Philandering von Susuri ================================================================================ Prolog: -------- „Nein, nein, nein! Zum letzten Mal: Die Zweiunddreißigstel in Takt 25 sind immer noch Triolen, wie oft muss ich das noch sagen, bis du endlich Mal spielst, was da steht?“, hörte ich ihn mich anbrüllen. Stumm biss ich die Zähne zusammen und starrte auf die Partitur – und den verdammten Takt fünfundzwanzig. „Noch ein Mal!“, forderte er mich auf. Leise seufzend legte ich wieder meine Finger auf die kalte Plastikklaviatur meines alten, klapprigen E-Pianos. Zaghaft begann ich zu spielen. „Das gibt’s doch nicht!“, rief er aufgebracht. „Schlag endlich ordentlich an, verdammt noch mal!“ Langsam begann meine äußere Souveränität zu bröckeln. „Ich wollte nicht mit dir üben, das hab ich dir doch gesagt“, murmelte ich. „Lass mich doch einfach wieder meine Kopfhörer aufsetzen und du liest weiter Zeitung und danach gehen wir in die Stadt und...“ „Ich komme doch nicht extra zu dir, damit du dann in der Ecke mit Kopfhörern sitzt und ich außer dem Klackern der Tasten nichts zu hören bekomme!“, unterbrach er mich ruppig und deutet wieder auf die Noten. „Spiel“, forderte er mich auf. Doch noch bevor ich eine Taste anschlagen konnte, hörte ich ihn wieder entnervt seufzen. „Mit so einer Körperhaltung wird das doch eh nichts.“ In diesem Moment riss mein doch recht resistenter Geduldsfaden. Wütend schlug ich auf die Tastatur. „Ordentlich genug angeschlagen?“, fauchte ich ihn an. „Oder soll ich noch mehr an meinen Triolen arbeiten?“ Einen kurzen Moment blickte er mich einfach nur irritiert an. Normalerweise konnte ich mich gut zusammen reißen, wenn er mal wieder einen seiner Wutanfälle hatte, aber ich hatte eh schon einen wirklich miesen Tag gehabt – da war die gemeinsame Probe der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Doch mein kleiner Ausbruch hatte genau das zur Folge, wie wenn man versuchte einen Fettbrand mit Wasser zu löschen: eine gewaltige Explosion. „Ich glaub’s nicht!“, brüllte er und sein Gesicht färbte sich beunruhigend rot. „Ich nehme mir die Zeit mit dir zu üben und du kommst mir so unverschämt? Wie sprichst überhaupt mit mir? Was zur Hölle ist in deiner Erziehung nur falsch gelaufen? Ich glaube“, sagte er und griff nach seiner Tasche auf der Ablage. „ich geh jetzt!“ Und damit stürmte er zur Tür. „Willst du noch etwas dazu sagen?“ Erschrocken über seine Tirade, aber genau so vor Wut brodelnd brachte ich kein Wort heraus und starrte nur wieder auf das „Nocturne“, das vor mir auf dem Notenpult stand. Er würde nicht gehen, das wäre selbst für ihn übertrieben, dachte ich. „Natürlich“, schnaubte er. „Für eine Entschuldigung ist sich die Dame natürlich zu fein!“ Und mit diesen Worten riss er die Wohnungstür auf und lief aus der Wohnung. Erst als die Tür mit einem lauten Knall wieder ins Schloss gefallen war, realisierte ich, was grade passiert war. Er war wirklich gegangen. So sehr mich seine Worte verletzt hatten, so gemein es doch gewesen war, was er gesagt hatte – ich wollte nicht, dass er ging und wütend auf mich war. „Nein...“, sagte ich leise. Doch außer meinem Klavier würde mich wohl niemand hören. „Komm wieder zurück. Bitte. Ich habe es doch nicht so gemeint... Papa. “ Kapitel 1: ----------- Erleichtert seufzte ich auf, als ich den Schlüssel in das verrostete Schloss zur Redaktion der Schülerzeitung steckte –die Tür war noch abgeschlossen, das bedeutete mindestens eine halbe Stunde vollkommene Stille, bevor die ersten Mitarbeiter eintrudelten. Wie immer kämen als erstes die Redakteure, die sich um die aktuellen schulinternen Dinge kümmerten, danach würden die