Forever Dream von Mad Hatter-sama ================================================================================ Kapitel 7: Better Things ------------------------ Es war Viertel nach zwölf, als Yoshiki schließlich eine dunkle Gestalt vor dem Haus vom Fahrrad steigen und den kurzen Weg zur Haustür hinaufkommen sah. Er war unten, bevor Toshi auf die Idee kommen konnte zu klingeln. Zwar war der gesamte Hayashi-Haushalt noch auf den Beinen, doch laute Geräusche waren in Yoshikis Stadium der Müdigkeit wirklich etwas, das vermieden werden wollte. „Hallo“, sagte Toshi, als die Tür sich öffnete. Im Gegenlicht sah er erst einmal nur einen Schatten. „Abend“, sagte die Silhouette, die sich allmählich in Yoshiki verwandelte. Er klang ein wenig besser als am Telefon. „Was gehört?“, fragte Toshi und ging an ihm vorbei in den Flur. Yoshiki schüttelte den Kopf. „Aber… es… also…“ „Subjekt, Objekt, Prädikat.“ Yoshiki seufzte und schloss die Haustür. „Meine Mutter hat gerade gemerkt, dass ihr komplettes Geld fehlt. Da ich es nicht war und sie es nicht war und gleichzeitig der Goldschmuck noch ist, wo er hingehört und keiner entführt wurde, bleibt eigentlich nur ein Rückschluss, so wenig ich den ziehen will.“ „Oh“, machte Toshi nach ein paar Sekunden, in denen er nachdenklich auf die Eulenfigur auf dem Schuhregal geschaut hatte. „Das… passt nicht zu ihm, oder?“ „Nein“, stimmte Yoshiki ihm zu. „Tut es nicht. Oder… ich weiß gerade nicht mehr, was zu ihm passt und was nicht. Aber es beruhigt mich ein wenig… Ich meine… man nimmt kein Geld mit, wenn man… also…“ Er vollendete den Satz nicht und hob stattdessen den Blick zu seinem besten Freund. „… oder?“ „Ich bin sicher, er hat nichts Blödes gemacht“, sagte Toshi beruhigend und legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Naja“, sagte Yoshiki mit einem zynischen Unterton. „So weit würde ich jetzt nicht gehen wollen.“ Sie schwiegen ein paar Sekunden. Dann fragte Yoshiki: „Wie siehst du überhaupt aus?“ Aus irgendeinem Grund trug Toshi seine Sportsachen und aus irgendeinem Grund war er klatschnass. Der Sänger fuhr sich durch die schweißfeuchten Haare. „Lach nicht“, sagte er peinlich berührt. „Danach ist mir nicht wirklich.“ „Ich war nochmal in der Stadt. Ich dachte, vielleicht ist er… aber seine Gitarre war noch da.“ Mit einem Seufzen bückte er sich zu seinen Hausschuhen. „Das war bescheuert. Ich meine, warum sollte er auf der Lauer liegen und sich reinschleichen, wenn wir weg sind. Aber… keine Ahnung. Ich wollte einfach…“ „Irgendwas tun?“, fragte Yoshiki. Toshi richtete sich wieder auf. „Ja.“ „Kann ich verstehen.“ Beide Jungen schafften ein kleines Lächeln. Zehn Minuten später hatte Yoshiki neuen Tee gemacht und Toshi sich abgetrocknet. Es war warm genug, um oben ohne herumzulaufen während sein Shirt trocknete und da Yoshikis Mutter inzwischen zu Bett gegangen war, musste er sich nicht einmal dezent unwohl fühlen – was als Kind noch gut funktionierte, wurde mit der Pubertät irgendwie komplizierter. Aus Rücksicht hatten sie die konspirativen Gespräche nach unten ins Wohnzimmer verlegt. Toshi schaute in den Kühlschrank. Mitternachtssnacks waren die besten Snacks. Vor allem, wenn man davor noch vierzehn Kilometer geradelt war. „Da ist noch Hühnchen und Gemüse in der roten Box“, sagte Yoshiki vom Tisch aus. „Uh“, machte Toshi. Er zog die Dose heraus und probierte ein Stück Fleisch. Es schmeckte auch kalt. „Hast du das gemacht?“, fragte er, während er sich zu seinem Freund an den Tisch setzte. Yoshiki zuckte mit den Schultern. Toshi nahm noch ein paar Bissen. Mmh. Yoshikis Essen sah scheiße aus, dachte er und hob eine unförmige Karottenecke aus der Mischung, aber über den Geschmack konnte man sich wirklich nicht beschweren. „Vorschlag“, sagte er. „Wenn wir beide fünfzig werden und kein Mädchen abbekommen haben, ziehst du bei mir ein.“ Yoshiki nippte gedankenverloren an seinem Tee. „Ich hab mehrere Probleme mit diesem Szenario“, sagte er schließlich. „Ich bin bereit, mich deinen Vorstellungen anzupassen.“ „Pass auf, was du versprichst. Mit fünfzig ist man nicht mehr so flexibel.“ Toshi nahm einen Batzen Spinat. „Dann sag’s mir jetzt und ich stell mich langfristig drauf ein.“ Yoshiki dachte kurz nach und hob dann die rechte Hand zur Aufzählung. „Erstens: Fünfzig werden. Zweitens: Kein Mädchen. Drittens: Ich zieh bei dir ein.“ „Ich versteh deine Probleme mit den ersten beiden Punkten, aber die nehm ich jetzt mal als Grundvoraussetzungen hin. Was ist am dritten so schlimm?“ „Das klingt, als würdest du mich aushalten.“ „Ich halte dich aus.“ Yoshiki musste lachen. Das tat gut. „Finanziell, du Dödel!“ „Oh.“ Toshi grinste um ein Stück Hähnchen herum. „Außerdem seh ich den Vorteil für dich“, fuhr Yoshiki fort, „aber ich seh meinen noch nicht so ganz.“ „Och, bitte!“ Ein Dackelblick seitens des Sängers. „Ich kauf dir auch viele hübsche Sachen. Pianos und … Becken und alles, was der moderne Mann so braucht.“ Yoshiki lächelte und lehnte sich ein Stück vor, dabei so tuend, als würde er sich eine Haarsträhne um den Finger wickeln. „Jetzt wird’s interessant.“ Toshi lachte ebenfalls und das Geräusch schien einen Teil des Gewichts von Yoshikis Brust zu nehmen. Die Atmosphäre im Haus wurde mit einem Schlag weniger erdrückend. „Also“, sagte Yoshiki, dem die neugewonnene Leichtigkeit Mut machte nach einigen Sekunden eine Spur ernster. „Was unternehmen wir wegen hide?“ „Ich nehme an, nichts“, antwortete Toshi. Ratlos schob er einen Brocken Kartoffel nach links und wieder nach rechts, bis er die Stäbchen schließlich mit einem Seufzen senkte. „Es ist schlimm, das zu sagen, aber ich kenn ihn nicht gut genug, um zu wissen, was er gemacht haben oder wo er sein könnte. Du?“ Sein Freund schüttelte er den Kopf. „Nein. Mann. Wir haben so viel geredet, aber… wenn ich ganz ehrlich bin… weiß ich eigentlich gar nichts über hide.“ Toshi nickte langsam und betreten. „Uh-hu.“ „Also, das Verhältnis dessen, wie viel er redet, zu dem, wie viel er wirklich sagt, ist irgendwie… hundert zu eins. Oder so.“ Yoshiki wusste nicht, warum er weiterbrabbelte. Vielleicht hatte er das Bedürfnis, sich zu rechtfertigen. Es war doch schrecklich, sich eingestehen zu müssen, dass man jemanden, den man einen Freund genannt hatte, gar nicht wirklich kannte. Oder? War das nicht schrecklich? Es fühlte sich schrecklich an. Toshi seufzte. „Ja, woran auch immer es liegt, es sieht ganz so aus, als könnten wir da nichts machen.“ Er zerpflückte verdrossen ein Stück Huhn. „Mann. Das ist echt eine beschissene Situation.“ „Du sagst es.“ Yoshiki leerte seinen Tee. Ein paar Minuten saßen sie schweigend am Tisch, Yoshiki, weil er nachdachte und Toshi, weil er nachdachte und aß. „… wenn es nur irgendwas gäbe, was wir tun könnten“, sagte Yoshiki schließlich und streckte die Hand aus. Toshi reichte ihm die Stäbchen. „Ich wünschte, er würde sich nicht so schlecht fühlen.“ Yoshiki angelte den letzten Bissen Kartoffel und Huhn aus der Dose und sagte kauend: „Ich wünschte, ich würde mich nicht so schlecht fühlen.