the world outside von Futuhiro (Magister Magicae 9) ================================================================================ Kapitel 3: Kuppelfrau --------------------- „Ich will einen Fall von Gewalt melden!“ Die ältere Dame im Büro der Verwaltung rückte sich ihre Brille zurecht und schaute Hedda dann mit erhobener Nase an. Vermutlich musste sie die Nase bloß so hoch heben, um durch ihre Brillengläser überhaupt etwas zu erkennen, aber es wirkte auf Hedda trotzdem überheblich. „Ja?“, wollte sie interessiert wissen. „Es geht um einen gewissen Safall Gaya.“, fuhr Hedda fort. „Ja ... ähm ... ich kenne ihn. Studiert Traumdeutung im 2. Jahr. Ein guter Student, seine Noten sind hervorragend.“ „Er hat mich mehrfach geschlagen, hat sich gewaltsam Zutritt in meine Wohnung verschafft, hat mich förmlich an den Haaren durch das halbe Wohnheim gezerrt und sperrt mich die ganze Nacht ein. Ich will, daß er wegen Körperverletzung, Hausfriedensbruch und Freiheitsberaubung angezeigt wird. Außerdem will er mich zwingen, meinen Studiengang zu wechseln und mit in seiner Bude zu wohnen.“ Die Sekretärin schaute sie noch einen Moment mit großen Augen an, schien innerlich bis 5 zu zählen, dann lachte sie plötzlich schallend los. Sie bog sich vor Lachen, so sehr, daß sie sich mit einer Hand den Bauch halten und mit der anderen auf der Tischplatte abstützen musste. Gröhlend ließ sie sich auf ihren Stuhl sacken und feierte im Sitzen weiter. Dann zog sie irgendwann ein Taschentuch heraus und tupfte sich vorsichtig die Lachtränen weg, um ihr Make-Up nicht zu verschmieren. „Was ist so lustig?“, wollte Hedda angefressen wissen. Die Sekretärin wedelte mit der Hand und lachte noch ein Stück weiter. „Du bist süß, Kind. Hast du schonmal was von den Zirkelgesetzen gehört?“, kicherte sie und kramte dabei in einer Schreibtischschublade nach einem Formular. „So leid es mir tut, Kleine, aber Safall ist absolut im Recht.“ „Das seh ich nicht so. Ich bin kein Magier, für mich gelten diese blöden Zirkelgesetze nicht! Und man kann ja wohl schwerlich gegen seinen Willen in eine Getreuschaft gezwungen werden!“ Wenn die Sekretärin so selbstverständlich von Zirkelgesetzen sprach, dann wusste sie sicher auch, was Getreuschaften waren und in welcher Situation sie und Safall gerade steckten, dachte Hedda verbittert. Sie fühlte sich von der Frau gerade total untergebuttert. Die Sekretärin lachte weiter. „Hier hast du den Vordruck, um deinen Neigungswechsel anzuzeigen, Kind. Bring ihn mir ausgefüllt zurück, wenn du dich für einen anderen Studiengang entschieden hast. Und jetzt lass mich bitte weiterarbeiten. Ich hab viel zu tun, wie du siehst, ja?“ Immer noch kichernd beugte sie sich über die Postkiste und beachtete das blonde Mädchen einfach nicht mehr. Sie gackerte noch leise irgendwas von Körperverletzung und 'die gibt mir Spaß' vor sich hin, dann war sie wieder ganz in ihrer Arbeit versunken. Als Hedda wieder aus dem Sekretariat kam, stand Safall bereits draußen und zog mit verschränkten Armen eine Augenbraue hoch. „Ihr hattet ja viel Spaß da drin. Was hast du ihr denn erzählt?“ „Nicht so wichtig ...“, grummelte Hedda. „Erfolgreich gewesen?“ „Ja.“ Sie hielt ihr Formular hoch. 'Nein' wäre sicher zutreffender gewesen, hätte aber nicht zu seiner eigentlichen Frage gepasst. „Gut. Dann lass uns gehen.