Klatsch-Tanten zusammen mit den Jungs, die sich um den Sport kümmerten, mit einem großen Starbucks-Kaffee in der Hand eintreffen und zuletzt Layouter und Grafiker – die Fotographen ließen sich normalerweise erst frühestens in der Mittagspause blicken, die Redaktionssitzung vorm Unterrichtsbeginn zu schwänzen war scheinbar eine ungeschriebene Regel geworden. Müde schmiss ich meinen Notizblock auf meinen Schreibtisch, der unter der Last der vielen Ordner, Zeitungen und Büchern fast zusammen zu brechen schien und erweckte gleichzeitig meinen Rechner aus dem Standby-Modus – irgendwann hatte ich gemerkt, dass es Zeit und Nerven sparte einfach konstant meinen Computer laufen zu haben, da ich häufig noch bis spät am Abend in der Redaktion saß, um Texte zu überarbeiten oder schlicht meine Schulaufgaben zu erledigen. So stressig der Job als Chefredakteurin einer wöchentlichen Schülerzeitung war – die Tatsache, dass ich in der weiträumigen Redaktion sowohl meinen eigenen Schreibtisch, einen Computer, bei dem ich zeitlich nicht eingeschränkt war, und vor allem eine Kaffeemaschine hatte, machte den Aufwand fast schon wieder wett. Ich warf mich auf meinen mit vielen Kissen ausgestatteten Büro-Stuhl und überflog zunächst die Post-its, die irgendwie über Nacht ihren Weg auf den Bildschirm meines Computers gefunden hatten. Eine Vorankündigung für die kommende Vorführung des Theater-Kurses dürfte in der nächsten Ausgabe auf keinen Fall vergessen werden, Frau Gernicke, Sport- und Kunstlehrerin, verließe, nach dem sie gerade erst ihr Referendariat abgeschlossen habe, nun aufgrund ihrer Schwangerschaft nächsten Monat die Schule und die Cafeteria-Mitarbeiter haben einen Streik angekündigt – Hauptforderung sei vor allem, wie könnte es anders sein, mehr Geld. Eine Meldung also, eine längere Berichterstattung über das Theaterstück und vielleicht eine Schlagzeile für die nächste Woche hieß das. Bevor ich mir Gedanken machen konnte, wie genau ich auf wen und welche Zeit die Texte verteilen wollte, erinnerte mein Magen mich daran, dass ich außer einer Tasse schwarzem Tee ihm noch nichts weiter zugeführt hatte. Aus meiner Schreibtischschublade kramte ich einen Beutel Instant-Haferbrei und meine rosane Müslischüssel hervor und trottete zum Wasserkocher. Während ich wartete, dass das Wasser zu kochen begann, schweiften meine Gedanken zum vor mir liegenden Tag. Kein Fach, das mich wirklich interessierte, keine Personen, auf die ich mich wirklich freute und nicht eine Unterhaltung in Sicht, die mich wirklich fesseln würde. Ein typischer Start in die Woche eben. Mit einer Tasse frisch gebrühtem Earl Grey und meinem Haferbrei bewaffnet schlurfte ich zum großen Konferenztisch, der in der Mitte der Redaktion stand und meist ab Mittags komplett mit Zetteln übersäht war, doch um die Uhrzeit mir noch sauber, jungfräulich entgegen blitzte. Wie üblich kletterte ich auf die Tischplatte und setzte mich mit dem Rücken zur Eingangstür im Schneidersitz auf den Tisch. Warum das zu einer Angewohnheit geworden war, wusste ich selber nicht, aber vielleicht lag es daran, dass ich die Vorstellung, alleine an einem so großen Tisch zu frühstücken, etwas traurig fand – da machte ich es mir lieber genau im Zentrum unserer Schreibwerkstatt gemütlich. Kaum dass der bittere Geruch meines Tees in meine Nase gezogen war, entspannte ich mich und meine Gedanken begannen zum nächsten Text abzuschweifen. „Schwanger nach einem Jahr am Josef Meister Gymnasium – Bereits die dritte Referendarin in diesem Quartal beantragt Schwangerschaftsurlaub“ Oh ja, das klang gut. Zumindest als Arbeitstitel. Ohne große Mühe formulierte mein Kopf weiter: „Nach dem sowohl Frau Maier, als auch Frau Gronau bereits Tafel, Hausaufgaben und Schüler gegen Nuckelflaschen, Kinderwagen und Baby getauscht haben, folgt ihnen nun auch Frau Gernicke, die erst im vergangenen Schuljahr ihr Referendariat an unserer Schule beendet hat. So sehr wir den frisch gebackenen Müttern gratulieren und ihnen und ihren Kleinen alles Glück auf der Erde wünschen, so überrascht uns doch die hohe Schwangerschaftsrate, die unter den Referendarinnen herrscht.