the world outside von Futuhiro (Magister Magicae 9) ================================================================================ Kapitel 16: Gestaltwandlung --------------------------- Victor Dragomir Raspochenko Akomowarov stand vor einem gewaltigen Spiegel und betrachtete sich selbst von allen Seiten. Er hatte gerade die Gestalt des schwarzen Greifen angenommen, die er so gern nutzte, wenn er weit reisen und Urnue dabei auf dem Rücken tragen wollte. Oder allgemein, wenn er ohne Verkehrsmittel und ohne Grenzkontrollen weit reisen wollte. Er hatte einen Löwenkörper, der in den Proportionen stimmig war. Vorn hatte er Klauen, die Krallen in den hinteren Pranken waren vorhanden, aber gerade eingezogen. Der schwarze Adlerkopf sah auch korrekt aus. Waren die Augen zu groß? Oder der Schnabel zu gebogen? Victor tappte näher an den Spiegel heran. Nein, alles okay. Adler hatten eben so große Augen. Und die Schwingen? Wirkten sie natürlich? Als er entschied, daß sein Erscheinungsbild fehlerfrei war, verwandelte er sich als nächstes in ein Einhorn. Das sah in Rabenschwarz natürlich von vorn herein falsch aus, aber zumindest der Rest sollte stimmen. Es ärgerte ihn, daß er, so talentiert er als Gestaltwandler auch sein mochte, nicht in der Lage war, seine Fell- oder Federfarbe zu ändern. Jede Form, die er annahm, war unweigerlich schwarz. Darum hatte er auch als Mensch schwarze Haare. Wieder schaute er sich im Spiegel an. Vielleicht sollte er das Horn weglassen und einfach nur zu einem gewöhnlichen Pferd werden. Das wirkte in schwarz sicher viel unverdächtiger. Die Beine? Zu lang? Der Hals? Zu kurz? Der Kopf? Zu unförmig? Nein, sah alles okay aus. Dann würde er jetzt die Form eines Fauns probieren. Das sah schon realistischer aus. Faune mit schwarzem Fell gab es wirklich. Hm, die Nase war vielleicht etwas zu Hirsch-artig geworden, nicht menschlich genug. Da musste er nochmal auf einem Foto nachschauen, wie es richtig auszusehen hatte. Als nächstes versuchte er einen Drachen. Erschrocken zog er den Schädel ein um nicht gegen die Zimmerdecke zu knallen, als er größer wurde als gedacht. Er hätte hier im Trainings-Center doch einen größeren Raum als den Gymnastik-Raum buchen sollen. Aber da der einen großen Wandspiegel hatte, hatte er den für sein Vorhaben bevorzugt. „Wouw. Den solltest du nicht in geschlossenen Räumen versuchen.“, kommentierte Urnue und hob eine Bank wieder auf, die Victor mit seiner schlagenden Schwanzspitze umgestoßen hatte. Victor musste einsehen, daß er zu groß geworden war, um im Spiegel noch irgendwas zu erkennen. Er konnte sich ja kaum noch umdrehen, ohne irgendwelche Wände oder Trainingsgeräte in Mitleidenschaft zu ziehen. „Wie seh ich aus?“, wollte er also von seinem Getreuen wissen. „Eindrucksvoll.“ „Das meinte ich nicht, du Witzbold. Findest du Fehler in meinem Aussehen?“ Urnue musterte ihn nachdenklich. „Hm, von Drachen versteh ich nicht so viel. Es gibt unglaublich viele Drachenarten. Schon möglich, daß es Drachen gibt, die so aussehen wie du gerade. ... Allerdings glaube ich nicht, daß es Drachen mit Hufen gibt.“, bemerkte er dann schmunzelnd. Victor sah auf seine Füße herunter und fluchte leise. Die hatte er bei der Verwandlung vom Faun zum Drachen wohl mitgenommen. „Siehst du, heute früh hast du mich noch ausgelacht, warum ich das Gestaltwandeln trainieren will, weil du dachtest, daß ich das doch schon längst alles könnte. Aber wie du siehst, hab ich´s immer noch nötig. Das ist schwerer als du denkst. Vor allen Dingen von einer Form in die nächste zu wechseln, ohne mich vorher erst nochmal in meine wahre Gestalt zurückzuverwandeln, ist wirklich haarig. Damit tu ich mich schwer.“ „Kannst du denn jede beliebige Gestalt annehmen?