“, entschied Safall und spazierte voraus. Er ließ das Mädchen kaum noch eine Minute aus den Augen. Er bestimmte mit verbissener Akribie, was sie wann tat oder nicht tat. Wenn er sagte, sie solle zu dieser oder jener Vorlesung gehen, dann war es so. Wenn er sagte, sie solle in der Bibliothek sitzen und lernen, dann war es so. Wenn er sagte, daß sie sich heute nicht wie verabredet mit Karorinn treffen würde, dann war es so. Wenn er sagte, sie würde jetzt nach über vier Wochen endlich wie erbeten die Studienrichtung wechseln, dann war es so. Und er sorgte persönlich dafür, daß seinen Anweisungen nachgekommen wurde. Er brachte sie überall hin und holte sie wieder ab. Keine Chance, irgendwas ohne sein Wissen oder seine Erlaubnis zu unternehmen. Ihre Freiheiten würde sie sich von jetzt an erarbeiten müssen, hatte er gesagt. Noch so einen Aufriss wie neulich würde er kein weiteres Mal mehr dulden. Karorinn hatte Heddas Sachen gepackt und den Koffer zu Safalls Studentenbude gebracht, zusammen mit ihrem Katerchen. Hedda hatte Sewills altes Zimmer bekommen. Diese war mit zu ihrem Bruder gezogen. Keine Ahnung, wie sie das auf den paar Quadratmetern ohne zweites Bett anstellten, aber Hedda war im Moment auch noch viel zu sauer, um sich darum einen Kopf zu machen. „Ich werde heute Abend nicht da sein. Wir haben einen Auftritt mit unserer Band. Sei so gut, und fall meiner Ersten nicht zur Last, wenn du bei ihr bleibst. Noch lieber würde ich es sehen, wenn du dir in der Bibliothek ein Buch über Wahrsagerei schnappst und liest.“, erzählte Safall, während er mit ihr durch das Universitätsgebäude stiefelte. Hedda seufzte innerlich. Sie kommentierte nicht, daß sie bisher gar nichts von seinen musikalischen Aktivitäten bemerkt hatte. Sie beschwerte sich auch nicht über seine dreiste Annahme, sie würde Sewill eine Last sein. Sie nörgelte nicht mal mehr über seine gebieterischen Befehle bezüglich ihrer Abendgestaltung. Sie hatte eingesehen, daß sie es damit nur schlimmer machte. „Was bestimmtes? Oder nur Wahrsagerei allgemein?“, gab sie lediglich zurück. „Wie, was bestimmtes?“, wollte Safall irritiert wissen. „Du bist Traumdeuter und hantierst mit Visionen rum. Da schien mir sowas in der Art naheliegend.“ „Traumdeutung und Visionen gehören zur Wahrsagerei dazu. Mach dich erstmal über das Allgemeine und das große Ganze schlau, bevor du ins Detail gehst.“ Hedda nickte nur. „Und bitte hör endlich auf zu schmollen, Hedda. Ich hab mir unsere Situation nicht ausgesucht. Es ist nunmal jetzt so, wir können es nicht ändern.“ „Alter, ich wollte bloß wissen ob du okay bist, nachdem du paar auf´s Maul gekriegt hast. Es war nicht mein Anliegen, daß sowas hier draus wird!“, begehrte Hedda – nun doch wieder etwas hysterisch – auf und wedelte dabei anklagend mit dem Neigungswechsel-Formular. Und kassierte wieder einmal einen strafenden Schlag auf den Hinterkopf von ihrem schwarzen Eidesgenossen. „Hedda! Mir brauchst du keine Vorwürfe zu machen! Ich hab dich dreimal gebeten, zu gehen! Dreimal! Mehr kann ich nun wirklich nicht tun. Aber nein, du musstest mir deine Hilfe ja unbedingt aufzwingen. Du wolltest es nicht anders. Hör auf, mich deswegen zur Schnecke zu machen.“ „Ich wusste nichts von euren blöden Gesetzen!“ „Bei euch Nicht-Magiern gibt es ein Sprichwort: Unwissenheit schützt vor Strafe nicht! Und jetzt will ich nichts mehr davon hören.“ Hedda machte nur noch ein wütendes 'hmpf', sagte aber tatsächlich nichts mehr. Zufrieden marschierte Safall also weiter. „Wir gehen nachher zu einer Kuppelfrau. Zieh dir was ordentliches an. Aber konkurriere nicht mit meiner Ersten.“ „Was ist das nun wieder?