragte Taiji und nahm noch eine Handvoll Snacks. „Ja keine Ahnung!“ hide gestikulierte mit seiner Flasche und musste dann schnell abtrinken. Es schäumte. „Ich war da doch noch nie“, sagte er, als er wieder absetzen konnte. „Es… weiß nicht. Aber vermutlich ist die Wahrheit nirgendwo auf der Welt angesagt. Ich meine, was soll ich denen erzählen, wirklich über mich? I am just a guy who likes to get drunk, I am just a guy who likes to dress punk?“ „I am just a guy who likes to rock and roll“, vervollständigte Taiji. hide grinste schief und prostete ihm zu. Er trank einmal und warf dann nochmal einen scheuen Seitenblick nach links, unsicher, ob er noch eine Antwort auf seine ohnehin irgendwie rhetorische Frage bekam. Doch schließlich sprach Taiji weiter. „Alter. Hör zu. Ich sag dir jetzt was.“ Er legte hide eine Hand auf die Schulter und sah ihm in die Augen. „Du bist ein lustiger, merkwürdiger, richtig kaputter Kerl. Aber das macht dich anders. Anders ist hart, aber anders ist gut.“ Belehrend hob der Bassist einen Zeigefinger – auch der einzige Finger, den er frei hatte, da er ja immer noch sein Bier hielt. „Die Kunst ist, dieses Anderssein zu feiern. Die Menschen sind von Natur aus Herdentiere, Mann. Die glauben, was du ihnen erzählst, wenn du es mit genug Überzeugung tust. Erzähl ihnen, dass du einzigartig bist und sie das, was du ihnen bringst, garantiert noch nicht gesehen haben. Und dann verhalte dich, als würdest du erwarten, dass sich die Welt dir anpasst und niemals umgekehrt.“ hide schaut nicht überzeugt. Nicht überzeugt, aber auch nicht desinteressiert. „Und das funktioniert?“ Taiji zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Funktioniert für mich.“ „Ich weiß nicht, ob ich das kann.“ Zweifelnd schüttelte hide den Kopf und stellte sein Curry auf dem Tisch ab, um unter dem Tisch nach seinen Flauschsocken zu angeln. Kalte Füßchen. Der Bassist zog eine Augenbraue hoch und die Mundwinkel ein Stück nach oben, zu einem zuversichtlich-neckendem Gesichtsausdruck. „Dann hast du jetzt noch bis übermorgen, um’s zu lernen. Viel Erfolg.“ hide lächelte schief zur Antwort und nahm im Auftauchen noch einen Löffel Curry, bevor er sich wieder aufrecht hinsetzte und sich die Socken anzog. Kurz war nur das Rascheln des Stoffs und das Mahlen seines Kiefers zu hören. „Kann ich dich was fragen?“, begann er dann, als er runtergeschluckt hatte. „Jo.“ Taiji nahm noch einen Schluck Bier. „Weißt du, ob Yoshiki irgendwie sauer auf mich ist?“ Ausweichend popelte der Bassist an seiner Flasche herum. „Wieso?“ hide zog die Augenbrauen zusammen. „Weiß nicht. Nur so ein Gefühl. Heute zum Beispiel hab ich ihn gefragt, ob er auch kommen will und er hatte… also er hat was gesagt, warum er nicht kann, aber ich glaub, er hatte einfach keine Lust.“ „Ach, Yoshiki ist komisch“, sagte Taiji gleichgültig und legte seine Füße auf dem Tisch ab. Vielleicht wäre seine Meinung hier eine etwas andere, wenn das Arschloch inzwischen mal eine gescheite Ansage gemacht hätte, wie es zwischen ihnen aussah. Aber das hatte er nicht. Also konnte er wohl auch hinter seinem Rücken ein wenig schlecht über ihn reden. Ja. Auch als Mann konnte man sowas durchaus mal machen, ohne dass einem gleich Stöcke aus den Eiern wuchsen. hide fuhr mit dem Daumen über den Flaschenhals und schaute nachdenklich. „Ich weiß nicht… er ist schon die ganze Zeit so komisch. Irgendwie… fühl ich mich, als hätte ich ihm was getan. Aber ich weiß beim besten Willen nicht, was. Toshi auch nicht. Vielleicht ist es, weil ich seinen Rest Nudeln aus dem Kühlschrank gegessen hab. Aber was hätte ich machen sollen?“ Ratlos hob hide die Hände. „Ich war total unterzuckert, es war sonst nichts da und die waren ohnehin kurz vor dem Umkippen. Ich hab quasi schon Flaum abgekratzt. Weißt schon. Diesen bläulichen.“ Er warf Taiji noch einen Seitenblick zu, doch dieser schaute auf sein Bier. hide schloss daraus, dass sein Freund auch keine Ahnung hatte und griff nochmal nach seinem Teller, um die letzten Karottenstücke aus dem Matsch zu picken. Während er noch dabei war, hörte er neben sich allerdings ein tiefes Seufzen. Er sah auf. Taiji stellte seine Flasche weg und begann vorsichtig: „Uhm… hide…“ Der Angesprochene schluckte runter und blinzelte abwartend. „Ich… muss dir was sagen.“ -X- Vierzig Stunden später saß hide auf einem etwas unbequemen Suhl in einem Vorzimmer, das vom Charme her irgendwo zwischen Nagelstudio und Highschoolflur angesiedelt war und hielt seine Tasche so fest umklammert, als wäre sie ein Neugeborenes. Da war ein seltsam taubes Gefühl in seinem Kopf, seine Füße waren kalt und seine Handflächen schwitzten. Ihm war schlecht, so nervös war er. Er wünschte sich seine Mappe zurück – dann hätte er zumindest irgendetwas in der Hand, um sich daran zu erinnern, dass er schon auf etwas aufbauen konnte. Oder aber, er könne sein Skizzenbuch herausholen und noch ein paar Kritzeleien anfertigen, während er wartete. Es hatte ihn gestern Abend in der Herberge davor gerettet, eine Tafel Schokolade zu essen und vielleicht könnte es ihn auch hier davon abhalten, auf seiner Unterlippe herumzukauen. Mit äußerster Mühe zwang er sich, damit aufzuhören. Er wollte nicht mit blutender Lippe ins Gespräch gehen. Einmal bewusst tief durchatmend hob er den Blick zum wiederholten Mal an diesem Vormittag zu den Bildern an der Wand gegenüber, größtenteils Fotoreihen von Mädchen mit grellem Makeup und ausgefallenen Kleidern. Schritte näherten sich und hide sah auf. Sein Herz machte einen Satz, doch es war nur ein Junge in seinem Alter, der sich suchend umsah und schließlich auf ihn zusteuerte. „He“, grüßte er. „Dame im Foyer hat mich in den zehnten Stock geschickt. Wartest du auch?“ hide nickte. „Sie überziehen ein wenig.“ „Ah. Kazuo.“ „Hideto.“ Kazuo setzte sich auf den Stuhl neben ihn, schaute einmal nach links, einmal nach rechts und dann zurück zu hide. „Wie lang bist du denn schon hier?“ „Halbe Stunde oder so.“ „Oh. Wow. Ich hätte noch einen Kaffee trinken sollen.“ Der andere Junge lehnte sich zurück, trommelte kurz auf seinen Knien, tappte ein paar Mal mit den Füßen und entließ Luft durch gespitzte Lippen. Es half hides Nervosität überhaupt nicht, also beschloss er, noch ein wenig Konversation zu machen – wenn auch nur, damit der Typ ihn nicht noch zusätzlich in den Wahnsinn trieb. „Also“, begann er, „du… äh… bist du von hier?“ Kazuo nickte. „Ueno. Du?“ „Tateyama… drüben in Chiba.“ „Ah. Da waren wir mal im Sommer. Ist nett. Bisschen zu ruhig für meinen Geschmack.“ „Das stimmt“, sagte hide. Sie schwiegen ein paar Sekunden. Dann fing Kazuo an. „Und, was hast du so eingereicht?“ „Uhm…“ hide betrachtete noch einmal das Bild genau gegenüber, während er überlegte, ob es irgendeinen Nachteil mit sich bringen konnte, wenn er ehrlich war. Immerhin war das hier, wenn man es genau nahm, einer seiner Konkurrenten. Doch ihm fiel kein Grund ein. Also erklärte er schließlich: „Ich hab versucht, traditionelle Mode in neue Trends einzuarbeiten. Innerhalb eines größeren Vergänglichkeits-Themas. Ja. Weiß nicht, ob das geklappt hat. Aber ich bin hier, also…“ Er lächelte und gab sich gleichzeitig im Stillen eine Kopfnuss. Und zu viel gesagt. Crap. „Klingt tiefgründig“, befand Kazuo. Aus irgendeinem Grund klang es aber nicht wie ein Kompliment. hide wollte lieber nicht darüber nachdenken. „Und du?“, fragte er also schnell zurück. „Ja“, sagte der andere Junge, „ich hab versucht, den Style von Jean Paul Gaultier auf die nächste Stufe zu heben.“ „Schounpo- wer?“, fragte hide, bevor er sich davon abbringen konnte. Diesmal warf Kazuo ihm einen eindeutig mitleidigen Blick zu und setzte gerade zu einer Antwort an, als die Tür am Ende des Gangs aufging und eine Frauenstimme sagte: „Matsumoto Hideto.“ „Hier“, meldete sich hide, sprang auf und beeilte sich die paar Schritte zu ihr zurückzulegen – und dabei keinen Blick zurückzuwerfen. Jetzt war es ohnehin zu spät, um sich noch etwas anzueignen oder auszudenken. An Taijis Rat denkend versuchte er, die Brust ein wenig herauszustrecken und möglichst gelassen auszusehen, doch er fühlte sich, als sprudele ihm der Schweiß aus dem Kopf. Er musste sich auf irgendetwas anderes konzentrieren. Die Frau, der er jetzt folgte, war klein, etwas zu stark geschminkt und sah irgendwie weich aus. Alles an ihr war rund und bewegte sich, wenn sie ging. Sie erinnerte hide an einen Pfirsich. Die Dame mit den schwingenden Hüften führte ihn in ein Besprechungszimmer. An der Stirnseite saßen an einem großen Tisch drei Personen, vor sich Papiere, die hide als seine eigenen erkannte. Hinter ihnen, auf der anderen Seite des Panoramafensters, erstreckte sich das graue Meer von Tokio. Gerne wäre hide hinübergegangen, um einfach mal ein wenig begeistert zu gucken, doch dafür war gerade wohl nicht der richtige Moment. Er zwang seine Aufmerksamkeit zurück zu den beiden Männern und der Frau, während die Vorzimmerdame sich dezent wieder zurückzog. Die Frau zu seiner linken erschien ihm relativ normal, sogar unauffällig, wenn man von ihrem blutroten Lippenstift absah, der sie aussehen ließ, als plane sie einen Opernbesuch. Oder einen Auftritt in derselben, dachte hide, bevor er sich davon abhalten konnte. Der Mann in der Mitte trug eine Brille mit dicken Rändern und erschien ihm wie jemand, der das wohl ironisch meinte. Der Mann auf der rechten Seite hatte einen Pferdeschwanz und hing eine Spur zu lässig in seinem Stuhl. Seine Haare hatten die Farbe von Milchkaffee. Der Brillenträger in der Mitte fing an. „Guten Morgen, Matsumoto-san. Wir freuen uns, dass Sie heute hier sind und hoffen, Sie verzeihen uns die Verspätung. Ich bin Saito Kiyoshi, hier der Leiter, das ist Shimizu Riko, zuständig für die Belange der Studenten und das hier ist Fujimori Akio, unser Chefausbilder.“ „Matsumoto Hideto“, sagte hide und verbeugte sich. „Freut mich, Sie alle kennen zu lernen.“ „Ebenfalls erfreut. Bitte Setzen Sie sich.“ „Also, Matsumoto-san. Vielen Dank für Ihre Bewerbung. Wir haben Ihre Unterlagen durchgesehen und würden uns gerne ein wenig mit Ihnen darüber unterhalten. Aber erst einmal sollten wir uns ein wenig kennenlernen.“ hide nickte und versuchte, sein freundliches Lächeln zu halten, ohne dass es zu aufgesetzt wirkte. Schwierig. Leute ansehen und dabei gleichzeitig die eigenen Züge unter Kontrolle zu halten, war wirklich nicht sein Ding. „Also“, sagte Frau Shimizu und er wandte ihr seine Aufmerksamkeit zu. „Warum möchten Sie hier ausgebildet werden?“ „Uhm…“, machte hide. „Ich mochte immer kreatives Arbeiten. Also, kreatives Arbeiten und schöne Dinge. Und Menschen. Als ich jünger war, dachte ich nicht, mal selbst mehr zu werden als Mittelmaß und ich denke, zurecht.“ Das brachte ihm ein Schmunzeln. „Aber ich dachte immer, es wäre schön, anderen Menschen zu helfen, das…“ Beste? „… Einzigartigste aus sich zu machen, das sie aus sich machen können. Als mich dann jemand, der mich sehr gut kannte, auf Ihre Schule brachte, da dachte ich: Das ist es. Das will ich probieren. Ja. So.“ Er räusperte sich und griff nach dem Wasserglas auf dem Tisch. Nach dem Zustand seines Halses zu schließen, war er vollkommen ausgedörrt! „Wer hat Ihnen denn von uns erzählt?“, fragte Herr Saito. „Meine Großmutter.“ „Ungewöhnlich“, sagte Herr Saito. „Ja“, stimmte Herr Fujimori ihm zu, „Omas gehören jetzt eigentlich nicht zu unserer Zielgruppe.“ hide zwang sich zu einem etwas breiteren Lächeln und zuckte mit den Schultern, als wolle er sagen ‘Tja, lustig wie da Leben so spielt, was?‘. Saito räusperte sich. „Nun denn. Erzählen Sie uns doch ein wenig von sich.“ Einen schrecklichen Moment lang hatte hide das Gefühl, nicht einmal mehr seinen Namen zu wissen. Doch dann klinkte sich sein Hirn glücklicherweise wieder ein. Erleichtert atmete er aus. „Ich… ähm. Puh. Mein bisheriges Leben habe ich in Tateyama verbracht. Ich habe die Highschool besucht mit naturwissenschaftlichem Schwerpunkt, war im Kalligraphie-Club… In der Mittelschule war ich noch bei der Schülerzeitung in der Gestaltung. Genau. Und ja, seit April bin ich fertig. Gerade habe ich zwei kleinere Nebenjobs. In meiner Freizeit spiele ich Gitarre.“ Er hatte es wirklich versucht. Aber mehr war ihm nicht eingefallen. Selten hatte hide sich weniger spektakulär gefühlt. Aber was wollte man auch groß erwarten? Er war nur ein ganz normaler Junge aus einem ganz normalen Ort mit einem ganz normalen… naja, etwas durchwachsenem Leben. „Was arbeiten Sie?“, fragte Frau Shimizu. „Gastronomie“, antwortete hide vage. „Meine Eltern führen einen kleinen Betrieb in die Richtung, dadurch hatte ich da Vorwissen.“ Man konnte alles schon verpacken. Gewusst wie. „Das klang jetzt alles sehr positiv“, schaltete sich Herr Fujimori noch einmal ein, „und trotzdem sind Sie heute hier, weil Sie keinen Abschluss erreicht haben. Das haben Sie jetzt auch sehr geschickt ausgespart. Aber ich muss trotzdem fragen, wie es dazu kam.“ hide blinzelte nicht einmal. Auf die Frage war er vorbereitet, mehr als auf alle anderen. „Mein Vater war krank. Die Situation war für alle Beteiligten sehr anstrengend und belastete auch unsere Beziehung zunehmend. Als ich schließlich damit umgehen lernte, war es zu spät.“ Er ließ die etwas unangenehme Stille sich ein wenig ausbreiten, bevor er fortfuhr. „Wenn Sie meine Unterlagen noch einmal genauer ansehen, dann werden Sie merken, dass meine Leistungen fast ausreichend waren.“ „Ja“, sagte Herr Saito und blätterte noch einmal durch seine Unterlagen. „Die Steigerung ist uns aufgefallen. Gut.“ Wieder meldete sich der Mann mit dem Pferdeschwanz auf der rechten Seite zu Wort, dessen Name hide vor Nervosität bereits wieder vergessen hatte. „Mmh. Aber eben nur fast.“ Er lehnte sich ein Stück nach vorne. „Warum glauben Sie, dass Sie hier erfolgreich sein werden?“ hide nahm noch einen Schluck Wasser um sich Zeit zu kaufen und versuchte, sich nicht verunsichern zu lassen. Die beiden hatten hier eindeutig ein guter Bulle – böser Bulle-Ding am Laufen. Er stellte das Glas wieder ab und richtete den Blick fast unhöflich fest auf den Pferdeschwanz-Mann, während er sagte: „Weil ich mir das hier ausgesucht habe. Ich will es für mich machen. Und wenn ich es nicht schaffe, wäre ich enttäuscht von mir. Enttäuscht von sich selbst zu sein ist schlimmer, als jemand anderen zu enttäuschen.“ „Glauben Sie?“ „Ja.“ Der Pferdeschwanz-Mann sah ihn noch ein paar Sekunden lang an, doch da hide keine Anstalten machte, sich zu erklären, sprach er schließlich weiter. „Na gut. Nehmen wir mal an, Sie schaffen es. Was wollen Sie denn mit ihrem Leben machen?“ Einen Moment lang blickte hide an den drei Menschen vor sich vorbei, hinaus auf die Skyline. So nah. So fern. „Ich… wäre gern Stylist. Und ich würde gerne Mode machen. Vielleicht ein eigenes, kleines Studio. Zuerst würde ich mich gerne noch ein wenig überraschen lassen, was das Leben so bringt. Solange ich jung bin.“ hide versuchte etwas, von dem er hoffte, dass es aussah wie ein verschmitztes Lausbubenlächeln. An den etwas tiefer werdenden Grübchen von Frau Shimizu konnte er sehen, dass er Erfolg hatte. Krass. Warum nur hatten ihn Frauen bisher so nervös gemacht? Frauen waren einfach! Frauen waren klasse! „Nun gut. Vielen Dank für Ihre Offenheit.“ Der Mann mit der Brille griff nach hides Mappe und reichte sie ihm über den Tisch. „Zeigen Sie uns doch ein paar Dinge, von denen Sie glauben, dass sie Ihren Stil am besten repräsentieren und erzählen Sie uns ein wenig darüber.“ hide tat, wie ihm geheißen. Sie gingen ein paar Blätter durch, hin und wieder stellten sie ihm Fragen und diskutierten über seine Ideen. hide spürte, wie seine Nervosität ein wenig nachließ. Es waren gute Fragen, interessierte Fragen. Er brauchte ein wenig, um sich erklären zu können, warum das einen Unterschied machte. Dann wurde ihm klar: Sie nahmen ihn Ernst. Und das machte einen Unterschied. „- und deswegen habe ich hier Seigaiha verwendet. Ja.“ hide lehnte sich wieder ein Stück auf seinem Stuhl zurück, als er mit der Erklärung fertig war. Ein paar Sekunden herrschte Stille. Dann sagte der Pferdeschwanz-Mann: „In Ordnung soweit. Und was haben Sie uns wirklich mitgebracht?“ „Ähm… was?“, fragte hide irritiert. Sein Herz setzte einen Schlag aus und rutschte ihm dann in die Hose. Was passierte hier? Frau Shimizu lächelte nachsichtig: „Fujimori…“ Ah, so hieß der! „Verstehen Sie mich nicht falsch“, sagte also Herr Fujimori mit den aufgehellten Haaren. „Das hier ist nicht schlecht. Aber es ist auch nichts Besonderes. Es ist nicht flippig, es ist nicht hipp! Es flasht mich nicht.“ hide blinzelte. Ihm fiel keine Antwort ein. Die Welt rückte ein ganzes Stück weg, als habe jemand ein Einmachglas über ihn gestülpt. In einem Mini-Tagtraum sah er ich selbst, wie er seine Sachen nahm, aufstand, sich dafür entschuldigte, ihrer aller Lebenszeit verschwendet zu haben und ging. Doch sein Körper bewegte sich nicht. Irgendetwas hielt ihn davon ab, den fixen Gedanken in die Tat umzusetzen. Etwas Besonderes wollte er also. Besonders. Anders. Merkwürdig. Ja. Merkwürdig hatte Taiji gesagt. Merkwürdig konnte er schaffen. Langsam, wie in Trance, lehnte hide sich zur Seite und bückte sich nach seiner Tasche. „Ja. Sie haben Recht. Ich will ihnen eigentlich was anderes zeigen. Und ich verspreche Ihnen – so was haben Sie noch nie gesehen.“ -X- Am gleichen Abend standen Taiji, Pata, Toshi und Yoshiki vor hides Tür. hide befand sich, oder davon gingen sie zumindest aus, auf der anderen Seite und ignorierte ihre Anrufe. Und ihr Klingeln. „hide“, sagte Yoshiki und schlug ein paar Mal unwirsch an die Tür. „hide!“ Bumm. Bumm. Bumm. „Wir wissen, dass du da bist, mach auf!“ Er hörte auf, um zu lauschen. Nichts regte sich. Bumm. Bumm. Bumm. Bumm. „Ich kann das den ganzen Abend machen!“, rief er über sein Gepolter hinweg. „Nein, kannst du nicht“, murmelte Toshi ihm ins Ohr. „Die Nachbarn bringen uns um.“ Yoshiki sah ihn gerade lange genug an, um die Augen zu verdrehen – und hätte fast hide ins Gesicht geschlagen, als die Tür plötzlich aufging. „Verfluchte Scheiße!“, schimpfte hide und schaute böse von einem zum anderen. „Ist es echt zu viel verlangt, wenn man einmal seine Ruhe will? Und hätte einer von euch nicht gereicht? Aber Nein, ihr müsst immer im Viererpack aufkreuzen. Jungs, ihr müsst dringend mehr auslosen!“ „He“, sagte Yoshiki trocken. „Ich freu mich auch, dich zu sehen.“ „Wir dachten, wir fragen mal nach, wie’s gelaufen ist“, hängte Toshi hilfsbereit an. hide warf ihm einen finsteren Blick zu, der die Frage eigentlich schon beantwortete und gleich noch mitteilte, wo er sie sich hinschieben konnte – sich und wahlweise auch allen anderen. „Ich hab gesagt, wir hätten keine Hosen tragen sollen“, frotzelte Taiji mit Blick auf hides Zustand: er trug nämlich schon wieder nur Unterwäsche. „Jetzt bringen wir ihn in Verlegenheit.“ hide verschränkte die Arme und ein paar Sekunden passierte nichts. „Dürfen wir reinkommen oder stehen wir hier jetzt?“, fragte Pata schließlich. Der Blick des Leadgitarristen wanderte zu ihm, er zauderte, dann seufzte er. „Ja, gut, von mir aus…“, sagte er unwillig. Es lag vermutlich eher an seiner eigenen Beziehung zu Pata als am Anliegen der Gruppe. „Ok“, machte Toshi verunsichert, während Yoshiki bereits wesentlich weniger vorsichtig in die Wohnung trat. „Ich muss jetzt doch fragen: Wir streiten nicht, oder?“ hides Blick wanderte zurück in seine Richtung und es wirkte, als müsse er einen Moment wirklich darüber nachdenken. „Nein“, fauchte er dann. „Ich hatte nur einen schlechten Tag, lass mich.“ Um weitere Nachfragen abzublocken, drehte er sich um und schlurfte wieder nach drinnen. Als Yoshiki seine Schuhe ausgezogen hatte und ihm gefolgt war, stand er gerade am Kühlschrank und nahm eine milchig blaue Flasche heraus. „Was machst du denn da?“, stöhnte Yoshiki ungläubig. „Ich hör Musik und rauch die zweite Schachtel. Nach was sieht’s denn aus.“ Unbeeindruckt ging hide an ihm vorbei und kuschelte sich zurück in sein Bett, wo sie ihn anscheinend auch gestört hatten. „Aber jetzt, wo ihr schon da seid, kann ich auch was trinken.“ Er schraubte die Flasche auf. „… krieg ich eine?“, fragte Taiji, der hinter Toshi im Zimmer aufgetaucht war, und setzte sich neben hide aufs Bett. hide reichte ihm die Zigaretten und nahm einen tiefen Schluck Sake. Taiji streckte die Hand nach der Flasche aus. „Taiji, wir versuchen, hide hier rauszubringen und nicht dich hier rein!“, zischte Yoshiki, während der Bassist einmal trank. Es war zwar irgendwie auf eine verdrehte Weise gut zu sehen, dass hide scheinbar noch genug Anstand hatte, um sich an das Versprechen zu erinnern, das Yoshiki ihm abgerungen hatte, doch das hier war auch nicht wirklich die Lösung. „Jemand muss mit ihm mittrinken“, rechtfertigte Taiji. „Sonst ist es traurig. Ich opfere mich für das Kollektiv.“ Yoshiki schüttelte den Kopf, aber gab an dieser Front auf. „hide, komm, hör auf damit.“ Er setzte sich an die Bettkante und legte eine Hand auf hides Knie. „Wieso?“, fragte hide gleichgültig und wich seinem Blick aus. „Ihr seid hier und wenn du mir eine Viertelstunde gibst, bin ich betrunken. Ist fast eine Party. Macht’s euch bequem.“ Er machte eine ausufernde Handbewegung über sein Reich und winkte mit der anderen auffordernd Taiji, ihm sein Getränk zu geben. „Ok, das reicht jetzt“, sagte Yoshiki mit Nachdruck und wand hide die Flasche aus der Hand, kaum dass er sie zurückerhalten hatte. „Stopp das Trinken mal für eine Minute und erzähl uns, was passiert ist.“ Mit einem tiefen Durchatmen setzte hide sich ein Stück auf und fuhr sich einmal durch die wuscheligen Haare. „Ich weiß nicht! Ich bin rein, wir haben geredet, es hat sie nicht umgehauen. Und diese ganzen Leute da, die waren so… schick. Ich hab mich gefühlt, als käme ich aus Hokkaido. Gott!