“ Er gab Toshi sein Besteck zurück. Dieser schmunzelte und kratzte den letzten Rest Spinat in der Ecke zusammen. Es waren Aussagen wie diese, die Yoshiki den Ruf einbrachten, ein selbstzentrierter, unzugänglicher Sonderling zu sein. Zum Glück kannte Toshi ihn lange genug um zu wissen, dass es einfach seine Art war, mit Anspannung umzugehen. Er aß auf und gähnte. Yoshiki gähnte unwillkürlich mit. „Was auch immer die Lösung hiervon ist“, sagte Toshi, als sein Mund ihm wieder gehorchte, „ich glaube nicht, dass wir sie heute Abend – uhm, Morgen, es ist schon Sonntag, oder? – noch finden.“ Sein Gegenüber nickte resigniert. „Bettchen?“ Toshi zuckte mit der linken Schulter. „Weiß nicht. Was ist die Alternative?“ „Nachtprogramm. Und/oder Bier.“ Verlockende Optionen... Nicht. Toshi verzog das Gesicht. „Bettchen.“ Oben in Yoshikis Zimmer bedeckten immer noch zwei Futons den Boden – in der vagen Hoffnung, dass hide vielleicht doch wieder auftauchen würde und in einem Anflug genereller Unlust hatte der Schlagzeuger sie einfach erstmal liegen lassen. Außerdem stand ein Erdbeerpurin einsam und vergessen auf dem Tisch. Der Anblick versetzte Toshi einen leichten Stich, den er zu seinem eigenen Entsetzen als Eifersucht identifizierte. Er schob das grüne Monster weit, weit weg und sah Yoshiki dabei zu, wie er die Futons näher zueinander schob und dadurch einen großen Doppelfuton schuf. „Ist die Mehrzahl von Futon wirklich Futons?“, fragte er nach diesem Gedankengang leise, während er die kurze Sporthose auszog. „Das klingt irgendwie nicht richtig.“ „Ja“, wisperte Yoshiki und warf seinen Pulli in eine Ecke und die Jeans hinterher. „Was soll es denn sonst sein?“ „Keine Ahnung. Futon. Futoni. Futona.“ Yoshiki schlüpfte unter die Decke. „... bist du müde?“ „… ja.“ Toshi ließ sich auf seine Hälfte des Riesenfutons fallen. Es war eindeutig zu warm für eine Decke. „Merkt man.“ Yoshiki drehte sich auf die rechte Seite. Toshi drehte sich auf die linke Seite. Ihre Knie berührten sich fast. „Idiot.“ [Eine weitere semiwitzige Anmerkung zum Thema Plural: Eigentlich wollte ich hier schreiben, dass ihre Köpfe nah beieinander sind, hab aber festgestellt, dass die Mehrzahl von Stirn tatsächlich Stirnen ist. Das klingt ja mal ewig bescheuert. Aber ihr könnt euch die freundschaftliche Intimität jetzt ausreichend vorstellen.] Ein paar Sekunden war es still. Toshi knetete noch einmal das Kissen in die richtige Form und legte den Kopf mit einem tiefen Seufzen wieder ab. „Was’n Tag“, murmelte Yoshiki. „Uh-hu“, machte Toshi. Jetzt wo er sich in der Horizontalen befand war das Wachbleiben auf einmal eine echte Herausforderung. „Danke fürs Rüberkommen.“ „Kein Ding…“ Toshi kam ein unangenehmer Gedanke. „Wir haben nicht Zähne geputzt…“ Doch Yoshiki hatte einen Ausweg. Er murmelte: „Wir erzählen das einfach keinem…“ Manche Probleme waren einfacher zu lösen als andere. -X- Es wurde Sonntag und nach dem Sonntag wurde es Montag und dieser ging über in den Mittwoch. Dann fiel den Verantwortlichen auf, dass man den Dienstag vergessen hatte, und sie schoben ihn schnell dazwischen, bevor es noch jemand bemerkte. Es war also Dienstagvormittag. Yoshiki machte gerade Gyoza, als das Telefon klingelte. Er ging dieser Beschäftigung nicht nach, weil er so begeistert vom Kochen oder von Teigtaschen war, sondern weil oben auf seinem Schreibtisch seine Geschichtsaufgabe für die Ferien lag und das hier eines der zeitaufwendigsten Gerichte war, die er hatte finden können. Schon drei von zweitausend Wörtern… Oh je. Umständlich griff er mit den am wenigsten klebrigen Fingern nach dem Hörer. „Hayashi“, sagte er eher unhöflich. „He“, sagte eine Stimme, die er als Tomo identifizierte. „Ich bin’s. Überraschung. hide hat angerufen.“ „Oh, Gott sei Dank…“, flüsterte Yoshiki. Auf einmal gaben ihm die Knie nach und er sank neben der Kommode auf den Boden, den Rücken an die Wand gelehnt. Er war so erleichtert, dass er nicht einmal wirklich verschnupft darüber sein konnte, dass er auf der Kontaktliste nicht ganz oben gestanden hatte. Er atmete zweimal tief durch. „Was ist passiert?“ „Er ist in Semboku.“ Yoshiki zog die Augenbrauen zusammen. „Wo zum Henker ist Semboku?“ -X- 52 Stunden zuvor Kühle, feuchte Morgenluft begrüßte hide, als er aus dem Zug stieg. Niemand außer ihm stieg aus und es stieg auch niemand zu. Die Gleise lagen leer und einsam zwischen dem Bahnhofsgebäude auf der einen und einem Sägewerk auf der anderen Seite. Langsam fuhr der Zug wieder an, um eine Biegung und war dann verschwunden. Tiefe Stille blieb zurück. hide gähnte und wandte sich in Richtung Bahnhofsvorplatz. Er war die ganze Nacht unterwegs gewesen und hatte sich nicht getraut, während der Fahrt die Augen zuzumachen, aus Angst, seine Station zu verpassen. Schon seit Stunden war ihm außerdem leicht blümerant: der Nachtbus nach Tokio war auf den kurvenreichen Küstenstraßen eine beschissene Idee gewesen und der Reiscracker, den er sich in der Wartezeit am Bahnhof gegen eben diese Übelkeit gekauft hatte, hatte auch nicht geholfen. Die frische Luft vollbrachte im Vergleich dazu wahre Wunder. Er ging über den Parkplatz und wanderte dann durch die noch stillen Straßen der verschlafenen Stadt. Nach einer Viertelstunde folgte er der vielerorts dürftig ausgebesserten Straße über einen kleinen Fluss, der sich rauschend über mehrere Stufen bergab ergoss, tiefer ins Hinterland. Es war grün hier: die Abstände zwischen den Häusern wurden größer und dieser Platz wurde beansprucht von hohen Bäumen, Gemüsegärten oder kleinen Gewächshäusern. Niemand begegnete ihm, nur in einer kleinen Autowerkstatt brannte bereits Licht. Er kam an einer Bushaltestelle vorbei, doch Busse fuhren selten hier, also machte er sich gar nicht erst die Mühe, auf den Plan zu sehen. Nebel hing noch über der Szenerie doch die ersten Sonnenstrahlen spitzten bereits über die Hügelketten, als er nach weiteren fünf Minuten von der Hauptstraße abbog und, einem kleinen Weg folgend, an Häusern und Feldern und Baumgruppen vorbeiwanderte, bis schließlich auf der rechten Seite ein kleines Häuschen auftauchte, umgeben von Pinien und blühenden Sträuchern. Der süßlich-würzige Geruch drang ihm in die Nase, als er die mit Kies bedeckte Auffahrt hinaufging und hide spürte, wie ihm Tränen in die Augen stiegen. Er schluckte zweimal. Die Erleichterung darüber, endlich hier zu sein, vermischte sich mit Kindheitserinnerungen, schlechtem Gewissen, Müdigkeit und der generellen Anspannung der letzten Wochen zu einem äußerst ungesunden Cocktail. Gleich würde er platzen. Er klingelte. Nichts geschah. Nun ja, manchmal konnte das um diese Uhrzeit schon dauern. Er wartete. Nach einer halben Minute klingelte er noch einmal. Immer noch nichts. hide runzelte die Stirn, trat ein paar Schritte zurück und suchte mit den Augen die Fenster ab. „Oh, verarscht mich alle“, murmelte er. Erneut stiegen ihm Tränen der Anspannung in die Augen. Das durfte doch nicht wahr sein! Gerade als er bereit war, ausgiebig zu verzweifeln, hörte er etwas. Er legte den Kopf schief und lauschte. Das Geräusch fließenden Wassers. Dem Plätschern folgend ging er einmal um das Haus herum. Durch den kleinen Garten auf der Rückseite stakste eine alte Frau und goss die Pflänzchen, bevor die Hitze des Tages zu groß wurde. hide erkannte Auberginen, Rüben und Spinat. Der Apfelbaum hing knorrig und traurig tief über der Regentonne, doch der bei hides letzten Besuch noch winzige Kirschbaum war gewachsen und jetzt größer als er. „Guten Morgen“, sagte er etwas lauter, noch von der Hausecke aus, um sie nicht zu erschrecken. Das klappte nur so halb - sie machte einen kleinen Satz, fuhr herum und griff sich in die Herzgegend. Dann erkannte sie ihn. „Hideto!