“ „Na, du hast es ja gemütlich“, riss mich eine tiefe Männerstimme aus meinem gedanklichen Schreibfluss. Erschrocken zuckte ich zusammen und verschüttete etwas von meinem brühendheißen Tee, den ich die ganze Zeit in der Hand gehalten, aber von dem ich noch nichts getrunken hatte, auf meine Strumpfhose. Fluchend sprang ich auf und versuchte mit meinem Rockzipfel die heiße Flüssigkeit von meinem Bein zu tupfen. Wer, außer meinen Mitarbeitern und unserer Betreuungslehrerin kam um die Uhrzeit in die Redaktion?, grummelte ich innerlich. „Oh je, ist alles in Ordnung bei dir?“ Mit dem hoffentlich wütendsten Blick, den ich zu Stande bringen konnte, blickte ich zur Tür. In ihr stand ein mir fremder Mann, ungefähr Mitte vierzig, mit wuscheligen braunen Locken und einem Drei-Tage-Bart, der aber definitiv länger als drei Tage nicht mehr gepflegt war. Auf seiner spitzen Nase thronte eine runde Brille ohne Gestell und er blickte mich aus seinen grau-grünen Augen, die sich unter einem Paar buschiger Augenbrauen befanden, besorgt an. Er war, das musste ich trotz nasser Strumpfhose feststellen, für sein Alter nicht schlecht gebaut. Natürlich, er hatte einen Bauchansatz, doch so einen hatte jeder Mann in seinem Alter, der nicht versuchte, einer Bohnenstange Konkurrenz zu machen. „Ups, soll das ein bestrafender Blick sein?“, fragte er mich lachend und die Besorgnis wich augenblicklich tiefer Belustigung. „Entschuldige, aber das musst du noch üben, Kleine!“ Empört zog ich die Augenbrauen hoch. „Wie bitte? Sie platzen hier einfach ohne an zu klopfen in meine Redaktion herein, erschrecken mich fast zu Tode und dann kommen Sie mir mit blöden Sprüchen?“, fauchte ich ihn an. Sein amüsiertes Lächeln wurde nur noch breiter. „So, Madame kann also sprechen? Ich dachte, du seist auf den Mund gefallen, so wie du mich nur stumm angestarrt hast! Wirke ich so eine Faszination auf junge Mädchen aus?“ Ich spürte, wie mir eine leichte Wärme in die Wangen stieg, doch mehr aus Verärgerung, als aus Verlegenheit darüber, dass er mich beim analysieren seiner selbst ertappt hatte. „Natürlich“, erwiderte ich schnippisch. „Ich meine, wer wäre nicht von einem Mann total gepackt, der sein Hemd auf links und noch Rasierschaum im Gesicht hätte?“ Erschrocken blickte er an sich herab. Natürlich war sein Hemd nicht auf links, aber scheinbar hatte er mir für einen kurzen Augenblick geglaubt. Anerkennend nickte er. „Nicht schlecht, nicht schlecht. Sind wir damit jetzt quitt? Ich hab dich erschrocken und du hast mit bekommen, dass ich wirklich geglaubt habe schon wieder mein Hemd falsch herum an zu haben?“ Meine Verärgerung fiel augenblicklich von mir ab, als ich seine zum Friedensangebot ausgestreckte Hand sah. Grinsend ergriff ich sie. „Aber nur heute und auch nur, weil ich noch zu müde zum diskutieren bin! Aber wenn Sie mir jetzt noch sagen würden, wer Sie sind, dann wüsste ich zumindest, wem ich den Fleck auf meiner Strumpfhose zu verdanken habe!“, lachte ich. „Selbst wenn du wach genug wärst – gegen mich gewinnt keiner eine Diskussion!