“ hide stöhnte und ließ sich mit dem Gesicht voran seitwärts in die Kissen sinken. Dankenswerter Weise drehte er den Kopf wieder zur Seite, bevor er weitersprach. „Ich war beschissen! Am Ende war ich so verzweifelt, ich hab ihnen die Skizzen gezeigt, die ich für uns gemacht hatte!“ „Die, die du mir jetzt schon seit einem halben Jahr zeigen willst?“, fragte Yoshiki. Taiji griff nach der Flasche und Yoshiki ließ los, ohne noch groß darauf zu achten. „Ja…“ hide setzte sich auf und schwang die Beine an Taiji vorbei aus dem Bett. „Ich muss duschen…“ Die Schande abwaschen. Und, so wie er roch, auch einiges an morgendlicher Nervosität. Er erhob sich müde. „Aha.“ Yoshiki warf ihm von unten her einen Blick zu. „Zeig her.“ „Aber… die sind… immer noch unfertig und… gnah.“ Unwillig wandte sich hide ab, ging aber nicht. Sein Blick wanderte kurz über Pata auf der Sofalehne und Toshi, der sich auf die Lehne des Schreibtischstuhls gestützt hatte und die Ereignisse von dort beobachtete. Letzterer nickte aufbauend, doch während hide die Geste noch verarbeitete, drang wieder Yoshikis Stimme an seine Ohren. „Du hast sie heute wildfremden Leuten gezeigt. Es kann wohl kaum schlimmer werden.“ hide seufzte. „Zeig sie mir“, wiederholte Yoshiki. Eins musste man ihm lassen, er war beharrlich. hide seufzte noch einmal und gestikulierte dann lustlos zu seiner Tasche neben dem Schrank hin. „Blaues Buch. Du musst von hinten anfangen. Ist ein Prozess. Und so. Scheiße.“ Er tappte einmal durchs Zimmer, ums Sofa herum, wusste dann nicht, was er weiter mit sich machen sollte und schaute einmal in den Kühlschrank, weil er gerade davorstand. „Is‘ was zu essen da?“, fragte Taiji. Yoshiki war aufgestanden, um nach dem Skizzenbuch zu suchen. „Taiji!“, murrte Toshi halblaut. „Wir sind doch nicht zum Essen hier.“ „Du vielleicht nicht.“ Der Bassist schenkte ihm einen zutiefst gleichgültigen Blick. „Reis…“, sagte hide. „Mit was?“ „Irgendwas Braunem. Keine Ahnung.“ Yoshiki hatte das Skizzenbuch gefunden und setzte sich neben Pata aufs Sofa. „Wie kannst du keine Ahnung haben?“, fragte Taiji ungläubig. „Ist das dein Kühlschrank oder nicht?“ „Das is‘ von Pata, Mann. Frag ihn.“ Taiji wandte sich an ihren zweiten Gitarristen. „Was geht? Machst du jetzt Catering? Und wenn ja, wo unterschreib ich?“ Pata, der sich in die Sofaecke gesetzt hatte, warf ihm einen seiner irritierend ruhigen Blicke zu. „Meine Tante schickt mich manchmal nach ihm sehen. Ich hab da wenig mit zu tun.“ „Genau“, bekräftigte hide, obwohl es an dieser Stelle wenig Sinn machte. „Ja, gut. Kann ich den Reis haben oder versohlt mir dann irgendwer hier den Arsch?“, fragte Taiji. hide nahm den Reis aus dem Kühlschrank, schlug die Tür wieder zu und kehrte zu Taiji zurück, um ihm das Essen zu reichen und die Flasche abzuluchsen. Er nahm noch einen tiefen Schluck und stellte sie im Vorbeigehen auf dem Schreibtisch ab. „Ok“, sagte er dann und baute sich mit verschränkten Armen auf der anderen Seite des Couchtischs auf, Yoshiki gegenüber. „Lange genug geguckt, auf geht’s. Her mit der Kritik.“ Yoshiki klappte das Buch zu, legte es vorsichtig auf dem Tisch ab und neigte den Kopf zur Seite. „Gewagt“, sagte er schließlich. „Gewagt gut oder gewagt schlecht.“ „Gewagt gut.“ Er lächelte. „hide, ich dachte nicht, dass ich das mal sage, aber ich glaube, wenn du da dran noch ein wenig arbeitest, würde ich vielleicht so rumlaufen.“ „Wirklich? Du sagst das nicht nur, weil ich einen schrecklichen Tag hatte?“ hide lächelte nicht zurück. „Nein.“ hide sah ihn einige Sekunden lang an und es war unklar, ob er gleich aus der Haut fahren oder anfangen würde, zu heulen. Dann jedoch seufzte er und schien dabei in sich zusammenzufallen wie ein Ballon, der Luft abließ. Müde machte er eine auffordernde Handbewegung in Richtung seines Gegenüber und wandte sich ab. „Ich geh duschen. Komm mit.“ „Was, unter die Dusche?“, fragte Yoshiki perplex, stand aber auf. Auch, wenn hide inzwischen im Flur war, konnte er an seinem Tonfall hören, dass er die Augen verdrehte, als er antwortete: „Nein, Dummbatz. Ich hab noch Blondierung. Blondieren wir mir die Haare.“ Skeptisch zog Yoshiki die Augenbrauen zusammen und folgte ihm ins Bad. hide hatte bereits ein Handtuch aus dem kleinen Schränkchen genommen und kramte ganz hinten nach der Blondierung. „Sicher?“ Der Gitarrist zuckte mit der linken Schulter. „Ist jetzt auch schon egal.“ Die Packung in der Hand erhob er sich wieder. „Haben Sie gesagt, wann sie Bescheid geben?“, fragte Taiji. Er war ihnen gefolgt, lehnte an der Badezimmertür und sah dabei zu, wie hide Pulver und Entwickler in die kleine Plastikschüssel kippte. Nebenbei nahm er einen weiteren Löffel Reis mit irgendwas Braunem. „Bis zum Wochenende“, sagte hide und griff nach dem beiliegenden Pinsel, um den Inhalt der Schüssel zu einem gleichmäßigen Brei zu verrühren. „Is‘ ja gut“, meinte Taiji kauend. „Zumindest spannen sie dich nicht ewig auf die Folter.“ „Ja…“ hide warf die leere Schachtel achtlos zur Seite. „Was auch immer, nicht… Und jetzt Tür zu.“ -X- Am darauffolgenden Samstag probten sie. Yoshiki saß hinter dem Schlagzeug und blätterte durch seine Änderungen vom letzten Mal, Taiji schaute in den Kühlschrank. Pata und Toshi hatten sich auf dem Sofa niedergelassen und führten ein Gespräch über Baseball. Aus den Augenwinkeln beobachtete Yoshiki den Zeiger seiner Armbanduhr, der langsam weiter vorrückte. Doch gerade, als der große Zeiger auf ein Uhr sprang, ging die Tür auf. Die Unterhaltung auf dem Sofa erstarb und Taiji schloss den Kühlschrank, ohne etwas herausgenommen zu haben. „Und?“, fragte Yoshiki. Es gab gerade nur eine wichtige Frage hier. „Ich… hab’s geschafft“, sagte hide tonlos. „Nein!“, rief Taiji, ein breiter werdendes Grinsen auf seinem Gesicht. „Doch“, sagte hide und schloss die Tür. Toshi runzelte irritiert die Stirn. Gerade hatte er noch seine Glückwünsche aussprechen wollen, doch hide wirkte ein wenig gedrückt. „Alles in Ordnung? Freut dich das gar nicht?“ „Ich freu mich! Ich kann’s nur… noch nicht fassen.“ hide ging zu seinem Amp hinüber, stellte seine Gitarrentasche ab und suchte nach dem Ende des richtigen Kabels irgendwo auf dem Boden. „Ich warte noch drauf, dass sie mich nochmal anrufen und sagen, dass es ein Missverständnis war.“ Er lachte beschämt und bückte sich nach dem Kabel. „Ich glaub’s erst, wenn ich’s sehe, Leute.“ „Vollpfosten!“ Taiji ging die paar Schritte zu ihm hinüber und packte hide einen Arm um die Schulter. Es erinnerte mehr an einen Schwitzkasten als eine Geste freundschaftlicher Zuneigung. „Jetzt glaub es und freu dich anständig!“ „Ok, ok. Ich versuch’s.“ hide lachte. Es klang nicht ganz so entspannt wie normal gewesen wäre, doch es schien Taiji zu reichen, denn er ließ ihn los. „Wir sollten das feiern“, stellte Toshi fest. Yoshikis Blick ließ ihn anhängen: „Nach einer produktiven Probe. So produktiv. Ja.“ Und so machten sie es. Sieben Stunden später saßen sie wieder bei hide. Der Proberaum hatte durch diese Option wesentlich an Flair verloren und fast tat es Yoshiki ein wenig leid darum. Andererseits war es vermutlich der Sache gar nicht abträglich, Arbeit und Freizeit zu trennen. Sie hatten auf dem Rückweg Takeout, Snacks und ein paar Flaschen Bier gekauft, hide hatte die Ramones aufgelegt und jetzt machten sie sich einen ziemlich schönen Abend. Das hieß, alle außer Yoshiki. Er war mit dem Auto da und anderen beim Trinken zuzusehen war wesentlich weniger lustig als selbst zu trinken. Vielleicht, weil man dann nicht so merkte, wie bescheuert alle wurden. Er blieb also auf dem Sofa sitzen und schaute abwesend in sein Glas Wasser, bis schließlich irgendwann eine Hand auf seiner Schulter landete. Es war hides. Mit einem etwas seltsamen Lächeln beugte der Gitarrist sich zu ihm hinunter und flüsterte: „Wir müssen reden.“ -X- Sie zogen Schuhe an, verließen erst die Wohnung und dann das Haus. Yoshiki folgte hide und sie gingen die Straße hinunter, immer auf den Ozean zu. „Also“, fragte Yoshiki schließlich, als sie an der Küstenstraße angekommen waren, der letzte Asphalt bevor der Sand begann. „Worüber willst du reden?“ hide zog eine Augenbraue hoch und grinste schief, doch seine Augen grinsten nicht mit. „Yoshiki. Ich hab mit Taiji gesprochen, ok?“ Abrupt blieb der Schlagzeuger stehen. „Er hat dir das erzählt?“ Yoshiki konnte spüren, wie ihm das Blut in die Wangen schoss und seine Fingerspitzen kalt wurden. Taiji war so tot! „Ja, er ist mein Freund, Mann. Natürlich hat er mir das erzählt. Ich hätte es lieber von dir gehört.“ Yoshiki ignorierte die offensichtliche Frage in hides Worten und starrte, hides Blick ausweichend, aufs Meer hinaus, während er sich langsam wieder in Bewegung setzte. Die Herbstsonne wärmte seinen Rücken. „Also?“, entschloss sich hide, der gezwungenermaßen neben ihm her schlenderte, schließlich doch zum direkten Weg. „Wieso hast du nicht einfach mit mir geredet?“ Ein paar Meter sagte Yoshiki nichts, hob nur die Hand, als überlege er sich, an seinen Nägeln herum zu kauen. Doch er beherrschte sich noch rechtzeitig und ließ die Hand mit einem Seufzen wieder sinken. „Ich dachte, vielleicht kommt es nie dazu. Ich dachte… keine Ahnung.“ Er warf einen flüchtigen Blick zur Seite. hide sah ihn an und Yoshiki konnte spüren, wie sein Blick sich in seine Schläfe und seinen Hinterkopf bohrte, als er wieder in Richtung Meer blickte. Nach einigen langen Sekunden wurde ihm klar, dass hide diese Antwort nicht reichte und er scheinbar beschlossen hatte, die Stille auszuhalten. Wenn nötig, würde er ihn den ganzen Abend lang anstarren. „Ich bin nicht auf alles stolz, was ich an Gedanken habe“, murmelte Yoshiki schließlich. Er hatte in seiner Jackentasche einen losen Faden gefunden und spielte daran herum. „Aber ich bin auch kein guter Lügner. Solche Gespräche… sind nicht…“ Yoshikis Stimme verlor sich, weil er nicht wusste, wie er seine vage Angst beschreiben sollte. Einfach? Gesund? Mein Ding? Der Freundschaft zuträglich? Während er nachdachte, wurde er langsamer und langsamer und blieb schließlich stehen. Ein großer Teil von ihm wünschte sich, der Gitarrist würde es einfach dabei bewenden lassen. Er hatte dieses Gespräch vorher nicht wirklich führen wollen, er wollte es jetzt nicht. Doch hide zog eine Augenbraue hoch und sagte: „Ich hab auch kranke Gedanken manchmal. Also los. Schockier mich.“ Yoshiki seufzte noch einmal und ließ sich schwer auf das Mäuerchen fallen, das den Sand von der Straße trennte. „Ich… Ich… wollte nicht, dass du aufgenommen wirst.“ hide sah auf ihn hinab und nickte ausdruckslos. „Das hab ich so verstanden, ja.“ Yoshiki lächelte schwach. Das war noch der weniger schlimme Teil. „Erst dachte ich, es liegt vielleicht nur daran, dass du dann weggehst und ich dich nie wieder sehe und… keinen Leadgitarristen mehr habe. Aber dann hab ich drüber nachgedacht und… das ist es gar nicht.“ Ein Stirnrunzeln machte sich auf dem oberen Drittel von hides Gesicht breit. „Ok. Was ist es dann?“ Noch einmal tief durchatmen. Dann beschloss Yoshiki, es hinter sich zu bringen. „Es… verunsichert mich, wenn du glücklich bist. Und… wenn ich ehrlich bin, gefällt es mir nicht.“ „Ok“, sagte hide nach einem sehr langsamen Atemzug und einem halben Nicken noch einmal und trat von einem Bein auf das andere. Standbein – Spielbein. „Wow. Ok. Das… sticht jetzt ein bisschen mehr, als ich dachte, dass es würde… Aber warum?“ Schweigend starrte Yoshiki auf den Gehweg neben seinen Füßen. „Weil ich dich sehr gern mag“, sagte er schließlich, ohne hide anzusehen. „Ich hab das Gefühl, als wären wir… unglaublich schnell unglaublich eng geworden. Du und ich. Und das macht mir Angst.“ hide legte den Kopf schief, betrachtete Yoshiki und setzte sich nach einigen Sekunden der Unschlüssigkeit neben ihn auf das Mäuerchen. „Warum?“ „Weil... weil ich…“ Yoshiki brach ab. Er wusste nicht, wie er sich erklären sollte. Bindungsangst traf es nicht. Oder traf es Bindungsangst? Scheiße, Nein. Er war durch, aber er war nicht so durch! „Ich bin sehr leidenschaftlich“, begann er langsam noch einmal, „wenn ich etwas wirklich mag. Und wenn es verschwindet, dann… kann ich nicht damit umgehen. Und es ist ok, wenn es… Sachen sind. Oder Musik oder so. Das kann ich kontrollieren. Oder“, Yoshiki hob abwehrend die Hand, weil hide den Mund aufgeklappt hatte, „ich kann mir zumindest einreden, dass ich es kann. Aber Leute… Leute sind so…“ Seine schlanke Hand beschrieb eine kleine, akzentuierende Bewegung. „Unberechenbar.“ Er hob den Blick zu dem Jungen neben sich. „Ich versuche, bei nicht zu vielen Menschen leidenschaftliche Gefühle zu haben. Das… das führt zu nichts.“ Eine halbe Minute schien hide nicht zu wissen, was er sagen sollte. Zwei Autos fuhren vorbei, dann war es wieder ruhig. „Klappt das?“, fragte er schließlich. Yoshiki warf ihm einen flüchtigen Seitenblick zu und wandte seine Augen dann mit der Andeutung eines Schulterzuckens wieder ab. „Nicht so gut.“ „Dachte ich mir.“ hide nickte, mehr zu sich selbst. „Du bist da gar nicht der Typ für.“ Einige Sekunden lang starrten sie schweigend vor sich hin, Yoshiki auf seine Knie und hide angestrengt in den Ferne. „Also…“, sagte der Gitarrist dann langsam, „hättest du mich lieber unglücklich? Damit ich… kontrollierbar bin?“ „Nein… Ich weiß nicht!“, gestand Yoshiki etwas überfordert. „Ich… Nein. Ich will natürlich, dass du glücklich bist! Es ist nur… ich… ich bin von Natur aus eher unglücklich, glaub ich. Und als es dir auch so schlecht ging, da wusste ich, dass du mich – uns, was auch immer – brauchst. Und das war schön, weil dann… war ich nicht alleine unglücklich. Aber wenn du jetzt total durchstartest, dann brauchst du mich nicht und dann bist du vielleicht irgendwann weg und dann bin ich wieder allein. Und ich kann nichts dagegen machen. Und das ist… schlimm für mich.“ hide runzelte die Stirn. „Was ist mit Toshi?“ Es war nicht die einzige Frage, die ihm hierzu eingefallen wäre. Aber die, die mit der geringsten Wahrscheinlichkeit in einen Streit von epischer Größe ausarten würde. Der Schlagzeuger seufzte tief. „Versteh mich nicht falsch. Toshi war immer da. Toshi ist toll. Toshi zieht mich hoch. Aber… er ist immun gegen Scheiße. Er ist nicht mit mir da unten.“ Und das machte einen großen, einen riesengroßen Unterschied. hide nickte schweigend und brauchte wesentlich länger für eine Antwort als der Junge neben sich. Immer noch starrte er nachdenklich ins Nichts. „Ich mach dir nichts vor“, sagte er schließlich. „Das schockiert mich alles ein bisschen.“ „Das sollte es“, antwortete Yoshiki dumpf. Er lehnte sich noch ein Stück weiter nach vorne und knetete seine Fingerspitzen. Da war eine Kälte in ihnen, die nichts mit dem Herbst zu tun hatte. Eine kleine Weile sagte keiner von ihnen etwas. Dann wandte hide sich wieder in seine Richtung. „Warum bist du da unten?“ Eine einfache Frage. Mit einer einfachen Antwort. „Mein Vater hat sich umgebracht, als ich zehn war. Es ist jetzt lange her. Aber… man hat Fragen.“ Es war erstaunlich einfach auszusprechen, wenn man sich mal überwunden hatte. Erstaunlich einfach und doch so schrecklich. „Ah“, sagte hide schlicht. „Verstehe.“ Er sagte nicht ‘Das tut mir leid‘. Und Yoshiki fühlte eine sehr seltsame Form von Dankbarkeit dafür. Sie lauschten dem Rauschen des Meeres und dem Kreischen der Möwen, während ihre Schatten allmählich länger wurden. Yoshikis Zehen begannen ebenfalls zu frieren. Doch er fand nicht den Willen, aufzustehen und ein paar langsame Schritte auf und ab zu gehen, so wie hide es gerade tat. „Also“, begann hide, als er das nächste Mal an ihm vorbeikam. „Wie können wir zwei das machen, hu?“ „Was genau jetzt?“, fragte Yoshiki leise zurück. Es stand die große Möglichkeit im Raum, dass er in der letzten halben Stunde die ihm drittwichtigste Person auf Gottes schöner Erde vergrault hatte. „Naja.“ hide hob eine Schulter und ging mit einem Seufzen vor ihm in die Hocke. Er musste sich an Yoshikis Knie abstützen. „Du magst mich, ich mag dich. Warum also ist das so schwierig?“ Yoshiki schaute an hides Beinen vorbei auf seine Zehen. Das war vermutlich das Gute an hides etwas selbstzerstörerischer Ader: wie viele andere Leute würden ihn nach so einer Enthüllung noch mögen? Ihm war auf einmal nach Lachen. Und auch ein bisschen zum Heulen. „Ich bin nicht gut darin, Dinge einfach zu machen.“ hide lachte auf. „Ich weiß. Aber ohne Mist jetzt.“ Er lehnte sich nach vorne und guckte Yoshiki von unten her an. Zum Heulen, dachte Yoshiki. Ihm war eindeutig zum Heulen. „Ich bin glücklich, du bist… nun, so halbwegs glücklich, wir mögen uns – kann es nicht einfach mal schön sein? Einfach mal… sein? So?“ „Ich weiß nicht. Kann es?“ „Es ist echt hart, mit dir zu diskutieren.“ „Ich weiß.“ hide seufzte, doch da war der Anflug eines Lächelns an seinen Mundwinkeln. „Ok, hör zu. Ihr seid meine Freunde jetzt. Irgendwie. Ich hatte nie wirklich so was. Du musst mir vertrauen, dass das irgendwie… was bedeutet, ok?“ Er fing Yoshikis zögerlich gehobenen Blick auf und lächelte etwas breiter. Eine leichte Falte bildete sich zwischen Yoshiki Augenbrauen, während er hide ausdrucklos ansah und vielleicht überlegte er ein paar Sekunden zu lang. Aber es war auch schwer. Das Leben hatte ihn gelehrt, dass man vorsichtig sein musste, wem man sein Vertrauen – oder noch mehr an Gefühlen – schenkte. Und von allen Menschen auf dieser Welt sollte es hide sein? Der merkwürdige Junge mit den Stimmungsschwankungen und dem Drang zu lügen, von dem er fürchtete, dass er stellenweise nur einen Schritt vom Alkoholismus entfernt war? Und doch sah hide ihm in die Augen. Nach allem, was Yoshiki über ihn wusste, musste das hart für ihn sein. Und er lächelte immer noch. Wie konnte er? Wie? Vielleicht, dachte Yoshiki und er hätte nicht sagen können, woher dieser Gedanke kam, sollte das hier einfach sein. Deswegen versuchte es, so hartnäckig einen Weg zu finden. Yoshiki blinzelte noch einmal, knetete noch einmal seine Fingerspitzen, atmete noch einmal ein und wieder aus. Und dann traf er eine Entscheidung. „Ok.“ Seine Stimme verließ ihn irgendwo zwischen den beiden Buchstaben. „Gut.“ hide patschte ihm mit den Handflächen auf die Oberschenkel und stand wieder auf, um neben Yoshiki zu treten, näher an das Mäuerchen. Die Hände steckte er gegen die beginnende Abendkälte in die Hosentaschen. „Schöner Sonnenuntergang“, stellte er murmelnd fest und betrachtete hingebungsvoll etwas weit draußen auf dem Meer. Yoshiki nutzte die Chance, um sich einmal über die Augen zu wischen. Das ermöglichte ihnen beiden, so tun, als wäre es nicht passiert. Ein kühler Windstoß wehte ihnen die Haare ins Gesicht. Yoshiki leckte sich einmal über die trockenen Lippen. Sie schmeckten nach Salz. Woher auch immer. Er wischte sich die Haare aus der Stirn und klemmte sie so gut es ging hinters Ohr. „Und was passiert jetzt?“, fragte er seitwärts nach oben in Richtung hide. „Naja“, sagte dieser und wandte sich wieder vom Ausblick ab, um in einem Halbkreis um Yoshiki herum zu tigern. „Ich werd nach Tokio ziehen müssen. Da führt kein Weg dran vorbei.“ Yoshiki merkte, dass hide sein Bestes tat, möglichst zerknirscht ausziehen, doch gleichzeitig versuchte ein kaum zu unterdrückendes Lächeln, sich auf seinem Gesicht breit zu machen. Skeptisch zog er die Mundwinkel hoch und hide gab nach. „Ja! Ja, ich geb’s zu, ich find das spitze! Tokio, Mann! Ich komm endlich hier weg und seh was Neues und… Tokio, einfach! Geile Scheiße! Ouh, komm, Yo-chan!“ Er packte Yoshiki an der Schulter. „Freu dich für mich!“ Und Yoshiki wollte. Wirklich. Doch er schaffte es einfach nicht, sein Gesicht zum Lächeln zu bewegen. Stattdessen fragte er: „Und was wird dann aus uns?“ Eigentlich wollte er die Antwort gar nicht. Doch es musste sein. Immer noch Yoshikis Schulter drückend zog hide eine nachdenkliche Schnute. „Naja, ich dachte… vielleicht kommt ihr mit?“ „Was?“, fragte Yoshiki überrumpelt. Er hätte genauso gut auch Hä sagen können. „Naja. Warum nicht? In Tokio ist die Action. Die Welt kommt nicht nach Tateyama, du musst zu ihr gehen. Außerdem…“ Er fuhr Yoshiki einmal durch die ohnehin bereits aus der Fassung geratene Mähne. „Wie lange willst du noch bei Mama wohnen? – Scheiße Mann, du brauchst dringend irgendwie Spülung oder so, das fühlt sich an wie Heu.“ Yoshiki blinzelte ein paarmal perplex und ließ es über sich ergehen. Nur langsam begann sein Gehirn, sich um die veränderte Situation herum zu winden. Ja. Ja! Warum eigentlich nicht? In Tokio wäre er näher an der Zielgruppe, näher an der Industrie, näher an… an allem. Die Vorstellung der Möglichkeiten ließ ihn gegen seinen Willen lächeln, wenn auch nur schwach. „Ja. Du hast Recht. Tokio wäre schon… ziemlich abgefahren. Solange ich nicht drüber nachdenke, an wie vielen Ecken und Enden das schief gehen kann.“ hide grinste wissend und zog ihm mit den Fingern einen ungefähren Seitenscheitel, bevor er die Hand zurück in die Tasche steckte. „Ich bin sicher, das wirst du noch ausgiebig tun.“ Diesmal grinste Yoshiki zurück. „Und ich werde dir ausführlich davon berichten.“ „Alles andere hätte mich enttäuscht. So, komm. Gehen wir zurück. Es ist kalt und ich hab Hunger.“ Er streckte Yoshiki die Hand hin und dieser ergriff sie und ließ sich auf die Beine ziehen. Obwohl er stand, hielt hide seine Hand aber noch etwa fünf Sekunden länger fest, als nötig gewesen wäre. „Gut, dass du mitkommst“, sagte er und es klang sehr ernst, nicht auf eine strenge, angespannte Art, sondern auf eine sehr sanfte. „Gut, dass du gefragt hast.“ hide ließ seine Hand los und machte sich auf den Nachhauseweg. „Yeah.