“, hakte Urnue zwischen interessiert und beeindruckt nach. „Ach, 'jede beliebige' wäre simpel. Schwer ist es, eine anatomisch korrekte Gestalt anzunehmen. Und die ist wichtig, um keinen Verdacht zu erregen, sonst fliegt die Tarnung ja sofort auf.“, meinte Victor und kehrte wieder in seine menschliche Form mit den schulterlangen, schwarzen Haaren und dem Ledermantel zurück. Der Ledermantel war bei der Herstellung magiedurchwirkt worden und machte die Verwandlung so mit, daß er bei der Rückkehr in die menschliche Gestalt unversehrt wieder auftauchte, so daß Victor nach einer Verwandlung nicht plötzlich nackig dastand. „Ich kann nicht einfach sagen 'jetzt werde ich zu einem Einhorn' und der Rest läuft automatisch. Meine Gestalt wird nicht von selber zu einem korrekt gebauten Einhorn. Ich muss vorher genau visualisieren, wie so ein Einhorn aussieht, und danach richtet sich dann meine Gestaltwandlung. Stelle ich es mir mit zu langen Beinen vor, werde ich bei der Verwandlung zu lange Beine kriegen. Stelle ich es mir mit Hasenohren vor, werde ich bei der Verwandlung Hasenohren kriegen. Wenn ich die Mähne vergesse, werde ich auch nach der Verwandlung keine haben. Darum muss ich beim Training immer vor einem Spiegel kontrollieren, wie ich aussehe, wenn ich fertig bin. Ich habe mir so 4 oder 5 Formen antrainiert, die ich jederzeit fehlerfrei hinkriege, die jedesmal gleich aussehen und die ich im Schlaf beherrsche, damit ich sie auch unter Hektik oder im Kampf problemlos einsetzen kann. Alles weitere ist schon etwas mühsamer und verlangt mir viel Konzentration ab. Ich weiß nicht, ob ich mich auch in Gegenstände verwandeln kann. Das hab ich noch nicht versucht. Ich habe mich nie getraut, eine Form anzunehmen, die tot ist. Aus Angst, daß ich mich vielleicht nie wieder zurückverwandeln kann, weil ich kein Bewusstsein mehr besitze.“ „Das ist trotzdem schon ne ganze Menge.“, überlegte Urnue. „Kannst du auch das Aussehen von anderen Leuten annehmen? Also die Gesichtszüge und den Körperbau von bestimmten Personen originalgetreu imitieren, und so?“ Victor lachte gutgelaunt. „Nein. Gesichter sind zu fein detailliert und zu spezifisch. Da kommt es auf jedes noch so kleine Hautfältchen und jede noch so dezente Kontur an. Das bekomme ich nicht hin. Auch wenn ich nicht abstreiten will, daß ich´s in der Vergangenheit nicht mehrfach versucht hätte. Außerdem hätte der Chef der Motus mich sofort umgelegt, wenn er das mitbekommen hätte. Solche Fähigkeiten galten als zu gefährlich, um geduldet zu werden. Mein immergleiches, menschliches Gesicht war meine einzige Lebensversicherung.“ Urnue schaute melancholisch zu Boden. „Ja, die Motus war sehr brachial, was das Aussieben unliebsamer Genii anging ...“, sinnierte er. „Ruppert war zwar keiner von den ganz radikalen, aber selbst er fand, daß es gewisse Arten von Genii auf Erden einfach nicht geben dürfe.“ „Ruppert war ein guter Mann.“, bekräftigte der Magister Artificiosus Magicae und setzte sich einfach mitten auf das Parkett. „Weißt du, die Bestreben der Motus kamen nicht von ungefähr. Es gibt da draußen nicht wenige Wesen, denen es in die Wiege gelegt ist, Menschen zu töten oder zu fressen. Solche Wesen werden auch niemals zu einem Schutzgeist. Each Uisge sind solche Genii. Es ist, solange wir zurückdenken können, noch nie vorgekommen, daß ein Each Uisge zu einem Genius Intimus geworden wäre. Es liegt auch gar nicht in der Natur eines Each Uisge, einem Menschen zu helfen. Each Uisge zerren Menschen unter Wasser und fressen sie dann auf. Das ist an sich erstmal eine ganz normale Sache. Jede Art, die in der Natur vorkommt, hat irgendwo da draußen natürliche Fressfeinde oder wie auch immer geartete Gegner. Und es ist auch ganz natürlich, sich gegen solche Feinde wehren zu wollen. Nichts anderes tun die Menschen. Ob ihnen das nun gleich das Recht gibt, Schwarze Listen zu erstellen und pauschal jedes Wesen ausrotten zu wollen, das dort drauf steht, ist ne andere Sache.