“, antwortete er und zwinkerte mir zu. Plötzlich öffnete sich wieder die Redaktionstür und Frau Topfen, die betreuende Lehrerin der Schülerzeitung, betrat schwungvoll den Raum. Sie war eine kleine, etwas rundliche Dame, die nächstes Jahr, wenn ich mein Abi hätte, in ihre wohlverdiente Rente gehen würde. Auch wenn sie etwas schrullig war und ihre stundenlangen Ausführungen im Unterricht darüber, wie sehr sie es ihren Eltern übel genommen hatte, vor der Wende noch in den Osten zu gehen und wie froh sie war, jetzt wieder im Westen sein zu dürfen – auf unsere Einwürfe, dass die Mauer aber schon seit über fünfundzwanzig Jahren gefallen war, überhörte sie konstant – etwas nervten, war sie im Grunde genommen eine gute Seele, die sich stark für ihre Schüler ein setzte. „Guten Morgen, Merle!“, begrüßte sie mich mit einem warmen Lächeln. „Wie es scheint, hast du ja bereits mit Herrn Brückner Bekanntschaft gemacht! Er wird ab sofort unser neuer Lektor sein!“ „Lektor?“, fragte ich verwundert. „Wieso das denn? Und weshalb hat man mir das nicht schon im Voraus erzählt?“ Zerknirscht blickte sie zu mir hoch. „Weißt du, seit uns Frau Schnäbele leider nicht mehr zur Seite steht, sind gehäuft E-Mails von genervten Eltern bei mir eingetroffen, die sich darüber echauffiert haben, dass die Schülerzeitung orthografisch... etwas an Qualität eingebüßt hätte und das sie es nicht einsähen, dass ihre Kinder dann so einen „hohen“ Preis für die Zeitung zahlen würden...“ Natürlich kannte ich die E-Mails. Nicht wenige davon waren an mich persönlich adressiert – ich als Chefredakteurin wäre doch dafür zuständig, dass jeder Text rechtschreibetechisch einwandfrei wäre und wenn es so weiter ginge, würden die Eltern ihren Kindern verbieten, unsere Schülerzeitung zu kaufen. Was für ein Schrott. „Ist das deren Ernst?“, lachte der mir nun nicht mehr ganz so unbekannte Herr Brückner zynisch. „Die Eltern beschweren sich? Es geht doch darum, dass die Schüler über das informiert sind, was in der Schule gerade Sache ist und nicht dass die Eltern über jede kleinste Information aus dem Leben ihrer Sprösslinge Bescheid wissen. Entschuldigung, aber das kann man doch nicht ernst nehmen! Da würde ich ja aus Protest extra Fehler einbauen!“ Vor Aufregung war sein Gesicht ganz rot geworden. „Ich finde überhaupt, das ist die Idee: wir machen eine von Fehler strotzende Ausgabe und die Schüler sind dazu angehalten, alle Fehler, grammatikalischer und orthographischer Art, zu finden. Wer uns als erstes eine Zeitung vorlegen kann, in der alle Fehler gefunden und korrigiert hat der bekommt...“ „Fünfzehn Punkte oder eine Eins!“, unterbrach ich ihn. Nutzen aus meinem persönlichen Rechtschreibproblem zu ziehen und dabei den Spießereltern meiner Schule gehörig auf den Schlips zu treten – die Idee gefiel mir gut. Und der Charakter dieses neuen Lehrers auch. Er hatte nicht nur einen sympathischen Humor, sondern auch Mumm, sich gegen die furchtbar verklemmten Geldgeber unserer Schule zu stellen – das war unüblich in einer Schule, in der diesen eher in den Hintern gekrochen wurde, um noch ein paar Euro für das nächste Chorprojekt zu erbetteln. Die Zusammenarbeit mit ihm würde definitiv interessant werden und bestimmt glatter ablaufen, als mit Frau Schnäbele, die jeden Satz, der nur in entferntester Weise zynisch gemeint war, dick mit Rot eingekreist und daneben „Unverständlich! Zusammenhang?!“ gekritzelt hatte. Begeistert klatschte er in die Hände. „Das machen wir so, was meinen Sie, Frau Topfen?“ Die Lehrerin, die unsere Unterhaltung nur stumm verfolgt hatte, stammelte überrascht von der Nachfrage nur: „Ja, können... ja aber dürfen wir das...“ „Klar dürfen wir das!“, fiel ich ihr ins Wort. Bereits zum dritten Mal an diesem Morgen wurde die Redaktionstür aufgerissen. „Was dürfen wir?