undone von Daisuke_Andou ================================================================================ Kapitel 32: ------------ Undone Kapitel 32 Der Morgen graute und die Sonne vertrieb die Dunkelheit der Nacht. Stück für Stück, bis der Tag vollständig hereingebrochen war. Trotzdem wusste Takanori, dass die Dunkelheit nicht gänzlich verschwinden würden. Sie war lediglich woanders. Einfach nur für ein paar Stunden in einem Versteck, um dann wiederzukommen, dunkler denn je. Genau so, wie die Dunkelheit und die trübsinnigen Gedanken, die sich in seinem Herzen, wenn nicht gar in seiner Seele breit gemacht hatten. Aufgaben und Tätigkeiten vermochten sie in den Hintergrund zu schieben, aber kaum war da nichts mehr, kehrte die Beklemmung zurück. Koron war versorgt, hatte das teure Futter aus dem Supermarkt gierig heruntergeschlungen als wäre es die erste Mahlzeit seines Lebens. Er spülte nach mit Wasser aus der Leitung. Da schien er nicht wählerisch zu sein. Anschließend siegte die Müdigkeit über den kleinen Mann. Takanori war neidisch, denn er wusste, dass er in den nächsten Stunden auch keinen Schlaf finden würde. Eigentlich war er todmüde, aber sein Geist tanzte Samba. Immer wieder ploppten Gedanken in seinem Kopf auf, die ihn piesackten. Kleine Dämonen, bereit, da zu sticheln, wo es so richtig wehtat. Wie sollte er dem nur Herr werden? Takanori lehnte seine Schläfe gegen die Wand neben seinem Fenster, während er nach unten auf die Straße starrte, nebenbei eine Zigarette rauchte, die es auch nicht vermochte, die Welt zu einem besseren Ort zu machen. Vielleicht verkürzte sie aber seine Zeit hier. Die Bäume dort unten boten den perfekten Schutz, wollte man ihn beobachten und beschatten. Viel würde man vielleicht nicht sehen, aber man hatte sowohl den Eingang als auch seine Wohnung im Blick. Sein paranoides Ich war erwacht und bekam immer mehr Futter durch seine Gedanken. Hatte er sich nach dem Einbruch schon furchtbar gefühlt, so nahmen seine Gefühlsregungen just in diesem Moment ganz andere Nuancen an. Sein Magen verkrampfte sich schmerzlich. Es folgte ein weiterer Schluck von seinem gesüßten Kaffee, den er sich im Supermarkt gekauft hatte. Wenn er es sich nicht nur einbildete, dann konnte er genau spüren, in welchen Moment dieser seinen Magen erreichte. Alles war auf einmal so viel klarer und deutlicher, was seinen Körper anbelangte, aber seine Gedanken verschwammen immer mehr in einem ungenießbaren Einheitsbrei. Grau. Pampig. Trauer war ihm bekannt. Wut ebenso. Aber was da gerade in ihm vor sich ging, konnte er nur schlecht in Worte fassen. Vielleicht eine Mischung aus Verzweiflung, Enttäuschung und Einsamkeit. Betrug? Zurückgelassen? Wie einfach wäre es, jetzt zu verschwinden. Eine Existenz, gelöscht! Oder irgendwo neu anfangen. Ganz bei null. Kein ‚früher‘ und keine Erinnerungen. Takanori starrte auf sein Handgelenk, an dem er vor nicht allzu langer Zeit noch das Armband von Akira getragen hatte. Er hatte es abgenommen. Nichts sollte ihn an diesen Kerl erinnern. Es war auch nicht so, dass er sich etwas antun wollte, aber trotzdem hatte er das Gefühl, als würden sich unsichtbare Fäden um seine Handgelenke legen, ihn steuern. Er fühlte sich wie eine Marionette, aber er wusste nicht, wer die Stricke in den Händen hielt und ihn lenkte. Vielleicht waren sie alle nur Schachfiguren, die über ein Brett geschoben wurden. Läufer schlägt Bauer und sowas. Mit Verlusten ist zu rechnen. So unsicher, wie Takanori darüber war, wie es jetzt mit