“ -X- Als sie zurückkehrten, saß Pata mit hides Gitarre auf dem Schoß genau dort, wo sie ihn zurückgelassen hatten. Taiji hatte die Chips gegessen und Toshi saß auf dem Bett und blätterte durch eines von hides zahlreichen Magazinen. Alle drei sahen auf, als die Wohnungstür ins Schloss fiel. „Hallo“, sagte Yoshiki etwas unbehaglich. Auf einmal wusste er etwas mit der Aussage anzufangen, dass man immer am meisten zur Konversation zu einer Party beitrug, wenn man nicht dort war. „Wir sind wieder da“, steuerte hide unnötigerweise bei und unterbrach damit Yoshikis Gedankengang. „Mann!“ Mit zwei Schritten war er zum Couchtisch hinübergeflitzt und hob die Chipstüte an. Leer. Offensichtlich verstimmt knüllte er sie zusammen. „Schön, dass du mir was aufgehoben hast“, murrte er und warf Taiji den Plastikfolienball an den Kopf. Er prallte ab und rollte einige Meter über den Boden davon, wo er sich knisternd langsam wieder entfaltete. Taiji rieb sich unbeeindruckt die Stirn und wechselte wenig dezent das Thema, indem er fragte: „Und? Habt ihr geredet?“ Yoshiki versuchte, ihm einen Blick zuzuwerfen, der deutlich sagte, wie sauer er war. Doch abgesehen davon, dass der Bassist es vermied, ihn anzusehen, spürte er auch, dass er nicht in der Lage war, die nötige emotionale Energie aufzubringen. Er fühlte sich ein wenig leer. Es war für heute wohl gut mit großen Gefühlen. „Ja“, antwortete hide. „Und in der Tat haben wir eine Ankündigung. Ich bitte um Aufmerksamkeit. Mmh. Ich brauch – braucht man ein Glas für so was?“ Er sah sich um, als erwarte er, dass plötzlich ein Sektglas in seiner Wohnung erschien, an das er mit einer ebenfalls auf mysteriöse Weise aufgetauchten Kuchengabel klopfen konnte, um sich so Gehör zu verschaffen. Yoshiki trat neben ihn und murmelte ihm ins Ohr: „Es ist nicht so offiziell.“ „Ja. Gut. Also.“ hide wandte sich dem Raum zu und breitete die Arme aus. „Gentlemen, ich geh nach Tokio“, verkündete er, mit einem halben Seitenblick zu Yoshiki. „Und ich komm mit“, ergänzte dieser. „Ihr macht was?“, fragte Toshi verdattert. Yoshiki nickte. „Wir gehen nach Tokio. Und wir hoffen, dass ihr mitkommt.“ „Wer war noch nicht, wer will nochmal?“, rief hide in die Runde, „Tokio, eine neue Runde, eine neue Runde!“ „Jo“, sagte Taiji und klopfte sich zweimal aufs Knie. „Tun wir’s.“ Er schien nur darauf gewartet zu haben. „Ernsthaft?“ hide schaute überrascht. „Das ging ja schnell.“ „Wenn sich nicht bald was an der Gesamtsituation verändert“, sagte Taiji sehr ruhig, „fress ich den Putz von der Wand.“ „Was’s‘ mit dir?“, fragte hide in Richtung Pata, der sich in seiner Sofaecke abgesehen von seinen Fingern auf den Saiten gar nicht bewegt hatte. „Ich muss nachfragen“, sagte er nach etwas, das wohl wie ein kurzes Nachdenken aussehen sollte, aber niemanden täuschte: Pata wirkte nicht im Geringsten überrascht von dieser Entwicklung. „Wen?“, fragte Taiji in einer Art abfälliger Belustigung. „Mama?“ „Nein“, erwiderte Pata ruhig. „Und du musst gar nicht so tun. Als müsstest du deine Eltern nicht fragen.“ Taiji schob den Unterkiefer ein Stück vor und sagte nichts. In den Augenblicken der Stille, die folgte, richteten sich nacheinander alle Augen auf den einzigen im Raum, der noch nichts gesagt hatte. „Toshi?“ fragte Yoshiki schließlich. Dieser verzog ein wenig beschämt, aber gleichzeitig unschlüssig das Gesicht und zupfte an einer überlangen Haarsträhne herum. „Tokio, hu?“, murmelte er. „Wow…“ Das hier ging sehr plötzlich sehr schnell. Empfand das denn sonst niemand als bedrohlich? Die Matratze sank ein Stück ein, als Yoshiki sich neben seine Füße auf die Bettkante fallen ließ. „Hu was?“ „Nichts. Nur Hu.“ „Was, du… willst nicht mit?“, erkundigte Yoshiki sich ungläubig und griff nach Toshis großem Zeh, um ihn ein wenig hin und her zu wackeln. „Komm schon. Du kannst mich nicht allein nach Tokio gehen lassen.“ „Da hat er Recht“, sagte Taiji trocken und stand auf, um die Kekstüte einzusammeln und den Müll zu verfrachten. „Wenn seine Mama nicht mehr auf ihn aufpasst, müssen wir uns das in Schichten aufteilen.“ „Ahahaha. Das sagt genau der richtige“, erwiderte Yoshiki und warf ein Augenrollen über die Schulter. Doch schnell drehte er sich zu Toshi zurück. „Toshi. Das wird voll das Abenteuer. Sag ja zum Abenteuer.“ „Ja…“, begann der Sänger zögerlich und wie zu erwarten folgte ein Aber. „Aber ich kenn doch in Tokio niemanden. Wo und von was sollen wir denn leben? Tokio ist teuer und ich hab kein erfolgreiches Familienunternehmen im Hintergrund.“ Irritiert runzelte sein Freund die Stirn. „Ich dachte, wir ziehen zusammen?“ Jetzt blinzelte Toshi ebenso irritiert zurück. „Was?“ „Du hast doch gesagt, du willst mit mir zusammenwohnen.“ „Wenn wir fünfzig sind!“, entgegnete Toshi. „Sieh es als Testlauf.“ Toshi seufzte. So was von nicht überzeugt. „Komm schon“, beharrte Yoshiki. „Das wird spannend! Wir schaffen das schon. Wir schaffen alles. War doch klar, dass das Risiko irgendwann kommt. Man muss manchmal auch einfach… äh…“ „…was Bescheuertes tun“, vervollständigte hide. Er saß jetzt rittlings auf der Sofalehne und baumelte mit dem linken Bein. „Und ganz, ganz fest daran glauben.“ Langsam, ganz langsam hob Toshi den Blick von Yoshiki in seine Richtung. hide zeigte ihm Daumen hoch und grinste. Toshi senkte den Blick wieder. Yoshiki wackelte in freudiger Erwartung mit den Augenbrauen. Das hatte er ihn wirklich noch nie tun sehen. Er seufzte noch einmal, sehr schwer diesmal. „Na gut“, sagte er dann schicksalsergeben. „Von mir aus.“ Yoshiki drehte sich um und grinste in die Runde. „Ich glaube, das ist Toshis Art zu sagen: Tokio, Baby!“ Kapitel 18: In a Town Without a Name ------------------------------------ Ein kühler Wind, der leicht nach Benzin schmeckte, fuhr Toshi durch die Haare, als er auf dem Balkon stand und alles auf sich wirken ließ. Unten auf der Straße brauste der Verkehr vorbei, doch hier im zehnten Stock hörte es sich fast an wie Meeresrauschen. Irgendwann. Wenn man es sich nur lange genug einredete. Toshi schaute noch einmal über das Meer aus Beton, das sich vor ihm in alle Richtungen erstreckte. Dann trat er zurück nach drinnen, lächelte flüchtig der Maklerin zu und ging hinüber zu der kleinen Einbauküche, wo Yoshiki und seine Mutter standen. „Ach Yoshiki“, sagte letztere gerade und klappte den Küchenschrank zu, „ich weiß nicht. Bist du dir sicher, dass du hier glücklich wirst?“ Toshi verstand ihre Zweifel gut. Er war sich auch nicht ganz sicher, ob er hier glücklich sein würde. Die Maklerin kam mit einer älteren Frau herüber, um ihr irgendetwas an der Spüle zu demonstrieren und sie verschoben die Unterhaltung ein paar Schritte weiter, auf die freie Fläche, die ein Wohnzimmer werden konnte. Yoshiki seufzte und nahm seine Mutter beiseite. „Mama… Wohnungen fallen nicht vom Himmel in Tokio. Die hier taugt fürs Erste. Ich bitte dich: Unterschreib einfach.“ Er hatte den Anstand, Toshi zumindest noch einen Blick zuzuwerfen. Dieser hob die Schultern und nickte. Sie hatten in den letzten drei Tagen über zehn Wohnungen angeschaut und es wurde nicht viel besser. Außerdem war weder ihm noch Yoshiki entgangen, dass die meisten Vermieter bei ihrem Anblick erstmal ein wenig irritiert geschaut hatten – das Konzept einer Wohngemeinschaft war unüblich, vor allem wenn es sich bei den zukünftigen Mietern anscheinend um junge Wilde handelte. Einige Male war Toshi nahe dran gewesen, den Vorschlag zu machen, dass sie Yoshiki ein Kleid anziehen und ihn als seine Verlobte ausgeben sollten. Das hätte die Chancen vermutlich erhöht. Doch obwohl er Frau Hayashi mochte und sich eigentlich gut mit ihr verstand – so gut, wie man sich mit einer zwanzig Jahre älteren Frau eben verstehen konnte – fürchtete er ein wenig ihre Reaktion auf diesen Vorschlag. Also behielt er seine grandiose Idee für sich. Gerade folgte der Blick besagter Frau einem jungen Pärchen, die aus dem Badezimmer kamen und jetzt zum Fenster hinübergingen. „Sie sehen sehr nett aus“, sagte sie leise. Toshi verstand, was sie sagen wollte: Yoshiki und er waren auch hier nicht die beste Option. „Und wir etwa nicht?“, fragte Yoshiki dennoch und verschränkte die Arme mit einem trotzigen Stirnrunzeln. „Sag nichts“, hängte er an, als er den Blick seiner Mutter eingeordnet hatte. „Mama, du hast jetzt dein Leben lang Dinge an Leute verkauft. Zeig was du kannst und verkauf uns beide." Frau Hayashi seufzte tief. „Versuch es zumindest, ok?“ Frau Hayashi seufzte noch einmal, tastete nach ihren Haarspangen und machte sich, derart bestärkt, auf den Weg in den Flur, wo sie die Maklerin zum letzten Mal gesehen hatte. „Hast du dir das hier mal angeschaut?“, murmelte Toshi, als sie verschwunden war und hielt Yoshiki das Datenblatt der Wohnung unter die Nase. „Hundertzehntausend Yen, Yoshiki. Das ist eine stolze Summe. Ich bin mal ehrlich mit dir: Ich weiß nicht, wie ich das machen soll.“ „Darüber denken wir nach, wenn es so weit ist“, murmelte Yoshiki zurück. „Es könnte in ein paar Tagen so weit sein.“ „Toshi! Würdest du bitte aufhören, dir Sorgen zu machen?“ Das Pärchen in der Küche drehte sich verwundert zu ihnen um und entfernte sich das flüsternd in Richtung Badezimmer. Yoshiki seufzte, rieb sich die Nasenwurzel und sagte dann, leiser und ruhiger: „Sorry. Hör zu, meine Mutter hat das Geld und kann uns ein bisschen unter die Arme greifen, bis bei uns alles in geregelten Bahnen läuft, ok? Denk dir nichts dabei.“ Toshi atmete durch und trat von einem Bein aufs andere. Sein Blick wanderte zum Flur, wo Yoshikis Mutter noch immer verschollen war. „Das kann ich nicht annehmen“, beschied er schließlich. Yoshiki schnaubte und schüttelte leicht den Kopf. „Du und deine Prinzipien… Dann sieh es als Kredit bei mir und zahl es irgendwann zurück.“ Seine Hand fand den Weg auf Toshis Schulter. Gerade hatte dieser den Mund aufgeklappt, um ihm zu sagen, was ihm daran alles nicht gefiel und warum, als Frau Hayashi zurück in den Raum kam, sich dabei angeregt mit der Maklerin unterhaltend. Sie kicherten wie zwei Schulmädchen. „Jemand hat eine neue Freundin“, bemerkte Toshi also stattdessen. Er war milde beeindruckt. Yoshiki sagte nichts. „Was?“, fragte Toshi. „Nichts.“ Yoshiki ließ Toshis Schulter los und wandte sich noch einmal dem Wohn-Essbereich zu. Sah ganz danach aus, als könne er anfangen zu überlegen, wie sie die Möbel stellen wollten. „Ich hab nur gerade begriffen, warum meine Mutter im Leben erfolgreich ist.“ -X- Und dann ging plötzlich alles sehr schnell. So schnell um genau zu sein, dass Toshi sich am Abend des ersten Dezembers, als er unschlüssig die Kartons im Wohnzimmer anschaute, fragte, wie genau er hierher gekommen war. Vom Flur konnte er Yoshikis Stimme hören. Er war gerade dabei, seine Mutter nach draußen zu komplimentieren. Den ganzen Tag waren ihre Eltern herumgewuselt und hatten ihnen beim Tragen und beim Einkauf der wichtigsten Grundbausteine für ein eigenes Leben geholfen, doch irgendwann war es dann auch mal gut. Toshi hatte wesentlich weniger Energie in die Verabschiedung investieren müssen – seine Eltern hatten ja noch zwei andere Monster, um die sie sich kümmern durften und waren irgendwann im Lauf des Nachmittags von selbst aufgebrochen. An diesem Moment seiner Überlegungen hörte er die Tür ins Schloss fallen und ein ziemlich fertig aussehender Yoshiki erschien in der Tür. „Oj… Hast du die Gläser gefunden?“ „Nein“, sagte Toshi, riss sich zusammen und öffnete wahllos einen der Kartons. „Noch nicht. Warte.“ „Schon gut…“ Yoshiki bückte sich nach einer der Tüten mit den Einkäufen, die noch vor der Küchenzeile standen und zog eine Flasche Saft heraus. „Ich trink aus der Flasche.“ Gesagt, getan. Er lehnte sich an die Spüle und schraubte die Flasche wieder zu. Nach einigen Sekunden sagte er laut: „Mama, ich weiß, dass du noch draußen stehst. Geh!“ Ein etwas ertapptes „Wiedersehen!“ erklang von irgendwo jenseits ihrer Wohnungstür und dann entfernten sich Schritte. Yoshiki zählte bis zwanzig, öffnete die Tür noch einmal und schaute hinaus. Das Treppenhaus war leer. Dann ging er auf den Balkon, blickte hinunter und wartete. Er sah die kleine Gestalt seiner Mutter in ihrem blauen Mäntelchen aus dem Haus treten, die Straße ein Stück zu ihrem Auto hinuntertingeln und dann stieg sie ein und war verschwunden. Auf einmal fühlte er sich ein bisschen komisch. Ein paar Sekunden lang blieb er noch stehen und betrachtete die Lichter in der winterlichen Dunkelheit, dann wurde ihm zu kalt. Er ging zurück nach drinnen, wo Toshi begonnen hatte, das Geschirr abzuwaschen, das sie neu gekauft hatten. „Eigene Wohnung“, sagte Yoshiki und grinste. Es schien das Beste gegen das seltsame Gefühl zu sein. „Sieht so aus“, sagte Toshi über das Gluckern in der Spüle hinweg. Einen kurzen Moment sahen sie einander unschlüssig an. Dann deutete der Sänger mit feuchter Hand hinter sich. „Magst du ein bisschen auspacken? Ich hab die Gläser gefunden, aber wir können uns nicht mal Fertignudeln machen. Der Wasserkocher ist irgendwo… Nein, ich weiß nicht mal, in welcher Kiste. Er ist irgendwo, Punkt.“ Yoshiki seufzte. Am liebsten wollte er heute gar nichts mehr tun. Da es ihm aber nichts brachte, sich zu beschweren, öffnete einen der Kartons und begann, mehr oder weniger motiviert, darin herumzukramen. „Nicht hier“, sagte er schließlich und klappte die Kiste wieder zu. Nächster Karton. „Bad…“ Erst im vierten Karton schließlich wurde er fündig. Zu diesem Zeitpunkt hatte er bereits einige seiner Platten, den Reiskocher und Bettwäsche ausgepackt und hatte wirklich keine Lust mehr. Müde ließ er sich auf einen der Küchenstühle fallen, die um ihren wenig ansprechenden Plastiktisch standen. Toshi kochte Wasser und goss ihnen beiden Suppen auf. Drei Minuten lang schauten sie schweigend abwechselnd in die Brühe und auf die halbausgepackten Kartons in der sonst noch sehr leeren Wohnung. „Itadakimasu“, sagte Toshi schließlich. „Itadakimasu…“, murmelte Yoshiki. Ohne echten Appetit schlürfte er etwa die Hälfte seiner Nudeln, dann stand er auf und tauchte noch einmal in den dritten Karton ab, von wo er einen Block herauskramte. „Ok“, sagte er, während er sich zurück an den Tisch setzte. Er packte den Block auf den Tisch. „Liste an Dingen, die wir nicht haben.“ Es ging ihm immer besser, wenn er Dinge hatte, die er planen konnte. Zum Glück kam sein natürlicher Instinkt hier Toshis Liebe für organisierte Listen entgegen und dieser sprang sofort darauf an. „Sofa“, begann er aufzuzählen. „Gästegeschirr. Garderobe. … Lampenschirm.“ Er deutete auf die kahle Glühbirne über ihnen, welche ihr edles Mahl beleuchtete. „Kaffeemaschine“, fügte Yoshiki nach einem kurzen Blick nach oben an. „Das ist nicht überlebenswichtig.“ „Vielleicht für dich nicht. Als bräuchten wir Gäste.“ „Ok, ok… ich brauch noch ein Regal.“ Zuhause hatten Hiroki und er sich eines geteilt und Toshi hatte beschlossen, es ihm zu überlassen. Das ließ ihn jetzt leider mit einem Stapel an Dingen, für die er keinen Platz hatte. „Ich brauch Töpfe…“, murmelte Yoshiki, während er weiterschrieb. „Wir haben Töpfe.“ „Wir haben einen Topf.“ „Hast du einen Wäschekorb?“ „Nein. Du?“ „Nein.“ Yoshiki schrieb. „Ok…“, sagte Toshi, als Yoshiki den Stift absetzte. „Aber ich hab noch eine Frage, die ich mir heute während dem Einkaufen schon die ganze Zeit gestellt habe.“ „Ah ja?“ Yoshiki sah ihn fragend an. Toshi schaute ernst zurück. „Wer behält was, wenn wir uns trennen?“ Yoshiki musste lachen. „Du Dödel!“ Er schlug seinem Gegenüber mit seinem Block gegen die Schulter. Toshi grinste zurück und wurde sich bewusst, dass Yoshiki fröstelte. Er erhob sich und ging zur Wand hinüber, um die Heizfunktion der Klimaanlage einzuschalten. Nichts passierte. Probeweiser drehte Toshi den Schalter noch ein paar Mal hin und her, doch außer einem leisen Klackern rührte sich nichts. „… wir hätten das testen sollen, bevor wir eingezogen sind“, stellte er dumpf fest. Hinter ihm seufzte Yoshiki leise. „Ja, ich lern viel dazu hier… für die Zukunft… naja, egal. Das kriegen wir heute nicht mehr gelöst. Du bist müde, ich hab Kopfweh… gehen wir ins Bett. Morgen ruf ich den Hausverwalter an.“ Wenig später stand Toshi in seinem Zimmer vor ebenfalls nur teilweise ausgepackten Kartons und suchte die Dinge zusammen, die er für die erste Nacht brauchte. Dann schaltete er den Heizstrahler an und verschwand ins Bad, wo er sich wirklich überwinden musste, zumindest eine Katzenwäsche durchzuziehen. Als er zurück in sein Zimmer kam, hatte sich der Raum immerhin der annehmbaren Temperaturspanne angenähert. Toshi schlüpfte in seinen Pyjama, zog einen Pullover darüber und schaltete Licht und Ofen aus. Als er schließlich auf seinem Futon lag, starrte er an die Decke und konnte nicht schlafen. Alles war anders. Der Geruch, die Geräusche, die fahlen Umrisse seines Zimmers. Und er war ganz allein. Jahrelang hatte er sich ein eigenes Zimmer gewünscht. Jetzt fühlte er sich einsam. Wenn das hier der Start in ein eigenes Leben war, dachte er, dann verstand er nicht ganz, warum andere junge Menschen in seinem Alter so wild darauf waren. Er wollte nach Hause. Mit einem Seufzen drehte er sich auf die linke Seite, zog sich die Decke über den Kopf und versuchte, Schlaf zu finden. Nach einigen Minuten drehte er sich auf den Bauch und schließlich, eine gefühlte Ewigkeit später, zurück auf den Rücken. Wieder starrte er an die Decke. Er schloss die Augen, um damit aufzuhören und stellte sich vor, dass hide vor einigen Wochen genau dasselbe gemacht hatte und wie seine neue Wohnung wohl aussah und was er so den ganzen Tag erlebte und wie er sich abends bestimmt manchmal Schokopudding mit Käse machte. Ein näherliegender Gedanke wäre gewesen, dass auch Taiji heute umgezogen war und jetzt vielleicht ebenfalls ein wenig allein an die Decke starrte, aber dieser Gedanke löste überhaupt nichts aus. Nein, hide half wesentlich mehr. Wie sein Leben wohl aussehen würde, wenn er mit hide zusammengezogen wäre? Ein paar Minuten lang versuchte er, es sich vorzustellen, doch kam nie über den kleinen Kaktus am Wohnzimmerfenster hinaus. Vielleicht lag es daran, dass die reale Aufgabe, sich hier in das Zusammenleben mit Yoshiki einfinden zu müssen, noch viel zu präsent war, um sich Gehirnfürzen hinzugeben. Toshi drehte sich auf die rechte Seite. Nein, rechte Seite ging gar nicht. Er drehte sich zurück, starrte weiter an die Decke und versuchte, an gar nichts zu denken. Nach weiteren zwanzig Minuten schließlich knipste er das Licht wieder an und stand auf, um in einem seiner Umzugskartons nach seinen Büchern zu suchen. Er fand sein aktuellstes – einen Krimi mit Liebesgeschichte an der Seite - schlug es bei dem Papierschnipsel auf Seite zweiundsiebzig auf und begann zu lesen. Es war bereits gegen halb zwei und er hatte gerade überlegt, einen erneuten Versuch des Schlafens zu starten – das Buch war ihm bereits zweimal aus der Hand gefallen – als die Tür vorsichtig geöffnet wurde und sich ein Kopf ins Zimmer schob. „Ich hab das Licht gesehen… Bist du noch wach?“, fragte Yoshiki leise. „Ja“, sagte Toshi unnötigerweise und fragte zurück: „Du?“ Ein leichtes Stirnrunzeln der Irritation zog über den oberen Teil von Yoshikis Gesicht hinweg, doch es verschwand schnell wieder. „Äh… ja.“ In einigen Sekunden der Stille schaute der Schlagzeuger einmal etwas verlegen zur Seite und dann wieder zurück zu Toshi. „Ist ein bisschen komisch, hu?“ „Mmh.“ Toshi setzte sich auf und legte sein Buch zur Seite. „Willst du… noch ein bisschen reden?“ „Eigentlich bin ich ziemlich müde.“ Yoshiki verschränkte die Arme gegen die Kälte auf dem Flur und trat unsicher von einem Fuß auf den anderen, wie jemand, der nicht genau wusste, was er eigentlich hiervon erwartete. Toshi nahm ihm die Entscheidung ab. „Willst du… hier übernachten?“ „Is‘ das nicht… komisch?“, fragte Yoshiki zögerlich zurück. „Wir haben vorher beieinander übernachtet. Das einzige, was sich geändert hat, ist die Entfernung.“ Sie schauten einander an. „Man kann sich alles rechtfertigen, oder?“, fragte Yoshiki schließlich und grinste. „Wenn man schlau genug ist“, stimmte Toshi zu. Und er wusste inzwischen, dass er ziemlich schlau war. Yoshiki wandte sich ab und verschwand aus Toshis Sichtfeld. „Ich hol mein Zeug“, hörte dieser seine sich entfernende Stimme. Und das tat er. Als Yoshiki sich einige Minuten später neben Toshi auf seinen Gästefuton legte, zitterte er bereits wieder. „Warum ist es so kalt?“, fragte er mit klappernden Zähnen und zog sich die Decke bis über die Ohren. „Dezember“, antwortete Toshi. Kein großes Mysterium an dieser Stelle. „Schläfst du oft mit Wärmflasche?“ „Im Winter manchmal.“ Yoshiki drehte sich auf die rechte Seite und drückte das gluckernde Ding an sich. Das Zittern wurde dadurch ein wenig besser, wenn auch nicht viel. „Und zu deiner Information ist sie schon gar nicht mehr so warm.“ Toshi betrachtete ihn wenig überzeugt. „Ist das wirklich zu meiner Information oder soll ich dir eine neue machen?“ „Nein…“, lehnte Yoshiki ab, klang aber unzufrieden mit dieser Antwort. „In Ordnung.“ Kurz passierte nichts. Dann setzte Yoshiki sich auf, lehnte sich zu seinem Freund hinüber und sagte: „Wenn du das tust, bist du mein Held für immer und hast einen Wunsch bei mir frei.