All of our Flaws von Leilan (Vi/Cait) ================================================================================ Kapitel 10: Kapitel 9: Veränderungen ------------------------------------ Kapitel 9: Veränderungen Als Vi am nächsten Morgen die Augen öffnete, schien die Sonne bereits durch die kaputten Rolläden ihrer Wohnung. Noch bevor sie sich in ihrem Apartment umsah, wusste sie, dass… irgendetwas anders war als sonst. Der… Geruch. Sie blinzelte zur Seite und sah, dass ihre Partnerin noch neben ihr lag. Caitlyns schlafendes Gesicht, das sie seit deren betrunkenem Ausfall nicht mehr gesehen hatte, wirkte entspannt und ihre verwuschelten Haare hingen ihr in Strähnen über den Augen. Sie lag in einer beinahe verwundbaren Haltung da, auf der Seite, die Beine ein wenig angezogen, wie ein Kind. Und noch immer nackt unter der dünnen Decke. Vi schluckte und schaffte es nicht, den Blick von Caitlyn abzuwenden. Was war da gestern nur in sie gefahren?! Und noch wichtiger: Was würde das jetzt für die Zukunft bedeuten? Für ihre Arbeit? Für ihre Freundschaft? Vi war es gewohnt, Sex keine Bedeutung beizumessen, aber in diesem Fall konnte es definitiv Probleme nach sich ziehen… Denn sie wusste nicht, wie Caitlyn über die Sache dachte. Mit einem unangenehmen Gefühl im Magen biss sich Vi auf die Unterlippe und schälte sich aus der Decke, möglichst ohne Caitlyn aufzuwecken, was ihr zu ihrer Dankbarkeit auch gelang. Dann verschwand sie in dem heruntergekommenen Badezimmer und sprang unter die Dusche. Das kühle Wasser tat ihr gut und es gelang ihr zumindest ein Stück weit, ihren Kopf freizubekommen. Als sie sich abtrocknete und die Haare kämmte, hörte sie, wie Caitlyn sich im Wohnzimmer regte. Wie sollte sie ihr jetzt begegnen? Was sollte sie sagen? Am Liebsten wäre sie zu ihr gegangen, hätte ihr einen Kuss gegeben und sie gefragt, ob sie sich auf dem Weg zur Arbeit was zum Frühstücken holen würden, weil sie nichts zuhause hatte. Doch das war sicher eine ziemlich schlechte Idee, zumindest wenn sie Caitlyn richtig einschätzte. Also zögerte Vi ihren Badezimmeraufenthalt so lange wie möglich hinaus, putzte sich so gründlich wie nie ihre Zähne, zog sich ein paar Kleidungsstücke an, die sie wohl irgendwann mal hier drinnen vergessen hatte – ihr Bad war nicht ordentlicher als der Rest ihrer kleinen Wohnung – und öffnete dann die Tür einen Spalt weit, um zu hören, was Caitlyn gerade tat. Gerade als sie ins Wohnzimmer hinaustreten wollte, um Caitlyn anzusprechen, hörte sie die Haustür ins Schloss fallen und dann… Stille. Während Caitlyn in der Hextechkutsche saß und sich zur Arbeit bringen ließ, fühlte sie sich vor allem eins: schmutzig. Das lag zum einen an ihrer getragenen Kleidung, die sie einfach wieder angezogen hatte, ohne vorher ein Badezimmer aufzusuchen und zum anderen daran, dass sie gestern nach ihren… Aktivitäten… einfach eingeschlafen waren, ohne vorher diverse Sauereien sauber zu machen. Sie würde bei der Arbeit duschen und eine ihrer Uniformen anziehen, die sie in ihrem Spind lagerte, und dann… hoffentlich einen klaren Kopf bekommen. Innerlich schalt sich Caitlyn aus. Sie war nicht der Typ, der vor Konfrontationen und Konflikten davonlief – so wie sie es soeben