ihm weitergehen sollte, so sicher war er sich darüber, dass er erstmal aus dem Spiel genommen werden wollte. Der Blick auf sein Smartphone machte es nicht besser. Vielleicht war er nicht nur ein Stalking-Opfer, sondern jetzt auch Telefonterror ausgesetzt. Das Stadium seiner Übelkeit nahm weiter zu, aber er suchte in seinen Kontakten nach der Nummer, die er eigentlich nicht wieder wählen wollte, es trotz allem tat. Das monotone Tuten nervte ihn unmittelbar, aber dann hörte er ein Knacken am anderen Ende der Leitung und eine Frau ratterte den auswendig gelernten Text herunter. „Doktor Hirako, Matsumoto Takanori am Apparat.“ Die kleine Pause, dauerte sie nur einen Bruchteil einer Sekunde, reichte aus, dass sich Taka so erbärmlich wie noch nie in seinem Leben fühlte. Regelrecht wie vom Blitz getroffen. „Ich…“ Seine Stimme brach. Und als wäre mit dieser Stille ein Damm gebrochen, füllten sich seine Augen mit Tränen. All die schlimmen Erfahrungen der letzten Jahre kehrten zurück. Die Wut, die Verzweiflung, die Unzulänglichkeiten, die er erfahren hatte. Es war schlichtweg beschissen, Hilfe nötig zu haben. „Ein Rückfall?“, hörte er die Stimme beherrscht fragen, als wäre es ein Teil des Alltagsgeschäftes. War es vermutlich auch, aber für ihn bedeutete es den Zusammenfall des Kartenhauses, welches er sich mühsam aufgebaut hatte. Karte für Karte. „Ja“, formten seine Lippen die Antwort und die Karten lagen wild verstreut wieder vor ihm auf dem Tisch. Manchmal reichte ein Windstoß, aber die Sache mit Akira kam einem Orkan gleich. „Seit wann?“ „Seinem Todestag“, kam die Lüge wie selbstverständlich über seine Lippen. „Verstehe. Wollen Sie darüber reden?“ „Nein. Es… ändert nichts. Ich… Ich brauche Zeit für mich. Mir entgleitet alles.“ Dieser Teil war nur halb gelogen. „Okay. Eine Woche?“ „Ja.“ „Soll ich Ihnen auch Medikamente verschreiben? Die haben das letzte Mal gut angeschlagen, wobei ich trotzdem der Meinung bin, dass wir die Gesprächstherapie wieder aufnehmen sollten.“ „Versuchen… wir es vorerst mit Tabletten.“ „Okay. Ich mache alles fertig und Sie überlegen es sich noch einmal mit dem Termin. Den können Sie auch mit der Kollegin vereinbaren. In einer Stunde sind die Unterlagen fertig und sie können sie abholen. Ich lasse sie an der Rezeption hinterlegen.“ „Vielen Dank.“ „Lassen Sie sich nicht unterkriegen, Matsumoto –san. Denken Sie immer daran, dass jeder Mensch in seinem Leben jemanden verliert, der ihm nahesteht. Früher oder später. Wichtig ist, dass Sie weitermachen. Nur, wenn sie das tun, können sie sich entwickeln und eine Veränderung herbeiführen.“ „Danke, Frau Doktor!“, sagte er noch und legte auf. Dieses Brainwash-Gerede brauchte er gerade nicht auch noch. Verlust war eine Sache, aber wenn der Totgeglaubte wieder zurückkam, dann war das eine andere Nummer. Takanori wischte sich über seine Augen. Er wollte nicht mehr heulen, aber unter Kontrolle brachte er das auch irgendwie nicht. Diese bekloppten Gefühlsausbrüche schlauchten und machten ihn zusätzlich fertig. Trotzdem hatte er sich vorerst seine Auszeit gesichert. Blieb nur noch herauszufinden was man tat, wenn man mit seiner Vergangenheit konfrontiert wurde. ******* „Akira! Nun komm doch endlich zur Vernunft!“, meckerte Kouyou erneut. „Was meinst du macht er, wenn du jetzt bei ihm auftauchst? Der haut dir höchstens noch eine rein! Willst du das?