“, erzählte er sachlich und völlig frei von irgendwelchen negativen Emotionen. Es schwang eher eine Bitte um Vernunft und Verständnis in seinem Tonfall mit. „Ich bin kein Mensch, ich kann dir über die Moralvorstellungen der Menschen wenig sagen. Ich weiß nur, daß alle ihre Gesetze darauf ausgerichtet sind, Menschen vor uns Genii zu schützen. Die Motus wollte Genii bekämpfen, die für Menschen gefährlich waren und sich nicht als gebundene Schutzgeister nützlich gemacht haben. Und solche, die man zumindest noch unterwerfen, kontrollieren und zur Arbeit anhalten konnte, haben sie versklavt.“ „Hast du das früher auch getan?“, wollte Urnue zögerlich wissen. Victor nickte betrübt. „Ja. Leider.“ „Obwohl du selber ein Genius bist, und kein Mensch?“ „Es hat immer Genii gegeben, die die Motus unterstützt haben. Ihre Gründe waren ganz unterschiedlich. Einige haben sich davon erhofft, nicht selber zum Opfer zu werden. Andere haben sich von der Motus Hilfe versprochen, um ihre eigenen, kleinen Kriege gegen andere Genii-Klans auszutragen. ... Vielleicht tröstet es dich, wenn ich dir sage, daß mir auch die andere Seite wohlbekannt ist. Als die Motus in die Brüche gegangen ist, bin ich selber auf dem Sklavenmarkt gelandet. Ich wurde geschlagen, bespuckt, verhöhnt und bei Wasser und Brot in irgendwelche Kerker gekettet. Meine Fähigkeiten wurden mit Bannzaubern unterdrückt und mein Willen kontrolliert. Ich war so wundgeschlagen und verhungert, daß ich mich kaum mehr auf den Beinen halten konnte. Das alles kenne ich. Ich hab´s am eigenen Leib erfahren.“, erzählte Victor bedrückt. „Der Sklavenhändler war Gott sei Dank ein totaler Primat und hatte keine Ahnung, wer ich bin. Hätte der geahnt, daß ich der Vize-Chef und Erzverräter war, der die Motus durch den Kamin gejagt hat, wäre ich schon dort des Todes gewesen. Das Mädchen, das mich freigekauft hat, dagegen wusste es.“ Victor knöpfte seinen Ledermantel auf und kämpfte sich dabei in eine knieende Haltung hoch, um sich aus dem Kleidungsstück befreien zu können. Dann zog er auch das schwarze T-Shirt, das darunter zum Vorschein kam, noch bis ins Genick hoch und drehte Urnue seinen freigelegten Rücken zu. „Siehst du die Narben?“ Urnue schaute sich die derbe Verunstaltung zwischen Victors Schulterblättern genauer an. Es sah nicht nach gewöhnlichen Narben aus, wie sie von tiefen Schnitten oder Brandwunden zurückblieben. Sie waren nichtmal sonderlich groß, sie sahen nur falsch aus. Sie wirkten eher wie Fremdkörper unter der Haut. Irgendwie ungewöhnlich, ohne daß er näher hätte bezeichnen können, warum. „Die stammen von ihrem Versuch, meine Bannmarke mit Gewalt zu lösen, um mich von dem Sklavenstatus wieder zu befreien.“ „Was ist aus dem Mädchen geworden?“ Victor zog das T-Shirt herunter und stopfte es ringsherum in den Hosenbund zurück. Sein Gesicht war ein wenig verbissen. „Frag nicht.“ Er schlüpfte wieder in die Ärmel des Ledermantels. „Fakt ist jedenfalls, daß ich mehr Glück als Verstand hatte. Der Sklavenhändler war mit der einzige, der meinen vollständigen, wahren Namen und mein wahres Wesen kannte. Der hätte mir auch im Nachhinein noch richtig Probleme einhandeln können, wenn dem einer gesteckt hätte, daß ich Akomowarov war. Zum Glück hat der nicht mehr lange genug gelebt, um das mitzukriegen und noch irgendwas über mich auszuplaudern. ... Danach bin ich bei Ruppert untergetaucht.“ „Wie hast du wirklich zu Ruppert gestanden?