“, fragte Rebecca, Zuständige für Rätsel, Lehrersprüche und ähnliches. Noch bevor ich antworten konnte erklärte Herr Brückner sachlich: „Euren Spießereltern gehörig eins vor den Latz geben!“   Nach einer sehr interessanten, aufgewühlten morgendlichen Redaktionssitzung, eilte ich zu meinem Klassenzimmer und ließ mir die letzte halbe Stunde noch ein Mal durch den Kopf gehen. Das Konzept einer fehlerlastigen Ausgabe hatte bei der gesamten Redaktion großen Anklang gefunden. Es kam sogar die Idee auf, das jetzt einfach in jeder Ausgabe durch zu ziehen und somit unter dem Vorwand „Fehler seien ja geplant“ einfach weiter wie bisher zu schreiben, doch da legte Herr Brückner sein Veto ein: „Da komme ich schon an eine neue Schule, bekomme gleich das interessante Angebot, bei einer so gut organisierten Schülerzeitung mit zu arbeiten und dann werde ich gleich wieder überflüssig – vergesst es!“ Ich lächelte bei dem Gedanken an die Ernsthaftigkeit, mit der er das gesagt hatte. Normalerweise stritten sich die Lehrer nicht gerade um diesen undankbaren Posten, aber er schien wirklich der gemeinsamen Arbeit auf Augenhöhe entgegen zu sehen. Er war ein interessanter Lehrer, anders als die, bei denen ich normalerweise Unterricht hatte. Ich fragte mich, ob er während der Stunden auch so entspannt war und einen so lockeren Umgang mit seinen Schülern pflegte. Kaum hatte ich das Klassenzimmer betreten flog mir Lola Knauer in die Arme. „Merle, Merle!“, rief sie aufgeregt. „Du ahnst nicht, was mir passiert ist!“ Gequält lächelte ich sie an. Im Grunde war Lola ein liebes Mädchen. Vielleicht nicht unbedingt die Hellste und auch nicht unbedingt der Typ Mensch, der Zynismus erkennen konnte, aber sie war immer aufrichtig freundlich zu jedem und bemühte sich, allen eine gute Freundin zu sein. Allerdings hatte sie damit vor allem bei den männlichen Mitschülern Erfolg – sie war stolze Besitzerin eines Körpers, dem wir Mädchen alle nur neiderfüllt hinterher starrten: Kurven, die Michael Schumacher aus der Bahn schmissen, gewelltes, rotblondes Haar, das selbst bei schlimmsten Gewitter aussah, als hätte das Drei-Wetter-Taft ganze Arbeit geleistet und so große Rehaugen, dass man ihr nichts übel nehmen konnte. „Auf dem Weg zur Schule ist mir ein Igel begegnet!“, fuhr sie nun fort, als von mir keine Antwort kam. „Der war noch ganz klein, aber so unglaublich süß! Ich hab Fotos gemacht, willst du mal sehen?“ Ohne meine Antwort ab zu warten, begann sie in ihrer – wahrscheinlich echten – Louis Vuitton Tasche zu wühlen und zog kurz darauf ihr mit Glitzersteinen besetztes iPhone heraus. Und natürlich hatte sie keinen Sperr-Code, so vertrauensselig, wie sie war. „Schau! Da sieht man sein kleines Näschen und da – ich glaube er hat mich angelächelt!“, kiekste sie begeistert. Interessiert nickte ich und lächelte, sagte Dinge wie „Oh ja, wie niedlich!“ und „Was für ein putziges Kerlchen“ und versuchte mich langsam in Richtung meines Platzes zu stehlen, denn ich war eh schon spät dran und wollte noch meine Tasche ausgepackt haben, bevor mein strenger Deutsch-Lehrer das Zimmer stürmte. Als hätte ich es geahnt, wurde in diesem Moment die Zimmertür aufgerissen und Herr Hubenschneid kam schnellen Schrittes ins Zimmer marschiert. In der Hand wie immer seine schwarze Lederaktentasche und über dem Arm den für ihn so typischen Parka, den er, so wie er aussah, wahrscheinlich noch aus Wehrdienst-Zeiten hat mitgehen lassen. Ohne ein Wort der Begrüßung begann er zu poltern: „Wie sieht es denn hier wieder aus? Wie können Sie bereits um kurz vor Acht in der Frühe solch ein Chaos produzieren? Da! In der Ecke – Müll. Und die Tafel? Wer von Ihnen hat Putzdienst heute?