“, rief sie überrascht und stellte ihre Gießkanne beiseite, um auf kurzen Beinchen zu ihm hinüber zu wackeln. Sie ging ihm nicht einmal mehr bis zur Brust. „Junge, was machst du denn hier?“ Herzlich drückte sie seine Hüfte, er umarmte aus Mangel an Alternativen ihre Schultern. „Hallo, Obaa-san.“ -X- „Aha. Hat… hat er gesagt, wann er zurückkommt?“ „Nein. Aber es geht ihm gut. Das ist doch erstmal am wichtigsten, oder?“ „Ja“, murmelte Yoshiki. „Natürlich.“ Es ging nicht um ihn. Schwer einzusehen, aber trotzdem wahr. Er räusperte sich. „Hat er seinen Eltern gesagt, wo er ist?“ „Nein“, sagte Pata ruhig. „Du solltest das machen.“ Yoshiki bewegte sich unbehaglich von seinem Fuß auf den anderen. Das erschien ihm eine größere Rolle, als er sie eigentlich hatte spielen wollen. „Ist das nicht irgendwie… ein Missbrauch seines Vertrauens?“ „Er hat mir auch gesagt, dass ich dir noch nicht sagen soll, wo er steckt.“ „Oh“, machte Yoshiki. Und dann, noch einmal, mit ganz anders gelagerter Betonung: “Oh“. „Nimm es nicht persönlich“, sagte die Stimme am anderen Ende der Leitung. „Ich denke, hide hat einfach ein paar ziemlich gravierende Probleme mit Beziehungen. Nichts, das ein paar Jahre teure Therapie nicht lösen könnten. Wir sollten aber aufpassen, dass wir uns da nicht mit reinziehen lassen. Es gibt hier in der realen Welt eine normale und moralisch richtige Vorgehensweise und wir wissen beide, wie die aussieht.“ Ein Seufzen. Yoshiki war wirklich nicht scharf auf diesen Anruf. „Ok…“ Doch zuvor hatte er noch eine Frage: „Erreich ich ihn irgendwie?“ Es war vielleicht nur eine erste emotionale Reaktion, doch auf einmal hatte Yoshiki so einige Dinge, die er hide gerne gesagt hätte. Nicht alle davon waren nett. „Hat er mir nicht gesagt. Gib ihm Zeit. Vielleicht meldet er sich von selbst bei dir.“ „Danke. Ich… ich denk, ich ruf dann mal ein paar Leute an.“ „Bis morgen.“ „Ja. Bis dann. Danke.“ Yoshiki tastete mit der Hand über den Kopf und legte den Hörer beim dritten Versuch auf die Gabel. Nachdenklich puhlte er ein wenig Shrimp unter seinen Fingernägeln hervor und schaute an die Wand gegenüber. Er war erst erleichtert gewesen, dann sauer, dann enttäuscht und jetzt wusste er gerade nicht, was er war. Mit einem weiteren Seufzen zog er sich an der Kommode hoch und wählte die Nummer der Deyamas. Vielleicht konnte Toshi es ihm sagen. -X- hide saß am Esstisch und sah sich um. Alles war genau so, wie er es in Erinnerung hatte: dieselbe klebrige Plastikdecke auf dem Tisch, dieselben alten Fotografien an den Wänden, dieselben Fenster mit den undichten Fugen. Nur die Tatamimatten waren andere – jemand hatte sie vor kurzem ausgetauscht und sie waren jung und grünlich und dufteten angenehm. Seine Großmutter rumorte in der Küche. „Oma, was machst du denn da?“, fragte er nach einigen Minuten über die Schulter. „In meinem Alter überlegst du dir, was du gleich noch alles machen kannst, wenn du mal stehst.“ Etwas klapperte und klirrte. „Hast du gefrühstückt?“ „Ja“, log hide und drehte sich wieder zum Tisch. „Alles gut.“ „Mit dir hab ich wirklich überhaupt nicht gerechnet“, sagte seine Großmutter, als sie mit einer Kanne, zwei Tassen und einem Teller mit Plätzchen wieder ins Wohnzimmer kam. „Ich dachte, ihr schaut erst zum keirō no hi wieder vorbei. Aber es ist schön, dass du mich besuchst.“ Sie schenkte ein. hide nahm einen Schluck Kaffee. Er war viel zu stark und genau richtig. „Ich… wollte ich was fragen.“ Die alte Frau setzte sich mit einiger Mühe an den Tisch. „Na, das muss ja eine große Frage sein, wenn du dafür den ganzen Weg hier herauf kommst.“ „Ja…“, sagte hide langsam, griff nach einem Keks und drehte ihn in den Fingern. Das war es. Er atmete ein. „Warum hast du mir damals eine Gitarre geschenkt?“ Seine Großmutter sah ihn fragend an. „Was meinst du?“ „Naja, warum das? Warum kein Fahrrad oder ein… ein Startkonto für die Uni oder für ein Auto oder ... irgendwas halt?“ „Ah.“ Sie nippte an ihrem Kaffee und schien nachzudenken. „Nun, du wurdest zwölf und Opa war gerade gestorben und ich bekam die Lebensversicherung ausbezahlt. Da dachte ich, wenn ich meinem Enkel einmal etwas richtig Schönes schenken kann, dann jetzt. Auch von ihm, als Erinnerung. Also haben alle lange darüber nachgedacht, bis meine Freundinnen sagten, es sei doch gut für Kinder, wenn sie ein Instrument lernen. Das hat mir gefallen und ich bin in die Stadt gefahren. Deine Eltern hatten nur diese kleine Wohnung, also musste es leise sein, klein und ich wollte etwas, für das man dich nicht hänselt. Flöten waren ja furchtbar in Mode, aber ich fand die Dinger schrecklich. Also sagte der Verkäufer ‘Wie wäre es mit einer Gitarre‘ und ich sagte ‘Gibt es die auch in Rot‘. Ich hab die ganzen Sachen, die er mir erzählt hat warum das Ding so teuer war ja überhaupt nicht verstanden.“ hide legte den Keks vor sich auf den Tisch. Ihm war plötzlich wieder übel. Vielleicht der Kaffee auf leeren Magen. „Und… das ist alles?“, fragte er tonlos. Seine Großmutter dachte noch einmal nach. „Ja“, sagte sie dann. „Das war das. Hach, ich weiß noch, wie du das Ding ausgepackt hast. Du hast dich so gefreut.“ Sie schien für einen Moment in der Erinnerung zu schwelgen. Dann bemerkte sie den Gesichtsausdruck ihres Enkels. „Was ist denn?“ “Nichts”, sagte hide. Er fühlte sich auf einmal sehr dumm. „Nichts. Ich… ich bin bloß müde. Ich bin die ganze Nacht durch hergefahren. Kann ich mich ein bisschen hinlegen?“ Eine Viertelstunde später hatte sich hide im Nebenzimmer auf der Matratze eingerollt, doch so sehr er es versuchte, kam der Schlaf nicht. Über Stunden lag er da und lauschte den Geräuschen des Tages draußen. Er hörte den morgendlichen Berufsverkehr auf der Straße zu- und wieder abnehmen, ein paar Kinder auf dem Weg in die Stadt, gegen Mittag ein lautes Moped, die Stimme seiner Großmutter, wie sie sich am Nachmittag mit einer Nachbarin unterhielt. Allmählich wurde es warm und ein wenig stickig im Raum. Die Wärme machte durstig. Irgendwann im Lauf des Spätnachmittags döste er kurz ein und bekam beim Aufwachen Kopfschmerzen, doch der Weg in die Küche erschien ihm zu weit. Er dachte darüber nach, was ihn in Tateyama erwartete. Er dachte darüber nach, für immer hier zu bleiben und Reis anzupflanzen. Er dachte darüber nach, wie es sein würde, wenn er einfach überhaupt nie wieder aufstand. Man ließ ihn mit seinen Gedanken in Ruhe und das war ihm nur Recht. Erst, als die Sonne draußen langsam unterging und den Raum in rötliches Licht tauchte, hörte er schwerfällige Schritte auf dem Gang und dann das leise Geräusch einer sich öffnenden Tür. „Hideto? Bist du wach?