“ Toshi seufzte belustigt, stand auf und ging in die Küche, um eine neue Ladung Wasser aufzuwärmen. Bis er zurück kam waren seine Füße kalt, aber Yoshikis überschwängliche Lobpreisungen und Dankeshymnen wogen es fast wieder auf. Dann knipste er das Licht aus. Neben ihm gluckste leise die Wärmflasche. Es war immer noch fremd und dort draußen war eine riesige, unbekannte Stadt, in der er niemanden kannte. Aber er hatte Yoshiki. Das war schon mal ein Anfang. -X- Knappe zwei Wochen später stieß Yoshiki am frühen Abend die Tür zu einem Diner im amerikanischen Stil auf. Es waren keine guten zwei Wochen gewesen. Besonders stresste ihn, dass er kein Schlagzeug hatte und mit Toshi zusammenwohnte. Dieses Arrangement ließ ihm keine halbe Stunde, um mal ordentlich mit den Enttäuschungen der Zeit umzugehen und mit sich ins Reine zu kommen. Dass Toshi ebenfalls schon einmal bessere Laune gehabt hatte, machte es nicht besser. In der vagen Hoffnung, hide zu sehen, blickte Yoshiki sich suchend einmal in dem L-förmigen Raum um. hide hatte die letzten paar Mal am Telefon ausgelassen geklungen. Er würde ihn sicher aufmuntern. Doch er fand hide nicht. Nur Taiji saß bereits an einem der mit rot-weiß-karierten Überzügen bedeckten Tische in einer der Sitzecken auf der linken Seite und fischte Nüsschen aus einer Schale. Einen Moment lang wollte Yoshiki sich umdrehen und zurück nach draußen gehen, um dort auf die anderen zu warten. Doch just in diesem Augenblick hob Taiji den Blick, sah ihn und stellte Augenkontakt her. Scheiße. Langsam setzte Yoshiki sich in Bewegung. Doch selbst in seiner gemächlichsten Gangart dauerte es zu seinem Leidwesen keine halbe Ewigkeit, bis er den Bassisten erreicht hatte. Das Herz schlug ihm bis zum Hals, als er ihn begrüßte. „Ähm… Hallo.“ Er musste sich räuspern. „Abend“, sagte Taiji. Eine unangenehme Stille trat ein. „Hast… du schon was bestellt?“, fragte Yoshiki. Langsam ließ er sich auf die Bank Taiji gegenüber sinken. „Nur was zu trinken.“ „Ah.“ Yoshiki nahm eine Karte vom Tisch und verschwand dahinter. Leider war die Getränkeauswahl überschaubar und nach ein paar Minuten wurde ihm klar, dass er sich nicht länger hinter der Entscheidung verstecken konnte. Er seufzte innerlich und legte die Karte wieder zur Seite. „Also…“, begann er schließlich, „wie… läuft’s so?“ „Ok nehm ich an“, schlurrte Taiji mit der Andeutung eines Schulterzuckens. „Bei euch?“ Yoshiki riss sich zusammen und berichtete ein wenig von seinen erfolglosen Aktivitäten der letzten Woche und Taiji erzählte ihm von seinem Umzug und seinen Plänen, was die Jobsuche anging – sie klangen nicht sonderlich ambitioniert. Es war keine schlechte Unterhaltung, doch sie hatte den leisen Ping einer Höflichkeit, die zu viel für ihren normalen Umgang miteinander war. Außerdem starrte Taiji Yoshiki unaufhörlich an und dieser begann allmählich, das sehr unangenehm zu finden. Es steckte sicher Taktik hinter diesem Verhalten. Alles in allem war Yoshiki mehr als erleichtert, als schließlich Pata auftauchte und sich neben Taiji setzte. „Guten Abend“, sagte er. „Hallo!“, erwiderte Yoshiki betont fröhlich. Er musste etwas zu enthusiastisch gewesen sein, denn sein neues Gegenüber zog die Augenbrauen ein Stück zusammen und sagte mit einem milde irritierten Lächeln: „Kein Grund zur Aufregung, ich bin’s nur.“ Außerhalb seines Sichtfelds verdrehte Taiji mit einem kaum merklichen Kopfschütteln die Augen. Es war faszinierend, wie er es sogar durch Yoshikis leise Schuldgefühle hindurch schaffte, in ihm den Wunsch auszulösen, ihn zu treten. Um sich von Taijis verlockend nahen Schienbeinen abzulenken, wandte er sich wieder an Pata. „Und? Schon was gefunden?“ „Ja. Diese Wohnung in Sugamo… Ich denke, die wird es. Masami war heute Vormittag hier, um sie sich anzusehen. Ihr gefällt es auch ganz gut.“ Taiji nahm einen Schluck von seinem Saft. „Sie zieht wirklich mit dir um?“ „Ja. Im Januar kommt sie her, macht noch ein Praktikum im Krankenhaus und fängt dann im April an der Universität an.“ Der Gitarrist zog die Jacke aus und legte sie neben sich auf die Bank. „Hat jetzt zeitlich gut gepasst… Was ist los?“ Er warf Taiji und seinem seltsamen Gesichtsausdruck einen Seitenblick zu. Der Angesprochene riss sich zusammen und grinste schief. „Ich denk gerade über die Vorteile einer privaten Ärztin nach.“ Seine wackelnden Augenbrauen sagten deutlich, dass er nicht davon sprach, jemanden zu kennen, der einem mal einen Stützverband anlegen konnte. Pata blickte ihn die vorgeschriebenen fünf Sekunden lang vorwurfsvoll an, bevor er sehr deutlich sagte: „… du redest da von meiner Freundin.“ Irritiert hob Taiji den Blick zu seinem Nachbarn, hörte auf zu grinsen und sagte ausweichend: „Ne. Gerade rede ich nur vom Outfit.“ Wie zur Anblenkung nahm er noch einen Schluck von seinem Saft. „Ich kenn sie ja nicht mal“, schob er dann hinterher. „Und das ist das Einzige, das dich gerade rettet. Gib mir die Karte.“ Pata nickte zu dem laminierten Stück Pappe hinüber. Taiji reichte sie ihm und der Gitarrist hob sie abschließend vor sein Gesicht. Als Toshi zwanzig Minuten später erschien, hatte Pata die Karte wieder weggelegt und Taiji die Nüsschen geleert. Yoshiki hatte gerade den Kopf auf den Arm gestützt, rührte frustriert in seinem Eistee herum und beschwerte sich. „Ich glaub das einfach nicht! Entweder sie sind total runtergekommen oder sie sind teuer oder sie liegen am Arsch der Welt…“ „Ich nehm an, du hast keinen Proberaum gefunden?“, fragte Toshi. Zur Begrüßung klopfte er zweimal auf den Tisch. „Ja. Nein.“ Yoshiki stieß mit dem Strohhalm nach einem Eiswürfel, um ihn grausam im Tee zu ertränken. Das Ergebnis war vorübergehend zufriedenstellend - nach einigen Sekunden erschien er allerdings wieder an die Oberfläche. Toshi schob sich neben ihn auf die Bank. „Bekommt ihr schon?“ „Ja“, sagte Pata. „Ich hab dir auch was bestellt“, klärte Yoshiki seinen Freund düster auf. Er schob seinen Eistee zur Seite. Der Lebenswille des Eiswürfels war ungebrochen und das störte ihn. „Du wusstest doch gar nicht, was ich will.“ „Burger mit Salat statt Pommes.“ Einige Sekunden lang betrachtete Toshi unschlüssig die Karte. Dann zog er eine Schnute. „… du hast Recht. Das ist, was ich will.“ Yoshiki warf ihm ein Viertel Lächeln zu, auch wenn seine Augen Probleme damit hatten, mitzulächeln. „Wie lief’s?“ „Ganz gut.“ Toshi zog die Jacke aus während er weitersprach und reichte sie Yoshiki, damit dieser sie am anderen Ende der Bank auf seine legte. „Ich denke, sie waren interessiert.“ „Was machst du?“, fragte Taiji. „Ich hab mich bei so einer Nachhilfeschule beworben und die haben mich eingeladen…“ „Im Ernst? Du willst noch mehr pauken?“, fragte Taiji ungläubig. „Wenn ich schon was arbeiten muss, dann kann es zumindest was sein, das mich nicht total ankotzt, oder?“ Toshi überflog die Getränkekarte und winkte die Bedienung zu sich, um noch eine Cola zu ordern. „Jaja, schon… nur das letzte Mal, als du zu fremden Leuten sprechen musstest, hast du über das weiße Porzellantelefon mit Gott gesprochen.“ Ein wenig begeisterter Blick traf Taiji, der deutlich sagte, dass er dieses Thema besser nie wieder ansprach. „Das vorletzte Mal.“ „Warst du so gut in der High School?“ Interessiert legte Pata den Kopf schief. Toshi zuckte mit den Schultern. Anscheinend wollte er das Gespräch an dieser Stelle beenden. Yoshiki tat ihm den Gefallen und winkte ab. „Toshi ist schlau, er hat Optionen…“ Leider lenkte das die Aufmerksamkeit zurück auf ihn selbst. „Und was machst du?“, fragte Pata. „Mu… sik?“, fragte Yoshiki und zog die Stirn kraus, als wisse er nicht ganz, was diese Frage sollte. „Und was machst du, von dem man leben kann?“, wurde der Gitarrist also etwas deutlicher. Yoshiki verzog eine Hälfte seines Gesichts - eines der wenigen Talente, um das Toshi ihn manchmal beneidete. Offensichtlich suchte er nach einer Möglichkeit, Pata mitzuteilen, dass er die Frage nicht mochte, ohne ihm ins Gesicht zu sagen, dass ihn das einen Scheiß anging. Aus irgendeinem Grund, dachte Toshi, vermied Yoshiki die offene Konfrontation mit Pata. Nicht, dass dieser einem viele Anlässe dazu gab. Meist war seine größte Kritik Schweigen – in unterschiedlichen Ausprägungen. Und auch diesmal gab Yoshiki schließlich nach. Er wirkte etwas unzufrieden dabei, als müsse er sich überwinden. Wenig überzeugend meinte er: „Weiß noch nicht. Vielleicht geb ich Klavierunterricht.“ Überrascht sah Toshi ihn an. „Unterrichten? Du?“ Taiji fing an zu lachen, versuchte, es in seinem Saft zu ertränken, verschluckte sich und musste husten. Pata klopfte ihm auf den Rücken, während Yoshiki erst ihm und dann Toshi einen finsteren Blick zuwarf. „Danke.“ Dieser hob beschwichtigend die Hände. „Nein, so war das nicht… Keine Ahnung. Du magst keine Kinder.“ „Aber Klavier. Was soll ich machen. Ich kann nichts anderes." Er wandte sich wieder an Pata. „Bis sich da was ergibt, greift uns meine Mutter noch ein wenig unter die Arme.“ „Das kann sie?“, fragte Pata. „Sie ist doch ganz allein, oder?“ Yoshiki zuckte mit den Schultern und betastete eine Delle in der Plastiktischdecke. „Ja. Aber sie hat vor längerer Zeit ein paar Investitionen getätigt, die sich langsam auszahlen. Sie meinte immer, das war ihre Vorsorge, um irgendwann frei zu sein, das zu tun, was sie will.“ Er musste sich zurücklehnen, als eine Portion Pommes vor ihm abgesetzt wurde. Gerade hatte er die erste davon in die Hand genommen und Toshi ihm eines der kleinen Ketchuppäckchen geöffnet („Warum geben die mir nicht einfach die Flasche?!“), als eine ihnen wohlbekannte Person in den Laden hastete. Sie musste eine halbe Pirouette drehen, um der Bedienung auszuweichen und steuerte dann zielstrebig ihren Tisch an. Im Vorbeigehen zog sie sich einen Stuhl vom Nebentisch und platzierte ihn schließlich schwungvoll an der Kopfseite ihrer kleinen Versammlung. „Wow“, sagte hide, während er sich den Riemen seiner Umhängetasche über den Kopf zog und sich auf den Stuhl fallen ließ. „Ich hab mal wieder krass unterschätzt, wie groß diese Stadt ist. Und scheiße, hab ich einen Hunger. Mahlzeit.“ Pata reichte ihm seine Karte. Dann betrachtete er hide genauer. „Ist das Pink?“ Er deutete auf eine Strähne in hides Pony, die deutlich aus dem darunterliegenden Blond hervorstach. „Nein“, erwiderte hide und begutachtete die Burger. „Es ist hot Pink.“ Toshi musste ihm in Gedanken zustimmen, doch Taiji runzelte die Stirn. „Ok? Und was ist das da? Neu?“ Er nickte zu hides Handgelenk hin, um das einige glitzernde Armbänder gewickelt waren. „Geburtstagsgeschenk von den Mädels“, sagte hide. „Du bist aber heute aufmerksam…“ „Ich hatte vorhin Kaffee. Welche Mädels?“, fragte Taiji weiter, auf einmal wesentlich interessierter. „Geburtstag?“, fragte Pata. „Äh…“ Überfordert schaute hide von einem zum anderen und zurück zu dem Cheeseburger, den er auserkoren hatte. Drei Dinge auf einmal waren offensichtlich zwei zu viel. „Ja“, antwortete er schließlich. „Ja was?“, fragte Taiji. „Ja, ich hatte Geburtstag und ja, ich hab die geschenkt bekommen. Von ein paar von meinen Mitschülerinnen. Es freut sie, wenn ich’s trage… Keine große Sache.“ „Hast du nicht gesagt, dein Geburtstag wäre im Frühjahr?“ Pata biss in einen Chicken Wing. „Ja“, gab hide zu und fuhr fort: „Aber er war gestern.“ Er machte nicht einmal den Versuch, sich zu erklären – oder es zu leugnen. „Was soll das?“ Yoshiki blickte ihn entgeistert an. „Warum hast du nichts gesagt?“ „Is‘ mir nicht so wichtig. Aber du kannst mich gerne nachträglich zum Essen einladen, wenn du willst.“ Der Gitarrist drehte sich um und winkte der Kellnerin, nur um noch während er dabei war Yoshiki zu erklären: „Weil ich hab echt Hunger!“ „Halt mal“, sagte Yoshiki. Er hatte immer noch seine Fritte in der Hand, aß aber nicht. „Wenn du jetzt Geburtstag hattest, dann macht dich das… zwanzig.“ „Jupp“, sagte hide. Er schlug ein Bein über das andere und grinste ihn freudig an. „Ich kann jetzt machen, was ich will.“ „Es macht dich zwanzig“, wiederholte Yoshiki langsam, als habe er ihn nicht gehört, „und du hast uns das nicht gesagt und wir haben nicht gefeiert.“ „Jupp“, wiederholte hide. Kurz musste er das Gespräch unterbrechen, um seinen Essenswunsch kundzutun. „Ich mag Geburtstagsfeiern echt nicht gerne“, sagte er, als die Bedienung wieder weg war. „Ich mag das nicht, wenn ich so…“ Unsicher wie er sich ausdrücken wollte, bewegte er seine Hände einmal auf sich zu und wieder von sich weg. „Wir feiern was anderes richtig fett, in Ordnung?“ Yoshiki verzog das Gesicht und wandte sich dann endlich seinem Essen zu. „Und?“, erkundigte sich Pata derzeit bei hide, „wie lässt sich’s an? Immer noch gut?“ „Oh, es ist fantastisch!“ Der Leadgitarrist lehnte sich ein Stück nach vorne, um seine Erfahrungen zu schildern. „Es gefällt mir total, ich hab viel Spaß und alle sind mega nett. Heute hab ich gelernt, wie man für jeden Typ die passende Feuchtigkeitscreme findet und anwendet.“ Taiji musste lachen. Eine einsame Gurkenscheibe rutschte ihm dabei von seinem Burger. „Ernsthaft? Meine Fresse…“ Wortlos aber weiterhin fröhlich streckte hide die Hand nach vorne. Nach kurzem Zögern ergriff Taiji sie. „Weich wie ein Babypopo“, bekundete er nach einigen Sekunden des Fühlens und ließ wieder los. „Ok, du gewinnst.“ hide kicherte, ein befreites, glückliches, echtes Kichern. Toshi senkte den Blick auf seinen Teller. hide war immer attraktiv gewesen, aber jetzt war er überwältigend. Vielleicht war es nur die optimale Hautcreme, doch es kam ihm fast so vor, als leuchte er ein wenig von innen heraus. Es bestand kein Zweifel: hide glücklich schlug ein wie ein Komet. Um sich von dieser Feststellung abzulenken nahm er einen großen Bissen Burger und schob etwas Salat hinterher. Dann nahm er ein paar Schluck Cola, um sein in Flammen stehendes Gesicht abzukühlen. Und dann erst wandte er sich wieder dem Gespräch zu, welches immer noch von hide bestritten wurde. „...und im neuen Jahr lern ich Maniküre“, berichtete dieser gerade. „Nur falls jemand von euch neue Fingernägel braucht.“ „Ich muss dir ehrlich sagen, das ist irgendwie dein Baby…“, murmelte Taiji kauend. Er brauchte einen Moment, bis er weitersprechen konnte. „Und was ist mit dem Typen, der dich so gemobbt hat?“ „Was, Fujimori?“ fragte hide zurück. Sich die Frage selbst beantwortend zuckte er unschlüssig mit den Schultern. „Keine Ahnung. Ich hab über fünf Ecken gehört, dass er sogar derjenige war, der mich dabei haben wollte. Vielleicht ist das eines dieser 'Wenn ich ihn schlecht behandle, wird er groß werden'-Dinger und ich sollte es ihm nicht böse nehmen, aber: Immer, wenn ich ihm irgendwo begegne, ist er ein totales Arschloch.“ Er hatte das letzte Wort gerade ausgesprochen, als sein Essen auftauchte. Das Lächeln der Bedienung wirkte etwas steif, als sie den Cheeseburger vor hide abstellte. Pata und Toshi schoben ihre Teller ein wenig zur Seite. „Ah, geil, geil, geil!“ hide sog den Burgerduft ein und streckte die Hand in Richtung Taiji aus. „Reich mal die Mayo rüber. Oder brauchst du die?“ Ein Päckchen kam über die Tischplatte zu ihm hinüber geschliddert. hide nahm die obere Brötchenhälfte ab und quetschte eine großzügige Menge Mayonnaise auf die Bulette, bevor er sie wieder aufsetzte. „Mmmmmmmh! Boah, ich freu mich schon den ganzen Tag hierauf!“ „Bwah, hide…“, seufzte Yoshiki. „Ich bin ein Gourmet!“, verkündete hide und biss mit etwas, das die großen Literaten wohl mit geräuschvollem Gusto umschrieben hätten in sein Brötchen. Die Mayonnaise quoll zusammen mit dem geschmolzenen Käse an den Rändern hervor. „Un‘ du musch‘ wa‘ sa’en mit deinen traurihen Pommesch!“ Er kaute zweimal und schluckte runter. „War Fleisch aus, oder was?“ Yoshiki blinzelte und sagte dann abschließend: „Ok, zurück zum Thema.“ Er schob seine halbgegessenen Pommes zur Seite und konnte sich damit wieder auf seine Band diskutieren – im Sinne des abstrakten Plans genauso wie auf die Personen, die mit ihm hier am Tisch saßen. „Ich weiß nicht, wie es bei euch aussieht, aber ich denke, wir stimmen überein, dass die finanzielle Situation etwas… schwierig ist. Und ich finde partout nichts, von dem ich sehe, dass wir das bezahlen können. ...mal wieder.“ Pata zog die Augenbrauen genau so lange hoch, wie es dauerte, einen neuen Wing in Honig-Senf-Sauce zu tunken. „Was?“, fragte Yoshiki etwas aggressiver als geplant. Irgendwie machte Pata ihn heute wahnsinnig! „Nichts. Erscheint mir nur wie etwas, das uns vorher hätte klar sein können“, antwortete Pata ruhig und ließ die Eiswürfel in seinem Glas leise klirren. „Ok! Also hab ich ein wenig unterschätzt, wie schwierig das sein könnte!“ Ein Ellenbogen bohrte sich in Yoshikis Seite. Toshis Weg ihm zu sagen, dass er schon wieder laut wurde. Yoshiki atmete durch und begann, nach seinen Zigaretten zu suchen. Der Gitarrist blinzelte zweimal, bevor er sich wieder seinem frittierten Hühnchen zuwandte. „Ich verstehe.“ Yoshiki unterbrach sein Tasten in allen Taschen gerade lange genug, um ihn abschätzend anzusehen. Er war sich nicht ganz sicher, was genau Pata verstanden hatte, doch er war sicher, dass es ihm nicht gefiel. Ganz offensichtlich wusste er aber nicht, wie er damit umgehen wollte. Schließlich lehnte er sich ein wenig vor und sagte eindringlich: „Wir sind hergekommen, um es zu schaffen und schaffen werden wir es. Ich brauch nur… Zeit.“ „Isch daschte, ihr wär‘ wehen mi‘ he‘gechommen“, nuschelte hide an einem Mund voll Burger vorbei und schlürfte einen Zwiebelring ein, der drohte, sich über sein Kinn zu verabschieden. Yoshiki wedelte mit der Hand, als wolle er eine Fliege vertreiben. Er hatte seine Zigaretten gefunden. „Jaja, das auch.“ „Also, was jetzt?“, fragte Taiji. „Wir können uns nicht vermarkten, wenn wir keinen Ort haben, um besser zu werden.“ Es war eine Feststellung, kein Vorwurf. Yoshiki wusste das. Taijis Vorwürfe klangen anders. Und trotzdem spürte er den Drang in sich hochsteigen, etwas darauf zu erwidern, irgendetwas, um ein bisschen von seiner schlechten Laune abzuladen. Er atmete dreimal durch und versuchte angestrengt, sich davon abzuhalten. Es half nicht. „Ich weiß!“, zischte er also zwischen zusammengebissenen Zähnen hindurch. Taiji zog eine Augenbraue hoch, ließ sich aber nicht zu einer Antwort hinreißen. Yoshiki schaute einmal in die Runde. hide war mit sich selbst beschäftigt, doch Pata und Toshi hatten beide ihr Essen unterbrochen und sahen ihn auffordernd an. Nach etwa fünf Sekunden knickte Yoshiki unter dem sozialen Druck ein. „‘tschuldigung“, grummelte er in Richtung seines Tellers. „Ich hab seit Wochen kein Instrument berührt und ich werde wahnsinnig, wenn das so weitergeht.“ Eine kurze Weile, in der Yoshiki sich zurücklehnte und sich frustriert eine Zigarette anzündete, sagte niemand etwas. Dann leckte hide sich die Fingerspitzen ab und griff nach einer Serviette. „Boah, habt ihr Glück, dass ihr mich kennt.“ Er streckte seine leidlich saubere Hand nach seinem Glas aus. „Ich hab da vielleicht was. Onkel von ‘nem Mitschüler von mir hat einen geeigneten Raum in Ota. Anscheinend hatte er so einen... keine Ahnung, Trompeten-Verein? Was weiß ich. Auf jeden Fall werden die Herren älter und mit Gebiss tutet es sich nicht mehr so gut." hide stockte und musste grinsen. Taiji tat es ihm gleich. Zwei Blöde, ein Gedanke, dachte Yoshiki. „Das klingt irgendwie...", fuhr hide fort, „Naja, egal. Auf jeden Fall will er ihn jetzt loswerden und Nao meinte, er hätte da wen. Mich. Besagter Nao hat auch einen Freund, der einen kennt, der mit einem so ist, der einen Club irgendwo in Shibuya hat." Bei dem Wort so verschränkte hide Zeige- und Mittelfinger der rechten Hand. Dann löste er seine Finger wieder und griff noch einmal nach der Serviette - anscheinend hatte er inzwischen selbst gemerkt, dass er noch Soße am Kinn hatte. „Im Ernst?“, fragte Yoshiki verdattert. „Ja“ sagte hide und wischte sich das Gesicht ab. „Warum hast du mir das nicht vor zehn Minuten gesagt?!“ hide sah ihn so verständnislos an, dass Toshi sich fragte, ob es gespielt war, und erwiderte dann, als sei es das simpelste auf der Welt: „Weil mein Essen dann kalt geworden wäre.“ Der Hauch eines Grinsens schlich sich um seine Mundwinkel und bestätigte Toshis Verdacht. „Außerdem bist du irgendwie süß, wenn du nicht weiter weißt.“ „…süß?“, fragte Yoshiki. Er blickte hide über seine Zigarette hinweg mit einem Gesichtsausdruck an, den man wohl so oder so ähnlich auch haben musste, wenn man einem Kätzchen dabei zusah, wie es ein Fellknäuel hochwürgte: Es war immer noch plüschig, aber gleichzeitig fand man alles daran irgendwie befremdlich. hide hingegen grinste lieblich. „Das ist meine neue Geschäftsidee: erst darfst du dich reinsteigern, dann helf ich dir. Weißt du, die 200 000 Yen, die ich dir inzwischen so ungefähr schulde? Ich zahl sie jetzt statt in Raten in Ratschlägen zurück.“ Er schob Yoshiki seine inzwischen kalten Pommes wieder hin. „Zum Beispiel: Essen ist wichtig. Zweihundert Yen.“ Er hielt die Hand auf und grinste. Yoshiki grinste schief zurück, tauchte einen Kartoffelspaten in den Ketchup auf seinem Teller und drückte ihn hide mit Nachdruck auf die Handfläche. Nicht im Geringsten aus der Fassung gebracht und ohne die Augen von Yoshiki zu nehmen, hob dieser die Hand und schleckte die Pommes mitsamt des Schnodders ab. Während er kaute, wanderten seine Augenbrauen langsam immer weiter nach oben. Yoshiki schaffte es genau zehn Sekunden lang, nicht zu lachen. Dann gab er dem Drang nach. Sofort fühlte er sich besser. „Seid ihr zwei nicht niedlich“, bemerkte Taiji trocken und nippte an seinem inzwischen etwas wässrigem Saft. hide kicherte. Yoshiki war zwar zu stolz, um den Kommentar mit einer Antwort oder auch nur einem Blick zu würdigen, doch Toshi konnte an seinen Fingern sehen, dass es ihn nervte – sie spannten sich ein wenig an, als wolle er eine Faust bilden und hielte sich nur mit Mühe davon ab. Außerdem hörte er sofort wieder auf zu lachen. „Nah, im Ernst jetzt“, sagte hide. Vielleicht hatte er die Zeichen auch bemerkt. Er lehnte sich vor undgriff an Toshi vorbei, um Yoshiki seine fast aufgerauchte Zigarette aus den Fingern zu pflücken und nahm den letzten Zug, bevor er sie ihm Aschenbecher ausdrückte. „Ich hab mich ein bisschen umgesehen, ich hab ein paar Leute getroffen… Tokio rockt so richtig. Wir schaffen das.