“, stöhnte Hedda wehleidig. Niemand ging eine Treuschaft ein, ohne das Zutun einer Kuppelfrau, hatte man ihr gesagt. So langsam bekam Hedda eine Ahnung, wer oder was diese alte, schrullige, schrumpelige Frau mit dem Kopftuch war. Sie verkuppelte Leute zu Getreuen, so wie Heiratsvermittler künftige Eheleute verkuppelten. Sie zog dabei einiges Tamtam ab und befragte die beiden willigen Probanden nach bestimmten Faktoren wie dem Geburtsdatum, dem Sternzeichen, der Blutgruppe und so weiter, um daraus horoskopartig eine Prognose abzugeben, ob die beiden denn zusammenpassen mochten. Und sie strich eine sagenhafte Summe Geld dafür ein. Schon aus diesem Grund vermutete Hedda, daß ihre Schützlinge grundsätzlich immer gut zusammenpassten. Denn keiner gab ja gern Geld aus für eine Enttäuschung. Hedda legte sich vornüber auf die Tischplatte und parkte ihr Kinn auf den gekreuzten Unterarmen, aber Safall zog sie derb wieder in eine ordentliche Sitzhaltung hoch. Auch wenn sie hier im Hinterzimmer eines Teehauses außerhalb des Kampus hockten, wo sie keiner sah, sollte sie sich bitte benehmen. Hedda dachte abgelenkt, daß dieses Teehaus eigentlich ganz hübsch war. Mangels Alkohol kam es zwar für die allermeisten Studenten nicht zum Feiern in Frage, aber abgesehen davon war es ganz gemütlich. Die Kuppelfrau gab sich indess redlich Mühe, ratlos auszusehen. „Das ist seltsam. Wirklich sehr seltsam.“, murmelte sie immer wieder und drehte ein von ihr gezeichnetes „Radix“ mit irgendwelchen „Häusern“ und „Feldern“ mal in diese, mal in jene Richtung. Hedda verstand nicht viel davon. Sie hatte wohl doch noch nicht genug über Wahrsagerei im allgemeinen und Astrologie im speziellen gelesen. „Ihr zwei passt wirklich überhaupt nicht zusammen. Aber trotzdem deutet alles darauf hin, daß ihr dringend miteinander arbeiten solltet. Ein dunkles Schicksal verbindet euch.“ Hedda versuchte, nicht allzu deutlich mit den Augen zu rollen. „Gibt es sowas wie Getreuschaften auf Zeit?“, wollte sie hoffnungsvoll wissen. Vielleicht entkam sie diesem Safall ja doch noch irgendwie, früher oder später. Sie hatte ihn ja inzwischen durchaus als nette, sympathische und offenherzige Person kennenlernen dürfen – solange man brav das machte, was er wollte. Und letzteres störte sie ganz entscheidend, auch wenn sie Safall ansonsten eigentlich sogar mochte. „Welcher Art ist dieses dunkle Schicksal?“, warf Safall jedoch sofort ein, bevor die alte Kupplerin zu intensiv über Heddas Frage nachdenken konnte. „Mh ... ein bösartiges Ding. Aber nicht für euch bestimmt.“ „Für wen dann?“ „Für jemanden, der dir sehr nahe steht. ... Hast du eine Freundin?“ „Eine Zwillingsschwester und Schwurschwester, meine erste Getreue.“, stellte Safall sofort fest, als müsse er da gar nicht lange überlegen. Als hätte er nicht viele Personen, die ihm so nahe stünden, daß es einer Erwähnung wert sei. „Geht es ihr gut?“, hakte die Kuppelfrau nach. „Nein, gar nicht. Sie ist sehr gebrechlich und schwach. Sie kränkelt.“ Die Kuppelfrau fragte ihn weiter nach irgendwelchen mystischen Faktoren aus, mit denen sie mystischen Hokuspokus betrieb und daraus mystische Antworten zu gewinnen erhoffte. Sehr mystisch, das alles, dachte Hedda abwertend. Ihr fehlte echt das magische Verständnis für sowas. Die Kuppelfrau schüttelte den Kopf. „Nein. Kränkeln ist das nicht. Ihr fehlt etwas anderes. Das kommt von außen.“ „Wir sind einander 20 Jahre lang nie von der Seite gewichen. Welche Einflüsse von außen soll sie bekommen haben, die ich nicht bekommen habe?