“, versuchte es das Model noch einmal. Er war es langsam leid seinem langjährigen Freund wie ein verrückt gewordener Fan hinterherzulaufen. Fast so, als hätte er Zucker in den Taschen. Aber genau das tat er, nachdem sie beide vom Frühstückstisch aufgestanden waren. „Lass mich einfach in Ruhe, Takashima!“ „Ich kann dich aber nicht einfach in dein Unglück rennen lassen!“ „Keiner zwingt dich, mir zu folgen!“, machte Akira seinen Standpunkt klar und schubste die Tür auf, hinter der der Apartmentkomplex in dem Takanori wohnte, lag. Kurz darauf betätigte er auch schon die Klingel. „Er macht dir eh nicht auf! Wieso sollte er?“, fragte das Model, welches heftig atmend hinter dem anderen zum Stehen kam. Dafür, dass er so oft Joggen ging, musste er gerade doch ziemlich pumpen. Das, was Akira da veranstaltet hatte, kam einem Dauerlauf gleich. „Das werden wir noch sehen! Ich MUSS mit ihm reden!“ Wütend über die gesamte Situation betätigte Akira mehrfach die Klingel zu Takanoris Wohnung, was ihm ein Augenrollen von seinem Kumpel einbrachte. „Klar, wenn du Sturm klingelst, macht er dir ganz sicher auf!“, kommentierte er Akiras Tun mit sarkastischen Worten. „Du nervst!“, keifte ihn Akira an. Aber er sah auch ein, dass das nichts brachte, daher machte er auf dem Absatz kehrt. „Häh? Wo willst du denn jetzt schon wieder hin?“, fragte das Model, da der andere wie eine V1 an ihm vorbeischoss. Eine Antwort blieb er ihm schuldig. „Das ist doch alles nicht wahr!“, resignierte der großgewachsene Japaner und folgte seinem Freund, der augenscheinlich die nächste Schnapsidee im Sinn hatte. „Nicht dein Ernst!“, kam der nächste Kommentar als Kou mitbekam, was Akira nun tat. Dieser stiefelte der Feuerleiter nach oben. Als wäre es das Selbstverständlichste der Welt. „Du bist total wahnsinnig! Nun komm schon wieder runter! Das ist Hausfriedensbruch! Du wohnst hier gar nicht und ein Notfall liegt auch nicht vor!“, versuchte es Kouyou noch einmal, aber vergeblich. Sein Ziel vor Augen marschierte Akira weiter der Treppe nach oben. „Manchmal hasse ich dich, Suzuki!“, nuschelte Kou und setzte sich widerwillig auch in Bewegung. Über diesen Typen konnte man ernsthaft nur noch den Kopf schütteln. Oben angekommen fand er Akira vor, der wie wild gegen Takanoris Wohnungstür hämmerte. „Oh ja, wenn jemand so vor meiner Tür stehen würde, würd ich auch sofort öffnen!“, sagte Kou sarkastisch. „Taka, mach‘ schon auf! Wir müssen reden!“, ließ sich Akira nicht von seiner Mission abbringen. Wieder ertönten die dumpfen Schläge seiner Faust, als er vor die Tür hämmerte. „Als würde ein Mörder vor der Tür stehen, ey!“ Kouyou verschränkte seine Arme vor der Brust. Er nahm nicht an, dass Takanori öffnen würde. Immerhin wusste er, wie stur der andere sein konnte. „Ich bin alles, aber ganz sicher kein Mörder. Was willst du überhaupt hier? Nur blöde Kommentare ablassen? Die kannst du dir in den Arsch stecken!“, fauchte Akira sichtlich gereizt. Darunter musste auch gleich die Tür wieder leiden. „Taka! Bitte! Mach auf!“ „Unverbesserlich“, seufzte das Model resignierend und lehnte sich gegen die Wand neben der Tür. Das Klopfen und Hämmern von Akira sowie seine Rufe schallten durch den gesamten Flur. Und schließlich öffnete sich eine Tür. Allerdings nicht die von dem Apartment, in das sie gerade wollten. „Entschuldigen Sie, meine Herren, aber Sie sind sehr laut“, erklärte eine andere Mitbewohnerin des Hauses, die nun von den beiden Störenfrieden mit großen Augen angesehen wurde. „Entschuldigen Sie bitte!