“ Yoshiki legte den Kopf schief und sah ihn nachdenklich an. „Du hast dich ganz schön verändert", stellte er schließlich fest. Doch hide erwiderte: „Nein. Ich veränder mich zum ersten Mal gar nicht." Ein paar Sekunden dachten sie vielleicht alle darüber nach. Dann deutete hide auf Yoshikis Pommes. „Also: Isst du die noch?" -X- „Aaah, mein Rücken!“ Mit schmerzerfülltem Gesicht ließ hide sich rückwärts über die Sofalehne auf die rissigen Polster fallen und stöhnte. „Auaaa…“ „Ach komm…“ Taiji, der dabei war, seinen Amp zu verkabeln, warf ihm über die Schulter einen Blick zu. „Sei nicht so wehleidig. Hier gibt es zumindest einen Aufzug.“ Sie hatten den ganzen Nachmittag damit zugebracht, ihren neuen Raum einzurichten, nachdem Yoshikis Mutter sich erbarmt hatte, ihnen alles einmal über die Bucht zu fahren. Toshi vermutete allerdings stark, dass es weniger mit ihrer Liebe für Musik als mit dem mütterlichem Drang, nach ihrem Baby zu sehen zu tun hatte: er war vorhin nämlich zu einem übervollen Kühlschrank, einem neuen Stapel warmer Socken und einem ziemlich genervten Yoshiki nach Hause gekommen. „Ah ja? Das is‘ mir scheißegal“, murrte hide und boxte lustlos im Liegen die Sofalehne. „Wir bleiben jetzt hier. Ich zieh das Teil nicht nochmal irgendwohin um!“ Er bezog sich auf den Kühlschrank. Und zu seiner Verteidigung musste man sagen, dass selbst Pata auf halbem Weg lauthals geflucht hatte, als ihm das Ding fast auf den Fuß gefallen war. hide stöhnte noch einmal leidend vor sich hin, während er versuchte, seine eigene Schulter zu massieren. Dann gab er es auf und dehnte stattdessen lieber winselnd seinen Rücken. Taiji verdrehte die Augen und wandte sich kopfschüttelnd wieder seinem Amp zu. „Oh Nein…“, erklang eine Stimme aus der Ecke, in der Yoshiki seine Notenblätter aus einer Kiste sortierte. „Das ist alles durcheinander… und ich glaube, es fehlen Seiten…“ Toshi trat zu ihm hinüber, um zu sehen, ob er etwas helfen konnte, doch er hatte wirklich keine Ahnung, nach welcher Logik Yoshiki das einmal sortiert hatte – wenn überhaupt. „Ich hab dir gesagt, hefte das Zeug ab. Das kommt davon.“ Betont langsam drehte der Schlagzeuger den Kopf in seine Richtung, um ihm einen zutiefst vorwurfsvollen Blick zuzuwerfen. Dann hob er eine weitere Handvoll Blättern aus den Untiefen der Kiste und hielt Toshi den Stapel mit Nachdruck unter die Nase. „Es ist Musik, keine Steuererklärung!“ Toshi runzelte die Stirn. „Sonst noch jemand Hunger?“, fragte hide vom Sofa. „Ja, bitte“, antwortete Toshi. Aus irgendeinem Grund links von ihm hatte er gerade sowieso keine Lust mehr. „Ich könnte was essen“, stimmte Pata zu. hide schaute abwartend zwischen Taiji und Yoshiki hin und her. „Danke, Nein“, murmelte Yoshiki, während er sich langsam auf seinen Hocker sinken ließ und versuchte, sein eigenes Gekrakel zu entziffern und entsprechend zu ordnen. „Ich mach das noch… fertig…“ „Mmhkay“, sagte hide. „Also dann, gehen wir. An der Ecke hab ich Pizza gesehen.“ „Ich wäre mehr für irgendwas… nudeliges“, meinte Pata, griff nach seiner Jacke und öffnete die Tür zum Gang. „Vielleicht hat er Pasghetti“, sagte hide. „Und Haaalt, jemand muss mir hochhelfen. Ich glaube, meine Wirbelsäule ist gebrochen.“ Er streckte die Arme aus und Toshi zog ihn auf die Füße. „Ouh, Gott!“ Der Gitarrist machte ein Hohlkreuz und streckte sich. Es dauerte ein paar Sekunden, bis er seinen Mantel ergriff, den Toshi ihm hinhielt. „Ok, ok, wartet auf mich… ich… schaff es durch den Schmerz...“ „Schon mal über Physiotherapie nachgedacht?“, fragte Toshi im Rausgehen. „Ach, das ist so teuer…“ „Du könntest es dir sicher irgendwo verschreiben lassen.“ „… hast du Pasghetti gesagt?“, erklang noch Patas Stimme milde belustigte Stimme, dicht gefolgt von hides: „Was, wie heißt das sonst?“ Dann fiel die Tür zu. Ein paar Minuten herrschte Stille. Yoshiki blätterte weiter durch den Stapel auf seinen Knien und konnte sich ums Verrecken nicht erklären, ob er das Zeug wirklich selbst so unordentlich eingepackt hatte, oder ob es im Karton von allein durcheinander gewürfelt war. Er seufzte. Das war ein Job für Kaffee. In Ermangelung von Kaffee tat es Cola. War da nicht noch eine im Kühlschrank? Vermutlich war es hides, aber er würde damit durchkommen. Doch als er hochsah, um dem Gedanken visuelle Unterstützung zu verleihen, machte Yoshiki eine Entdeckung: Taiji saß noch auf dem Sofa und beobachtete ihn von dort aus. Es fehlte nicht viel und er wäre zusammengezuckt. „Ich… ich dachte, ihr wärt alle gegangen“, sagte er, nicht sicher, ob sein Tonfall entschuldigend oder anklagend war. „Nicht hungrig“, meinte Taiji gleichgültig. Er stand auf, holte seine Wasserflasche vom Amp und nahm dann seinen Bass wieder mit zu sich aufs Sofa. Yoshiki vertiefte sich noch ein wenig mehr in seine Partituren und bemühte sich, ganz besonders konzentriert auszusehen. Die Cola hatte er längst vergessen. Er war nicht mehr mit Taiji allein gewesen seit ihrem merkwürdigen Gespräch im Restaurant vorletzte Woche und davor war er nicht mit ihm allein gewesen, seit… der Nacht. Unauffällig versuchte er, unbemerkt einen Blick in seine Richtung zu riskieren, doch Taiji fing ihn sofort auf. Dann sah er wieder weg. Halblaut drang eine Melodie zu ihm hinüber. Nach einer halben Minute etwas erkannte Yoshiki Jukebox Hero. Er starrte noch eine kleine Weile vor sich hin. Dann musste er sich eingestehen, dass er den Druck nicht aushielt. Er setzte sich aufrechter hin und sagte schließlich mit einem Hauch von Resignation in der Stimme: „Tut mir leid, ok?“ „Es ist alles in Ordnung“, antwortete Taiji neutral, ohne dass sein Spiel auch nur stockte. Yoshiki senkte die Augen zurück auf seine Arbeit, doch er konnte sich nicht mehr auf das konzentrieren, was er sah. Seine Aufmerksamkeit und sein Blick wollten ständig in Taijis Richtung zurückwandern. Jetzt, wo er wusste, dass der Bassist noch hier war, war es fast unmöglich zu ignorieren. Er zog die Augenbrauen zusammen und versuchte sein Bestes. Nach einer gefühlten Ewigkeit schließlich seufzte Taiji tief. „Ja, ok, weißt du was? Es ist nicht in Ordnung.“ Er legte den Bass zur Seite – Yoshiki hörte das gedämpfte Geräusch der Saiten ohne aufzusehen. „Warum gibst du mir nicht einfach ein Ja oder ein Nein?“ Yoshiki knautschte das Papier zwischen seinen Fingern unwillkürlich ein wenig zusammen und musste sich zwingen, seine Finger wieder zu entspannen. Er hatte immer gewusst, dass er aus der Nummer irgendwann nicht mehr rauskam. Anscheinend war irgendwann jetzt. Also durchatmen, es akzeptieren, Augen zu und durch. „Es… es ist komplizierter als das.“ Verständnislos hob Taiji die Hände. „Was ist daran so kompliziert? Wir haben keine Zauberwürfel da untenrum! Willst du’s tun oder nicht?“ Mit einer seichten Grimasse legte Yoshiki die Seiten schließlich neben sich auf die Floor Tom und gab es damit auf, Beschäftigung vortäuschen zu wollen. „Wir… sollten das nicht machen. Es hätte nicht mal passieren sollen, was passiert ist.“ Er knetete seine Finger und wich Taijis Blick aus. Dennoch sah er seinen wenig begeisterten Gesichtsausdruck klar vor sich, als Taiji nachhakte: „Und warum nicht?“ „Weil… wir uns nicht mögen. Es ist falsch, mit jemandem zu schlafen, den man nicht mag. Unter anderem.“ Yoshiki beschloss, nicht ins Detail zu gehen, was gesellschaftliche Konventionen, Familienplanung und die Frage nach zukünftiger Rollenverteilung anging. Er wollte über nichts davon nachdenken. Weil ihm alle Antworten nicht gefallen würden. Egal welche. Taiji zuckte mit den Schultern. „Funktioniert für meine Eltern.“ „Witzig.“ Yoshiki verdrehte die Augen und beobachtete dann, wie Taiji aufstand und zum Schlagzeug hinüberkam. Jenseits des Crash blieb er stehen und verschränkte die Arme. „Ok. Gut. Du magst mich nicht? Dann sag Nein. Komm. Hab zumindest die Eier und sag es mir ins Gesicht. Ich bin nicht sauer.“ Selbst wenn Yoshiki ihm geglaubt hätte, hätte er nicht gewusst, wie er die vier Buchstaben, gefolgt von einem ‘ich will nicht‘ über die Lippen bringen sollte. Es war einfach, mit Taiji zu streiten. Vielleicht wäre es leichter gewesen, es ihm in einem Satz mit ‘Du verspielst dich immer bei den Sechzehnteln und bist ein arroganter Wichser!‘ ins Gesicht zu klatschen. Doch sie stritten gerade nicht. Also blickte Yoshiki den Bassisten nur an wie ein Kaninchen vor der Schlange und sagte nichts. Er hasste es, das Kaninchen zu sein. „Ok. Hast du einfach nicht die Eier, oder…?“ Taiji runzelte die Stirn. „Ich sagte doch, es ist komplizierter als das“, murmelte Yoshiki und drehte sich minimal auf seinem Hocker hin und her. „Dann erklär’s mir. Du sagst ständig, dass du mich nicht leiden kannst, aber du sagst auch nicht Nein zum Ficken. Was passiert in deinem Kopf, Mann?“ Yoshiki blickte gerade lange genug auf, um ihm einen vorwurfsvollen Blick zuzuwerfen. Dann aber seufzte er schicksalsergeben. „Es ist… wenn ich ja sage, dann bin da in irgendwas drin, wo ich nicht weiß, ob ich rein will. Und wenn ich nein sage, dann… keine Ahnung. Bin ich erst mal raus aus allem.“ Taiji hob verständnislos die Hände. „Ja“, stimmte er sarkastisch zu, „das ist so das Ding mit Entscheidungen, sie haben Folgen. Gut erkannt.“ „Du merkst, dass das nicht hilft, ja?“ Der Bassist seufzte und bemühte sich, den Sarkasmus in Grenzen zu halten. Ernsthafte Diskussion. In Ordnung. War einen Versuch wert. „Gut. Warum wäre es schlimm, raus zu sein?“ Eine halbe Minute lang druckste Yoshiki ein wenig herum, biss sich auf die Unterlippe und betrachtete nacheinander alle seine Trommeln, die Partituren und die Tür. Dazwischen huschte sein blick immer wieder zu Taiji zurück. Schließlich murmelte er schnell und leise: „Eswaut.“ „Bitte?“ „Es war gut, ok? Da, ich hab’s gesagt. Scheiße.“ Yoshiki lehnte sich auf dem Hocker zurück und verschränkte abweisend die Arme. Dass er wegschaute verdeckte das Rot auf seinen Wangen nicht im Geringsten. „Ich seh dich aus den Augenwinkeln grinsen. Hör auf damit.“ Taiji reduzierte sein Grinsen zu einem zufriedenen Schmunzeln. Als er weitersprach, war seine Stimme fast sanft. „Ok, Mann. Schau. Ich akzeptiere, dass du da ein paar emotionale Turbulenzen hast oder was auch immer. Aber ich bin keine Option, die man sich warmhält. Du musst da jetzt eine Entscheidung treffen.“ „Ich weiß, ich weiß…“ Yoshiki seufzte und starrte noch einmal auf das oberste Notenblatt. Es war ein Song, den er Orgasm getauft hatte. Wie passend… „Ok, also in deiner Welt, dieses…“, er suchte nach der Bezeichnung, die Taiji gebraucht hatte, vor einigen Wochen am Auto. „… Kollegen mit Vorzügen. Was bedeutet das?“ „Du… weißt nicht, was Freunde mit Vorzügen sind?“ Yoshiki hakte die Finger in die Umrandung der Snare, weil er etwas zum Festhalten brauchte, bevor er Taiji ansah und seinem Blick zum ersten Mal standhielt. „Nein. Also, doch. Aber ich denke, wir sollten vollständig auf dem gleichen Stand sein, bevor ich Ja zu irgendwas sage. Oder Nein.“ „In Ordnung.“ Nachdenklich verschränkte Taiji die Arme. „Ich denke es bedeutet: ich mach mein Ding, du machst dein Ding und wenn wir beide Bock haben, machen wir Dinge miteinander. Ja. Wie jetzt. Nur mit… Blowjobs.“ Yoshiki verzog das Gesicht. „Ok – hör auf, diese Wörter zu sagen.“ „Welche Wörter?“ „Alle Wörter unterhalb der Hüfte.“ „Ähm…“ Ein paar Sekunden lang tat Taiji so, als würde er angestrengt über die Aufforderung nachdenken. Dann sagte er: „Nein?“ „Fein...“ Einen Versuch war es wert gewesen… Vollarsch. Yoshiki atmete durch und zwang sich durch seine Irritation zurück zum Thema. „Und was ist mit… keine Ahnung, echten Beziehungen? Was ist, wenn… ich jemanden kennenlerne? Was passiert dann?“ „Deine Entscheidung.“ „Im Ernst jetzt? Du sagst also, du würdest auch weitermachen, wenn ich wen kennenlerne und sage, dass das ok ist? Und was ist mit dir? Würdest du das machen?“ „Wir sind keine fünf Jahre mehr alt, Yoshiki. Wir wissen, dass Liebe und Sex nicht zwingend zusammengehören und das man von letzterem auch … ohne das erste ein bisschen mehr haben kann.“ Nachdenklich tappte der Schlagzeuger mit seinen Fingern gegen die Snare und sagte schließlich: „Ich dachte trotzdem immer, das sollte so sein. Eine Person, die man mag. Mit der. Allein. So.“ Er hatte versucht, äußerst entschieden zu klingen, doch irgendwie war ihm die Überzeugung auf dem Weg verloren gegangen. „Ah ja?“ Taiji zog eine Augenbraue hoch und lehnte sich neben dem Schlagzeug gegen die Wand. „Und was ist mit dieser… wie hieß sie, Rumi? „Emi.“ „Was auch immer. Hast du die genommen, weil es die einzig wahre Liebe war?“ „Ich möchte glauben, dass ich das damals dachte.“ Taiji schnaubte. „Ja!“ Yoshiki stand auf. „Gut, was willst du hören? Dass die Realität hinter meinen Vorstellungen zurück bleibt? Bitte, das kannst du haben!“ Taiji stieß sich von der Wand ab. „Nein, das will ich nicht hören! Ich will wissen, warum du –“ Er brach ab und atmete tief durch. „Ok. Schau“, versuchte er es dann noch einmal, ruhiger. „Wir schießen jetzt grade ein bisschen übers Ziel hinaus und sind schon wieder an diesem Punkt, wo ich dich erwürgen will. Das bringt und nicht weiter. Also, ich frag dich noch einmal. Und ich will eine Antwort auf diese Frage und nur auf diese Frage.“ Eine halbe Minute lang kämpfte er mit Yoshiki einen stillen Kampf nur über Blicke. Dann sagte sein Gegenüber „Ok“ und ließ sich zurück auf den Hocker fallen. „Ich beantworte deine Frage, du beantwortest meine Frage.“ „In dieser Reihenfolge?“ „Nein.“ „Schön. Was auch immer. Was willst du wissen?“ Die Frage kam sofort. „Warum sollten wir? Das hier machen?“ Taiji zuckte mit den Schultern, auf seine lässige ‘Ach ja? Dann fick dich doch‘-Art, die Yoshiki sich abzuschauen versuchte und niemals ganz hinbekommen würde. „Wir machen schon Drugs und Rock ‘n‘ Roll“, sagte er. „Nehmen wir den Sex dazu. Ich seh nicht, was es schadet. Es macht Spaß, wir kennen uns schon und wir streiten nicht mehr so oft.“ Er schien selbst überzeugt von diesen Argumenten. Doch Yoshiki schüttelte den Kopf. „Das war nicht meine Frage… meine Frage war: Warum willst du das? Ich meine… ich hab dich gesehen. Wie du… mit Mädchen… bist. Warum… das hier?“ Diesmal dachte Taiji wirklich darüber nach. Eine ganze Weile lang starrte er erst in die Luft und dann auf die Lichtreflexe im Ride. „Weiß nicht“, sagte er schließlich und blinzelte, um seinem Starren ein Ende zu setzen. „Aber weißt du, mit den Mädchen, die ich bisher so hatte, da… also, das war… gut und so, keine Frage. Aber dann unterhält man sich so mit ihnen und man merkt: Boah, sie raffen es halt einfach gar nicht. Was ich will. Nicht beim Sex jetzt, sondern insgesamt. Die haben ihre ganz eigene Vorstellung von… allem. Und das ist in Ordnung, aber das ist immer irgendwie da, auch wenn sie sagen ‘Klar, nur für heute!‘ – fall da nie drauf rein Mann, das ist eine Falle. Ich… Also, da war noch nie jemand dabei, wo ich wusste: das hat Zukunft hier. Und dann hab ich auch gar keine Lust, mich da groß… rein zu investieren. Ich meine: wozu? Naja, auf jeden Fall… Bei dir hab ich zumindest manchmal die… also, das Gefühl, dass du checkst, worum es geht. Mir. Oder im Leben. Keine Ahnung. Du willst einfach Musik machen, ich will einfach Musik machen… Und das… das reicht. Es ist… einfach. “ Yoshiki musste gegen seinen Willen lachen, versuchte aber, es zurückzuhalten. Es brach sich als halbes Schnauben Bahn. „Seit wann ist unsere Beziehung einfach?“ Taiji aber lachte nicht und sein Gesichtsausdruck ernüchterte Yoshiki fast sofort. „Wir wollen da raus gehen und das Einzige tun, von dem wir uns vorstellen können, dass wir damit leben können. Wenn es vorangeht, sind wir froh. Und wenn wir das Gefühl haben, dass der andere alles aufhält, weil er immer im falschen Moment das Ride an-“ „Taiji!“ „-spielt, schreien wir uns an!“ Taiji hob fragend die Hände. „Wie viel einfacher kann es sein?“ Yoshiki atmete leise durch und sah weg. Taiji aber ließ nicht locker. Er verschränkte die Arme und sah ihn an, sein Blick jetzt unnachgiebig. „Ich hab deine Frage beantwortet. Also. Was sagst du?“ „Ich weiß nicht. Das… klang mir alles ein bisschen zu emotional grade.“ „Das ist nicht emotional. Es ist ein Fakt. Es ist schön, wenn man sich mal nicht erklären muss. Unabhängig davon, dass du mir wirklich auf den Arsch gehst. Meistens. Manchmal.“ Taiji blickte kurz auf seine Füße und warf ihm dann einen ungewohnt scheuen Blick zu. „Und ich… hatte eine gute Zeit mit dir. Irgendwie.“ Jetzt starrte Yoshiki ihn an. Alles könnte so einfach sein, wenn er keine Ahnung hätte, was Taiji da von sich gab. Doch die Wahrheit war, dass er verstand, was Taiji sagen wollte – weil es ihm ähnlich ging. Manchmal wollte er in einer Beziehung sein, aber er wollte nicht in einer Beziehung sein. Das war es, was der Wunsch nach Unabhängigkeit mit einem machte. Der seltsame Zwiespalt, wenn man nicht wirklich bereit war, das eigene Leben für einen anderen Menschen und seine Vorstellungen einer gemeinsamen Zukunft zu öffnen, aber sich gleichzeitig jemanden an der Seite wünschte, der in die gleiche Richtung schaute und einem manchmal den Rücken kraulte. Schweigend sahen sich über die Toms hinweg an. „Niemand darf das erfahren“, sagte Yoshiki schließlich und war überrascht von seinem eigenen Tonfall. Er konnte sich nicht erinnern, schon jemals so ruhig und bestimmt und erwachsen geklungen zu haben. Taiji gestikulierte hinter sich und warf einen flüchtigen Blick auf das Equipment ihrer Kollegen. „Auch nicht in der Band?“ Die Antwort kam so schnell, dass Yoshiki nicht darüber nachgedacht haben konnte. „Besonders nicht in der Band.“ Und Taiji nickte. -X- Ende Dezember wurde der winterliche Nieselregen für zwei Tage von wässrigem Schneefall abgelöst und langsam begann Toshi, sich in Tokio wohl zu fühlen. Die Bandproben machten ihm Spaß, auf der Arbeit hatte er keine Probleme und auch das Zusammenleben mit Yoshiki hörte allmählich auf, sich wie ein Provisorium anzufühlen. Sie lebten jetzt seit einigen Wochen zusammen und als die letzten Weihnachtsmänner aus den Schaufenstern der Kaufhäuser verschwunden waren, hatten sie eine angenehme Routine entwickelt. Toshi putzte abends das Bad. Yoshiki machte morgens Kaffee. Der Nachbar von gegenüber beschwerte sich alle zwei Wochen, dass sie zu solch unnormalen Zeiten das Haus verließen und zurückkamen. Toshi versuchte, zu vermitteln. Yoshiki begann, die Tür nachts extra laut zuzuwerfen. Sie feierten Neujahr bei hide. Danach brauchte Toshi drei volle Tage, um seinen Kater loszuwerden. Er konnte sich nicht erinnern, wie das neue Jahr begonnen hatte. Yoshiki nahm sich vor, mit dem Rauchen aufzuhören. Er schaffte knapp zwei Wochen. Der achtundzwanzigste Januar schließlich war ein besonderer Tag. Denn an diesem Tag trat Toshi zum ersten Mal abends aus der Nachhilfeschule, ging auf dem Weg zur U-Bahn am Supermarkt einige Straßenzüge entfernt vorbei, ohne sich zu verlaufen, stieg dann in die richtige Linie und nahm sie bis zur richtigen Station. Auf Anhieb fand er den richtigen Treppenaufgang, wusste beim Wiedereintritt in die Oberwelt sofort, wo er war und dann trugen ihn seine Füße bis vor die richtige Wohnungstür, ohne dass er noch einmal groß darüber hätte nachdenken müssen. Er war angekommen. Drinnen zog er seine Schuhe aus und schälte sich nacheinander aus Handschuhen, Schal und Winterjacke. Er hängte alles neben Yoshikis Mantel an die Garderobe und schnüffelte. Es duftete bereits äußerst appetitlich. Routine. Mittwoch. Abendessen Yoshiki. Toshi nahm die Einkäufe hoch und ging weiter in die Wohnküche. Yoshiki saß in der anderen Sofaecke, in die Decke eingewickelt und seine Wärmflasche auf der Brust, und lernte Englisch. Oder versuchte es zumindest. „Guten Abend“, sagte Toshi und winkte ihm, während er schon halb in die Pfanne auf dem Herd schielte. Zwei Filets, vermutlich Dorade. Toshi hielt die Hand über das Fleisch. Noch heiß. Gutes Timing. „Hallo“, sagte Yoshiki. Es klang etwas kratzig. Toshi öffnete den Kühlschrank, um die Einkäufe einzuräumen. „Wie war dein Tag?“ „Gut, gut… Deiner?“ „Auch.“ Toshi nahm als letztes ein neues Duschgel aus der Tüte und ging hinüber ins Bad, um es wegzustellen und sich die Hände zu waschen. Als er zurückkam, hatte Yoshiki sich keinen Deut bewegt. „Isst du nichts?“, fragte er ihn, während er Reis aus dem Kocher in eine Schale schaufelte. Yoshiki runzelte die Stirn und nahm die Augen nicht von seinem Buch. „Vielleicht später“, antwortete er mit einiger Verzögerung. „Ok.“ Toshi setzte die Zusammenstellung seines Abendessens fort und ließ sich schließlich an dem kleinen Küchentisch nieder. Die angemachten Gurken ließen ihn ein wenig das Gesicht verziehen. Er wusste nicht, was Yoshiki da heute für ein Experiment gestartet hatte, aber es war… naja. Schnell griff er zu seiner Suppenschale, um nachzuspülen. Es half sofort. „Deine Suppe wird langsam richtig gut“, lobte er und nahm einen weiteren Schluck. Das Geheimnis eines jeden Zusammenlebens war, dass man wusste, was man sagte und was nicht. „Mmh“, machte Yoshiki. Offensichtlich hatte er schon wieder nicht zugehört. Auch das war wohl ein Geheimnis guten Zusammenlebens. Toshi schmunzelte, schüttelte leicht den Kopf und wandte sich seinem Fisch zu. Während er aß, betrachtete er die Lichter Tokios jenseits ihres Balkons. Obwohl er sie fast jeden Abend sah, wurden sie nicht langweilig. Es war einfach irgendwie faszinierend, darüber nachzudenken: Jedes dieser kleinen Lichter versteckte einen Menschen, der Dinge machte und Dinge dachte, genau wie Yoshiki und er. Manchmal betrachtete Toshi nur die Fenster der Häuser gegenüber und fragte sich, wer sie wohl waren. Nachdem er gegessen hatte, stellte er das Geschirr in die Spüle und ging in sein Zimmer, um sich was zu lesen zu holen. Da sie beschlossen hatten, die Heizkosten möglichst niedrig zu halten, war es eigentlich nur im Wohnzimmer angenehm warm. „Jetzt was essen?