“ „Hör zu.“, seufzte die Alte. „Ich bin eine Kuppelfrau. Ich verstehe mich nicht sonderlich gut auf Ursachenforschung. Ich kann dir nur sagen, daß es von außen kommt. Mehr vermag ich in die Mittel, die mir zur Verfügung stehen, nicht hineinzudeuten. Ich könnte zwar raten, aber ich schweige lieber, als dir ungesicherte Mutmaßungen mit auf den Weg zu geben, die dich wohl in die Irre leiten würden. Such dir jemanden, der sich auf dieses Handwerk besser versteht und dir zuverlässiger helfen kann.“ Safall nickte betrübt, doch dann wurde wieder ein Lächeln daraus. „Dann danke ich euch zumindest für den gütigen Hinweis.“ Es war gerade 18 Uhr. Die Bibliothek stand den Studenten der Zutoro bis 23 Uhr offen und es schien tatsächlich ein paar eifrige Streber zu geben, die diese Öffnungszeiten in Anspruch nahmen. Safall gehörte wohl normalerweise dazu, wenn er nicht gerade mit seiner widerspenstigen Nebengetreuen zu hadern hatte. Jedenfalls war Hedda schon zweimal gefragt worden, wo Safall denn bliebe, er sei schon seit Tagen nicht mehr zum Lernen hier gewesen. Allein das Gefrage nervte Hedda, denn es bewies ihr, daß die anderen sie und Safall durchaus schon als fest zusammengehörenden Gespann ansahen. Nun, heute hinderten ihn seine Band-Aktivitäten daran, weiter an seinen ohnehin schon guten Noten zu arbeiten. Hedda saß wieder über den Gesetzestexten des Zirkels. Sie versuchte, diese Paragraphen nochmal etwas ernsthafter zu lesen und sich dabei vorzustellen, daß sie wirklich danach leben müsste. Safall schien es damit jedenfalls sehr ernst zu sein. Soweit sie das verstanden hatte, war „Zirkel“ ein Begriff, stellvertretend für die Gemeinschaft aller magischen Familien und Klans des Landes. Nicht wenige Klans schienen zu rivalisieren oder sich sogar unverhohlen anzufeinden. Um immer noch ein gemeinsames Miteinander zu gewährleisten, hatte man irgendwann einheitliche Spielregeln für alle aufgestellt, sowie neutrale Zonen geschaffen, die jedem gleichermaßen offenstanden und wo Streitigkeiten untersagt waren. Hier konnte man ungestört reden, Handel betreiben, Ausbildungen absolvieren, klansübergreifende Ehen oder Getreuschaften schließen, oder was auch immer das gesellschaftliche Zusammenleben eben noch so ausmachte. Wenn man sich auf neutralem Boden befand, waren die Gesetze des eigenen Klans bedeutungslos, dann galt nur noch das Recht des Zirkels. Es war dem Bürgerlichen Gesetzbuch der gewöhnlichen Menschen nicht ganz unähnlich. Aber diese Zirkelgesetze, speziell die Gesetze der Treuschaft, waren echt furchtbar. Sie waren voll von Verboten und damit einhergehenden Körperstrafen. 'für dieses Vergehen zähle man seinem Getreuen so-und-so-viele Schläge mit dem Prügel über' ... 'für jenes Vergehen zähle man seinem Getreuen so-und-so-viele Hiebe mit der Peitsche über' ... zum Glück hatte sie noch an keiner Stelle etwas von Todesstrafen gelesen, aber sie war ja auch noch nicht am Ende. Wie konnte jemand nur allen Ernstes freiwillig eine Treuschaft eingehen? Das alles sollte ihr jetzt also tatsächlich blühen? Mit ihrer Frage, inwieweit diese Gesetze nur für Genii oder auch für Menschen galten – magisch begabt oder nicht – war sie allerdings immer noch kein Stück weitergekommen. Es war immer nur von „Klans“ und „Familien“ die Rede, aber wie man das zu verstehen hatte, stand nirgends. Hedda hatte sich über Selkies belesen. Bei denen gab es Klans in der Tat. Und Getreuschaften waren an der Tagesordnung. Das schien aber beileibe nicht bei allen Arten von Genii so zu sein. Und bei den Menschen? Keine Ahnung! Klans? Möglicherweise. Getreuschaften? Wohl kaum, da magisch begabte Menschen von Natur aus einen Genius Intimus an ihrer Seite hatten, der diese Funktion übernahm. Was die Gesetze betraf, hielt die Bibliothek leider kaum Literatur vor, denn Jura war blöderweise gerade ein Studiengang, den man an dieser Universität nicht studieren konnte. „Ich besauf mich.