“ „Ja“, sagte hide. Seine Stimme klang rau und er räusperte sich einmal. „Magst du mit zu Abend essen?“ hide setzte sich auf. Die Bewegung verstärkte die Kopfschmerzen von einem dumpfen Druck zu einem schmerzhaften Pochen, dennoch schaffte er ein Lächeln. „Ich hab keinen sonderlich großen Hunger.“ „Aber Junge, du hast doch den ganzen Tag nichts gegessen!“, sagte sie besorgt und tappte zu ihm hinüber. „Geht es dir nicht gut?“ Urplötzlich schossen hide wieder Tränen in die Augen. Warum fragten ihn die Leute das nur ständig! Konnten sie sich nicht einfach um ihr eigenes Zeug kümmern? „Doch“, sagte er. Es klang schwach und dünn und überhaupt nicht gut. Er räusperte sich. „Doch“, sagte er noch einmal. Besser. Flucht nach vorn. „Alles in Ordnung. Ich ess‘ mit. Was gibt’s?“ Seine Frage verhallte ohne Antwort. Mühsam ging die alte Frau neben ihm auf die Knie. Ihre Präsenz nahm Platz ein, den er lieber für sich behalten hätte. Sie roch wie immer. Wie eine Oma. Nach Sandelholz und Heilsalbe und solider Hausmannskost und ein klein wenig nach Mottenkugeln. Dass er das so genau sagen konnte, bedeutete: Sie war zu nah. Nicht gut. Gar nicht gut. Ihre Stimme war leise und sanft. Und ging durch bis auf die Knochen. „Was ist denn los?“ hide schaute weg, in die ganz andere Ecke des Raums, und krallte unter der Decke die Fingernägel auf der linken, ihr abgewandten Seite in den Oberschenkel. „Also… ich…“ Die Brust wurde ihm eng. Sein Herz schlug viel zu schnell und er spürte, wie seine Unterlippe anfing zu zittern. Seine Großmutter lehnte sich ein kleines Stück vor, er fing ihren Blick auf. Und brach in Tränen aus. -X- hide hätte nicht sagen können, wie lange er so da saß, mit dem Gesicht zwischen Armen und Händen vergraben, während die Hand seiner Großmutter ihm den Rücken streichelte. Allmählich und teilweise unverständlich blubberte alles aus ihm heraus: Aller Kummer der letzten Jahre, seine Eltern, die Schule, die Musik. Als er das nächste Mal hochschaute, hatte sich bereits die Dunkelheit der Nacht über das Zimmer gesenkt; nur vom Gang her fiel noch ein schmaler Schimmer warmen Lichts durch die offene Tür. „- und er sagte, dass das Scheiße ist und ich nur alles kaputt mache und wenn ich das tue, bin ich nicht mehr sein Sohn.“ hide atmete zittrig durch, gluckste noch einmal und dann hörte er auf. Weil keine Worte mehr da waren. Er fühlte sich seltsam leer, aber auch seltsam befreit. „Also“, fasste die alte Frau zusammen, „bist du hier, weil du wissen willst, was du tun sollst.“ „Ja“, sagte hide. Jetzt wussten sie beide, worum es ging. Das war ein Fortschritt. „Und ich dachte irgendwie, vielleicht würdest du etwas sagen wie ‘Ach Junge, weil ich damals wusste: die Gitarre ist das Ding für dich‘ oder so was. Aber anscheinend war das ja nicht so, also bin ich jetzt trotzdem nur ein… ein Idiot mit einem Instrument.“ Wow, das war ein lahmer Vergleich. hide rieb sich einmal mit dem Ärmel übers Gesicht und schniefte. Scheiße, war er durch. Ein paar Herzschläge lang sagte seine Großmutter nichts. Dann strich sie ihm einmal über die widerspenstigen Haare. „Na komm. Jetzt isst und trinkst du erstmal was und dann schauen wir weiter.“ Omas, dachte hide nicht ohne einigen Widerwillen. Als wären Essen und Trinken eine Panazee. Dennoch schlug er die Decke zurück und ergab sich in sein Schicksal. Ein paar Minuten später saß er wieder am Esstisch und nippte an seinem zweiten Glas Wasser. Es half ein wenig gegen die Kopfschmerzen. „Ich weiß einfach nicht, warum ich… irgendwas mache. Oder nicht mache“, erklärte er dabei betrübt. „Ich weiß überhaupt nicht, was ich will oder wer ich bin oder… alles.“ Seine Großmutter schob Dinge im Kühlschrank hin und her und tauchte schließlich mit Pilzen und Frühlingszwiebeln wieder auf. „Ach Junge“, sagte sie, während sie das große Küchenmesser vom Haken an der Wand nahm. “Ich könnte dir jetzt natürlich zu irgendwas raten. Aber ich glaube, das macht dich auch nicht glücklich. Du musst die Antwort in dir selbst finden, denke ich.“ Das Messer machte leise Tschopp-Tschopp-Tschopp Geräusche auf dem Holzbrett. „Ich weiß…“, murmelte hide mit einem lautlosen Seufzen und spielte an der Ecke der Plastiktischdecke herum. Für den ‘Stärke in dir selbst‘-Spruch hätte er den weiten Weg nicht herkommen brauchen. Die Frau des Hauses hielt in der Essensvorbereitung inne und lächelte ihn über die Schulter hinweg an. „Ich erzähl dir eine Geschichte. Willst du sie hören?“ hide hob die Schultern und nickte leicht. Er hatte nichts zu verlieren und sie hatte keinen Fernseher. „Als ich ein junges Mädchen war, da machten wir jedes Jahr ein paar Tage im April Urlaub am Fuji-san. Dein Uropa wollte immer auf den Gipfel pilgern – uns junge Leute hat das nicht so interessiert. Ich traf einen furchtbar netten Mann dort, er war… Niederländer, glaube ich. War bei der Handelsmarine, fuhr zur See. Es gefiel meinen Eltern gar nicht. Dann war der Urlaub vorbei und wir fuhren zurück nach Hause. Aber er ging mir nicht aus dem Kopf. Ach, sie hatten so schöne Augen, diese Europäer…“ Seine Großmutter hielt kurz mit einem Stück Tofu in der Hand inne und obwohl sie mit dem Rücken zu ihm stand, konnte hide sich vorstellen, wie ihre Augen ein wenig leuchteten und sie das mit der jungen Frau verband, die sie einmal gewesen war. Alt werden, dachte er plötzlich, war eine seltsame Sache. „Nun, auf jeden Fall waren wir wieder zurück zu Hause und er ging mir nicht aus dem Kopf. Über Wochen ging das so. Schließlich fragte ich meine Eltern, ob es nicht in Ordnung wäre, wenn ich mich in den Zug setzte und nach Yokohama fuhr. Natürlich waren sie dagegen, ich, ein junges Ding von sechzehn, allein mit dem Zug durch Japan, zu einem Mann und einem Ausländer noch dazu. Sie sagten, ich solle lieber zuhause bleiben und ein bisschen besser kochen lernen, damit ich einen guten Japaner heiraten könne. Ich war fuchsteufelswild. Also fragte ich Inoue Kengo, der damals nebenan wohnte, ob er mich nicht in seinem Auto nach Yokohama fahren würde. Natürlich sagte er Nein und war ziemlich eingeschnappt. Ich habe erst verstanden warum, als er mich gefragt hat, ob ich ihn heirate – aber das war viel später.“ Die Großmutter stellte eine Pfanne auf den Herd. „Ich auf jeden Fall fühlte mich von allen verraten und fand das alles furchtbar unfair. Also weißt du, was ich tat?“ hide schüttelte den Kopf. „Herr Nakamura, auf der anderen Seite des Dorfs – du weißt vielleicht, der, dessen Sohn heute die Rinder züchtet - der hatte ein Fahrrad. Damals war das noch was Besonderes. Zwei Tage später hab ich das Ding im Morgengrauen genommen und fuhr los. Als sie merkten, dass ich weg bin, war ich schon auf halbem Weg nach Misato.“ „Also – du bist was? Auf einem Fahrrad nach Yokohama gefahren?