“, bohrte Urnue vorsichtig nach. „Ich meine, ich war sein Genius Intimus. Ich hab alles mitbekommen, was zwischen euch gelaufen ist. Wie er dich nach dem Zerfall der Motus wochen- oder gar monatelang beherbergt und versteckt hat. Wie er dich später finanziert hat. Ich weiß auch, daß er all das nie gerne getan hat. Ich weiß aber auch, daß du ihm im Gegenzug Kopf und Kragen gerettet hast, als etliche der ehemaligen Motus-Funktionäre von der Regierung drangekriegt wurden. Dafür bist du ihm wiederrum aufs Dach gestiegen, weil er mich zu schlecht behandelt hat. Ich habe nie so richtig durchschaut, wie ihr wirklich zueinander gestanden habt. Ich hatte nicht den Eindruck, daß ihr euch gut leiden konntet. War das zwischen euch eine reine gegenseitige Nutznießerschaft?“ „Ruppert war mein einziger, echter Verbündeter, den ich je hatte. Ich habe dem Chef der Motus ständig ins Handwerk gepfuscht und viele seiner Pläne vereitelt. Neben dem Chef selbst war Ruppert der einzige, der davon wusste. Und er war immer auf meiner Seite. Ich habe ihm viel zu verdanken. Und es schmerzt mich mehr als du denkst, daß ich ihm nicht helfen konnte. Ruppert und ich haben uns zu unserem gegenseitigen Schutz nicht sehr versöhnlich gegeben. Hätte irgendjemand spitz gekriegt, daß Ruppert mich unterstützt, wäre er sofort ans Messer geliefert gewesen. Wir wollten keinen Verdacht erregen. Darum hat Ruppert immer so getan, als wäre seine Hilfe an mich nicht freiwillig. Ich war der einzige, der es besser wusste.“ Nun war es Urnue, der betrübte nickte und den Blick senkte. Das Thema traf sie spürbar beide mehr als sie gedacht hatten. Nach über 2 Jahren noch. „Es wird vielleicht egoistisch klingen, wenn ich dir das so erzähle, aber ich habe nie zugegeben, wie wichtig Ruppert mir war, damit ihn keiner als Druckmittel gegen mich einsetzt. Hätten die gemerkt, daß Ruppert für mich von Bedeutung ist, hätten sie ihn gefangen und gefoltert, um mich weich zu kriegen.“ „Also hast du für deinen Selbstschutz zugelassen, daß er ermordet wird?“, fasste Urnue ruhig zusammen. Er klang nicht erschüttert oder gar böse darüber. „Sie hätten ihn so oder so umgebracht, das muss dir klar sein, Urnue. Ich will mich aus der ganzen Sache nicht rausreden. Aber ich habe ihm viel Leid erspart, indem ich meine Verbindung zu ihm verdeckt gehalten habe. Ihm und mir selber. Sie hätten meinen Willen gebrochen, mich wahrscheinlich sogar kalt gemacht, und hätten Ruppert hinterher trotzdem umgebracht. So ging es wenigstens schnell und ich habe meine Arbeit nicht aufgegeben. Ruppert hätte nicht gewollt, daß ich mich geschlagen gebe.“ Urnue nickte nur und wich Victors Blick weiterhin aus. „Das ist ne ziemliche Verbrecher-Logik, oder?“, fand Victor mit einem makaberen Lächeln, das seine innerliche Betroffenheit durchaus erkennen ließ. Der Mord an Ruppert Edelig war ihm alles andere als egal, das sah man ihm an. Er hatte damals eine Wahl zwischen Pest und Cholera treffen müssen. „Ich versteh es.“, versicherte sein Getreuer ihm. „Ich weiß, daß du nichts hättest tun können. Ich weiß es. ... Aber es setzt mir immer noch ziemlich zu, daß ICH das alles nicht verhindern konnte. Es wäre meine Aufgabe gewesen, Ruppert zu schützen.“ Victor seufzte leise. Die alte Leier wieder. „Du lagst ohnmächtig in einem Bann-Kreis. Was hättest du denn tun sollen?“ „Ich hätte wenigstens mitsterben sollen. Es ist ungerecht, daß Ruppert gestorben ist und ich noch lebe.“ „Ach, Urnue, sag doch sowas nicht. Du hast noch viel Arbeit vor dir. Wir haben eine Aufgabe, du und ich. Da draußen rennen noch genug ehemalige Motus-Säcke rum, die wir zur Strecke bringen müssen. Trauere nicht, daß du noch lebst! Sondern lebe, um denen heimzuzahlen, was sie verbrochen haben!