getan hatte – aber sie hatte einfach nicht gewusst, wie sie Vi hätte in die Augen schauen sollen, nach dem, was in der vergangenen Nacht zwischen ihnen vorgefallen war. Was war nur mit ihr los gewesen? Sie hatte Prinzipien! Und sie hatte noch nie mit ihnen gebrochen. Es war schon häufiger vorgekommen, dass ein Mitglied der Wache ihr Avancen gemacht hatte, doch jedes Mal hatte sie sie höflich abgelehnt und den Kollegen gewarnt, dass sie dergleichen bei der Arbeit nicht duldete. Und jetzt war sie einfach mit Vi… Es gelang ihr nicht einmal, das Ganze in Gedanken in Worte zu fassen. Sie würde sich… einfach nicht damit befassen. Sie würde so tun, als wäre das Ganze nicht geschehen und hoffentlich würde Vi das auch tun. Das war sicher das Beste. Caitlyn strich sich die strähnigen, verschwitzten Haare aus dem Gesicht, die sie nur grob mit den Fingern gekämmt hatte, und hoffte, dass niemand sie sehen würde, wenn sie sich durch den Hintereingang in die Wachstation schleichen würde. --------------------------------------------------------------------------------------- Während der gesamten Einsatzbesprechung hatte Vi schweigend in der Ecke gesessen. Caitlyn war wie immer – zumindest auf den ersten Blick. Mit strenger Stimme hatte sie die Aufgaben verteilt und vor eventuell auftretenden Sonderfällen gewarnt und ihre Kollegen zu korrekter Arbeit ermahnt. Und während der ganzen Zeit – mindestens eine Stunde – hatte sie Vi nicht angesehen. Vi seufzte unhörbar. Das ging jetzt schon seit drei Tagen so… seit Caitlyn sich morgens wortlos aus dem Staub gemacht hatte, redete sie nur das allernötigste mit ihr, hielt sich so gut wie gar nicht mehr mit ihr alleine in einem Raum auf und beschränkte ihre Konversation auf das Nötigste. Scheinbar hatte Caitlyn sich dazu entschieden, dass das Ganze nie geschehen war und tat scheinbar alles, um sich selbst davon zu überzeugen. Und nebenbei vernichtete sie die Freundschaft, die sich zwischen ihnen beiden so mühsam aufgebaut hatte und rüttelte an dem ohnehin nicht stabilen Vertrauensverhältnis, das sie beide verband. Vi hätte sie dafür schlagen wollen… wenn sie denn selbst gewusst hätte, was sie stattdessen gewollt hätte. Dass sich nichts zwischen ihnen veränderte? Nein, irgendwie nicht. Aber was dann? Was auch immer es war, das Vi wollte – das hier war es nicht. Während Caitlyn auf ihrem Aussichtspunkt auf der Mauer stand und den dunklen Park beobachtete, der gerade von ihren Kollegen auf der Suche nach einem Obdachlosen, der einen reichen Bänker erstochen und sein Geld gestohlen hatte durchstreift wurde. Ihre Aufgabe war es, den Flüchtigen mit einem ihrer berühmtberüchtigten 90-Kaliber Netze einzufangen, wenn ihre Kollegen ihn in Richtung des Ausgangs getrieben hatten. Keine schwere Aufgabe – Caitlyn hatte in ihrer Berufslaufbahn definitiv schon Schwereres erledigt. Ihre Aufgabe als Wachposten war langwierig, anstrengend und langweilig. Sie konnte es sich keine Sekunde erlauben, unaufmerksam zu sein und doch… schweiften ihre Gedanken ständig ab. Die letzten Tage waren die Hölle gewesen und Caitlyn wollte sich lieber in die Zaun‘schen Giftgruben stürzen als zuzulassen, dass es so weiterging. Sie hatte Vi‘s Gesichtsausdruck aus dem