“ Kaum wollte sich der betroffene Schüler melden, wand der Lehrer sich an mich. „Und was ist mit Ihnen? Ihnen sollte doch klar sein, dass spätestens fünf Minuten vor Stundenklingeln der Platz vorbereitet sein sollte, nicht wahr?“ Stumm nickte ich. „Wie also kommt es, dass Sie immer noch  mit geschlossener Tasche in der Hand dastehen und dumm Löcher in die Luft starren? Und Sie...“ Ruckartig riss er Lola das Handy aus der Hand. „Sie sehen mich heute nach dem Unterricht im Büro des Schulleiters.“ „Aber das ist nicht fair!“, protestierte sie. „Ich hab mein Handy doch nur in der Hand gehalten, nicht wahr, Merle?“ Flehend blickte sie zu mir hoch. Ich wusste, dass sie heute ein Date mit ihrem langjährigen Schwarm hatte, der sie gleich nach dem Unterricht von der Schule abholen wollte – zum Direx zu müssen stand ihren Plänen da eher im Wege. Seufzend nickte ich. Zwar hatte ich keine Lust mich Hubi entgegen zu stellen, da er mich sowieso schon auf dem Kieker hatte, aber ich wollte auch nicht als Verräter-Schwein dastehen also erwiderte ich: „Herr Hubenschneid, Lola hat nur ihr Handy aus ihrem  Mantel genommen, um es in ihren Rucksack zu packen, das ist der einzige Grund, aus dem sie ihr Handy noch in der Hand hat, also wenn Sie es ihr eventuell wieder geben könnten, sie hat ja nicht gegen die Schulordnung verstoßen!“ Das rattenartige Gesicht des Deutsch-Lehrers lief rot an. „Das ist eine Lüge! Eine Lüge ist das! Mir einfach so schamlos ins Gesicht zu lügen, da muss ich ja glatt überlegen, Ihren Punktwert der letzten Klausur noch weiter hinunter zu setzten!“, rief er aufgebracht. Überrascht riss ich die Augenbrauen hoch. Das konnte nicht sein Ernst sein. Doch bevor ich meinen Mund aufmachen und etwas, was ich definitiv bereuen würde, sagen konnte, griff Jonas, ein guter Kumpel von mir, aus der letzten Reihe, ein: „Bei allem Respekt, aber finden Sie das nicht ein wenig unverhältnismäßig, Herr Hubenschneid? Außerdem ist das doch belanglos, wir sollten doch heute eine Erörterung schreiben und wenn wir noch weiter hier warten, reicht es am Ende zeitlich wieder ein Mal nicht!“ Das was er sagte, hörte sich klar nach den Worten eines absoluten Strebers an, aber das war er nicht, im Gegenteil. Jonas war unglaublich clever. Vielleicht schrieb er nicht immer die höchsten Punkte und sicherlich war er nicht der erste, der freiwillig Hausaufgaben präsentierte, aber er wusste, wie er mit jedem zu reden hatte, ohne dessen Autorität zu untergraben, aber trotzdem seinen Willen zu bekommen. Und das gelang ihm bei Schülern, wie auch bei Lehrern, die er mit Höflichkeit und einer Ladung Charme um den Finger wickelte. Ertappt räusperte sich Herr Hubenschneid. „Sie haben nicht ganz unrecht, Jonas. Dann setzten Sie sich jetzt bitte alle hin. Und Merle, mit Ihnen würde ich nach der Stunde gerne noch ein Wort reden, auch über Ihre Klausur, also kommen Sie bitte nach Ihrer Arbeit zu mir!“ Ohne noch ein weiteres Wort über Lola zu verlieren, drückte er ihr wieder ihr Handy in die Hand und ließ mich mit offenem Mund stehen. „Ich glaubs nicht...“, murmelte ich fassungslos. Im Grunde hatte ich nichts getan, ich war für eine Mitschülerin wegen einer Lappalie in die Bresche gesprungen, und so dankte es mir das Karma? Na Danke sehr. Etwas zupfte an meinem Ärmel, als ich mich hin gesetzt hatte. „Merle?“, flüsterte Lola leise. „Tut mir leid, das wollte ich nicht. Aber trotzdem vielen Dank!“ Zur Antwort nickte ich nur. Meine Laune war gehörig im Keller und der bevorstehende Aufsatz schloss die Kellertreppe auch noch zwei Mal ab. Aber los, was soll man schon machen, die Genugtuung eines leeren Blattes wollte ich Hubi nicht geben.   