“, entschied sie deprimiert und schlug das Buch mit einem Knall zu. „Ach, nicht doch.“, bat eine Stimme von hinten beruhigend. Eine Hand schwebte über Heddas Schulter hinweg und griff nach dem Buch. Sie drehte sich um und schaute die junge Frau mit den schwarzen Locken irritiert an. Eine Asiatin. Vom Alter her war sie wohl Studentin dieser Universität. Und sie schien einen Faible für Schuluniformen zu haben, denn sie trug etwas, das schwer danach aussah. Direkt dick war sie nicht, aber doch stabil gebaut. Sie warf einen Blick auf den Titel des Buches und seufzte verstehend. „Die Gesetze des Zirkels, was? Das sind noch sehr, sehr alte Gesetze. Aus einer Zeit, als die gesellschaftlichen Strukturen dieses Landes noch anders aussahen. Viele davon sind gar nicht mehr zeitgemäß und finden heute auch kaum noch Anwendung. Sie wurden inzwischen von anderen, neueren Gesetzen abgelöst, die das gesellschaftliche Zusammenleben verschiedenartiger Genii auf dem gleichen Grund und Boden regeln.“ Hedda kniff die Augen zusammen. „Wer bist du?“ „Ich bin Soleil.“ Hedda ließ die Augen argwöhnisch zusammengekniffen. „Echt? Komischer Name.“ „Das ist mein Code-Name.“, erklärte die junge Frau und hielt ihren Armreif hoch. Diesen Armreif hatte Hedda schon bei einigen Studenten entdeckt, hatte aber noch nicht herausgefunden, was die Träger dieses Armreifs gemeinsam hatten. „Ich bin ein Genius. Alle Genii tragen Code-Namen.“ Hedda zog nun eine Augenbraue verständnislos nach oben. „Herrje. Ich muss also noch viel weiter ausholen als ich dachte.“, stellte die Fremde amüsiert fest und setzte sich. „Aber du bist kein Magier, das ist okay. - Also, mein Name ist Soleil. Ich bin eine Yôkai und die Erste Getreue von einem der Magie-Studenten. Mein Herr ist ein Freund von Safall.“ „'Mein Herr'???“, echote Hedda ungläubig. Sie nannte ihren Anvertrauten wirklich 'Herr'? Ihr würde im Traum nicht einfallen, Safall 'Herr' zu nennen. „Mein Herr hat mich gebeten, dich ein bisschen unter meine Fittiche zu nehmen, weil er merkt, wieviel Kummer deine Unwissenheit Safall bereitet.“ Hedda konnte nicht verhindern, daß sie sich unwillig halb abwandte. „Super. Noch jemand, der auf mir rumprügelt. Das kann ich brauchen.“ „Nein, nein!“ Soleil warf erschrocken das Buch auf den Tisch, griff nach Heddas Händen und hielt sie zutraulich fest. „Ich will nicht auf dir rumhacken, nein. Ich will dir nur all deine Fragen beantworten. Ich bin sicher, daß du sehr viele davon hast. Lass mich dir die Welt da draußen erklären! Lass uns Freunde sein! Ich will dir helfen, Hedda, glaub mir das. Ich bin auf deiner Seite.“ „Freunde ...“, gab sie mürrisch zurück. Etwas abfälliger als geplant. Wieder sah sie auf das Buch mit den elenden Zirkelgesetzen. „Hör zu, Safall ist ein Gaya. Der Gaya-Klan ist den Traditionen sehr verbunden, darum hält Safall so viel auf diese alten Gesetze.“ „Diese Gesetze strotzen nur so von Prügelstrafen!