Augenwinkel gesehen und es war ihr schwer gefallen, ihn zu deuten. War sie verletzt? Beleidigt? Verwundert? Wütend? Sie selbst war einfach nur… verwirrt. Wie sollte sie nur mit dieser Sache umgehen, die ihr so noch nie in ihrem Leben passiert war und die all ihre Prinzipien auf den Kopf stellte? Außerdem – es fiel ihr sehr schwer, das zuzugeben – vermisste sie Vi. Sie vermisste ihr Lachen, ihre dummen Kommentare, das Chaos, das sie überall anzuziehen schien, und ihre Ehrlichkeit. Gestern hatte sie sich sogar dabei erwischt, vor einer Werkstatt stehen zu bleiben, um den Öl- und Motorengeruch einzuatmen. Das war doch alles nicht normal. Sie musste sich zusammenreißen und konzentrieren. Vor sich im Unterholz des kleinen, hübsch angelegten nächtlichen Wäldchens regte sich etwas. Ein Tier? Der Gesuchte? Caitlyn beschloss, dass sie nachsehen würde. Wenn sie hier noch weiter herumstand, würde sie noch verrückt werden – und solange sie den Ausgang im Blick behielt, war alles in Ordnung. Also sprang sie elegant von der Mauer, überprüfte, dass ihr Gewehr das Netz geladen hatte und bahnte sich so leise wie möglich einen Weg durch das Gebüsch ins Innere des Wäldchens. Aus dem Blätterdach über ihr, durch dessen Lücken sie den klaren Nachthimmel mit den zahlreichen Sternen sehen konnte, hörte sie das Rascheln von nachtaktiven Tieren, das sie schnell auszublenden versuchte. Ihre Augen, die sich gut an die Dunkelheit gewöhnt hatten, glitten über die Zwischenräume zwischen den Bäumen und fokussierte sich schließlich auf einen dunklen Schatten, der aus einem Busch heraus huschte. Ohne nachzudenken feuerte Caitlyn ihre Waffe ab und das Netz, das mit einem lauten Zischen ihrer Waffe entwich, jagte durch das Dunkel und fand sein Ziel. Mit einem innerlichen Triumphieren trat Caitlyn durch das Unterholz und schob einige Äste und Zweige beiseite, um ihre Beute zu betrachten, nur um festzustellen, dass es sich dabei nicht um den von ihr erwarteten hilflosen Obdachlosen handelte, sondern um einen streunenden Hund, der mit im Netz verfangenen Pfoten winselnd herumzappelte. In diesem Moment wusste Caitlyn, dass sie voreilig gehandelt hatte. Und noch bevor sie normale Munition in ihre Waffe laden konnte, hörte sie hinter sich eine Bewegung im Gestrüpp, sah aus dem Augenwinkel eine schnelle Geste und spürte einen stechenden Schmerz in der Seite. Die Stimme, die den leisen Schrei ausgestoßen hatte, hätte Vi überall erkannt. Sofort fuhr sie herum und hastete in die Richtung, aus der sie den Schrei gehört hatte… die Richtung, in der sich Caitlyns Wachposten befand. Caitlyn schrie nie bei der Arbeit. Nicht mal vor Überraschung. Also musste ihr etwas passiert sein. Und Vi würde sicherlich nicht hier herumsitzen, während ihre Partnerin Probleme hatte, nicht mal, wenn sie dafür ihren angewiesenen Posten verlassen musste. Durch ihre Handschuhe geschützt, die sie wie einen Schild vor sich hielt, brach sie durch das Unterholz des kleinen Wäldchens auf der Nordseite des Parks und sah sich um. Ihre Adern waren voller Adrenalin, ihr Herz pumpte heftig, als sie nur zwanzig Meter von ihrer Position aus einen Mann in abgewetzter Kleidung sah, der ein Messer in den Händen hielt, dessen blutiger Film rötlich