“, fragte hide mit einer Mischung aus Unglaube und Belustigung. „Aber das müssen…“ „Fast sechshundert Kilometer sein, ja. Ich hab fast zwei Wochen gebraucht. Und damals gab es hier noch kein Telefon, ich konnte also auch nicht anrufen und ihnen sagen, wo ich stecke.“ „Aber… wo hast du denn übernachtet, was hast du gegessen?“ „Ach, manchmal hab ich einfach im Wald geschlafen. Es war ja Sommer. Aber ich hab auch viele furchtbar nette Leute getroffen unterwegs. Und natürlich hatte ich auch Geld dabei, aber damals hatten wir nicht so viel. Also war es ganz gut, dass man mich hin und wieder durchgefüttert hat.“ hide verzog belustigt das Gesicht. Seine Oma und ihre Märchen… „Und dann war ich in Yokohama, hatte mich einmal durch den Hafen gefragt und weißt du, was ich da erfuhr?“ Sie hatte sich von der Küchenzeile abgewandt und gestikulierte mit ihrem großen Messer. Ein kleines Stück Frühlingszwiebel flog in hides Richtung. Dieser schüttelte den Kopf. „Er war verheiratet! Aber den ganzen Mädchen schöne Augen machen! Von wegen mich mit nach Europa nehmen und die Welt sehen! Das hat er allen erzählt und bei keiner war es wahr! So ein Schwein! Zum Glück habe ich das rechtzeitig gemerkt! Und jetzt ist mir auch sein Name wieder eingefallen! Rik van de Ven!“ Es gab ein platschendes Geräusch, als sie den Tofu etwas zu aggressiv in die Suppe beförderte. „Huch.“ Sie nahm den Lappen vom Haken und wischte einmal um die Herdplatte herum. „Nun“, begann sie ruhiger erneut. „Auf jeden Fall nahm ich mir danach vor, dass ich alle Männer für immer doof finden würde und dann fuhr ich wieder nach Hause. Meine Eltern waren erst so erleichtert, sie waren nicht einmal richtig wütend. Dann wurden sie wütend und haben mir einen Monat Hausarrest gegeben. Und ich musste jeden Tag den Stall machen - wir hatten damals noch Tiere – für das nächste halbe Jahr.“ Sie nahm den Fisch von der Anrichte und legte ihn in die Pfanne. Es brutzelte. Ihr Enkel lächelte in Richtung Tischdecke. Schließlich sagte er: „Du verarscht mich.“ Sie deutete mit ihrem Pfannenwender auf den Wandschrank. „Oranges Album.“ hide stand auf und lugte in den Schrank. Fast ganz hinten lag ein abgegriffenes, zerfleddertes Album im Farbton alter Orangen. Er klappte es auf. Eine junge Frau, die es irgendwie schaffte, im Kimono auf ihrem Rad zu sitzen, lächelte ihm entgegen. Sie hatte seine Nase. Oder er ihre. Wie auch immer. „Da bist du sechzehn?“, fragte er ungläubig. Seine Großmutter kam ein paar Schritte in seine Richtung, um einen Blick auf das Bild werfen zu können. „Ah, Nein. Da bin ich Mitte zwanzig. Davor hatten wir keinen Fotoapparat. Aber irgendwo muss noch ein Foto von ihm sein. Ich konnte es nicht wegwerfen – und wenn auch nur, um mich an meine Blödheit zu erinnern.“ hide blätterte durch. Fast ganz hinten fiel ihm die schwarz-weiße Fotografie eines jungen Mannes entgegen, mit leichten Locken, hellen Augen und einem schelmischen Zug um die Mundwinkel. Er konnte nicht ganz nachvollziehen, was man als Frau in ihm wohl sehen mochte und schob das Bild wieder zurück. „In Ordnung“, sagte er und legte das Album neben sich auf den Boden. „Schöne Geschichte. Aber ich versteh noch nicht ganz, was du mir sagen willst.“ „Ich war auch noch nicht fertig. Komm mal bitte her und tu Reis raus. Es war nämlich so, dass auch wenn das mit dem Mann meiner Träume nichts geworden war, das Reisen hatte mir schon Spaß gemacht. Ich hatte so viel gesehen! Das Dorf erschien mir plötzlich unendlich klein und ich hatte immer nur Fernweh. Und zu meinem zwanzigsten Geburtstag schenkten mir meine Eltern dann ein eigenes Fahrrad, unter der Bedingung, dass ich ihnen immer sagen würde, wo ich wann hinfuhr. Da hatte ich unfassbares Glück, aber dein Uropa war auch nicht ganz normal. In jeder anderen Familie war es unvorstellbar, eine Frau allein durch die Gegend fahren zu lassen. Den Rettich bitte auch. Danke.“ hide schaufelte Reis und eingelegten Rettich in Schüsseln, während seine Großmutter neben ihm mit Fisch und Suppe hantierte. „Auf jeden Fall machte ich im nächsten Sommer eine Tour nach Akita. Nur eine ganz kleine Tour ans Meer, ein paar Tage. War auch schön, aber auf dem Rückweg kam ich in ein Unwetter und steckte bald bis zu den Knöcheln im Morast. Wie ich da also so mein Rad neben mir her schob, von oben bis unten voller Schlamm – ich war schon zweimal hingefallen – hielt auf einmal ein kleiner Transporter neben mir. Drinnen saßen zwei junge Männer, die meinten, sie könnten mich ein Stück mitnehmen. Aber sie waren mir nicht geheuer, also sagte ich Nein und schob weiter.“ Sie setzten sich an den Tisch und seine Großmutter lud ihm ein Stück Fisch auf den Teller. hide war keine drei Jahre mehr alt und hätte das selbst gekonnt, doch weil er wusste, dass man das aus Müttern und Omas einfach nicht rausbekam, sagte er einfach: „Danke.“ „Was ich dir sagen will: Es ist in Ordnung, seinem Herzen auch mal auf idiotische Unternehmungen zu folgen. Aber man muss den Kopf mit auf die Reise nehmen.“ hide lächelte. „Das ist ein guter Ratschlag.“ „Ich bin einundachtzig Jahre alt, mein Junge. Ich bin voller Krampfadern und guter Ratschläge.“ „Bwah, Oma…“ hide verzog das Gesicht, musste aber lachen und griff nach dem Rettich. Das erste Mal in Wochen hatte er Hunger. Er nahm ein paar Stück eingelegtes Gemüse und einen Schluck Suppe, bevor er fragte: „Aber was macht man, wenn man nicht weiß, wo man hin will? So… von Herzen.“ „Mmh. Ich glaube, man weiß das immer“, sagte die alte Frau und zerlegte ihren Fisch. „Ich weiß gerade gar nichts.“ „Mach dir keine Sorgen.“ Sie fing an zu essen. „Es ist irgendwo da drin.“ hide stupste ein Stück Tofu, es versank in der Suppe und tauchte dann wieder auf. „Und wenn nicht?“ „Irgendwo da drin“, wiederholte sie. Wenig überzeugt fischte hide auf dem Grund der Brühe nach den Shiitake und sagte nichts mehr. Doch die Großmutter musste seine Zweifel spüren, denn sie lächelte ein wenig und senkte ihre Stäbchen. „Mit Gefühlen ist es wie mit Freunden. Wenn man sie ein paar Mal zu oft ignoriert und nur auf andere hört, dann sind sie irgendwann beleidigt und sagen: ‘Soll er halt machen, die blöde Kuh‘. Es dauert dann oft eine Weile, bis sie wieder mit einem reden.“ „Gerade bin ich nicht sicher, ob sie nicht vielleicht aus Protest in eine andere Stadt gezogen sind.“ Die alte Frau lächelte noch etwas breiter. „Das glaube ich nicht.“ hide hatte einen Pilz an die Oberfläche befördert und kaute darauf herum. Er mochte Shiitake, doch gerade hatte er mit der Konsistenz zu kämpfen. Nach einer halben Minute schließlich gestand er sich ein, dass er eigentlich nicht auf dem gummiartigen Pilzchen herumkaute. „Zum Thema Freunde“, sagte er deshalb und fühlte sich im gleichen Moment wieder ein wenig elend, „ich glaube, die hab ich mir auch vergrault.“ Seine Großmutter schaute ihm in die Augen und schüttelte, weiterhin lächelnd, den Kopf. „Du stellst dir das zu einfach vor.“ -X- „Hast du ihnen Bescheid gesagt?