“ „Ich weiß, aber sie werden heute wahrlich nicht mehr in dieser Härte angewendet. Statt vierzig Schläge mit dem Knüppel belässt man es bestenfalls bei einem Titscher auf den Hinterkopf. Die gesellschaftliche Stellung von uns Getreuen hat sich sehr gewandelt und wir werden heute anders behandelt als in den Büchern. Zu der Zeit, als diese Gesetze geschrieben wurden, konnte man sich die Getreuschaft nicht aussuchen. Damals sind rangniedrigere Genii einfach an ranghöhere Genii verkuppelt worden, ob sie wollten oder nicht, und hatten diesen zu dienen. Bei euch Menschen ist es doch ganz ähnlich gewesen. Männer und Frauen sind einander einfach versprochen worden, oder sie sind von Heiratsvermittlern einander zugeteilt worden, und dann hatte die Frau dem Manne 'Untertan zu sein', wie es in der Bibel so schön heißt, und hatte zu schweigen und fleißig im Haushalt zu arbeiten. - Aber die Zeiten haben sich geändert, Kleines. Heute finden bei euch Menschen die Hochzeiten doch auch immer irgendwie freiwillig statt, oder? Und der Mann hat bei weitem nicht mehr so viel Befehlsgewalt über seine Frau. Genauso hat es sich bei den Getreuen im Laufe der Zeit geändert. Getreuschaften werden in aller Regel freiwillig eingegangen. Da setzen sich zwei Genii aus völlig freien Stücken zusammen und reden in Ruhe drüber, ob sie eine Getreuschaft eingehen wollen oder nicht. Und der Anführer der Getreuschaft tut gut daran, seine Getreuen gut zu behandeln. Es gibt nur noch sehr wenige Ausnahmen, wo eine Getreuschaft von Gesetz wegen aufgezwungen wird. Das du nun gerade in so eine Ausnahme reingetappt bist, ist wohl blöd gelaufen und sehr bedauerlich.“ „Ja. Eine Ausnahme, die ich bis heute nicht verstehe.“, murmelte Hedda leise. Sie hätte Safall damals einfach liegen lassen sollen. Aber ihr Trotz machte doch langsam einer gewissen Neugier Platz. Diese Soleil schien es wirklich gut mit ihr zu meinen und ihr tatsächlich alles in Ruhe und im Guten erklären zu wollen. Sie wollte wirklich helfen. Und ihre Ausführungen, daß man die Gesetze heute nicht mehr so streng auslegen musste, stimmten Hedda auch zugegeben ein wenig milde. „Die du nicht verstehst, weil du ein Mensch bist, schätze ich. Safall hat dich nach eigener Aussage mehrfach gebeten, zu gehen. Er wollte dich nicht in diese Situation hineinziehen, in der du jetzt bist. Und jeder normale Genius wäre an deiner Stelle auch mit Sicherheit gegangen. Weil die Zirkelgesetze jedem allgemein bekannt sind.“ „Ich bin aber kein Genius! Ich wusste nichts davon! Ist überhaupt schon jemals ein Mensch zum Getreuen geworden?“ Soleil zog ein ratloses Gesicht. „Nicht, daß ich wüsste. Wozu auch?“ „Siehst du!? Weil diese Gesetze für mich gar nicht gelten! Diese Gesetze sind gar nicht dafür vorgesehen, daß ein nichtmagischer Mensch sie befolgt!“ „Das kann man so nicht sagen. Nur, weil es noch keinen vor dir gab, muss es nicht automatisch ausgeschlossen sein.“, überlegte das japanische Mädchen und schien sichtlich darüber nachzudenken, wo man sowas in Erfahrung bringen könnte. „Was wäre gewesen, wenn Safall bewusstlos geschlagen worden wäre und mich gar nicht hätte wegschicken können!?“, diskutierte Hedda streitlustig weiter. „Darf man einem verletzten Genius keine Erste Hilfe leisten, ohne sich gleich lebenlang an ihn zu binden? Was sind das für dämliche Gesetze?“ „Das wäre was anderes gewesen. Safall brauchte keine Hilfe. Er kam gut alleine klar. Es wäre auch was anderes gewesen, wenn Safall bei einem Unfall verletzt worden wäre, und nicht in einem Streit. Aber wenn du jemandem in einer öffentlichen Auseinandersetzung gegen seinen Willen eine Hilfe aufzwingst, die er nicht braucht, dann machst du damit deutlich, daß du zu ihm gehörst.