im Mondlicht glänzte. Caitlyn. Wo war Caitlyn?! Sie entdeckte sie nur wenige Meter von ihm entfernt. Sie hielt sich die Seite und versuchte, vor dem Obdachlosen zu entkommen… und sie hatte ziemlich offensichtlich ihre Waffe fallen lassen. Was zur Hölle machte Caitlyn überhaupt hier? Sie hätte doch eigentlich auf der Mauer sein sollen?! Ohne weiter nachzudenken, setzte Vi zu einem Sprint an, um dem Mann den Weg zu Caitlyn abzuschneiden. Die Vorstellung, dass sie ihre Partnerin hier und heute verlieren konnte, brannte wie Feuer in ihren Adern und trieb sie zu körperlichen Höchstleistungen an. Mit einem lauten Schrei brach Vi aus dem Unterholz und stürzte sich auf Caitlyns Peiniger, brach ihm mit einem rechten Haken die Wangenknochen und vermutlich auch den Kiefer und rammte ihm die zweite Faust in die Magengrube, was mit einem zischenden Japsen jegliche Luft aus seinem Körper presste und ihn ohnmächtig zusammenbrechen ließ. „Cupcake? Bist du in Ordnung?“, fragte Vi beinahe panisch, nachdem sie mit einem Tritt gegen die Seite des zusammengesunkenen Mannes sichergegangen war, dass er so schnell nicht mehr aufstehen würde. Caitlyn blickte sie aus zusammengekniffenen Zügen an und presste ein simples: „Messerstich in der Seite“, hervor. Unwillkürlich und ohne dass sie sich selbst davon abhalten konnte, trat sie den Kerl erneut, diesmal ins Gesicht, wobei sie seine ohnehin schon ziemlich malträtierten Gesichtszüge noch weiter bearbeitete, und fixierte ihren Blick auf Caitlyns Seite, wo sie zu ihrem Entsetzen feststellen musste, dass langsam aber stetig Blut zwischen Caitlyns Fingern hervorsickerte. Sofort riss Vi ihr Funkgerät hervor und bellte: „Wir brauchen `nen Sani beim Wald im Norden.“ Dann presste sie den Knopf, der ihren Handschuh öffnete. Quälend langsam öffneten sich die Scharniere surrend, bis sie schließlich den Hextech-Panzerhandschuh abstreifte und achtlos zu Boden fallen ließ. „Setz dich hin“, knurrte Vi und brachte Caitlyn mit wenigen Gesten dazu, sich langsam an einem Baum zu Boden sinken zu lassen. „Was haste dir dabei gedacht, einfach so hier rumzurennen?“, fragte Vi vorwurfsvoll und ließ auch den zweiten Handschuh in den Dreck neben dem ohnmächtigen Obdachlosen fallen. „Jetzt weißt du, wie ich mich immer fühle, wenn du ohne nachzudenken irgendwo hineinstürmst“, antwortete Caitlyn schwach lächelnd und für einen Moment begegneten sich ihre Blicke – und das Schweigen, das die letzten Tage zwischen ihnen geherrscht hatte, war mit einem Mal gebrochen. Vi grinste schief: „Schlechter Zeitpunkt, um mir deswegen Vorwürfe zu machen.“ Dann zog sie aus der Hüfttasche, die sie immer bei sich hatte, ein kleines Täschchen heraus und aus diesem einen sauber eingepackten, weitgehend sterilen Druckverband. „Oberteil hoch und Finger weg.