“ Der Genius mit den Wuschelhaaren nickte einverstanden und sah Victor endlich wieder in die Augen. „Ja. Ich glaube, du hast Recht.“ Er lächelte. „Los, lass uns weitertrainieren. Ich will noch ein bisschen die Holzpuppe hier verprügeln!“ Victor nickte einverstanden und stand selbst auf, um sich wieder dem Spiegel zu widmen. Was sollte er als nächstes versuchen? Eine Banshee, das wäre mal cool. Das hatte er noch nie versucht. Er erinnerte sich an Third Eye zurück, und wie der ausgesehen hatte. ... und so wie er im Spiegel das aschgraue Gesicht mit der verdörrten Pergament-Haut, den eingefallenen Wangen, dem zahnlosen, runzeligen Mundloch und den schwarzen, todbringenden Augen sah, schoss ihm ein ungeheuerlicher Gedanke in den Kopf. Schockiert schnappte er nach Luft, taumelte einen Schritt vom Spiegel weg und fiel reflexartig in seine menschliche Gestalt zurück. Die süße, junge, unscheinbare mit dem Ledermantel. Gott sei Dank nicht in seine wahre Gestalt. Aber dafür war ihm seine menschliche Form inzwischen viel zu sehr in Fleisch und Blut übergegangen. „Ist was?“, hakte Urnue erschrocken nach. „Wir müssen los!“, entschied der Magister Artificiosus Magicae und hechtete eilig aus dem Gymnastik-Raum hinaus, wie von Dämonen gehetzt. Urnue folgte ihm verdutzt. Er musste sich Mühe geben, mit ihm Schritt zu halten. „Was ist denn passiert??? ... Dragomir!“ „Ich weiß, was mit dem Gaya-Mädchen los ist!“ „Was??? Woher!?“ „Also Bann-Kreise und Schutz-Barrieren sind im Prinzip das gleiche. Ob du nun einen Kreis zeichnest, über dem sich eine Barriere manifestiert, oder einen langen Strich, macht keinen Unterschied.“ „Aber wieso funktionieren Bann-Kreise dann nicht, wenn der Kreis beim Aufmalen nicht ordentlich geschlossen wurde und Lücken hat?“ „Genau das ist die Frage.“, stimmte der Dozent zu, sichtlich zufrieden damit, wie schnell seine Studenten das Wesentliche herausfiltern konnten. Er warf mit dem Beamer eine Präsentation an die Wand, die den Inhalt eines aufgeschlagenen Buches abbildete. Die Doppelseite war voller Zeichen und Symbole, die in einen Bann-Kreis eingeflochten werden konnten. „Schutz-Barrieren sind auch Kreise, die geschlossen werden. Aber sie haben keine Innenfläche, keinen Radius, weil der Strich auf der gleichen Bahn hin und wieder zurück wandert. Hast du dich jemals gefragt, warum man bei einer Schutz-Barriere den Strich immer in einem Zug hin und wieder zurück ziehen muss?“, wollte er direkt von dem Studenten wissen, mit dem er sowieso gerade im Gespräch war. „Nein, bisher nicht. An Schutz-Barrieren hab ich mich noch nicht versucht. Aber wenn ich mir das so ansehe, verstehe ich, warum. Der Startpunkt und der Endpunkt sind identisch. Damit ist es wieder ein geschlossener Kreis.“ Die Tür des Hörsaals öffnete sich einen Spalt breit und jemand kam herein, womit der Unterricht kurz zum Erliegen kam, denn natürlich gafften alle, wer da störte. „Ah, Professor Akomowarov! Wie schön, Sie zu sehen.“, grüßte der Dozent seinen Kollegen fröhlich. „Gerade sprechen wir über Bann-Kreise. Das gehört doch zu Ihren Spezialgebieten. Haben Sie nicht Lust, uns zu assistieren?“ „Bedaure, ich bin in Zeitnot. Können Sie möglicherweise ihren Studenten da mal kurz entbehren? Ich muss mit ihm sprechen.“, konterte er mit Fingerzeig auf Safall. Ohne die Zustimmung des Professors abzuwarten, ramschte Safall seine Sachen zusammen und kam aus der Sitzreihe heraus, um ihm zu folgen. Das mürrische 'hat das nicht bis zum Ende der Vorlesung Zeit?' des Dozenten ignorierten sie beide. Victor hatte ja bereits klipp und klar Eile geboten. Akomowarov wandte sich bereits wieder um und ging voraus, noch ehe Safall ganz zu ihm aufgeschlossen hatte. Sie marschierten eine Weile stumm nebeneinander durch die Gänge der Uni. „Haben Sie was herausgefunden, Professor?