“ „Und er kann nichts dagegen machen, daß ich fortan seine Getreue bin?“ „Er kann dir das Leben zur Hölle machen, wenn du dich aufmüpfig zeigst und dich nicht wie eine Getreue benimmst. Welche Strafen die Gesetze der Treuschaft vorsehen, hast du ja bereits zur Kenntnis genommen. Darum würde sich zu sowas auch kaum einer gegen den Willen des künftigen Herrn verpflichten.“ Hedda winkte nur ab und stand auf, um das Buch ins Regal zurückzustellen. „Du bist also auch eine Getreue?“, wollte sie dabei wissen. „Ja, ich bin die Erste meines Herrn. Ich bin eine Pyromanin, ein kleines Feuerteufelchen. Ich kann alles und jeden in Flammen aufgehen lassen.“ „Ist ja cool.“, urteilte Hedda. „Nein, nicht wirklich.“, gab Soleil etwas bedrückt zurück. „Das ist keine sehr steuerbare Fähigkeit. Ich kann das Feuer nichtmal kontrollieren, geschweige denn wieder löschen. Einmal entfacht, habe ich keine Kontrolle mehr darüber.“ „Okay, doch nicht so cool.“, schmunzelt sie. „Ich hoffe hier an der Uni irgendwas zu lernen, was mir da ein bisschen weiterhilft. Daher habe ich übrigens meinen Namen 'Soleil'. Weil ich alles in ein Flammenmeer wie die Sonnenoberfläche verwandeln kann.“ „Wieso trägst du eigentlich gar keinen Schmuck weiter?“ Sie deutete auf Soleils lange Kette mit dem abstrakt geformten Anhänger, der abgesehen von dem ominösen Armreif das einzige Schmuckstück an ihr war. „Mich hat Safall schon zweimal rund gemacht, weil ich ihm zu wenig Klunker getragen habe.“ „Oh, das hängt davon ab, wie vermögend und wie hoch angesehen dein Klan ist.“, wusste Soleil zu erklären. „Du musst standesgemäß aussehen. Wenn dein Herr so ein reicher Geldsack ist, oder ein ranghohes Mitglied der Regierung, dann musst du als seine Getreue natürlich entsprechend auftreten. Ist dein Herr nur ein einfacher Handwerker, dann erwartet man das von euch nicht in solchem Maße. Es geht darum, daß dein Herr sich nach seinen Kräften und Möglichkeiten gut um dich kümmert. Er ist für dein Wohlergehen verantwortlich. Er darf nicht zulassen, daß du verlotterst. Die vom Gaya-Klan gehören jetzt nicht zu den ärmsten Schluckern ihrer Art, aber sie sind auf dem Boden geblieben. Keine Schnösel und Snobs also. - Übrigens gibt es bei der Menge des Schmucks auch eine Rangordnung unter den Getreuen. Als Zweite oder Dritte deines Herrn darfst du nicht ganz so aufgedonnert rumlaufen wie die Erste. Die Erste Getreue steht in der Hierarchie über dir.“ „Verstehe.“, bemerkte Hedda nüchtern. Sie überlegte kurz. „Ich geh mich jetzt trotzdem besaufen.“ Safall stöpselte im Studentenclub seine Gitarre an und testete die Saiten an. Nicht schlecht. Er regelte noch etwas die Lautstärke und den Equalizer nach, um den Bass nicht zu sehr zu übertönen. Heute würden sie vor Publikum spielen. Das taten sie häufiger. Der Club im Keller des Studentenwohnheims war die einzige Kneipe weit und breit, oder zumindest etwas, das an Kneipe grenzte. Wenn man feiern wollte, dann konnte man das nur hier. Und warum sollte die universitätseigene Studentenband nicht für Stimmung sorgen? Die Band hatte Zuschauer, die anderen Partygänger hatten bessere Musik als das Radio, so war allen gedient. Etwas schwerfällig faltete er sich in seinen Tragegurt hinein, um sich die Gitarre umzuhängen und dann die Saiten vernünftig stimmen zu können. Das würde schnell gehen. „Hast du auf die Fresse gekriegt?