Viel zu schnell klingelte es zum Stundenende. „Verdammt“, fluchte ich, während ich die letzten Worte meines Aufsatzes aufs Papier kritzelte. Die Zeit für einen Text hat mir noch nie gereicht, aber Hubis Gezeter zu Beginn hatte, wie zu erwarten, das Ganze noch eine Spur stressiger gemacht. Als eine der Letzten ließ ich die rund fünf Blätter auf seinen Stapel fallen. „Sie wollten noch mit mir reden?“, zische ich mit einem Lächeln, das so falsch ist, dass wahrscheinlich selbst Lola die Qual dahinter gesehen hätte, die mir diese Bewegung meiner Mundwinkel abgerungen hatte. „Merle...“, seufzend blickte er mich über den Rand seiner John Lennon Brille an, die er entweder gekauft hatte, um hipp zu erscheinen oder noch original war – was ich vermutete. „Wie kommt es, dass Sie und ich immer wieder nach dem Unterricht hier zusammen kommen müssen?“ Ich weiß nicht, dachte ich düster. Vielleicht, weil Sie ein Ekelpacket sind, das Spaß daran hat, mich zu trietzen und dessen Freude dadurch gesteigert wird, dass das auch noch so wunderbar funktioniert? Was ich wirklich antwortete, war wesentlich schmieriger und zynischer als geplant: „Ich weiß nicht, vielleicht können Sie meinem unbezwingbaren Charme einfach nicht widerstehen und wollen möglichst auch mal eine Minute mit mir alleine verbringen?“ Auf einen Schlag hätte ich mindestens fünf Lehrer nennen können, bei denen ein solcher Spruch erst ein Lächeln und dann eine beschwichtigte Reaktion hervorgerufen hätte – Hubi gehörte leider nicht dazu. „Wenn ich Ihnen eins versichern kann“, erwiderte er mit einem Lächeln wie ein Messer. „Ist es wohl, dass ich, im Gegensatz zu meinen jungen Kollegen den anscheinenden Reizen eines Kindes nicht verfallen werde – also versuchen Sie doch bitte zumindest in meiner Gegenwart Ihre Libido im Zaum zu halten!“ Wortlos schnappte ich nach Luft, doch er fuhr fort: „Insofern kommen Sie auch mit den scheinbar aufreizendsten Kommentaren nicht darum, dass ich Ihnen nicht nur eine Verwarnung für Ihr Verhalten zum Anfang der Stunde aussprechen muss und Ihnen Ihre Arbeit wiedergebe, die... nun, speziell gewesen ist!“ Er spricht es aus, als hätte ich ihm in meinem Aufsatz versucht weis zu machen, dass Hitler im Grunde seines Herzens doch ein liebenswürdiger Mann  gewesen ist. „Hier“, meint er und reicht mir den Stapel unordentlich beschriebener Blätter. Die sechs Punkte, mit denen er meine Arbeit bewertet hatte, waren wie ein Schlag ins Gesicht. Ich hatte in weniger als zwei Stunden einen Essay über die Frage „Was ist Nichts?“ verfasst, der, in meinen Augen, die meisten Texte überragte, die ich sonst in fünf Stunden für die Schülerzeitung verfasste.  Unter meinen, zum Ende hin immer schmieriger gewordenen Aufzeichnungen fand sich in einladendem rot sein Kommentar: Wenn ich Ihnen nicht bereits diverse Male gesagt hätte, das Sie sowohl versuchen sollten, Ihre Handschrift zu bessern und von Ihrem voll inadäquater Metaphern und Vergleichen strotzenden Stil weg zu kommen, sowie den Gebrauch von Vollverben auch als Möglichkeit, nicht nur als ferne Idee zu betrachten, hätte Ihre Arbeit vielleicht noch einen oder zwei Punkte mehr verdient – aber so... Entgeistert starrte ich ihn an. Einer der seltenen Momente, in denen ich innerlich so in Rage war, das mir nicht einfiel, wie ich auf so einen verhöhnenden Kommentar reagieren könnte. „Ich muss jetzt zur Aufsicht, falls Sie noch Fragen bezüglich Ihrer Arbeit haben: die nächsten Schülersprechzeiten können Sie dem Aushang vor meinem Zimmer entnehmen!“ Und mit diesen Worten rauschte er, ohne mich eines weiteren Blickes oder dem Warten auf eine Antwort zu würdigen, aus dem Zimmer. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)