“ Caitlyn tat wie ihr geheißen – ihre Handbewegungen wirkten schwach und selbst im schwachen Mondlicht konnte Vi sehen, dass sie ziemlich blass war – ein Eindruck, der von der Tatsache, dass inzwischen die komplette Seite ihres Oberteiles und der gesamte Stoff, der den rechten Oberschenkel bedeckte, blutüberströmt war. Vi besah sich die Wunde. Sie war kein Arzt – weit davon entfernt – aber sie hatte in ihrem Leben mehr Wunden selbst behandelt als die meisten anderen und allein durch praktische Übung hatte sie sich gewisse Fähigkeiten angeeignet. Und gerade war sie dafür sehr dankbar. Einigermaßen fachmännisch brachte sie einen provisorischen Druckverband an, der dafür sorgte, dass Caitlyn nicht noch mehr Blut verlor und hoffte stark, dass ihre Partnerin keine schweren inneren Verletzungen davongetragen hatte– aber das würde später der Arzt sagen müssen. „Das… machst du gar nicht schlecht“, meinte Caitlyn leise und schloss kurz die Augen… Ihr schien schwindelig zu sein. „Übung“, antwortete Vi kurz angebunden, innerlich ihre Kollegen hetzend, sich doch verfickt nochmal endlich zu beeilen. Nach einem kurzen Moment des Schweigens öffnete Caitlyn ihre Augen wieder und blickte Vi schwach an. „Ich war… unaufmerksam. Das… passiert mir sonst nie.“ Vi war natürlich sofort klar, was der Grund dafür gewesen war. Natürlich. Was auch sonst. Nachdem sie dem bewusstlosen Obdachlosen Handschellen angelegt hatte, ließ sie sich neben ihrer Partnerin am Baum nieder und schwieg einen Moment lang. „Hätt‘ dich heut nich allein lassen sollen“, sagte sie schließlich ruhig. „Warum das?“, fragte Caitlyn und wandte den Kopf matt zur Seite, um Vi ins Gesicht sehen zu können. „Weil ich deine Partnerin bin. Und dafür verantwortlich, dass dir nix passiert“, antwortete diese schlicht, ohne den Blick zu erwidern. Caitlyn lächelte matt, während sie in der Ferne schon ihre Kollegen hören konnte, die wohl einen Arzt mitbrachten, der zum Glück bei jedem Einsatz immer auf Abruf bereit stand, falls etwas schief ging. „Verletzungen gehören zum Job, Vi. Es kann jederzeit etwas schief gehen...“ Vi nickte knapp: „Das weiß ich. Und‘s is mir auch eigentlich scheißegal, wenn mir was passiert. Hab genug Narben. Aber ich will nich, dass...“ Sie brach ab. Aber das war egal. Denn Caitlyn wusste ohnehin, was sie hatte sagen wollen. Sie erwiderte nichts. Aber sie legte matt eine Hand auf Vi‘s Oberschenkel. „Danke...“, flüsterte sie schließlich – ihre Stimme war leise und schwach, aber die Wärme, die darin lag, zeigte Vi nur zu deutlich, dass sich etwas verändert hatte. Was genau das war… das würden wohl die nächsten Wochen und Monate zeigen müssen. Aber sie war sich sicher, dass die Phase des unangenehmen Schweigens zwischen ihnen endlich vorbei war. -------------------------------------------------------------------------------------------- Mit einem unwohlen Gefühl in der Magengrube betrachtete Vi das Gemälde, das an der Wand ihr gegenüber im Wartezimmer hing. Die Räumlichkeiten, in denen sie sich befand, waren sauber, beinahe steril, und verströmten einen merkwürdigen Geruch, den sie so noch nie wahrgenommen hatte. Eine gewisse Ahnung, dass dies der Geruch der Magie war, befiel sie, denn immerhin befand sie sich im Kriegsinstitut, dem Hauptsitz der Liga der Legenden. Das Gemälde ihr gegenüber zeigte in schön detaillierter Darstellung das bekannteste und berühmteste der Richtfelder: Die Kluft der Beschwörer, in der viele der politisch entscheidenden Kämpfe ausgetragen wurden, die man in ganz Valoran ansehen konnte – und die schon viele kriegerische Aktionen verhindert und viele politischen Fragen geregelt hatten, nicht zuletzt