“, fragte er, als er das nächste Mal an der Küchenzeile vorbeikam. Yoshiki machte ein undefinierbares Geräusch und murmelte dann „In Ordnung, in Or… Bring mir ein paar von den Gurken.“ Toshi zog die Augenbrauen hoch. Wäre jetzt nicht seine erste Wahl gewesen. Fünf Minuten später ließ er sich in die Sofaecke fallen, die er inzwischen als ‘seine‘ betrachtete und nippte an seinem Tee. Dann stellte er die Tasse auf dem Tisch ab, schlug sein Buch auf, las aber nicht. Vielleicht war es, dass er heute schon genug in Bücher geschaut hatte. Vielleicht aber war es auch, dass es bald Februar sein würde und Yoshiki nach wie vor keine Anstalten machte, Unterricht geben zu wollen - oder sonst irgendein Interesse an Arbeit zeigte. Dabei war es nicht so, dass Yoshiki nichts tat. Ganz im Gegenteil. Nach allem, was Toshi so einzuschätzen vermochte, war Yoshiki sogar etwas häufiger unterwegs als er selbst und wesentlich häufiger mit Bandangelegenheiten beschäftigt. Sogar jetzt lagen mehrere wüste Papierstapel auf dem Tisch. Auf dem obersten erkannte Toshi eine Schrift, die er als hides identifizierte. Dass Yoshiki ihn auch nur in die Nähe seiner Partituren ließ, sprach schon für sich. Sie waren einen weiten Weg gekommen. Aber trotzdem… trotzdem… Toshi löste seine Augen von den Notenblättern und betrachtete seinen Freund einige Minuten lang unschlüssig über sein Buch hinweg. „Kann ich dich was fragen?“, meinte er schließlich. Yoshiki schwieg noch ein paar Sekunden, dann drehte er die vorderste Karte um, schüttelte den Kopf, schob sie nach hinten in den Stapel und wandte sich an Toshi. „Mmh?“ „Du meintest mal, dass diese Aktien, die deine Mutter da gekauft hat… dass die sie befreien sollten. Von… Dingen.“ „Kann sein. Warum?“ Yoshiki hatte die Gurken auf dem Tisch entdeckt und lehnte sich ein Stück zur Seite, um die Schale zu seinen Vokabelkarten auf seinen Schoß zu heben. Toshi rang noch einen kurzen Moment mit sich. Doch Yoshiki war sein bester Freund – wenn er ihm solche Fragen nicht stellen konnte, wem dann? „Wie… wie frei genau ist deine Mutter inzwischen?“ Yoshiki stocherte mit den Stäbchen in seinen Gurken herum, um noch einmal ein wenig die Soß zu verteilen und sagte schließlich in einem genaustens bemessenen Tonfall: „… wie die Schwalben überm Fujiyama.“ Er steckte sich ein paar Gurkenscheiben in den Mund, kaute einmal und zog eine Grimasse. Irgendwo aus den Untiefen seiner Decke produzierte er eine Packung Taschentücher, entfaltete eines davon und ließ die Überreste der Gurken unauffällig darin verschwinden. Abschließend knüllte er das Taschentuch zu einer festen kleinen Kugel zusammen, während sein Gesichtsausdruck sagte, dass er noch mit sich haderte, wie er den Geschmack in seinem Mund loswerden sollte. „Haben dir die geschmeckt?“, fragte er ungläubig in Toshis Richtung. Dieser machte ein entschuldigendes Gesicht und schüttelte den Kopf. „Mmh“, machte Yoshiki. -X- Eine Stimme erklang auf der anderen Seite ihrer Tür. „Teru-chan! Post für dich!" „Wenn es von der Schule ist, wirf es einfach weg", antwortete Terumi, ohne von ihrer Collage hochzusehen. Im letzten Jahr hatte sie unzählige Briefe bekommen, in denen verschiedene Lehrer betont hatten, wie sehr sie alle vermissten. Interessant, dass nie jemand der so ihrer Präsenz beraubten kam, um sie zu besuchen. „Und Nein, ich will es nicht wissen und Nein, du sollst es nicht vorlesen." „Es ist kein Absender drauf." Terumi seufzte, gerade laut genug, damit es auf der anderen Seite noch zu hören sein würde. „In Ordnung, in Ordnung... ich mach es auf..." Sie erhob sich und schlurfte zur Tür hinüber. Der ganze Aufwand für irgendwelche Werbung... Brauchen Sie einen neuen Kühlschrank? Verschwinden Ihre Socken immer im Trockner? Kaufen Sie unseren Allzweck-Mixer! Wortlos nahm sie ihrer Tante den Brief ab und schob die Tür wieder zu. Tatsächlich stand auf dem etwas mitgenommenen Umschlag nur ihre Adresse. Nachlässig öffnete sie den Brief mit der stumpfen Seite der Schere, mit der sie gerade sowieso gearbeitet hatte und zog den Inhalt des Umschlags heraus. Es war eine Fahrkarte nach Minato und so wie es aussah das untere Ende eines Plakats, auf dem eine halbe Band und eine andere Band namens X über einem Datum und einer Adresse standen. Nachdem sie es ein paar Sekunden lang unschlüssig angestarrt hatte, drehte sie den Fetzen um. Komm! stand auf der Rückseite. Sonst nichts. Trotzdem wendete sie das Blatt noch einige Male, um sicher zugehen, dass sie nichts übersehen hatte. Dann erst versuchte sie es mit Logik. Es gab nur vier Personen, die ihr theoretisch schreiben würden und die nicht bereits hier lebten. Es war keine weibliche Schrift und es war nicht das gleichmäßige Schriftbild Tomoakis. Das ließ letztendlich nur einen Schluss zu. Langsam schob sie beides, Fahrkarte und Plakat, in den Umschlag zurück und legte diesen so vorsichtig als könne er explodieren jenseits der Müslischale vom gestrigen Frühstück in ihrem Bücherregal ab. Die Schale schob sie noch ein wenig mehr in die Mitte, um den Umschlag völlig zu verdecken. Dann wandte sie sich wieder ihrer Collage zu. Aus der Mitte blickten sie große Rehaugen an und sie wurde das Gefühl nicht los, dass ein Teil von ihr einem anderen Teil irgendetwas damit sagen wollte. Sie wusste nur nicht was. In dieser Nacht wachte sie um zwei Uhr zweiundzwanzig auf. Es war immer gruselig, wenn so etwas passierte. Sie hatte von Hühnern geträumt und von einem Einkaufszentrum, in dem es keinen Orangensaft mehr gab. Und noch während sie über Saft nachdachte, wusste sie es plötzlich. „Son of a Mother", sagte sie, und dann: „Ich geh trotzem nicht." Abwartend betrachtete die verschiedenen Abbildern von Paul Stanley an den Wänden, die vom Licht der Straßenlaternen draußen gerade so weit erleuchtet wurden, dass sie im Halbdunkel erkennbar waren. Es war irgendwie beruhigend, dass keiner von ihnen antwortete. Kapitel 19: Misfits and Dreamers -------------------------------- Als Toshi die Tür zu ihrem neuen Raum aufstieß (es war immer noch ein wenig zu ungewohnt, als dass er nur Raum hätte sagen können), schwappte ihm ein harter Rhythmus entgegen. Yoshiki war bereits da und trommelte sich die Seele aus dem Leib. Toshi hatte gerade noch Gelegenheit, die sich an- und entspannende Muskulatur von Yoshikis Oberkörper zu begutachten, bevor dieser ihn bemerkte und mit einem deutlichen Akzent auf den Becken aufhörte – nicht allerdings, ohne den Takt zu Ende zu bringen. Musste so ein Schlagzeuger-Ding sein. „He“, sagte Toshi. Seine Ohren klingelten ein wenig. „He.“ Der Schlagzeuger zog ein Handtuch unter seinem Hintern hervor und wischte sich einmal damit übers Gesicht. Als er wieder hinter dem Handtuch auftauchte, wurde ihm bewusst, dass sein bester Freund ihn mit schiefgelegtem Kopf betrachtete. „Was ist?“, fragte Yoshiki irritiert, während er sich den Nacken abtupfte. Der Sänger riss sich zusammen und wandte sich ab, um die Tür hinter sich zu schließen. „Nichts“, sagte er, während er sich aus seinem Mantel schälte und ihn über die Sofalehne legte, „nichts… Nur… Sag mal, wie lange bist du schon hier?“ Yoshiki drehte sich auf dem Hocker um und warf einen Blick auf seine Armbanduhr, die er schräg hinter sich auf den Boden gelegt hatte. „So zwei, drei Stunden. Warum?“ Er hängte sein jetzt feuchtes Handtuch über den Ständer, der das Ride hielt und dehnte seine Arme. Sein linkes Handgelenk knackte. „Weil… Yoshiki, du kannst nicht so lang am Stück spielen.“ „Sagt wer?“ Herausfordernd stützte Yoshiki seine Ellenbogen auf die Snare und lehnte sich ein Stück nach vorne. „Ich mein ja nur…“ Toshi schaltete die PA an. „Das ist nicht gesund.“ Yoshiki seufzte. „Lass mich, ok? Ich weiß, was ich tue. Hier, schau.“ Er bückte sich. „Ich hab mein Wasser, ja, und hide bringt mir was zu Essen mit, vorausgesetzt, er hat’s nicht vergessen.“ Mit einem nach oben gereckten Daumen tauchte er wieder auf. „Alles cool.“ Ein paar Sekunden versuchte Toshi, den Mutterinstinkt niederzukämpfen, doch er war zu stark. „Ich glaube trotzdem, dass du –“ An dieser Stelle fiel Yoshiki ihm ins Wort. Anscheinend wollte er es nicht hören. „Schau, ich freu mich einfach, dass ich endlich spielen kann, wann ich will, so lang ich will, so oft ich will. Das macht mich glücklich. Und ich werde besser und auch das macht mich glücklich. In Ordnung?“ Toshi schüttelte den Kopf, doch der harte Zug um seine Augen herum wurde ein wenig weicher, als er hörbar ausatmete. „In Ordnung.“ Er ließ sich auf dem Sofa nieder, tauschte noch ein paar Sätze über seinen Tag mit Yoshiki und als sich ihr Gesprächsbedarf erschöpft hatte, vertiefte er sich in die Lyrics vom letzten Mal, bis Pata, Taiji und, kurz vor knapp, auch hide auftauchten. Er hatte offenbar unterwegs gegessen und war gerade dabei, an ein paar Reiskörnern zu ersticken, die beim Rennen in der Luftröhre gelandet waren. Taiji rettete ihn mit einigen kräftigen Schlägen zwischen die Schulterblätter und immer noch tiefrot konnte er Yoshiki sein Abendbrot hinters Schlagzeug reichen und dann eine Mitteilung machen: „Also, in zwei Wochen, das läuft. Sie haben ein paar Plakate gemacht und wir spielen um acht. Da sein so um vier. Wir müssen alles bringen außer Verstärker.“ Aus Yoshikis Ecke war ein leises Seufzen zu vernehmen, aber zumindest stöhnte er nicht. Schlagzeuge ab- und aufzubauen würde eine seiner liebsten Beschäftigungen werden, ob er wollte oder nicht. „Ich hab euch die Adresse aufgeschrieben… irgendwo…“, fuhr hide fort und tastete nacheinander alle seine Taschen ab. „Es ist in der Nähe vom Bahnhof, im Keller zwischen so zwei Läden, man muss ein bisschen suchen… Wenn ihr den Tintenfisch an dem einen Restaurant seht, seid ihr zu weit. Aha!“ Er zauberte ein arg mitgenommenes Blatt Papier hervor, auf dem er sich die Adresse notiert und einige sehr kryptische Straßenzüge aufgemalt hatte. „Und Bezahlung?“, fragte Taiji. „Abhängig davon, wie viel Leute auftauchen.“ „Also nicht viel.“ „Ah, Mann…“ hide ließ sich auf die Sofalehne sinken und strich sich eine wirre Strähne aus dem Gesicht. „Ich hab versucht, so viel Werbung für uns zu machen wie möglich. Aber das ist echt schwer, wenn die Leute nicht wissen, was sie verpassen. Wir sind da nur dabei, weil Nao viele gute Worte für mich eingelegt hat. Ich meine, ich beschreib das dann natürlich, aber es klingt immer irgendwie nach ‘Und dann hab ich da meine Gitarre und mach ein bisschen schrubb-schrubb-schrubb, duh.‘“ Im letzten Satz setzte hide seine Idioten-Visage und die entsprechende Tonlage auf. Toshi lachte, doch Taiji drückte frustriert Dellen in die Limonadendose in seiner Hand. „Ja…“, drang Yoshikis Stimme hinter dem Schlagzeug vor. Er stellte seinen Reis beiseite, „darüber wollte ich ohnehin mal mit euch reden.“ Abwartend blickten alle zu ihm hinüber. Yoshiki, wie immer, wenn er im Mittelpunkt stand, ließ sich noch ein paar Sekunden Zeit. Dann meinte er: „Ich finde, wir sollten mal irgendwie was aufnehmen. Nur so ein, zwei Songs. Damit wir Werbung machen können. Mittelfristig wollen wir ja vielleicht auch mal irgendwo unter Vertrag kommen, da erscheint das eine lohnende Investition…“ „Und wenn du Investition sagst“, sagte Pata mit einem Blinzeln, das träge hätte wirken können, „wer genau investiert dann in deiner Vorstellung wie viel?“ Diese Art, den Finger immer genau auf den Knackpunkt zu legen, dachte Yoshiki, musste er auch irgendwie noch passend einsetzen lernen. Er seufzte. „Naja. Ich dachte, jetzt wo wir alle scheinbar über die Runden kommen, nehmen wir erst mal das Geld, das wir einnehmen-“ „Vielleicht einnehmen“, schob hide ein. „Vielleicht einnehmen“, berichtigte sich Yoshiki mit einem seichten Augenrollen, „und reinvestieren das.“ „Wie teuer ist so was?“, fragte Toshi. Ihm wurde wieder einmal deutlich, wie wenig er von dem Geschäft verstand, mit dem er zu hoffen wagte, eines Tages seine Brötchen zu verdienen (und, wenn es gut lief, vielleicht noch ein wenig Wurst dazu). „Gar nicht so schlimm. Man muss halt Zeit im Studio mieten, das geht. Und dann kommt es drauf an, wie professionell man das will.“ Yoshiki drehte auf seinem Hocker ein wenig nach links und nach rechts, behielt aber ihrer aller Gesichtsausdrücke im Blick. „Und ob man jemanden braucht, der das mischt oder ob man es selbst macht.“ Das leise Tippen, das daher gerührt hatte, dass Taiji mit den Fingern auf seiner leeren Dose getrommelt hatte, brach ab. „Bitte sag mir, dass du es nicht selbst machen willst…“, sagte er leidgetränkt doch mit der Miene eines Mannes, der bereits resigniert hatte. Yoshiki antwortete nicht. Doch allein sein Gesichtsausdruck sagte Toshi, dass das genau war, was er machen wollte. Taiji verstand ebenfalls. Und seufzte schwer.   -X- Kochend heißer Kaffee floss aus dem Hals der Kanne in die große Tasse auf der Arbeitsfläche. Vielleicht hätte er doch diese Unfallversicherung abschließen sollen. Vorsichtig stellte der Mann, dem hide vor einigen Monaten so liebenswürdig Ähnlichkeit mit einem Faultier bescheinigt hatte die Kanne ab, noch mit dem Verkäufer aus der Werbung im Ohr, der von der Häufigkeit von Unfällen zu Hause berichtete. Wenn er sich aber erst unten im Laden Verbrennungen zweiten Grades zuzog, dachte Herr Ishizuka, während er seine Tasse in den Flur balancierte, wäre es ein Arbeitsunfall und den deckte seine jetzige Versicherung ab. Verständlicherweise war er daher sehr auf seinen Nachmittagskaffee konzentriert, während er die Stufen hinunterstieg und wäre am unteren Ende der Treppe fast in seine Frau gelaufen. Die braune Brühe schwappte über, allerdings nur auf die Treppe und nicht auf seine Finger. Dennoch: Unerfreulich. „Uhm…“, machte er fragend und mit einem missbilligenden Unterton, der dem Kenner sagte, dass da noch etwas folgen sollte, doch sofort ertönte ein „Psst!“ und ein Handrücken fand seinen Weg zu einem kleinen Klapps gegen seine Schulter. Der Kaffee schlug Wellen, blieb aber in der Tasse. Angespannt lugte Frau Ishizuka durch den schmalen Spalt zwischen Tür und Rahmen hinaus in den Laden. Ihr Mann verharrte ein paar Sekunden lang regungslos, dann beugte er sich zu ihr hinunter. „Warum stehen wir hier?“ Unwillkürlich hatte er seine Stimme zu einem Wispern gesenkt. Frau Ishizuka verrenkte sich ein wenig, winkte ihn tiefer und deutete auf etwas weiter vorne im Laden. Einbrecher? Katzenbabys? Herr Ishizuka stellte sich auf die Zehenspitzen, um über seine Frau hinweg durch den Spalt lugen zu können. Vorne, vor der Tür, zwischen der Kasse auf der einen und den Snacks auf der anderen Seite, stand seine Nichte und starrte nach draußen auf die Straße, reglos bis auf die Finger ihrer linken Hand, die sich immer wieder zittrig zur Faust ballten und wieder öffneten. Und dann streckte sie den Arm aus. Drehte den Schlüssel im Schloss. Das Knirschen und Knacken schien im Raum widerzuhallen wie ein Donnerschlag. Ihre Finger umschlossen die Türklinke und drückten sie sehr langsam nach unten, als würde es ihr alle Kraft kosten. Verborgen im Schatten des Treppenaufgangs hielt das Ehepaar gleichzeitig den Atem an. Frau Ishizuka hatte nach der Hand ihres Mannes gegriffen und krallte die Fingernägel ein wenig fester in seinen Unterarm, als angenehm war. Dieser hatte seinen Kaffee ganz vergessen – schief hing die Tasse in seiner anderen Hand und der Inhalt lief langsam aber beständig an dem Porzellan hinunter und tropfte lautlos auf die Treppenstufe, auf der seine Frau stand und ebenfalls gebannt zusah. Terumi zog die Tür auf. Mit einem Mal schien die Außenwelt den Laden zu fluten: Der Lärm der Baustelle an der Ecke, der helle Klang einer Fahrradklingel, das ferne Geräusch der Hauptstraße. Sonnenlicht fiel herein und fast bildete Herr Ishizuka sich ein, die frische Luft des Märztages auf der Haut spüren zu können. Ein paar lange, endlose Sekunden geschah nichts. Terumi hatte wieder innegehalten, die Hand immer noch auf der Klinke, als wäre es das Einzige, das Sicherheit versprach. Dann ließ sie los. Er konnte hören, wie sie zweimal durchatmete. Und dann trat sie durch die Tür, hastete am Schaufenster vorbei und war verschwunden. Die Türglocke bimmelte und dieses Geräusch löste das Ehepaar aus seiner Versteinerung. „… wo ist sie hin?“, fragte Herr Ishizuka und warf seiner Frau einen ratlosen Blick zu. Er war sich nicht sicher, ob er sich freuen oder zutiefst beunruhigt von dieser Entwicklung sein sollte. In seiner Überforderung nahm er einen Schluck aus der inzwischen nur noch halbvollen Tasse und bekleckerte dabei sein frischgewaschenes Arbeitshemd, ohne es zu merken. „Ich weiß nicht.“ Frau Ishizuka ging die letzte Stufe hinunter und trat vorsichtig in den Laden. Während sie nach vorne zur Ladentür ging und hinaus auf die Straße lugte sprach sie weiter. „Sie hat nichts gesagt.“ Unruhig drehte sie sich auf Höhe der Softdrinks um, ihre Finger bewegten sich nervös über ihren Rock, als wollten sie Falten glätten, die nicht da waren. „Glaubst du, wir sollten… ich weiß nicht, die Polizei rufen?“ Ihr Mann war ihr gefolgt, dann jedoch hinter die Kasse abgebogen, wo er den hohen Stuhl bezog und endlich seine Tasse auf den Tresen stellte, gleich neben die Sammelkarten. „Mit welcher Begründung? Dass unsere Nichte das Haus verlassen hat? Die werden uns für schön verrückt halten.“ „Also glaubst du, dass wir uns keine Sorgen machen müssen?“ Auf der Suche nach Bestätigung kam sie näher. Herr Ishizuka runzelte die Stirn. „Das hab ich nicht gesagt. Aber lass uns einfach… abwarten.“ „Sie war jetzt seit über zwei Jahren nicht draußen!“ Die Finger kneteten den Rocksaum. „Sie weiß doch gar nicht mehr - was, wenn sie etwas Dummes tut?“ „Nun…“ Herr Ishizuka zog die Tageszeitung unter dem Tresen hervor und schlug sie dort auf, wo er heute Vormittag aufgehört hatte. „Dann ist sie endlich wieder eine normale Jugendliche, nicht wahr?“ Die kleine, rundliche Frau sah ihn noch eine Weile an, als habe er den Verstand verloren, doch eine Minute später vertrieb ein kleiner Kaffeesee am Fuß der Treppe die düsteren Gedanken erst einmal aus ihrem Kopf.   -X- Yoshiki saß mit geschlossenen Augen vor dem Spiegel und ließ sich von hide einen Lidstrich ziehen. „Wie sieht’s draußen aus?“, fragte Toshi. Er saß auf Yoshikis anderer Seite und sah hide beim Arbeiten zu. „Gut“, antwortete Taiji, der gerade vom Gang hereingekommen war und warf sich die lockigen Haare über die Schulter. „Wird voller. Und bei euch so?“ Interessiert trat er näher heran. „Fast fertig“, murmelte hide. Er hatte die Augenpartie beendet, stellte sich aufrecht hin und ging einen kleinen Schritt zurück, um sein Werk zu begutachten. Dabei trat er fast Taiji auf die Füße, doch augenscheinlich war das nicht der Grund, aus welchem er „Mäh…“ sagte. „Mäh ist nicht, was ich hören will“, bemerkte Yoshiki und warf hide einen von langen, Mascara-getönten Wimpern umrahmten Augenaufschlag zu, der über seine wenig begeisterte Miene allerdings nicht hinwegtäuschen konnte. Kurz flackerte sein Blick zu Taiji, dessen Mundwinkel unwillkürlich eine Aufwärtswanderung begonnen hatten. Allerdings war Yoshiki sich unsicher, ob ihm gefiel, was er sah oder ob er dem Drang widerstand, lauthals zu lachen. „Nein, Nein…“, hide wandte sich ab, um den Stift zurück in seine Kosmetiktasche zu legen. „Es ist nicht, dass es schlecht wirkt… Auf deinem Gesicht sieht alles gut aus. Es ist nur nicht wirklich, was ich wollte… Keine Ahnung. Vielleicht muss ich einfach noch dran arbeiten. Und… ach, weiß nicht. Ich glaub, ich brauch einfach meine eigenen Sachen. Von der Hälfte dieses Zeugs hier weiß ich gar nicht, wie man das benutzt. Ich meine, das hier, was ist das?“ Er hielt ein längliches Objekt mit einer glitzernden Flüssigkeit hoch, damit alle es sehen konnten, zuckte mit den Achseln und warf es mit einem leisen Klappern zurück in die Tasche. „Und warum die Grundierung nicht hält, weiß ich auch nicht.“ Er legte eine Hand an Yoshikis Wange und fuhr leicht mit dem Daumen darüber. Eine helle Schicht blieb an seinem Finger zurück. hide betrachtete sie ein paar Sekunden lang skeptisch mit gerunzelter Stirn und seufzte dann: „Ich hab das Rezept aus einem Magazin. Die KISS-Farbe. Das sollte wasserfest sein.“ Yoshiki tat es ihm gleich, mit dem selben Ergebnis. Weiße Schmiere blieb an seinen Fingerspitzen kleben. „Mmh. Tja.“ „Ja. Keine Ahnung. Irgendwas beißt sich mit… irgendwas anderem. Ich weiß aber nicht was.“ „Hättet ihr das nicht wann anders ausprobieren können als eine halbe Stunde vor der Show?“, fragte Taiji mit verschränkten Armen und einem leichten Kopfschütteln. „Hätten wir“, gab hide zu und kramte in seinem Täschchen. „Aber zu unserer Verteidigung: Haben wir nicht. Und jetzt zu dir.“ Er hatte einen lilafarbenen Lippenstift hervorgezaubert und wandte sich Taiji zu. Dieser musste lachen, so offensichtlich absurd fand er hides Vorhaben. „Uh-uh. Keine Chance.“ „Oh komm schon. Du willst der Einzige von uns sein, der ungeschminkt da raus geht?“ „Pata hat dich das machen lassen?“ hide zuckte mit den Schultern und nickte. Taiji legte den Kopf schief und zog eine Schnute wie jemand, der mit sich rang. Schließlich atmete er seufzend aus und ließ sich auf den Hocker am Tisch sinken. „Ok. Lippenstift und Lidschatten. An den Rest lass ich dich, sobald du eine Ahnung hast, was du tust.“ hide arbeitete sich durch Taiji und war gerade fast mit Toshi durch, der sich der kleinen Freude hingab, für ein paar Minuten hides ungeteilte Aufmerksamkeit zu haben, als Pata mit einer Whiskey-Cola in der Hand zu ihnen stieß und interessiert guckte. So konzentriert war ihr Leadgitarrist auf die letzten Züge seiner Arbeit, dass er zuerst gar nicht merkte, dass Gefahr im Verzug war, bis: „Er hat es dich nicht machen lassen!