“, wollte sein Drummer betont hämisch wissen und rempelte ihn dabei kumpelhaft an. „Halt bloß die Klappe.“, murrte Safall missmutig. Er bekam nur ein Kichern zur Antwort, das nicht böse gemeint war. Nach vier Wochen wurde er das langsam leid. Dabei hatte er sich echt Mühe gegeben, die Spuren in seinem Gesicht zu übertünchen. Seufzend wandte sich Safall zu ihm um, nachdem er alle Saiten seiner Gitarre gestimmt hatte. „Sieht man das etwa immer noch?“, wollte er unglücklich wissen. „Ein wenig.“, mischt sich sein Sänger besorgt von der anderen Seite ein. „Wenn man es weiß, sieht man es noch ein bisschen. Diese blutigen Krusten da auf der Oberlippe sind noch nicht wieder ganz weg.“ „Und ich sag noch, daß du dich nicht mit den Mhorags anlegen sollst. Du weißt doch selber, was die von unsereins halten.“, kommentierte der Drummer. „Diese sensationsgeilen Wichtigtuer aus dem Loch Morar sind fast noch schlimmer als ihre Verwandten aus dem Loch Ness.“ „Genau, und dabei ist dieser eine Kerl, der sich als 'Seeungeheuer Nessi' feiern lässt, schon schlimm genug. Mach doch einfach nen Bogen um die, Safall.“ „Angelegt hab ich mich mit denen nicht.“, verteidigte sich der Goth. „Aber ich seh auch nicht ein, das Computerkabinett nicht mehr nutzen zu dürfen, nur weil ich bessere Noten habe als die.“ „Du hast doch nen Laptop und Internetanschluss auf dem Zimmer.“ „Na und!?“, blaffte Safall uneinsichtig. „Ich lass mir von denen trotzdem nicht vorschreiben, welche Teile der Uni ich betreten darf und welche nicht, nur weil sie von nem besseren Klan abstammen! Ist das etwa ihre Uni? Wo leben wir denn?“ Sein Sänger lachte leise. „Schon gut, reg dich nicht wieder über sie auf. Das ist doch genau das, was sie erreichen wollen. Geh ihnen einfach aus dem Weg.“, schlug er milde vor. Das mochte Safall so an ihm. Er hatte eine friedliche, harmonieliebende Art an sich und konnte hochkochende Gemüter damit gut wieder zur Ruhe bringen. Kaum zu glauben, daß dieses liebenswürdige Kerlchen Flüche studierte. ... Apropos Flüche, fiel Safall in diesem Zusammenhang ein. „Hör mal, Salome, kann ich dich mal um Hilfe bitten? Ich war heute bei einer Kuppelfrau, um die Sache mit meiner neuen Nebengetreuen amtlich zu machen, und da kam das Gespräch auf meine Erste.“ Der Sänger nickte. „Wie geht´s Sewill denn?“ „Nicht gut, das ist es ja. Die Kuppelfrau war der Auffassung, daß äußere Umstände an ihrer schlechten Verfassung Schuld sind, und seither habe ich einen ganz blöden Verdacht. Kannst du sie dir bitte mal ansehen?“ Salome nickte wieder. „Klar, ich komm dich gern morgen nach der letzten Vorlesung mal besuchen, wenn du willst.“ „Safall, ist die da hinten deine?“, unterbrach ihr Drummer das Gespräch und deutete in die Tischreihen des Clubs, wo sich gerade ein blondes, schon sichtlich betrunkenes Mädchen von ihrem Stuhl erhoben hatte, ein paar Meter taumelte, mangels Gleichgewicht letztlich zusammensackte und auf dem Boden sitzen blieb. Safall stöhnte und nahm seine Gitarre wieder vom Tragegurt. „Entschuldigt mich kurz. Ich bin in 10 Minuten wieder da.“ Sauer rauschte er aus der Beschallungsecke, wo sie ihre Boxen und Instrumente aufgebaut hatten, und zwischen den Tischen von feiernden Studenten hindurch. Halb im Vorbeigehen schnappte er Hedda am Kragen, zerrte sie wieder auf die Füße und zog sie grob mit sich davon. „Musst du mir denn nichts als Schande bereiten!?“, zischte er sie an. „Ich hatte bisher keine abfällige Meinung über die Klanlosen. 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