“, fragte Tomoaki und piekte gebratenes Ei aus seiner Schüssel. „Ja“, sagte Yoshiki. „Aber sie wussten es schon. Von der Großmutter. Trotzdem hab ich bei seiner Mutter jetzt glaube ich einen Stein im Brett. Vielleicht brauch ich den ja irgendwann.“ “Also, was machen wir?”, fragte Toshi. „Warten wir, bis hide zurück ist?“ Sie saßen in einem kleinen Restaurant an einem Tisch in der Ecke. Yoshiki hatte den Ort gewählt. Der Gedanke, das Thema des heutigen Zusammenkommens in einem Kellerraum zu diskutieren, hatte ihn schon in seiner Vorstellung deprimiert. Es war Mittagszeit und um sie herum brummte das Leben, doch Taiji schenkte jedem sich nähernden Wesen einen extrem verunsichernden Blick und so hatten sie ihre Ecke immer noch für sich. „Schwachsinn“, meinte der Bassist. Er starrte einen Geschäftsmann an, der sich neben sie an den langen Holztisch gesetzt hatte, bis dieser verunsichert seine Sachen nahm und noch ein Stück wegrutschte. Dann fuhr er fort: „Das hilft ihm auch nicht und, noch wichtiger, uns bringt’s auch nicht weiter.“ Toshi klappte den Mund auf, doch auch Yoshiki schüttelte den Kopf und schob sein kaum angerührtes Essen von sich weg. „Nein. Wir machen einfach weiter und hoffen das Beste.“ „Ohne Leadgitarre?“, fragte Pata. Toshi schob das Donburi zurück zu Yoshiki. Dieser warf ihm einen wenig erfreuten Blick zu, nahm aber noch zwei Bissen Fleisch, bevor er die Schüssel erneut von sich weg schob. Der Sänger stellte sie zurück. Yoshiki funkelte ihn an. „Toshi, ich schwör dir, hör auf damit oder ich kotz dir über den Schoß!“ „Ah ja?“, fragte Toshi unbeeindruckt. „Liste mir die Dinge auf, die du gegessen hast, seit hide weg ist. Und es kann nicht Kaffee sein.“ Yoshiki klappte den Mund auf, um sich zu verteidigen, doch anscheinend fiel ihm nichts ein. Diese Regel war neu – und unfair! „…Verfluchte Scheiße!“, fauchte er schließlich aus Ermangelung eines inhaltlich überzeugenden Arguments. „Du bist doch nicht meine Mutter!“ „Das war tatsächlich noch nie die Beziehung, die ich da gesehen hab“, murmelte Taiji amüsiert und rührte das Curry unter seinen Reis. Yoshiki schenkte ihm einen finsteren Blick. Taiji starrte zwei junge Frauen weg und ignorierte ihn. „Ok“, sagte Yoshiki sich mühsam zusammenreißend, „also, ich nehme auf, alle die dafür sind, dass wir ohne hide weitermachen, zum Ersten, zum Zweiten, zum Dritten. Toshi, was ist mit dir?“ Toshi hob ein Stück Kamaboko, gestikulierte damit ohne etwas zu sagen und senkte es dann wieder. „Ich weiß nicht“, sagte er schließlich, unzufrieden mit diesem Ergebnis. „Es ist einfach… komisch ohne ihn. Nicht?“ „Ee“, machte Taiji. „Aber ich kann ihn nicht herzaubern. Und wer weiß, ob und wann er wiederkommt und ob er dann noch Bock hat. Ich stell jetzt nicht mein Leben auf Pause nur deswegen. Man muss durch so was durchpushen, Mann.“ Toshi seufzte. „Ok. Ja. Gut. Dann machen wir weiter.“ „Gut.“ Taiji zog Yoshikis Schüssel zu sich hinüber. „Taiji!“, fuhr Toshi ihn an. „Was?“, fragte Taiji und steckte sich eine Stäbchenladung Rind in den Mund. „Er isst’s ja doch nicht.“ „Das weißt du nicht! Vielleicht will er später doch noch!“ Toshi streckte auffordernd die Hand nach der Schüssel aus, doch Taiji legte den Arm davor. „Tz. Als ob der sich in der nächsten halben Stunde einkriegt. Meine Fresse. Es wäre schade drum, nur weil unserer emotional belasteten Prinzessin hier das Bäuchlein wehtut.“ Mit einem wütenden „Du Hurensohn!“, lehnte Yoshiki sich über den Tisch und zog sein Donburi unter Taijis Nase weg. Trotzig schaufelte er sich ein paar Happen Reis mit Soße in den Mund, während Toshi eine entschuldigende Geste in Richtung Tresen machte. Einige andere Gäste hatten sich zu ihnen umgedreht, als Yoshikis Stimme die rücksichtsvolle Restaurant-Lautstärke um ein paar Dezibel überschritten hatte. Toshi wollte gerade dazu ansetzen, Taiji zu erklären, warum es manchmal auch gut sein konnte, einfach mal die Fresse zu halten, da bemerkte er im Gesicht ihres Bassisten ein winziges, schiefes Lächeln. Taiji…? Yoshiki war mit seinem Trotzessen fertig, klatschte die Stäbchen auf den Tisch und wischte sich über den Mund. „Ok. Gut, dass wir das geklärt haben… Aber das ist eigentlich nicht, warum ich euch sehen wollte.“ Er faltete die Hände. „Ich… wollte mit euch über hide reden.“ „Wir reden über hide“, sagte Toshi. „Nein. Anders. Nicht über sein Wegsein, sondern darüber, was wir machen, wenn er wieder hier ist.“ „Nimm’s nicht falsch“, sagte Taiji und suchte in seinem Curry nach Fleischstücken. „Aber ich bin nicht sicher, ob wir da so viel mitzureden haben. Ich meine… was er macht und was nicht, ist ja irgendwie seine Sache. Wenn überhaupt.“ Sie waren wieder auf der professionellen Ebene – der, die es Yoshiki und ihm erlaubte, eine halbwegs normale Konversation zu führen. „Ja“, stimmte Yoshiki zu. „Aber es gibt etwas, das wir tun können. Vielleicht.“ „In Ordnung“, sagte Pata. „Was ist es?“ „Als“, begann Yoshiki und brach ab - ein junges Pärchen hatte sich trotz Taijis leicht psychotisch anmutender Blicke neben sie an den Tisch gesetzt. Der Bassist hob eine Hand, zum Zeichen, dass sie warten sollten, nahm einen großen Schluck Limonade, klopfte sich einmal auf die Brust und rülpste ein herzhaftes Curry-Limonade-Rülpsen. Das Paar warf ihm einen schockierten Blick zu und stand miteinander tuschelnd wieder auf. Taiji grinste und sah ihren sich entfernenden Rücken hinterher. „Und so, liebe Leute“, sagte er selbstzufrieden, „macht man das.“ „Glückwunsch“, sagte Toshi trocken. Der Beschützer der Privatsphäre wandte sich an ihren Schlagzeuger. „Du sagtest gerade?“ „Als… mein Vater starb”, fing Yoshiki noch einmal an, „waren meine Noten auch schrecklich.“ „Deine Noten sind immer noch schrecklich“, sagte Toshi. „Ja, aber jetzt ist es, weil’s mich nicht mehr interessiert. Kann ich fertig erzählen?“ Toshi machte eine entschuldigende Handbewegung. „Danke. Auf jeden Fall, damals hab ich noch gelernt, weil ich irgendwie dachte, wenn ich mich mehr anstrenge, dann … naja, egal. Auf jeden Fall: Ich saß da und hab meine Bücher angestarrt, aber die Worte haben einfach keinen Sinn gemacht. Ich hab sie wieder und wieder gelesen, aber alles ging irgendwo auf dem Weg verloren. Wenn ich nach einer Stunde den gleichen Absatz nochmal angeschaut habe, kam es mir vor, als hätte ich ihn noch nie gesehen.“ „Dein Punkt?“, fragte Taiji. „hide hat Brown Sugar in weniger als zehn Minuten gelernt“, sagte Yoshiki. „Zum Spaß. Und er kennt die komplette Diskografie von den Ramones und The Who teilweise mit den Lyrics auswendig und mixt mindestens zwanzig verschiedene Cocktails aus dem Kopf. Ich glaube nicht, dass er dumm ist. Er ist depressiv.“ Die Worte senkten sich schwer über ihren Tisch und für ein paar Augenblicke sagte niemand etwas. Um sie herum ging das Leben weiter. „Er hat nie so traurig gewirkt“, meinte Toshi schließlich. Yoshiki schüttelte den Kopf. „Erstens hab ich da was anderes gesehen, zweitens hat das nichts miteinander zu tun. Du kannst problemlos physisch depressiv sein, ohne zu merken, dass es dir psychisch schlecht geht.