auch zwischen Zaun und Piltover. Wie sie den Mut gefunden hatte, durch eines der Portale, von dem Caitlyn ihr einmal erzählt hatte, hierher zu reisen, wusste sie noch nicht recht, doch nachdem sie ein wenig unbeholfen an der Rezeption nachgefragt hatte, hatte man ihr tatsächlich einen Termin bei Ratsmitglied Vessaria Kolminye gegeben und sie gebeten, eine halbe Stunde zu warten, bis diese verfügbar war. Der Name der Frau sagte ihr was – sie war wohl diejenige, die dafür zuständig war, zu überprüfen, ob jemand würdig war, der Liga der Legenden als Champion beizutreten, so wie Caitlyn und Ezreal es waren. Große Hoffnungen, aufgenommen zu werden, hatte Vi nicht wirklich. Dafür besaß sie ein zu schlechtes Bild von sich selbst. Und dennoch. Die letzten Wochen hatten sie zum Nachdenken angeregt. Während Caitlyns Genesung hatten sie beide keine größeren Einsätze geplant und waren zum Großteil nur im Büro gewesen – also hatte sie viel Zeit gehabt, in der sie sich den Kopf zerbrechen konnte. Sie wusste, was für eine große Aufgabe und auch Bürde es war, sich dazu bereitzuerklären, sich auf die Richtfelder beschwören zu lassen, seine Seele mit der von einem der Beschwörer zu verbinden und diesem seine Kraft, Fähigkeiten und… sein Leben zu überantworten, zum Wohle seiner Heimat. Sie wusste, dass Caitlyn es tat. Ja sicher. Caitlyn war patriotisch. Und sie selbst? Warum wollte sie es ihr gleichtun? Vi seufzte. Eigentlich gab es nur einen einzigen Grund dafür. Caitlyn war ihr wichtig. Und sie wollte sie in allem, was sie tat, unterstützen. Sie hatte Caitlyn seit ihrer ersten Begegnung als absolut perfekten, selbstständigen Menschen kennen gelernt und angenommen, dass diese keine wirklichen Schwächen besaß. Doch seit ihrer gemeinsamen Nacht und der darauf folgenden Verletzung, die Caitlyn bei dem Einsatz davongetragen hatte, war ihr klar geworden, dass Caitlyn auch nur ein Mensch war – mit Gefühlen, die sie tief hinter ihrer perfekten Maske verbarg und einem weichen, schönen Körper, der jetzt eine kleine Narbe an der Seite besaß, die sie – Vi – hätte verhindern können. Sie wollte sie nicht mehr alleine lassen. Und wenn Caitlyn meinte, dass es richtig und wichtig war, auf den Richtfeldern zu kämpfen, dann würde sie es ihr gleichtun. Die Tür zum Wartezimmer öffnete sich und eine schöne Frauenstimme mit einem energischen, disziplinierten Unterton ertönte: „Vi?“ Vi wandte den Kopf und erblickte eine groß gewachsene Frau in einer goldroten Rüstung, die einen muskulösen, schönen Körper verbarg. Ihr Gesicht wurde von dem verdunkelden Visir eines goldenen Helmes mit mehreren langen, roten Federn verdeckt, auf der Scheide in ihrem Rücken steckte ein langes, goldenes Schwert und ein Schwall goldblonder Haare drängte unter dem Helm hervor und fiel glatt auf die Schulterplatten, während sie Vi spürbar mit einem festen Blick fixierte. Im ersten Moment wusste Vi nicht so recht, wen sie vor sich hatte, dann jedoch erkannte sie den Helm. Es war Kayle, einer der Champions des Kriegsinstituts. Kein Wunder, dass sie sie nicht sofort erkannt hatte, denn im Moment waren ihre großen, hellen Flügel nicht zu sehen. „Ja?