“, rief Taiji anklagend und setzte zum Sprung auf hide an, der von Toshi abließ und sich schnell auf die andere Seite des Plastiktischs rettete, von wo aus er herzlich kicherte. Taiji warf einen Blick auf die Uhr über der Tür. „Wenn wir noch ein paar Minuten mehr Zeit hätten“, grollte er und schwenkte zurück zu hide, „ich würde dich umbringen und mich abschminken.“ Er stockte. „Nicht in dieser Reihenfolge!“, schob er hinterher. „Aber die haben wir nicht“, trällerte hide und bewegte sich grinsend langsam in Richtung Tür, die Augen fest auf Taiji, weswegen er rückwärts gehen musste. „Also nehme ich an, wir sehen uns auf der Büüühne!“ Und mit einem letzten Lachen war er auf dem Gang verschwunden, vermutlich, um nach seinem Kumpel Nao zu suchen. Mit einem tiefen, leiderfüllten Seufzen wandte sich Taiji an Yoshiki, der noch einmal Haarspray auf seinem Haupt verteilte, wenn auch mehr wegen seines Makeups als wegen seiner Frisur. „Wir sehr hängst du an hide?“, fragte er matt. Yoshiki zuckte mit den Schultern. Pata besah sich seinen Kollegen, verdrehte die Augen und wandte sich ab, um wieder durch die Tür zu verschwinden, durch die er gerade erst hereingekommen war. Er würde nicht der Einzige sein, der ungeschminkt dort rausging.   -X- Das Atmen wurde mit jeder Station ein wenig schwerer und sie konnte fühlen, wie ihr der Stoff ihres Shirts unter der Jacke am Rücken klebte. Starrten alle? Bestimmt starrten alle. Doch sie wagte nicht, nachzusehen. Stattdessen steckte sie die zitternden Hände noch tiefer in die Jackentaschen, schloss die Augen und versuchte, ruhig und tief zu atmen und sich nur auf die Musik aus ihren Kopfhörern zu konzentrieren und auf das Mixed Tape, das sie aus dem Radio aufgenommen hatte. Growing up, it all seems so one-sided Opinions all provided The future pre-decided Schon allein damit, dass sie überhaupt durch die Tür gekommen war, hatte sie ihre Erwartungen an sich selbst übertroffen. Alles seither war Bonus. Sie hatte es zum Bahnhof geschafft. Sie hatte eine Fahrkarte gekauft. Sie hatte sich gesetzt und angestrengt aus dem Fenster gestarrt. Sie war umgestiegen. Und nun war sie hier, in der vollbesetzten U-Bahn. In jeder Richtung Menschen, so nah, dass sie nur den Kopf zur Seite drehen musste, um die Haare von jemand anderem im Gesicht zu haben. Sie atmete ein und wieder aus. Und ein und wieder aus. Detached and subdivided In the mass-production zone Nowhere is the dreamer Or the misfit so alone „Shibuya“, sagte eine freundliche Frauenstimme über die Lautsprecher, „Shibuya.“ Es gab kein Durchkommen. Erst, als die Türen sich öffneten, schwemmte die Gruppe der Aussteigenden sie mit nach draußen, wo sie erst einmal stehen blieb und sich zu orientieren versuchte. Ihre Knie fühlten sich an wie Pudding und ihr Herz schlug in der Halsgegend, schnell und laut. Einen Moment lang wünschte sie sich nichts mehr, als wieder zuhause zu sein, dieser dummen Eingebung nicht gefolgt zu sein. Doch jetzt war sie schon so weit gekommen. In the high school halls In the shopping malls Conform or be cast out Sie verließ den Bahnhof durch den Westausgang und tauchte in das Gewirr an kleineren Straßen ab, wo sich die Masse schnell verlor. Es gab wieder Luft. Sie folgte dem Weg, den sie im Stadtplan so lange angestarrt hatte, bis sie ihn auswendig kannte und schließlich, endlich, erreichte sie die Adresse. Kleine Grüppchen von Jugendlichen standen auf dem Straßenabschnitt herum, kamen, gingen oder unterhielten sich. Any escape might help to smooth The unattractive truth But the suburbs have no charms to soothe The restless dreams of youth Sie nahm die Kopfhörer ab und langsam, als hielte eine unsichtbare Kraft sie davon ab, zwang sie sich an ihnen vorbei, auf die schleimig aussehenden Kellertreppe, an deren Geländer ein angeranztes Schild montiert war und die Stufen hinunter. Von tief unten drang Musik bis auf die Straße.   -X-   Es war ein guter Abend. Der Laden, obwohl ziemlich klein, war gut besucht und die Stimmung war entspannt. Toshi machte seine Ansagen jetzt fast souverän, wenn auch nicht sonderlich einfallsreich und der Rest seiner Band hatte offensichtlich Spaß. Gerade hatten sie eine halbe Minute Pause gemacht, um etwas zu trinken und waren dann in ihren nächsten Song gestartet, als die Scheinwerfer für einen kurzen Moment ins Publikum leuchteten und ihnen so die Möglichkeit gaben, überhaupt einmal zu sehen, wer an diesem Abend gekommen war. Unbekannte Gesichter sahen zu ihnen hoch, zu sehr Masse, um wirklich Charakter zu haben, gerade sichtbar genug, um Stimmung ausmachen zu können. Doch plötzlich erklang ein sehr dissonanter Akkord. hide fuhr ein klein wenig zusammen. Irritiert drehte er den Kopf erst nach links und dann nach rechts, um die Ursache ausfindig zu machen. Taiji war zu professionell, um sich umzublicken, doch auf seiner anderen Seite beantwortete ein zuckender Muskel in Patas Gesicht seine Frage. Obwohl seine Finger bereits wieder an die richtigen Saiten zurückgefunden hatten, waren seine Augen nach wie vor so starr in den Zuschauerraum gerichtet, als habe er ein Gespenst gesehen. hide ging ins Solo, wandte sich wieder nach vorn und konzentrierte sich nur am Rande auf seine Finger, die Bewegungen so natürlich, dass er kaum noch Gedanken daran verschwenden musste, und suchte stattdessen im erneuten Farbenwirbel, was auch immer seinen Kollegen so verunsichert hatte, dass er nicht mehr in der Lage gewesen war, ein F zu greifen. Ziellos wanderten seine Augen von Gesicht zu Gesicht. Dabei setzte er hin und wieder ein Grinsen auf, damit es wirkte, als wäre er voll dabei. Er war gerade so weit, es gut sein zu lassen, als sich die Scheinwerfer noch einmal drehten, und im letzten Moment des aufflammenden Lichts sah er sie ebenfalls.   -X- „Wuhuuu!“, machte hide laut, kaum dass sie den Lärm des Saals weit genug hinter sich gelassen hatten, um ein Gespräch in normaler Lautstärke zu führen. Er klopfte dem anderen Gitarristen auf den Rücken. „Krass!“ Pata passierte mit dem an ihm klebenden hide den Gang und die Tür, die in den kleinen Backstage-Raum führte. Sie fiel hinter ihnen ins Schloss und auf einmal war es fast still, nur der hämmernde Bass drang bis zu ihnen herein. hide quäkte währenddessen weiter. „Sie ist gekommen! Ich wusste, dass sie kommen würde, um dich zu sehen!“ Er stand wieder auf seinen eigenen Beinen, hatte aber immer noch eine Hand auf der Schulter des anderen Jungen und drückte sie begeistert. Dieser warf ihm einen sehr langen Blick zu und sagte schließlich neutral: „Sie ist nicht wegen mir hier, hide.“ Noch während er sprach wandte er sich ab, um seine feuchten Klamotten auszuziehen. hides Hand glitt von seiner Schulter. Yoshiki hatte bereits sein Top ausgezogen und trocknete sich den Bauch ab, bevor er das Handtuch über einen der Plastikstühle warf und begann, sich so gut wie möglich die Pampe aus den Haaren zu kämmen, die hide zuvor hineingeschmiert hatte. Dabei warf er immer wieder kritische Blicke in den Spiegel. Sie galten eigentlich seinem eigenen Tun, doch einer davon verirrte sich in die Richtung seiner Gitarristen. Es war, als würde man einer Seifenoper zusehen. Dort hinter ihm zog hide verwirrt die Augenbrauen zusammen und ließ den Arm sinken. „Natürlich ist sie das, weshalb sonst sollte sie-“ In diesem Moment wurde das Wummern unvermittelt wieder lauter. hide brach ab und drehte sich um. Die Tür war einen winzigen Spalt breit aufgeglitten und nun wurde sehr zögerlich ein Kopf hereingesteckt. „Oh. Hey.“ Pata, der gerade sich gerade sein Shirt über den Kopf gezogen hatte, warf seiner Schwester ein Nicken zu und sie glitt leise wie ein Schatten in den Raum. Unbeholfen blieb sie gleich hinter der Tür stehen und verhakte ihre Finger ineinander. „Guter Auftritt“, murmelte sie. Ihr Bruder, der gerade in seinem Rucksack nach einem frischen Hemd gesucht hatte, wirkte wie erstarrt. „Ja. Danke“, brachte er irgendwie heraus und schien dann nicht weiter zu wissen. „Danke“, sagte auch hide. Das erste Mal an diesem Abend konnte er Terumi länger als drei Sekunden am Stück sehen – Nein, nicht nur an diesem Abend, sondern überhaupt das erste Mal seit seinem Auszug. Es war ihm nie wirklich aufgefallen, wie blass Patas Schwester war. Außerhalb des schützenden Kokons ihres Zimmers wirkte sie nervös und unscheinbar, fast zerbrechlich. Ihre Aufmachung half auch nicht direkt. Übergroßes weißes Shirt über Jeans? Warum war das nicht in jedem Modemagazin! Fast hätte hide den Kopf geschüttelt. Eine Tragödie! Er war besser angezogen als die Frau im Raum. Und trug definitiv mehr Makeup. „Also…“, begann er noch einmal und räusperte sich. „Du… du bist hier. Der Wahnsinn.“ „Ja… Wahnsinn trifft es.“ Terumi lächelte etwas steif und sah sich unbehaglich im Raum um. Scheinbar versuchte sie noch herauszufinden, was sie hier genau machte – oder aber sie suchte bereits nach einer Ecke, um sich dort zu verkriechen. Unwillkürlich glich hide ab, ob sie mit ihrer Größe wohl gerade noch in den Schrank hinter der Tür passen mochte und musste schief lächeln. „Du sagst mir, bevor du eine Panikattacke bekommst, ja?“ „Wer bekommt eine Panikattacke?“, ertönte Patas Stimme scharf. hide warf einen Blick zur Seite: Gerade war Patas Kopf wieder aus einem frischen Unterhemd aufgetaucht und seine Haare standen, elektrisch aufgeladen, nach allen Seiten ab. Er sah aus wie ein Papa-Löwe, der sich um den Nachwuchs sorgte. „Niemand“, beruhigte ihn hide, doch Terumi sagte trocken: „Ich verspreche nichts.“ hide entfuhr ein Prusten. „Ähm…“ meldete sich Yoshiki zu Wort, der gerade die linke Hälfte seines Gesichts so weit abgeschminkt hatte und dadurch aussah wie ein halber und ziemlich lächerlicher Clown. Er blickte wenig begeistert zwischen der weiblichen Störung und seinen beiden Gitarristen hin und her. „Entschuldigt die Unterbrechung, aber… Wer ist das?“ Er machte zwei Schritte zur Seite und angelte nach seinem Bademantel, den er vor dem Auftritt auf der Sofalehne zurückgelassen hatte. Er würde Regeln aufstellen müssen, was Fans – und vor allem weibliche – im Backstage anging. Entweder das, oder er wollte in Zukunft eine private Umkleide. Wie er irgendwie erwartet hatte, war es Pata, der sich ein wenig aufrechter hinstellte und eine vorstellende Handbewegung machte. „Entschuldige. Natürlich. Das ist meine Schwester. Terumi – Yoshiki.“ Patas etwas zu ausgeprägte Höflichkeit nahm Yoshiki wie so oft den Wind aus den Segeln. Er hatte inzwischen den Verdacht, dass der Andere sich dieser Waffe sehr wohl bewusst war. Doch er setzte sie mit so viel Bedacht ein, dass es Yoshiki schwerfiel, ihn darauf festzunageln. Von seinen Gedanken abgelenkt, hatte Yoshiki außer „Oh“ noch nichts weiter zu einem Kennenlernen beigetragen, als das Mädchen schließlich den Anfang machte. „Ich… ämh… Freut mich. Ich… hab viel von dir gehört.“ „Interessant. Ich um ehrlich zu sein nicht so viel von dir…“ Yoshiki runzelte die Stirn. „Das is‘ ok.“ hide grinste wie jemand, dem gerade der beste Witz des Jahres eingefallen war. „Sie kommt nicht viel raus.“ „hide!“, fluchte Pata. Anscheinend sah er das ganz anders. „Arsch“, sagte Terumi, entschieden aber mit dem leichten Zug um den linken Mundwinkel, der hide sagte, dass sie genügend Selbstironie für diese Art von Humor aufbrachte. „Das fällt dir erst jetzt auf?“, fragte er deshalb mit einem gespielt verblüfften Gesichtsausdruck, lachte und wandte sich dann ab, um irgendwo in seiner Ecke des Raums nach einem frischen Shirt zu suchen. Nach einer halben Minute wurde er fündig. Den Raum durchquerend teilte er mit: „Ich geh mich kurz umziehen.“ Yoshiki, der gerade sein rechtes Auge abwischte, stockte in der Bewegung und drehte sich irritiert halb zur Tür um. „Warum ziehst du dich nicht hier um?“ „Ich… ähm…“ hide umfasste den Türgriff und schien nur flüchtig über seine Antwort nachzudenken. „…hab wirklich keine Lust, mir was auszudenken.“ Er riss die Tür auf, winkte und verschwand mit einer Pirouette. „Bin gleich zurück!“ Als hide einige Minuten später auf dem Rückweg von der Toilette zurück zu ihrem kleinen Raum schlenderte, begegnete er dort wenige Meter vor der Tür Toshi, der scheinbar gerade aus dem Club zurückgekommen war. Zu seiner eigenen immensen Verwunderung hatte ihn eine giggelnde Traube von Mädchen davon abgehalten, früher zu seinen Kollegen zurückzukehren. „Da bist du ja!“ hide klopfte ihm grinsen auf die Schulter und sah dann suchend den Gang einmal hinauf und hinunter. „Wo ist Taiji, ist er drin?“ „Der ist an der Bar versumpft, mit Nao“, antwortete Toshi und legte den Kopf in der Manier von jemandem schief, der eine ihm aufgetragene Nachricht überbrachte, als er mechanisch abspulte: „Du sollst auch kommen.“ hide lachte. „Na dann. Es wäre unhöflich, die Herren warten zu lassen. Lass mich nur noch mein Zeug wieder reinlegen.“ Er wedelte mit dem feuchten Hemd und packte eine Hand auf Toshis Rücken, um ihn auffordernd in Richtung Tür zu schieben. Dieser hatte gerade genug Zeit um sich dem Gewicht und der Wärme von hides Hand dort sehr bewusst zu sein und sich zu fragen, ob er vielleicht ein paar Minuten mit ihm allein würde abgreifen können, wenn er sich dem lustigen Treffen an der Bar anschlösse. Doch dann öffnete er die Tür und erstarrte noch auf der Schwelle. Da war ein Mädchen. Und es hatte hides Gitarre auf dem Schoß. „Huch“, machte er seiner Überraschung unbewusst Luft, bevor er etwas dagegen tun konnte. Die Blasphemie der Szene schien ihm ungeheuerlich. Dass er sich nicht weiter vorwärts bewegte zwang hide, ein wenig nachzuhelfen: Er klopfte ihm noch einmal auf die Schulter und schob sich an ihm vorbei. „Patas Schwester. Heute live dabei. Terumi – Toshi.“ Summend warf er sein Shirt über einen Stuhl, damit es noch ein wenig ausdampfte und suchte dann nach der Wasserflasche, die er vor dem Auftritt irgendwo hier abgestellt hatte. Wie voll war die noch gleich gewesen? „Ah-ah-ah!“, machte Yoshiki, als er nach dem Wasser in der Mitte des Tischs griff. Er war mit dem Abschminken fertig und hatte sich auf einem der Plastikstühle zurückgelehnt, um eine zu rauchen. Ein paar Minuten nichts tun, bevor es weiterging – womit auch immer. Vermutlich zusammenpacken. „Meins.“ Er streckte auffordernd die Hand aus. hide allerdings schien beschlossen zu haben, dass es von Yoshiki kein weiter Weg zu ihm selbst war, denn er zuckte mit den Schultern und schraubte ungerührt das Wasser auf. „Ah ja? Glaubst du? Weißt du, was ich glaube? Ich glaube, du gibst mir eine von denen Zigaretten, yeah.“ Noch einmal machte Yoshiki eine auffordernde Handbewegung und nachdem hide die Flasche in einem Zug halb geleert hatte, gab er nach. Yoshiki reichte ihm dafür die halbe Zigarette weiter. Toshi bekam von all dem nur reichlich wenig mit. Noch immer stand er in der Tür und betrachtete abwesend die Hand am unteren Gitarrenhals. Es war eine schöne Hand, keine Frage. Doch wie konnte sie es wagen? Niemand hatte diese Gitarre anzufassen! Toshi hatte immer geglaubt, es würde hide stören, wenn man sein wichtigstes Besitztum an sich riss. Wie konnte ihn das nicht stören?! Erst nachdem er eine gefühlte Ewigkeit vor sich hingestarrt hatte, hob er den Blick tatsächlich zu ihrem Gesicht. Das Mädchen war bei ihrem Eintreten hochgeschossen und anscheinend auch knallrot angelaufen, denn nur langsam nahm ihr Gesicht wieder einen normalen Farbton an. Sie sahen sich an, schweigend und immer noch überrumpelt. Dann blickten sie beide zu hide und schließlich, wieder einander an. Die peinliche Stille zog sich in die Länge. „Ähm“, sagte Toshi schließlich, tonlos und viel zu spät. „Oh. Gut. Ja. Freut mich, dich kennen zu lernen.“ „Ja“, murmelte das Mädchen kaum hörbar, „freut mich auch.“ Sie verbeugten sich ein kleines Stück zueinander und als sie sich wieder aufrichteten, trafen sich ihre Blicke einen winzigen Moment lang. Toshi riss sich zusammen und schenkte ihr noch ein freundliches Lächeln, bevor er sich abwandte, um etwas zu trinken und sich endlich auch ein frisches Shirt anzuziehen. Kaum, dass er sich umgedreht hatte, verschwand das Lächeln aus seinem Gesicht. „Also, ich will kein schlechter Einfluss sein“, erklang hides Stimme hinter ihm, als er gerade das Wasser aufschraubte, „deswegen frag ich nicht, ob du ein Bier willst. Aber willst du noch ‘ne Limo trinken, bevor ihr nach Hause geht? Du gehst mit Pata, oder?“ Toshi drehte sich um und sah Terumi einen Blick mit ihrem Bruder tauschen. Dieser zuckte mit den Schultern. „Klar“, sagte sie also und stellte, endlich, die Gitarre zur Seite. „Also los!“ hide winkte Pata zu sich. „Lass uns noch ein bisschen gute Stimmung abgreifen. Und Ruhm!“ Er streckte eine Hand erst von sich und ballte sie dann dramatisch zur Faust. In einer perfekten Welt hätte eine sanfte Brise sein Haar episch wehen lassen, doch der vorausgegangene ausufernde Einsatz von Haarspray verhinderte das. Der andere Gitarrist schien jedoch wenig enthusiastisch. Noch einmal ließ er seinen Blick langsam über hide wandern und Toshi wusste so genau, nach was er suchte, als hätte Pata sich einen Zettel an die Stirn geklebt. Und genau wie Toshi fand er es nicht. Also lächelte er schließlich ein klein wenig zu spät und ein klein wenig zu schief und nickte zum Spiegel. „Ich denke, ich will mich vorher auch noch abschminken. Wenn ich lache, fällt mir das Makeup aus dem Gesicht. Und das ist ein Satz, den ich nie dachte, einmal zu sagen. Geht schon mal, ich komm nach.“ „Uhm…“ hide schien einen Moment lang irritiert, ob über die Antwort oder die Art, in der sie vorgebracht worden war und strich sich eine widerspenstige Haarsträhne aus der Stirn, die sich bereits aus der Frisur gelöst hatte. Doch anscheinend kam er nicht darauf, was diese seltsame Situation ausgelöst haben mochte. „OK. Also, dann bis gleich.“ Toshi seufzte innerlich und hielt sich nur mühsam davon ab, die Augen zu verdrehen. Das wäre vielleicht zu auffällig gewesen. Doch ihm war klar: Er war verknallt in einen Vollidioten. Es war verwunderlich, dass sie nicht schon lange zusammengefunden hatten, bei dieser Übereinstimmung. Beim Hinausgehen streifte hide ihn mit dem Blick und beim Starren ertappt hob Toshi seine Flasche etwas zu hastig, als müsse er unbedingt noch einen schrecklichen Durst löschen. Er setzte die Flasche gerade rechtzeitig ab, um noch zu sehen, wie die beiden zusammen aus der Tür verschwanden. Der Anblick versetzte ihm einen Stich und Toshi hoffte, dass es sich nicht auf seinem Gesicht zeigte. Sein Blick wanderte durch den Raum. Yoshiki hatte sich wieder seinem Spiegelbild zugewandt und schien dem Geschehen keine größere Bedeutung beizumessen, doch Patas Blick war wie eben noch Toshis an die geschlossene Tür geheftet. In seinen Augen lag etwas, das Missfallen sehr nahekam, ein Ausdruck, den Toshi noch nie an ihm gesehen hatte. Doch bevor er sich näher damit hätte beschäftigen können, bemerkte der Gitarrist seinen Blick und seine Züge kehrten über ein seichtes Lächeln in Kombination mit einem Nicken zurück zu der stoischen Ruhe, die man von ihm gewöhnt war. Langsam ging Toshi hinüber zu Yoshiki, um ebenfalls seine Kriegsbemalung loszuwerden. Offenbar hatte Pata mit dieser Entwicklung – was auch immer das letztendlich für eine war – ein genauso großes Problem wie er. Nur, so vermutete Toshi stark, aus ganz anderen Gründen. Wenn er Patas Mikro-Mimik richtig gedeutet hatte, musste er sich keine Sorgen machen. Wenn er hide nicht im letzten Augenblick aus dieser merkwürdigen Freundschaft zerrte, würde Pata es tun.   -X- Yoshiki ließ den Kopf hängen und genoss noch einige Sekunden lang das warme Nass, das seinen Rücken hinunterprasselte, bevor er schweren Herzens das Wasser abdrehte und widerwillig durch den Spalt im Duschvorhang nach dem Handtuch auf der Kommode angelte. Er wäre jetzt so bereit, in die Badewanne zu steigen. Warum nur war das Leben nie so, wie er es wollte? Er trocknete sich ab, hängte das feuchte Stück Textil an den Haken an der Wand und schlüpfte in seine Unterwäsche. Im Wohnzimmer war es bedeutend kühler als im nun aufgeheizten Bad, und Yoshiki fröstelte, während er über die Holzdielen zurück ins Schlafzimmer tappte. Synthesizer-Sounds wiesen ihm den Weg. Ein Teil von ihm erkannte den Song, doch seine Gedanken wanderten weiter, bevor er ihn vollständig hätte benennen können. Mit einem weiteren steinerweichenden Seufzer nahm Yoshiki seinen Pullover vom Schreibtischstuhl und drehte ihn von links zurück auf rechts. „Meine Fresse. Dann bleib halt einfach“, brummte Taiji. Er hatte sich zur Hälfte angezogen, lag aber immer noch im Bett. Vermutlich hatte er auf den Anblick gewartet. Obwohl er jedes Szenario schon ein paar Dutzend Mal durchdacht hatte, erwischte sich Yoshiki dabei, wie er sein Ankleiden unterbrach. Hin und her gerissen knautschte er einen Socken in seinen Händen und sein Blick wanderte fast sehnsüchtig zum Bett zurück. Wie schön es wäre, nach seiner warmen Dusche einfach wieder hineinzukriechen… Noch einmal wog Yoshiki das Für und Wider ab, fast als wolle ein Teil von ihm unbedingt einen Grund finden, der den Ausschlag zugunsten des Bleibens geben würde. Doch es waren die immer gleichen Fragen ohne Antwort, die ihn ins Straucheln brachten. Ganz oben stand: „Was soll ich denn Toshi sagen?“ Taiji seufzte. „Weil du auch mit dem Kerl zusammenleben musst. Als wäre eure Beziehung nicht schon seltsam genug gewesen.“ Er schüttelte den Kopf und versuchte es dann mit etwas Hilfreicherem. „Sag ihm… keine Ahnung. Du wärst zu lange im Raum geblieben und hättest die letzte U-Bahn verpasst.“ Yoshiki lehnte sich ein wenig zur Seite und warf einen Blick auf Taijis Wecker. Es war kurz vor neun. Noch eine Stunde, bis Toshi nach Hause kam. „Die letzte U-Bahn fährt erst nach zwölf…“ Yoshiki bückte sich endlich, um seinen Socken anzuziehen und sagte während er so kopfüber hing dumpf: „Ich kann nicht.