“, begann Safall irgendwann das Gespräch, da Akomowarov nicht von selber reden zu wollen schien. „Ich muss mit deiner Schwester reden. Aber dazu musst du mich in deine Wohnung lassen. Sie wird mir kaum die Tür aufmachen können, wenn ich einfach so klopfe. Sie wird inzwischen gar nicht mehr aus dem Bett aufstehen können.“ „Nein. Sie ist bettlägerig. Wir haben inzwischen einen Pflegedienst angestellt, der ihr mehrmals am Tag mit der Toilette und so hilft.“, berichtete der Selkie unglücklich. Er fand es als Mann nicht gerade angenehm, ihr bei sowas zu helfen, auch wenn sie seine Schwester war. Nebenbei konnte er sein Studium ja auch nicht gänzlich vernachlässigen. Das tat er sowieso schon mehr und mehr, um sich um sie zu kümmern. Und Hedda ... nun ja ... Hedda traute er das nicht wirklich zu. „Schlecht. Wenn ich Recht habe, müssen wir sie so schnell wie möglich nach Schottland zurückschaffen. Das wird in ihrem Zustand sehr ... s'traschni.“ Safall schaute ihn verblüfft an, da er dieses russische Wort nicht verstand. Kannte Akomowarov kein englisches Wort, das den Sinn auch nur ansatzweise wiedergab? Oder wollte er nicht, daß Safall ihn verstand? Seine Vorlesungen hielt Akomowarov zumeist auf Deutsch, da das hier nunmal eine deutsche Universität war. Mit den ausländischen Studenten, von denen er wusste, daß sie mit Englisch besser klarkamen, sprach er bisweilen auch Englisch, auch wenn sein unterschwellig rollender, russischer Akzent es denen, die Englisch auch nur als Fremdsprache sprachen, nicht gerade leichter machte. Safall hatte ihn allerdings noch nie Russisch reden gehört. Er fragte sich, in welcher Sprache er wohl mit seinem Getreuen Urnue redete, wenn sie unter sich waren. Er entschied, daß wohl kein positiv gefärbtes Wort war, wahrscheinlich sowas wie 'schrecklich' oder 'grauenvoll', und verzichtete auf Nachfrage. Der Weg hinüber ins Studentenwohnheim war ihm noch nie so weit vorgekommen. Aber irgendwann stand er endlich vor seiner Tür, schloss auf und bat den Professor herein. Als Akomowarov an ihm vorbei trat, fiel ihm wieder in aller Deutlichkeit auf, daß der fast einen Kopf kleiner war als er selber. Irgendwie gruselig, auf einen Höhergestellten so herabblicken zu müssen. Safall war ja in der Tat ziemlich hochgeschossen und fand selten jemanden, der mit ihm auf Augenhöhe kam, aber dieser Kontrast hier war deftig. Akomowarov bückte sich kommentarlos nach der Katze, die ihm im Flur entgegen kam, um sie zu streicheln. Safall erschrak. „Nicht! Der ...!!!“ „... ist verflucht, ich weiß.“, kommentierte Akomowarov und streichelte die Katze ungerührt weiter. Der 'verfluchte Fluch', der Körper vertauschte, und der auch auf der Katze lag, schien auf ihn keine Wirkung zu haben. Die Katze unterdess war hellauf begeistert, endlich mal wieder von irgendjemandem so richtig geknuddelt zu werden, und rollte sich begeistert auf dem Boden herum. Mit einem Lächeln ging Akomowarov in die Hocke, um besser an das Tierchen heranzukommen. „Sind Sie etwa ... resistent gegen Flüche?“, wollte Safall irritiert wissen und nahm die Hand wieder herunter, die er panisch ausgestreckt hatte, um noch das schlimmste zu verhindern. Unnötigerweise. „Nein, das nun auch wieder nicht. Aber ich bin ein Magister Magicae der Fluch- und Verwunschwissenschaften. Mich verflucht man nicht so schnell.“ Ob er den 'Artificiosus' absichtlich wegließ, blieb unklar. Er wuschelte den Kater noch ein bisschen weiter und erhob sich dann wieder. „Ich trage Fluchabwehr-Artefakte mit mir rum, die zumindest simple Flüche von mir fern halten und mächtigeres Zeug abschwächen. Sonst hätte ich die Katze natürlich nicht angerührt. Wenn Salome zurück ist, werde ich diesen Unsinn hier wieder beheben. Das wird kein großer Akt.