“, antwortete sie und versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, dass sie ein wenig eingeschüchtert war. „Großmeisterin Kolminye bat mich, Euch zu ihr zu schicken. Sie hat jetzt Zeit für Euch“, antwortete Kayle mit klarer Stimme und trat ein Stück von der Tür zurück, Vi indirekt dazu auffordernd, ihr zu folgen. Diese erhob sich von ihrem Stuhl, straffte ihre Haltung, versuchte, sich innerlich Selbstbewusstsein einzuprügeln und folgte Kayle durch den langen Gang zu ihrer rechten. Das Institut war still – eigentlich war es hier still gewesen seit Vi im Portalraum angekommen war – und das verwunderte sie. Eigentlich hatte sie erwartet, dass hier immer viel los war, immer viel Trubel und Streit – immerhin trafen hier die Champions und Beschwörer feindlicher Königreiche aufeinander. Aber bisher war alles ruhig und gesittet verlaufen. „Ich hörte, Ihr wäret die neue Partnerin des Sheriffs von Piltover“, sprach Kayle nach einem kurzen Moment des Schweigens. Vi war fasziniert von ihrer im Helm leicht widerhallenden Stimme, die irgendwie anders klang als die von normalen Menschen. Aber Kayle war ja wohl auch keiner. Sie versuchte, sich nicht einschüchtern zu lassen und zuckte mit den Achseln: „Jau, bin ich.“ „Eine schwere Bürde und ehrenhafte Pflicht, sich um Ordnung und Gerechtigkeit zu kümmern“, antwortete Kayle kühl. „Seid Ihr Euch sicher, dass Ihr dafür bereit seid?“ Ob sie damit jetzt ihren Job als Mitglied der Wache Piltovers meinte oder die Aufgabe als Champion der Liga, war Vi nicht ganz klar, doch sie war nicht gewillt, sich von Kayle unterkriegen zu lassen. „Gerechtigkeit is keine Schwarz-weiß-Sache. Manchmal brauch‘ man jemanden, der sich nich scheut, sich die Hände schmutzig zu machen. Der halt einfach mal zuschlägt. Der nich zögert, das Nötige und Richtige zu tun. Sowas kann ich gut. Und wenn es `n paar Fressen gibt, die ich polieren muss oder `n paar Wände zum Einreißen, um den Sherrif und Piltover zu unterstützen, dann bin ich dabei.“ Um ihre Aussage zu untermalen, schlug sie mit ihrer Faust fest in die geöffnete Handfläche der anderen Hand. Ob Kayle ihre Ansicht der Dinge gefiel, wusste sie nicht – es war aber auch verdammt schwer, jemanden zu deuten, wenn man dessen Gesicht nicht sehen sollte. Diese ließ sich mit ihrer Antwort Zeit. „Gerechtigkeit ist ein hehres Ziel. Aber verliert Eure Methoden nicht aus den Augen. Denn wenn Ihr mit den Mitteln des Chaos kämpft, dann werdet Ihr nie wahre Ordnung erreichen.“ „Ich bin auf der Straße aufgewachsen. Da gibt‘s keine Ordnung. Da gewinnt, wer härter zuschlägt. Und so werd‘ ich‘s auf den Richtfeldern auch halten. Wenn ich‘s richtig verstanden hab, geht‘s doch darum, länger durchzuhalten, stärker zu sein und besser zu kämpfen als die Gegner. Also genau das Richtige für mich. Und für den Ordnungspart ist der Sheriff zuständig“, antwortete Vi feixend. Kayle hielt inne und blieb vor einer Tür zu ihrer linken stehen, die ein magisches Siegel trug und mit einem hübsch gravierten Holzrahmen umgeben war. „Ihr seid es gewohnt, unerbittlich zu kämpfen, das ist eine Qualität, die Ihr Euch bewahren solltet. Aber nehmt meinen Rat an und werdet Euch klar darüber, warum und wofür Ihr kämpft. Denn selbst die größte Kraft ist nutzlos ohne eine Bestimmung.