“ Ein theatralisches Kopfschütteln antwortete ihm. „So ungemütlich…“ Um die Worte zu untermalen drehte Taiji sich zur Seite und machte eine Bewegung, als würde er etwas neben sich umarmen wollen. Natürlich fand er nur die Bettdecke. Er streichelte sie ein paar Mal. „Du musst dich beschweren“, murrte Yoshiki. Er hätte liebend gerne mit Taiji getauscht. „Ich bin derjenige, der raus in die Kälte muss.“ Dabei wollte er einfach nur schlafen! Ach, was war die Welt grausam… „Tja“, machte Taiji, während er sich langsam zum Rand seines Betts rollte und mehr hinausfiel als aufstand. Dennoch schaffte er es irgendwie in die Vertikale und schlenderte an Yoshiki vorbei in die kleine Wohnküche nebenan. „Dann würde ich sagen, du solltest mal an ein paar Lösungen arbeiten.“ Yoshiki folgte ihm langsam und setzte sich auf die Kante des Küchenstuhls. Abwesend starrte er durch Taiji hindurch, der ein paar Eier auf die Herdplatte legte und eine Pfanne aus dem Schrank unter dem Ofen zog. „Willst du auch noch was essen, bevor du gehst?“, fragte dieser, während er nach dem Öl griff. Als Yoshiki nicht antwortete, trat er zum ihm hinüber und wedelte mit der Hand vor seinem Gesicht herum. „Hellooo… Mann, du musst damit aufhören.“ „Fick dich. Ich arbeite an Lösungen“, sagte Yoshiki und schob Taijis Hand weg. Der Bassist rollte mit den Augen und wandte sich wieder dem Herd zu. „Und?“, fragte er einige Minuten später, als er gerade Reis von gestern angebraten hatte und ein Ei darüber aufschlug. „Kam schon was dabei rum?“ „Vielleicht…“, sagte Yoshiki langsam. Er starrte immer noch in Richtung Herd, ohne etwas zu sehen. „Ich… könnte…“ „Ja?“ Er warf die leeren Eierschalen in den Mülleimer. In der Pfanne auf dem Herd brutzelte es. „Meine Mutter nervt mich schon die ganze Zeit, dass ich öfter zu Besuch kommen soll. Ich glaube, sie hat sich dieses ganze Ding mit Umzug noch Tokio anders vorgestellt.“ „Anders wie?“ „Weniger… vollständig.“ „Ah.“ Taiji schüttelte Gewürze in die Pfanne. „Auf jeden Fall… ich könnte offiziell alle paar Wochen nach Hause fahren und… nicht fahren.“ Taiji hielt inmitten der Handbewegung, mit der er den Pfefferstreuer kippte, inne. „Du willst übers Wochenende bleiben?“, fragte er verdattert, sich halb zu Yoshiki umdrehend, während dunkle Flöckchen beständig weiter auf die Herdplatte rieselten. „Ja… meine Sorge war nur, ob ich dich so lange ertrage.“ „Du meinst, ob ich dich so lange ertrage.“ Yoshiki verdrehte die Augen, beschloss jedoch, es zu… ertragen. „Was auch immer.“ Taiji, der inzwischen bemerkt hatte, dass er einen kleinen Pfefferberg produzierte, stellte den Pfefferstreuer beiseite und schob die Pfanne vom Herd. „Ok Mann, schau. Diese Samstagsprobe funktioniert eh nicht gescheit. hide springt dauernd auf irgendwelchen Events rum und Pata arbeitet. Lass uns das Ganze permanent auf Sonntag schieben, wie es vorher war. Du fährst Freitagabend ‘nach Hause‘ “, Taiji krümmte an beiden Händen Zeige- und Mittelfinger, um Gänsefüßchen anzudeuten, „kommst irgendwann her, wir machen ein bisschen was, essen, schauen ‘nen Film oder so, vielleicht ‘ne kleine Jam-Session. Und Sonntag sind wir pünktlich bei der Probe. Das ist nicht so viel Zeit. Die wir auch wach sind.“ Yoshiki dachte darüber nach. Es stimmte und das Arrangement käme letztlich allen von ihnen zugute, die ihr Geld verdienen mussten – also allen außer Taiji und ihm. Trotzdem zögerte er. „Ach, ich weiß nicht… Unabhängig davon gibt es so viele Stellen, an denen das schiefgehen kann…“ Taiji schnaubte belustigt und schaufelte den Inhalt der Pfanne auf zwei Teller. „Du bist so ein Weichei…“ „Bitte?“ Yoshiki versuche einen bösen Blick, der allerdings misslang. Es war schwer, nach einer warmen Dusche böse zu sein und noch mehr, wenn einem gerade etwas zu Essen hingestellt wurde. Taiji ließ sich auf den zweiten Küchenstuhl fallen. „Es ist so eindeutig, dass du dich einfach nur schlecht dabei fühlst, deinen Toshi anzulügen...“ „Bist du eifersüchtig?“ „Nein. Ich verarsche lediglich eure leicht merkwürdige Beziehung zueinander.“ Yoshiki spürte, wie sein Hals anschwoll wie der einer Kobra. Niemand hatte Toshis und seine Beziehung zu veraschen, außer Toshi. Doch diese Diskussion konnte in einen zweistündigen Streit ausarten, den er zu bequem war, gerade zu haben. Also kehrte er wieder zum eigentlich wichtigen Thema zurück. „Was, wenn hier was schiefgeht und Toshi ruft zuhause bei meiner Mutter an und ich bin nie angekommen? Oder meine Mutter ruft hier an, obwohl ich bei ihr sein sollte?“ Eine gute Minute lang passierte nichts. „Ok, weißt du was?“, sagte Taiji, nachdem er schweigend vor sich hinkauend auf den Tisch geblickt hatte. Seine Miene sagte Yoshiki bereits, dass er auch keinen Geistesblitz hatte. „Dann erzähl es ihm halt einfach!“ „Weil wenn ich es Tohi erzähle, wirst du es früher oder später auch jemandem erzählen wollen und dann wird es sich verbreiten wie… wie… Fußpilz im Schwimmbad!“ Beim Klang seiner eigenen Worte hielt Yoshiki inne und runzelte die Stirn. Was hatte er da gerade gesagt? „Alter. Du verbringst zu viel Zeit mit hide“, meinte Taiji trocken. Yoshiki runzelte die Stirn und wandte sich wieder seinem Teller zu. „Ich hab eine Frage“, sagte er nach zwei weiteren Bissen. Ein mittelmäßig interessierter Blick begegnete seinem. „Bitte?“ „Warum essen wir gerade fünf Eier?“ „Ich weiß nicht. Vorangegangener Eiweißverlust?“ Yoshiki hörte auf zu kauen und schien zu überlegen, ob er etwas sagen und/oder den Bissen ausspucken wollte, rein aus Prinzip. Taiji musste lachen. „hide hat Recht. Du bist schnuffig, wenn du nicht weißt, was du sagen sollst!“   -X- Die Kirschblüte kam und mit ihr zogen einige kleine Veränderungen durchs Land. Toshi, der beschlossen hatte, dass allein seinen Kopf anzustrengen ihn nicht ausfüllte, suchte sich einen Handball-Club und trat einem Fitnessstudio bei, was seine Laune erheblich besserte, wenn er einmal wieder von Tokios nicht enden wollenden Möglichkeiten genervt zu sein drohte. Außerdem brachte es ihm endlich wieder so etwas wie ein Sozialleben außerhalb seiner Band – etwas, von dem er fast vergessen hatte, dass es existierte. Patas Freundin, die inzwischen sogar Taiji einmal getroffen und sich von ihrer Echtheit überzeugt hatte, begann an der Universität, was seine Prioritäten ein wenig umkrempelte. Yoshiki schürzte die Lippen, sagte aber nichts, wenn er zu spät anfing oder zu früh ging. Sogar er schien einzusehen, dass er gegen einen zukünftigen Doktorgrad in Medizin nichts auszurichten vermochte. hide begann sein zweites Halbjahr, lernte Fingernägel zu maniküren, fand heraus, was das glitzernde Zeug im Schminktäschchen gewesen war und erfand eine weiße Gesichtsgrundierung, die hielt. Außerdem musste er sich Mitte März eine gewisse Geldsumme von Toshi leihen, damit er in der Lage war, den Mädchen Schokolade zu schenken, die ihm einen Monat zuvor Schokolade geschenkt hatten. Er hatte zwar die ganze Zeit gequengelt, wie nervig das doch sei, doch konnte Toshi nicht täuschen: hide war furchtbar aus dem Häuschen gewesen, dass man ihm Zuneigung bekundet hatte. Toshi hatte ihm das Geld geliehen, nachdem er sicher gewesen war, dass Patas Schwester nicht unter den Adressatinnen war. Yoshiki hatte beschlossen, seine Mutter öfter zu sehen und fuhr jeden zweiten Samstag zurück nach Tateyama. Taiji hatte beschlossen, mehr aus Tokio raus zu holen und begann, das Nachtleben überall dort unsicher zu machen, wo man ihn rein ließ. Meist Samstag. Anfang Mai schließlich buchte Yoshiki sie für eine Woche in ein kleines Tonstudio im achten Stock eines Hochhauses ein, unter einer Karateschule und über einem Laden, der offenbar Gerümpel verkaufte. Sie alle hatten sich dafür freigenommen, nachdem Yoshiki ihnen genauestens vorgerechnet hatte, wie viel Geld es sie kostete, wenn jemand eine halbe Stunde aufs Klo ging oder einen Fehler machte. Doch hide hatte Ferien und Taiji tat ohnehin nichts für seinen Lebensunterhalt, was im Wesentlichen bedeutete, dass Toshi und Pata schauen mussten, wo sie blieben. Dennoch war Toshi Samstagmorgen guter Dinge, als er mit einem Kaffee im Studio saß und hide dabei zusah, wie er seine Gitarre minutiös auf den exakt richtigen Klang stimmte. Eine ganze Woche mit der Band war eine ganze Woche mit hide und überhaupt war das hier aufregend! Er hatte sich noch nie selbst singen gehört. Würde es ihm gefallen? Doch seine gute Laune hielt nicht lange vor. Sollte er bisher gedacht haben, dass Yoshiki die Sache manchmal ein wenig zu ernst nahm, wurde er nun eines Besseren belehrt: Yoshiki hatte mit dem Ernstnehmen noch nicht einmal angefangen. Es war, als habe man Yoshiki an einem schlechten Tag genommen, verzehnfacht und wieder in eine Hülle gequetscht, wo er nun keine Minute auszuhalten schien, ohne irgendjemanden zu kritisieren, inklusive sich selbst. Er war unerbittlich. hide begann, sich unter Yoshikis vorbildlicher Anleitung in Kleinigkeiten hineinzusteigern, war schließlich mit allem was er zustande brachte unzufrieden, rauchte noch mehr als sonst und wurde zunehmend fuchsig. Pata ging nie so weit, ausfallend zu werden, doch verkündete schließlich am frühen Mittwochnachmittag, er würde jetzt nach Hause gehen, bevor er etwas tat, was er später bereute. Yoshiki schäumte vor Wut, vermied aber einen Streit. Am Ende der Woche war sogar Toshi so weit, dass er die Tür härter hinter sich zuwarf, als unbedingt nötig gewesen wäre, wenn er abends ging. Der Einzige, der in der Lage schien, Yoshikis penible und diktatorische Art auszuhalten, war, so unglaublich es schien, Taiji. Abend für Abend war er der Letzte, der noch neben Yoshiki am Mischpult saß, als alle anderen sich verabschiedeten (oder, ab Donnerstag, einfach wortlos ihre Sachen fallen ließen und gingen) und Morgen für Morgen war er der Erste, der mit Kaffee und Gebäck wieder auftauchte. Weder ruppige Kommentare zu seiner Performance noch der schreckliche Befehlston konnten ihn vertreiben, ebenso besessen wie Yoshiki schien er davon, das absolut beste Ergebnis zu kreieren, das die kurze Zeit ihnen ermöglichte. Toshi war verwundert darüber und auch wieder nicht. So oder so war er in erster Linie froh, dass er ihre Wohnung ein paar Stunden am Abend noch für sich hatte. Vielleicht hätte er seinen Mitbewohner sonst eines nachts einfach im Schlaf erwürgt. Am Sonntagabend saßen sie wieder in ihrem Proberaum auf dem Sofa. hide und Toshi hatten sich einige Minuten lang über Yoshiki ausgelassen und dabei auch einige weniger schmeichelhafte Begriffe verwendet, die ihnen zwar ein bisschen leidtaten, aber sich leider auch so richtig gut anfühlten. Pata saß mit verschränkten Armen neben ihnen und sagte nichts. Insgesamt war die Stimmung also leicht frostig, als derjenige, der trotz Abwesenheit das Meiste zur Unterhaltung beigetragen hatte, die Tür aufstieß und mit vom Laufen geröteten Wangen hereinstürmte. „Hallo!“, trällerte Yoshiki fröhlich und warf seine Sachen neben das Schlagzeug in die Ecke. „Hi“, sagte Toshi. „Hi“, sagte hide. Pata nickte stumm. „Es ist fertig!“, verkündete Yoshiki, der sich gebückt hatte und in seiner Tasche herumkramte und deswegen die Blicke, die sie tauschten nicht sehen konnte. „Wir haben heute früh noch ein paar allerletzte Sachen verändert und es ist fertig! Hier ist – wo hab ich es denn… Hier!“ Er hatte eine Kassette aus der Tasche gezogen und sie vor sich ausgestreckt wie einen Siegerpokal drehte er sich zum Rest seiner Band um. Sein Grinsen wurde ein wenig schmäler, als er merkte, dass er die Situation nicht ganz verstand. „Ähm…“, machte er und schaute von einem zum anderen. „Alles in Ordnung? Hab ich was verpasst?“ „Ich“, meinte Toshi langsam, „bin froh, dass die Aufnahmen fertig sind… Aber wir – und ich spreche für das Kollektiv – denken, wir sollten mal über die letzte Woche reden. Den Prozess des… Aufnehmens…“ „Öhm…“ Ratlos schaute Yoshiki in die Runde. Offensichtlich verstand er immer noch nicht, was passierte, doch spürte, wo die Front verlief. „In Ordnung, worüber… sprechen wir?“ „Uhm… darüber, wie manche von uns sich sehr angestrengt haben und diese Anstrengung nicht so… gewürdigt gesehen haben…“, sagte Toshi und warf den beiden neben ihm Sitzenden einen kurzen Blick zu. „Und darüber, wie manche von uns der Grund dafür waren“, fuhr hide fort und warf Yoshiki einen langen Blick zu. Dieser hätte im Normalfall sofort protestiert – immerhin, wer hatte sich denn am meisten den Arsch aufgerissen in der letzten Woche und überhaupt? – doch er war zu überrumpelt, um so etwas wie Missfallen zu empfinden. Stattdessen ließ er die Schultern ein wenig in sich zusammenfallen und sank auf den Schlagzeughocker. Die Kassette legte er auf der Snare ab. Auf einmal war er nicht mehr so glücklich. Die Finger aneinander gelegt ließ er die Tage Revue passieren und musste sich eingestehen, dass sie möglicherweise, eventuell, ein klein wenig Recht hatten. Er fing Toshis Blick auf. Unter anderem dafür hatte er ihn in der Band, nicht wahr? Um ihm kräftig seine ehrliche Meinung zu geigen, ohne es böse zu meinen. Er nuschelte zerknirscht: „Tut mir leid, wenn ich ein wenig über das Ziel hinausgeschossen bin. Vielleicht… bin ich das.“ „Du warst ein tyrannisches Arschloch“, sagte Toshi schlicht. „Jap“, stimmte hide zu. „Und ich meine das mit so wenig Vorwurf, wie es mein mitgenommenes Selbstwertgefühl zulässt.“ Yoshiki schaute weiter in Richtung des Dritten im Bunde, in der Erwartung, er würde noch einmal nachtreten, jetzt wo er schon am Boden lag, doch Pata machte einfach gar nichts. Sein Blick allerdings schien Bände zu sprechen. Der Schlagzeuger seufzte tief und sank noch ein wenig in sich zusammen. Gegen ihren vereinten Widerstand war er machtlos. „Ok, ich… Ist gut. Ich… tut mir leid.“ hide neigte den Kopf, wie er es oft tat, wenn er noch nachdachte, während er schon sprach. „Nein, Mann. Nicht gut. Wenn wir wieder so was machen, müssen wir das anders organisieren. Wir wollen alle, dass es gut wird, wir nehmen es alle ernst. Aber wir müssen einen Weg finden, der für uns alle funktioniert. Du total am Rotieren und wir alle schlecht gelaunt, das läuft nicht.“ Yoshiki nickte langsam. „In Ordnung. Wollt ihr das jetzt durchspre-“ Die Tür ging auf. „Jaja, bin zu spät, sorry, egal“, leierte Taiji in einem Atemzug herunter und schälte sich aus seiner Lederjacke, während er zu seinem Verstärker hinüber ging. Noch halb in dem Kleidungsstück stockte er, ähnlich wie Yoshiki ein paar Minuten zuvor und ließ seinen Blick zwischen Sofa und Schlagzeug hin und wieder zurück gleiten. Er verzog das Gesicht, nickte sich einmal selbst in einer Art zu, die deutlich ‘Aha, soso‘, sagte und fragte: „Und was hab ich verpasst?“ „Wir sprechen gerade über Verbesserungsmöglichkeiten der letzten Woche für die Zukunft“, teilte hide ihm mit. „Irgendwelche Gedanken?“ Taiji schlüpfte mit einem Schulterzucken vollständig aus seiner Jacke. „Also ich hatte Spaß“, meinte er gleichgültig und warf sie neben Toshi über die Armlehne. hide bohrte sich mit dem kleinen Finger im Ohr und beugte sich dann ein Stück vor, um ungläubig nachzuhaken: „Du hattest was? Hab ich nicht ganz genau gehört, wie Yoshiki am Freitag gedroht hat, wenn du noch einmal den Bassregler raufdrehst, würde er dir die Nase brechen?“ „Woraufhin ich meinte, wenn er damit genauso erfolgreich ist wie damit, im Solo den Takt zu halten, wäre ich ziemlich unbesorgt“, erwiderte Taiji unbekümmert und wedelte mit der Hand, als wolle er eine Fliege vertreiben. „Wir sind quitt.“ Die auf dem Sofa Versammelten starrten ihn an. Yoshiki, der aussah, als wäre der Blitz eingeschlagen, lief langsam rot an, was glücklicher Weise an den anderen vorbeiging, die viel zu sehr mit ihrem Bassisten beschäftigt waren. Es hatte vage mit der Erinnerung zu tun, wie er daraufhin ‘Fick dich‘ gesagt hatte und Taijis Schlusswort (‘Hier und jetzt, oder später bei mir‘). „Was?“, fragte der Bassist, jetzt mit zusammengezogenen Augenbrauen, als langweile ihn diese Unterhaltung allmählich. „Das war eine stressige Woche. Ihr habt doch nicht wirklich gedacht, das würde locker flockig?“ Keiner antwortete. „Heißt das“, begann hide schließlich langsam, „du willst uns sagen, wir sollen aufhören uns aufzuführen wie zickige Mädchen?“ „Nope“, sagte Taiji und lehnte sich gegen die Wand, weil sein Stammplatz von Pata belegt wurde. „Das heißt, wir gehen alle sehr unterschiedlich mit Stress um und wir werden eine Weile brauchen, um einander in unseren Eigenheiten zu akzeptieren und Rücksicht darauf zu nehmen. So wie Toshi gelernt hat, dass er mir nicht das Bier verbieten kann, weil ich dann ausfallend werde. Oder wie du gelernt hast“, sein Blick streifte Pata, „dass Toshi es als Beleidigung auffasst, wenn du ihm ungefragt ein Deo zuwirfst – und Alter, sogar ich muss sagen, nach ein paar Stunden mit dir im Raum, puh. Und ich hab gelernt, dass ich dir nicht auf einen Riff, an dem du eine Woche geschrieben hast sagen kann, dass mein Cousin das auf Kindergartenparty spielen würde, weil du dann zu heulen anfängst.“ „Ich hab nicht geheult!“, verteidigte sich hide vehement. Taiji schenkte ihm ein müdes Lächeln. „Ja, ne. Ist klar.“ „Ok“, schaltete sich Toshi ein. „Wie kommt es, dass du auf einmal die erwachsenste Person im Raum bist?“ Das hier war mit einem Mal sehr komisch geworden, wie in einer verdrehten Welt – wo Katzen Hunde jagten und amerikanische Sitcoms lustig waren. „Wir sind fünf sehr talentierte, aber sehr unterschiedliche Leute“, sagte Taiji. „Klar funktioniert das nicht ohne harte Arbeit. Und das ist halt harte Arbeit nicht nur an der Sache, sondern auch an uns. Mich wundert nur, dass euch das so wundert.“ Er schüttelte den Kopf und blickte dann auf die Wand gegenüber, offensichtlich um zu zeigen, dass er die Diskussion für beendet hielt. Die anderen allerdings warfen einander etwas bedröppelte Blicke zu. Yoshiki setzte als Erster an, etwas zu sagen. „Ich, ähm… Also… Tut mir leid. Ich… tu mir schwer damit, meinen Perfektionismus runter zu schrauben. Ich… werde versuchen, mehr auf… euren Input zu reagieren. Weil ihr habt… gute Ideen. Und… keine Ahnung. Fang wieder an, meine Aggressionsbewältigungs-Kassetten zu hören oder so.“ „Ich nehme an“, sagte Taiji langsam, „ich könnte nur noch ein Bier vor vier trinken, wenn es dich so stört…“ Toshi grinste peinlich berührt. „Ich such mir eine stärkere Deo-Marke.“ Ein Seufzen kam Pata über die Lippen: „Gut, schön. Vielleicht sag ich euch in Zukunft, wenn mich was stört, bevor es mir bis hier oben steht.“ Er wedelte mit seiner Hand knapp über Stirnhöhe herum. Sie sahen unweigerlich zu hide, der jetzt als Einziger noch nichts gesagt hatte. Dieser blinzelte irritiert zurück. „Was? Ich hab nichts gemacht. Oder? Nein. Ich war absolut liebenswert.“ „Du könntest weniger rauchen“, schlug Toshi vor. „Und das hilft euch… wie?“, fragte hide belustigt zurück und verdrehte die Augen. „Dachte dabei nur an dich.“ Sie verfielen in kurzes Schweigen, die seltsame Ruhe nach einem Streit, in der die Zeit noch nicht dazugekommen war, Wunden zu heilen, die juckten und piekten und die positive Stimmung trübten, nach der man sich so sehnte. „Also“, fragte Pata schließlich in die Stille. „Hören wir‘s uns jetzt an, oder wie schaut’s aus?“ Dankbar nickend stand Yoshiki auf, um die Kassette in den Recorder zu legen. Er drückte auf Play und sie alle saßen da und lauschten ihrem Werk. In der Hälfte des zweiten ihrer drei Songs hielt Yoshiki die Kassette wieder an und schaute hoch. Sein Herz schien ihm irgendwo in die Hose gerutscht zu sein. Wenn seine Band das Ergebnis nicht mochte, konnte er nicht einmal damit rechtfertigen, wie er sich anscheinend aufgeführt hatte. „Das“, sagte Toshi schließlich und es klang fast überrascht, „ist gut.“ „Ja“, stimmte hide zu. Seine Wangen hatten einen leichten Rotschimmer angenommen und Toshi wusste, was er fühlte: erst die Befürchtung, man müsse sich gleich ganz schrecklich schämen für das, was man gemacht hatte und dann die langsame Erkenntnis, dass es nicht gab, wofür man sich schämen müsste – und dann das kribbelnde Gefühl, wie ihm die Brust langsam anschwoll vor Stolz. Pata nickte und zog einen Mundwinkel zu einem halben Grinsen hoch. Taiji sagte nichts, doch da er am Mischen beteiligt gewesen war, hatte er das Band bereits gehört und Yoshiki kannte seine Meinung. „Und was passiert weiter?“, wollte Pata wissen. „Ich denke, ich such uns weiter Auftritte und vielleicht ein Label“, sagte Yoshiki. „Jetzt, wo ich zeigen kann, was wir machen, sollte das Dinge vereinfachen. Vielleicht kommen wir unter einen kleinen Vertrag, mit etwas Glück. Ihr bekommt auch alle ein paar Kopien, falls ihr… schlaue Ideen habt oder… Kontakte, was weiß ich.“ „Das hier könnte funktionieren“, sagte hide ungläubig, doch mit einem Hauch Erregung in der Stimme. Offenbar hatte er nichts von dem gehört, was seine Bandkollegen gesagt hatten. „Das hier könnte tatsächlich funktionieren. Wow.“ „Ja, was dachtest du?“, fragte Taiji trocken und mit einer hochgezogenen Augenbraue – eine Mimik, von der Yoshiki sicher war, dass er sie von ihm abgeschaut hatte. Die Frage schien hide aus seiner kleinen Gedankenblase zu holen, denn er schüttelte den Kopf und antwortete fahrig: „Keine Ahnung. Ich mach einfach vor mich hin. Um ehrlich zu sein, hab ich versucht, nicht zu viel drüber nachzudenken. Die Ungewissheit der Zukunft ruiniert mir sonst die Gegenwart oder so?“ Er lachte entschuldigend und fuhr sich durch die Haare. Toshi konnte nicht umhin, ihm da zuzustimmen und auch Pata sah aus, als sei das Gefühl ihm nicht fremd. Doch Taiji sagte weise: „Die Zukunft ist nicht ungewiss. Nur voller Möglichkeiten." hide zuckte mit einer Schulter und grinste schief. „An manchen Tagen." Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)