“ „Und Hedda.“, fügte Safall ergänzend an. Akomowarov rümpfte unmerklich die Nase. „Ach ja. Hedda. Die natürlich auch.“ „Sie mögen Hedda nicht sonderlich, oder?“ „Das will ich damit nicht sagen. Ich verstehe bloß nicht, warum du einen nicht-magischen Menschen in sowas mit reinziehst. Lass uns jetzt zu deiner Schwester gehen!“, trug er seinem Studenten auf und machte Platz, damit der vorgehen und ihm das richtige Zimmer zeigen konnte. Es waren immerhin 4 zur Auswahl, wenn man das Bad und die winzige Tee-Küche mitrechnete. Er ging also zu Sewill hinein und teilte ihr mit, wen er da mitgebracht hatte, sofern sie aus den Gesprächen im Flur nicht schon von selber drauf gekommen war. „Hi, du bist also das bedauernswerte Ding, das uns alle in Atem hält.“, grüßte Akomowarov das blasse, weiße Mädchen auf dem Bett. Dann begann er sich sofort interessiert und sehr genau im Zimmer umzusehen. „Meister Akomowarov, es ist mir eine Ehre. Ich bin jetzt schon dankbar, daß Sie so freundlich sind, sich unseres Problems anzunehmen.“, gab sie freundlich zurück, obwohl sie seine Aufmerksamkeit schon längst nicht mehr hatte. Sie war erstaunt, daß er tatsächlich so jung und harmlos wirkte, wie man immer sagte. Trotz Safalls Erzählungen hatte sie das kaum glauben können. „Das ... ähm ...“ Safalls Hand zuckte hoch, als Akomowarov in aller Selbstverständlichkeit nach einem alten Buch griff und es durchzublättern begann. „Das ist privat.“ Er fand es gar nicht toll, wenn der Professor ungefragt das Notizbuch seines Vaters unter die Lupe nahm. Da drin hatte sein Vater einige Magiestudien festgehalten, die er im Laufe seines Lebens betrieben hatte. Vieles davon war etwas zwielichtig. Akomowarov blätterte dennoch ungerührt bis zum Ende durch und legte das Buch mit dem antiken, bröckelnden Ledereinband dann mit einem brummenden Ton wieder zur Seite. Nicht das, was er suchte. „Keine Sorge, der Inhalt interessiert mich nicht. Von dem Ding ging nur eine starke Magie aus. Ich wollte sicher gehen, daß es nicht mit dem Fluch zu tun hat, der auf deiner Schwester liegt ... auch wenn ich längst nicht mehr glaube, daß wir es mit einem Fluch zu tun haben. Aber man weiß ja nie.“ Er sah sich noch ein bisschen weiter im Zimmer um, sehr konzentriert, als versuche er etwas zu spüren, gab es aber irgendwann auf und zog sich unaufgefordert den einzigen Stuhl ans Bett, um sich zu setzen. „Nein, kein Fluch.“, entschied er. Und wandte sich endlich dem Mädchen zu, wegen dem er ja hier war. „Sewill, ich glaube du hattest in deinem Leben schonmal mit einer Leiche zu tun, hab ich Recht?“ Sie nickte zögerlich, als wäre sie sich nicht sicher, ob sie das zugeben sollte. „Wann war das?“, hakte Akomowarov freundlich nach. „Vor 2 – 3 Jahren. Es war im Winter ...“ „Das passt zusammen. Erzähl mir davon.“ Er machte einen recht zutraulichen, väterlichen Eindruck. Er wollte, daß Sewill ihm vertraute. Er hatte ja auch keinen Grund, böse zu sein. Er musste nur die Wahrheit herausfinden. „Also ... es war am Strand. Ich bin immer gerne alleine am Strand spazieren gegangen, wenn ich meine Ruhe haben wollte. Und da hab ich ihn gefunden. Es war ein Mann, er lag unter den Klippen. Sicher ein Wanderer, der abgestürzt ist. Ich dachte, ich könne ihn ja nicht so dort liegen lassen. Die Vögel hatten schon begonnen, an ihm zu nagen. Und ich wollte auch nicht, daß das Meer ihn holt. Also habe ich ihn ... naja ... zumindest begraben.“, gab sie zaghaft zu. Sie wusste inzwischen selber, daß das irgendwie eine dumme Idee gewesen war. „Weißt du, wer er war? Hatte er irgendwas bei sich, womit sich seine Identität feststellen ließ? Einen Ausweis, Führerschein, irgendwas?