“ Mit diesen Worten und ohne noch auf eine Antwort von Vi zu warten, klopfte sie an die Tür und öffnete sie nach einer Aufforderung. Es zeigte sich der Blick in ein Büro, dessen Möbel einheitlich aus dunklem Holz gefertigt waren und in dessen hinterem Bereich sich ein Areal stark vibrierender magischer Energie befand, der die Luft zittern ließ, scheinbar ein Ritual oder etwas ähnliches. An einem hübschen Schreibtisch zwischen zwei hohen, dunklen Bücherregalen voller alter, arkaner Bücher und Rollen saß eine Frau mittleren Alters, mit einem zu einem strengen Dutt zurückgekämmten braunen, von einigen grauen Strähnen durchzogenen Haaren, in dunkelblauen, mit goldenen Ornamenten verzierten Roben. Sie trug eine merkwürdig geformte Brille mit zwei verschiedenen Gläsern und brütete gerade über einigen Papieren, die vor ihr lagen. „Vi, nehme ich an? Nehmt Platz.“ Von den magischen Vibrationen, die selbst ein magisch unbegabter Mensch wie sie spüren konnte, ein wenig eingeschüchtert, trat Vi schließlich ein, hörte jedoch zu ihrer Überraschung kein Geräusch hinter sich, das auf ein Schließen der Tür hingedeutet hätte. „Ja, Kayle?“, fragte Kanzlerin Kolminye und blickte über Vi‘s Schulter zu der gerüsteten Frau, die sie hierhin geleitet hatte. Vi blickte sich noch einmal um und sah Kayle in der Türschwelle stehen, mit selbstbewusster Haltung und sie erkannte, dass die beiden Frauen schon öfter miteinander geredet hatten – ihre Sprache wirkte vertraut. „Ich werde für einige Wochen nicht zugegen sein“, sprach Kayle nun. „Falls Ihr jedoch auf eine Spur von Großmeister Ashram stoßen solltet, so unterrichtet mich bitte umgehend. Dergleichen hat Priorität für mich.“ „Natürlich, Kayle“, antwortete die Kanzlerin und deutete leicht in Richtung des pulsierenden Rituals. „Wie Ihr gewünscht habt, habe ich bereits eine erneute Suche nach seinen magischen Energien eingeleitet. Wenn sie Früchte tragen sollte, werdet Ihr als erste davon erfahren.“ Kayle nickte knapp: „Sehr gut. Dann werde ich mich jetzt zurückziehen und meinen Aufbruch vorbereiten.“ Sie schwieg einen kurzen Moment. „Was Eure Bitte angeht, die Ihr vorhin äußertet…“ Die Kanzlerin betrachtete sie aufmerksam: „Ja?“ Kayle legte Vi eine Hand auf die Schulter und sprach mit ihrer merkwürdig hallenden, klaren Stimme. „Ihre Absichten sind edel, wenn auch ihre Methoden rauh und unpoliert sind. Wenn die Beschwörer Piltovers einverstanden sind, sie in ihre Kreise aufzunehmen, so sehe ich keinen Grund, dies nicht zu tun.“ Vi blickte zu der Frau neben sich und spürte nur allzu deutlich die Schwere der gerüsteten Hand auf ihrer Schulter. War das also eben schon eine Prüfung gewesen? Sie zog eine Augenbraue hoch, beinahe ein wenig verärgert darüber, so an der Nase herumgeführt worden zu sein. Doch die Kanzlerin antwortete Kayle, bevor Vi etwas sagen konnte: „Ich danke Euch. Gebt auf Euch Acht.“ Mit einer letzten, kurzen, höflichen Verneigung verließ Kayle das Büro und schloss die Tür hinter sich. „Nehmt bitte Platz, Vi“, fuhr die Kanzlerin vor und zog einen der Zettel aus dem Stapel, der vor ihr lag. „Meinen Unterlagen entnehme ich, dass Ihr Interesse daran hegt, der Liga der Legenden beizutreten...“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)