“ „Ok“, sagte Taiji und schluckte eine Ladung Curry runter. „Danke für diesen Ausflug nach Kummerstadt. Aber ich versteh noch nicht, worauf du rauswillst.“ „Wenn wir Glück haben, kommt er bis zum Ende der Ferien zurück. Bis dahin haben wir Zeit, uns was zu überlegen, wie wir ihm helfen.“ „Warum hilfst du ihm nicht?“, fragte Taiji. „Immerhin ist er zu dir gekommen.“ Yoshiki spielte mit seinen Stäbchen. „Weil… weil ich das nicht kann“, gestand er schließlich, sowohl den anderen als auch sich selbst. „Das funktioniert vielleicht ein paar Wochen. Wenn wir Glück haben. Aber ich bin jetzt auch nicht… also… ich hab manchmal auch so meine Phasen, und wenn hide dann gleichzeitig auch eine… eine Situation hat, dann…“ Yoshiki fuchtelte einmal mit den Händen. „Das wäre nicht gut. Dann ziehen wir uns gegenseitig runter, versteht ihr? Wir müssen was anderes finden.“ Wieder legte sich Schweigen über ihren Tisch, diesmal ein nachdenkliches. Taiji zog noch einmal Yoshikis Schüssel zu sich, um noch ein paar Stück Fleisch in seine Soße zu dippen. Toshi sagte nichts dazu. „Du meinst das gut“, meinte Pata schließlich bedächtig und schob seine leere Schüssel zur Seite, „und das ehrt dich. Aber vielleicht möchte er das gar nicht. Immerhin, das letzte Mal, als du ihm geholfen hast, ist er verschwunden.“ „Ja“, sagte Yoshiki. „Er schuldet mir fünfundzwanzigtausend Yen, glaub mir, ich seh das Problem. Trotzdem denke ich, wir sollten ihm zumindest … keine Ahnung, irgendeine Form von Hilfe anbieten. Ob er sie annimmt ist dann ja nochmal was anderes.“ „Mmh“, machte Pata. Da er neben ihm saß, warf Yoshiki ihm einen langen – und absolut wirkungslosen – Seitenblick zu. Er hatte das vage Gefühl, dass in diesem Mmh eine Myriade von Dingen lag, die Yoshiki nur zu gerne ausdiskutiert hätte – natürlich, um am Ende Recht zu haben. Doch vielleicht, und das räumte er ein, war es ganz gut, dass der andere Junge seine Gedanken an dieser Stelle für sich behielt. Diskussion und Streit lagen bekanntlich nah beieinander und er konnte nicht noch eine Gitarre entbehren. „Und an was denkst du?“, fragte Toshi. Yoshiki wandte sich gedanklich wieder seinem Hauptthema zu und hob hilflos die Schultern. „Ich hab keine Ahnung.“ -X- Es war ein wunderschöner Sommertag und hide folgte einem kleinen Weg tiefer in den Wald hinein. Der Himmel war strahlend blau und die Sonne brannte erbarmungslos, doch hier unter den Bäumen war es trotz der Schwüle aushaltbar. Ein Bachlauf gluckerte seit geraumer Zeit fröhlich neben dem Pfad her und als ihm irgendwann doch zu warm wurde, stieg hide die Böschung hinunter und hielt seine Unterarme ins Wasser. Es war klar und kühl und er hätte gerne auch die Schuhe ausgezogen, doch man lernte ja als Kind, dass man das nicht machte. Also kühlte er stattdessen noch seine Stirn und seinen Nacken und kraxelte dann die Böschung wieder hinauf. Bald darauf machte der Weg eine Biegung, vom Wasser weg und steiler bergan. hide wünschte sich, er hätte eine bessere Kondition, aber das hielt ihn noch lange nicht auf. Es war bereits früher Nachmittag, als er schließlich, vollkommen durchgeschwitzt, ein Plateau erreichte. Die Bäume standen lichter hier und er konnte hinunter ins Tal sehen, über die Häuser und Felder bis zu den Hügeln auf der anderen Seite. Er setzte sich unter einen großen Ahorn und wühlte im Rucksack nach der Wasserflasche. Irgendwo erklang der traurige Ruf eines Bergkuckucks, ansonsten war die Stille vollkommen. hide ließ sich auf den Rücken fallen, schloss die Augen und genoss das Spiel von Licht und Schatten jenseits seiner Lider. Weit über ihm rauschten die Blätter der Baumwipfel in einem warmen Sommerwind. Er atmete durch. -X- Toshi saß im Proberaum auf dem Sofa. Es war zehn Uhr am Morgen und er wusste ganz ehrlich nicht, was er hier machte. Die anderen würden nicht vor eins auftauchen. Das waren drei Stunden... und wenn er ehrlich war, war er bereits seit einer halben Stunde hier. Das war bescheuert. Worauf genau wartete er? Toshi stand auf und machte ein paar Schritte durch den Raum. Die Blümchen, die hide überall hingeschmiert hatte, sahen wirklich scheiße aus… Er musste lächeln. Es hielt nur nicht so lang. Ratlos blieb er in der Mitte des Kellers stehen und schaute sich um. Er könnte ein bisschen Schlagzeug spielen. Ja. Warum nicht. An den Bass traute er sich nicht. Er spielte eine halbe Stunde mehr schlecht als recht Drums und landete dann wieder auf dem Sofa. Das hier war wirklich bescheuert! Was war los mit ihm? Toshi seufzte. Na gut… Wenn er ohnehin nichts zu tun hatte… Er räusperte sich. Ok. Gut. Los. “Fire grow up from the ground, is there chuckle of the gods? Is there tears of the gods? No more tears! No more tears!” Er hörte wieder auf. Irgendwie… war es seltsam, in einem leeren Raum zu singen. Wenn ihn jemand hörte, musste es denen sicher ko- … Er starrte an die Wand. Dann stand er auf und holte seine Gitarre. Seit sie den Raum bezogen hatten, hatte sie eigentlich nur in der Ecke gestanden. Mit Tomoakis und hides Luxusteilen konnte die hier nicht mithalten – er hatte sie mal im Sonderangebot gekauft. Er setzte sich zurück aufs Sofa und spielte ein paar Akkorde. Dann aufsteigende Töne. C bis G. Dann war es eben komisch. Was auch immer. „Laaa-lalalala-laaaa.“ Er war komisch. Und stolz drauf. H bis Fis. „Laaa-lalalala-laaaa.“ Naja. Vielleicht nicht total stolz. Ais bis F. „Reeeeis-Reis-Reis-Reis-Reis-Reeeiiis.“ Aber wenn er das schon machte, konnte er wohl auch Spaß dabei haben. A bis E. „Mooopp-Mopp-Mopp-Mopp-Mopp-Moooopp.“ Und nochmal. Toshi hängte sich den Gurt über und stand auf. Hätte er schon früher tun sollen, dachte er. Zwerchfell und Lungenvolumen und dieses ganze Zeug. “Fire grow up from the ground, is there chuckle of the gods? Is there tears of the gods? No more tears! No more tears!” … er hörte keinen Unterschied. Also gut. Aufsteigende und absteigende Tonleiter. „Lalalalalalalaaa… Lalalalalalalaaa. Lalalalalalalaaa. Der Proberaum riecht nach Fiiiisch.“ -X- hide saß draußen auf der Veranda und zog an einer Zigarette. Es war Samstagabend, der letzte Samstag der Ferien. Kaum zu glauben, dass er bereits seit einem Monat hier war. Morgen musste er in den Zug zurück nach Tokio steigen, wenn er am Montag wieder in die Schule wollte – und er war zu dem Schluss gekommen, dass er das wollte. Irgendwie. Nachdenklich schaute er in die Schachtel. Er hatte sie vor ein paar Stunden gekauft und es waren noch fünf Stück drin. Die ganzen letzten Wochen war er ohne ausgekommen – wenn man unter ‘auskommen‘ verstand, dass er doppelt so viel gegessen hatte wie sonst – doch jetzt war mit seiner Nervosität auch der Drang zurückgekehrt. Vermutlich konnte er einfacher aufhören zu trinken als zu rauchen. Getrunken hatte er im Übrigen auch nicht und auch das war hart gewesen. Unerwartet hart. Die Tür hinter ihm glitt auf und das Geräusch riss hide aus seinen Gedanken. Er warf die Zigarette so weit er konnte von sich und wedelte hektisch mit den Armen, um den Dunst zu vertreiben. „Uh!