“ „Hab ich nicht nachgeschaut.“ „Hast du den Toten irgendwo gemeldet?“ „Nein.“ „Hast du denn nicht dran gedacht, daß irgendjemand ihn vermissen könnte?“ „Nein, daran hab ich in dem Moment nicht gedacht.“, gestand sie unglücklich. „Ich war ein bisschen überrumpelt und überfordert damit, gebe ich zu. Ich wollte einfach nur, daß er nicht mehr so da rumliegt und von den Vögeln gefressen wird.“ Akomowarov nickte besänftigend, als würde er das genauso sehen und absolut verständlich finden. „War er ein Mensch oder ein Genius?“ „Ein Genius.“ „Ein Mhorag?“ „Kann ich nicht sagen ...“, meinte Sewill bedauernd. „Hast du ihm die Augen geschlossen, bevor du ihn begraben hast?“ „Ich weiß nicht mehr so genau. Ich glaube schon, ja.“ „Hast du ihm vorher in die Augen gesehen, bevor du sie ihm geschlossen hast?“ Sewill überlegte sichtlich, wozu diese Frage gut sein mochte. „Sicherlich. Ich hab ja erst nachgesehen, ob er wirklich tot ist oder vielleicht noch lebt.“ „Sewill, warum hast du uns das nie erzählt?“, mischte sich nun auch Safall mit in die Unterhaltung ein. „Weil ich´s gruselig fand, okay? Ich wollte das einfach bloß wieder vergessen!“ Akomowarov lehnte sich zurück und verschränkte nachdenklich die Arme. „Es passt alles so furchtbar zusammen.“, sinnierte er. „Ich bin mir ziemlich sicher, wer der Tote ist. Und, nein, er ist nicht von den Klippen abgestürzt. Hinter dem war jemand her. Sewill, so leid es mir tut, du wirst uns die Stelle zeigen müssen, wo du ihn begraben hast.“ Sewill seufzte leise. „Ich kann es euch auf einer Karte zeigen.“ „Das ist zu ungenau. Wir haben keine Zeit, mehrere Kilometer Strand umzugraben.“ „Und wie komme ich nach Schottland, in meinem Zustand?“ „Wir fliegen. Ich trage dich.“, legte Akomowarov fest. „Safall kann uns mit dem Flugzeug hinterher reisen. Obwohl´s vielleicht gar nicht nötig ist. Mit etwas Glück könnten wir schneller wieder da sein als man denkt.“ „Wie fliegen Sie denn, wenn nicht mit einem Flugzeug?“, hakte Safall argwöhnisch nach. Er war kein Fan davon, seine Zwillingsschwester mit diesem zwielichtigen Individuum allein zu lassen, auch wenn er augenscheinlich nur helfen wollte. „Ich nehme die Gestalt von irgendeinem flugfähigen Wesen an. Nur nichts zu großes, sonst werden wir an der Landesgrenze wohlmöglich noch abgefangen. Wir sollten keine Zeit verlieren, wir brechen noch heute auf!“ „Wa-... ?“ Safall wusste spontan gar nicht, was er zuerst sagen oder fragen sollte. „Was ist denn mit diesem Toten!?“, verlangte er grenzhysterisch zu wissen. Er fühlte sich von dem Magister Artificiosus Magicae gerade ziemlich überfahren. „Das kann ich euch erst sagen, wenn wir ihn gefunden haben.“, warf Akomowarov in den Raum und stand schwungvoll von seinem Stuhl auf. „Trefft die nötigen Vorbereitungen. Ich bin in zwei Stunden wieder da und hole Sewill ab.“ Mit diesen Worten war er auch schon zur Tür hinausgeschneit und auf und davon. Er musste Urnue finden. Sofort. „Zwei Stunden ...“, stöhnte Sewill lustlos. „Der weiß irgendwas! Diese Fragen, die er gestellt hat, waren ziemlich suspekt. Ob du dem Toten die Augen geschlossen hast ... Wozu will er das wissen?“ „Ich hab keine Ahnung. Aber kann doch nur gut für uns sein, wenn er was weiß.“, gab sie müde zurück. „Solange er mir nur hilft, ist mir alles Recht. Ruf Vater an und sag ihm, daß wir nach Hause kommen.“ Safall ließ die Schultern hängen. „Ich hab noch gar keine Ahnung, wie ich ihm erklären soll, daß ich Hedda mitbringen werde.“ „Hast du ihm etwa immer noch nicht gesagt, daß du eine Nebengetreue hast!?“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)