“, sagte er gespielt verwundert. „Heute wird’s aber früh neblig. Ähem.“ Doch seine Oma war nicht dumm. „Hideto“, fragte sie vorwurfsvoll. „Junge - rauchst du!?“ Ihr Enkel sank ein Stück in sich zusammen. Es machte also keinen Sinn, es zu leugnen. „Ja“, sagte er schuldbewusst. Sie schaute ihn tadelnd an. „Junge“, sagte sie noch einmal. [Warum hast du nichts gelernt... *sing*] „Deine Lunge.“ „Die hat angefangen“, verteidigte hide sich. Seine Großmutter setzte sich langsam und schwer schnaufend neben ihn („Oh weh, oh weh.“). Ihre Füße reichten nicht mehr bis zum Boden. „Ich hab mit deiner Mutter gesprochen“, sagte sie, als sie schließlich saß und wieder Luft hatte. „Und?“ „Sie hat deine Sachen gepackt und trifft dich morgen am Bahnhof. Aber sie möchte wirklich, dass du zurück nach Hause kommst.“ hide schüttelte knapp den Kopf. „Nein. Wenn ich alles mache, aber das nicht.“ Die alte Frau nickte. Es wirkte ein bisschen traurig. „Tut mir leid“, sagte er. „Aber es ist vermutlich wirklich besser so.“ „Ich weiß“, antwortete sie und schaute gedankenverloren über ihren kleinen Garten. „Aber es ist in meinem Alter schwer, wenn man die Familie auseinanderfallen sieht.“ Darauf fiel hide nichts ein. Gemeinsam lauschten sie dem schrillen Zirpen der Zikaden. Nach etwa einer Minute bemerkte er, dass sie ihn von der Seite her anblickte. Er nahm den Blick von den kleinen knollenartigen Äpfeln an dem Baum, auf dem er als Kind immer gesessen hatte und schaute zurück. „Du wirkst wieder so niedergeschlagen. Ist es wegen deinen Eltern?“ hide seufzte. „Nein. Ja. Ein bisschen. Nicht nur.“ Ohne es zu wollen hatte er wieder angefangen, an der Zigarettenschachtel herumzuspielen. Er zwang sich, damit aufzuhören und sie zur Seite zu legen. „Also... es war schön hier. Aber ich weiß immer noch nicht, was ich machen soll. Will. Was auch immer. Immer, wenn ich über irgendwas nachdenke, denke ich weiter, was passiert, wenn es schief geht. Also ob ich dann unglücklich werde oder arm oder einsam oder …“ hide bohrte die Fußspitze in die Erde und grub ein kleines Loch. „Keine Ahnung.“ „Hideto…“, sagte die alte Frau sanft. Eine faltige Hand legte sich auf seine. Die Venen waren durch die seidenpapierartige Haut gut sichtbar. „Schau nicht so traurig. Willst du den Rat einer alten Frau?“ hide nickte und drehte den Kopf halb in ihre Richtung, schaute auf ihre Knie. „Im Leben, da passieren viele Dinge. Gute Dinge, aber auch schlechte Dinge. Man verliert seine Arbeit, den Schlüsselbund, Menschen, die man liebt. Es läuft sehr oft anders, als man sich das gedacht hat. Du bist noch so jung. Du hast dein ganzes Leben noch vor dir. Da weiß man nicht, was noch alles kommt und die meisten dieser Dinge, die kannst du nicht planen. Deswegen sollte man auch gar nicht so viel darüber nachdenken. Ich wünsche dir das Beste, aber ich glaube, wenn du irgendwann einmal so alt bist wie ich, dann hast auch du deine Sammlung an schlechten Dingen. Und wenn du dann auf sie zurückschaust, dann wirst du dir eine Frage stellen, und zwar: War es das wert?. Und ich glaube, wenn man versucht, so zu leben, dass man diese Frage mit ‘Ja‘ beantworten kann, dann hat man nichts zu bereuen.“ Sie drückte seine Hand. „Es wird alles gut.“ hide blinzelte ein paar Mal gegen das Salzwasser, das ihm in den Augen brannte. Dann drückte er zurück. „Danke...“ „Besser? Gut. Dann sei so gut, hilf mir auf und dann lass uns reingehen. Ich schneid dir noch die Haare. Mit dem … Puschel da auf dem Kopf kannst du nicht zur Schule.“ Sie bereitete sich auf die Anstrengungen des Aufstehens vor. Doch ihr Enkel runzelte die Stirn. „Ich mag meine Frisur so.“ Sie tätschelte ihm mitleidig die Hand. „Frisur ist ein ziemlich großes Wort für das, was du da hast.“ -X- Am nächsten Vormittag standen sie um neun Uhr am Gleis, die alte Dame in ihrem hellblauen Sonntagskimono und der Junge wieder in den Klamotten, die er bei seiner Ankunft getragen hatte. hide trat von einem Fuß auf den anderen. Obwohl er einen Rucksack mit den Dingen, die er während seines Aufenthalts notgedrungen hatte besorgen müssen auf dem Rücken und ein Bento in der Hand trug und damit eigentlich besser ausgerüstet ging, als er gekommen war, fühlte er sich vollkommen unvorbereitet. Ihm war wieder ein wenig übel. Es kam nicht vom Kaffee. Seine Großmutter beobachtete ihn bei den kleinen Schritten, mit denen er den Bahnsteig hinauf und wieder hinunter tigerte. „Ich hab noch was für dich“, sagte sie schließlich, als er das nächste Mal an ihr vorbeikam und zog ein paar Geldscheine aus dem Ärmel. „Oma“, begann hide. Er hatte ihr bereits mehrfach erklärt, dass er sich Arbeit suchen und nicht ihr Erspartes aufbrauchen würde. „Oma mich nicht“, widersprach sie energisch. „Nimm es. Du meinst, du weißt wie schwierig das wird, aber du weißt es nicht. Glaub einer alten Frau was.“ Sie drückte ihm mit Nachdruck die Scheine in die Hand. hide seufzte, doch konnte sich trotz seines schlechten Gewissens nicht der kleinen Erleichterung erwehren, die sich seiner bemächtigte. Es war ein Puffer. Ein wirklich dringend benötigter Puffer. „Danke.“ Er schwang den Rucksack nach vorn und steckte das Geld ordentlich ein. Ein hohes Sirren erfüllte plötzlich die Luft und kam näher. Der Zug in Richtung Tokio fuhr ein. hide spürte, wie das Herz ihm plötzlich bis zum Hals schlug. Es war vorbei. Er schluckte und sah die zwei Köpfe Unterschied zu seiner Großmutter hinunter. Sie lächelte wissend. „Komm her“, sagte sie und breitete die Arme aus. hide ging ein wenig in die Knie und sie drückte ihn innig an sich. Er drückte zurück, so gut das mit dem Rucksack auf dem Rücken und dem Bentobeutel in der Hand eben ging. „Ruf an“, sagte sie irgendwo gegen sein Schlüsselbein. „Mach ich“, versprach hide ihren Haaren. Hinter ihnen war der Zug quietschend zum Stehen gekommen. Er ließ seine Großmutter los. Eine kleine Ewigkeit schauten sie einander noch an, dann drehte er sich um und stieg ein. Der Schaffner pfiff und die Türen schlossen sich und der Zug fuhr an. hide winkte noch zweimal aus dem Fenster der Tür, dann war der Bahnsteig mit seiner Oma darauf verschwunden. Er atmete durch und machte sich auf die Suche nach einem Sitzplatz. In einem Abteil mit einer jungen, häkelnden Frau und einem älteren schlafenden Herren schließlich ließ sich auf den Platz am Fenster fallen, gegen die Fahrtrichtung, weil ihm das nichts ausmachte. hide lehnte den Kopf an die Scheibe und warf einen letzten Blick auf den Okageyama, wie er langsam aus seinem Sichtfeld verschwand. Er fühlte sich nervös und traurig und ein bisschen allein. Keine dieser Empfindungen war angenehm, aber, und daran hielt er sich fest, er fühlte sich irgendwie. Und das war ein Schritt vorwärts. Here's hoping all the days ahead Won't be as bitter as the ones behind you. Be an optimist instead, And somehow happiness will find you. So here's to what the future brings, I know tomorrow you'll find better things. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)