“, übernahm Kouyou zumindest den Anstandspart und verbeugte sich vor der Dame. „Ich glaube auch, dass Matsumoto-san gar nicht zu Hause ist. Er hat heute Morgen das Haus verlassen, als ich wiedergekommen bin, nachdem ich meinen Sohn weggebracht habe“, gab die Dame eine Information preis. „Wann war das?“, platzte es sofort aus Akira heraus, sodass die Frau etwas zurückschreckte aufgrund der burschikosen Art, die der junge Mann an den Tag legte. „Steckt Matsumoto-san denn in Schwierigkeiten?“, vergewisserte die Dame sich vorerst. Diese beiden Männer machten nicht gerade einen vertrauenswürdigen Eindruck. Vor allem der eine machte einen sehr aggressiven Eindruck auf sie. „Was?“, fragte Akira gleich wieder, als hätte er die Anspielung nicht verstanden. „Nein, nein!“, sprang Kouyou daher wieder ein und setzte sein schönstes Werbelächeln auf. „Das nicht. Taka-chan hat nur etwas, das uns gehört. Und das hätten wir gern wieder.“ Die Frau schien kurz bei dieser Antwort zu überlegen, wollte aber jeden Ärger aus dem Weg gehen. „So gegen 9 Uhr. Vielleicht auch etwas früher. So genau kann ich das gar nicht sagen.“ „Und wo er hin wollte?“, hakte Akira augenblicklich nach. „So nah stehen wir uns nicht. Vielleicht ist er zur Arbeit gegangen? Aber für gewöhnlich verlässt er das Haus dann früher“, dachte die Frau laut nach. Dann schüttelte sie den Kopf. „Tut mir leid, da kann ich Ihnen nicht weiterhelfen!“, entwand sie sich aus der weiteren Schuld. „Schon in Ordnung. Sie haben uns sehr weitergeholfen. Wir werden jetzt gehen!“, übernahm Kouyou die Führung. Nicht gerade nachsichtig schubste er Akira in Richtung des Fahrstuhles. Doch der wollte sich nur sehr ungern hier wegbewegen, was die Dame wieder sehr skeptisch dreinblicken ließ. „Nochmal vielen Dank. Und einen schönen Tag für Sie!“, sagte Kouyou noch einmal und deutete eine leichte Verbeugungen an, während er Akira etwas gewaltsamer zum Aufzug beförderte. Man merkte, wie bockig Akira wurde. So ein sturer Esel! „Dein Ernst? Er hat etwas, das wir zurückwollen?“, keifte er daher Kou gleich wieder an, als sie darauf warteten, dass der Fahrstuhl in ihrem Stockwerk ankam. „Na, was hätte ich denn sonst sagen sollen?“, fragte das Model. „Keine Ahnung. Aber doch nicht so ‘nen Schund! Jetzt denkt sie sicherlich, dass wir Kriminelle sind, die Geld zurückhaben wollen.“ „Was siehst du auch aus wie so ein Gangster?“ „Seh‘ ich gar nicht!“, verteidigte sich Akira und stieg missmutig in den Fahrstuhl. Noch ehe der andere hinzu gestiegen war, drückte er den Knopf für das Erdgeschoss. „Und wie nun weiter?“, fragte Kouyou nach, da er nicht gewillt war, sich auf weitere sinnfreie Diskussionen einzulassen. Akira war heute sowieso schon mit dem falschen Fuß aufgestanden. „Na was wohl? Auf zu Takas Arbeit!“, verkündete er seinen unausgegorenen Masterplan. „Klar! Ziehen wir die gleiche Nummer dort nochmal durch. Dann denkt bald jeder, dass Taka irgendwelchen Dreck am Stecken hat.“ „Zwingt dich keiner, mitzukommen!“ „Zwingen nicht! Aber irgendwer muss dich aufhalten und dich wieder zur Vernunft bringen! Das ist gerade wirklich ein aussichtsloses Unterfangen, das du da anleierst. Takanori wird dir nicht zuhören. Weder jetzt, noch morgen, noch sonst irgendwann! Auch auf die Gefahr hin, dass ich mich wiederhole, aber ich halte es nach wie vor für besser, wenn wir unsere Sachen packen und einfach wieder nach Amerika zurückkehren!“ Die Tür des Fahrstuhls öffnete sich und Akira nickte dem anderen zu. „Vielleicht hast du recht“, begann Akira. „Hab ich?“, fragte Kouyou nach und seine Augen weiteren sich vor Erstaunen. Woher kam die Einsicht? Wieder nickte der Kleinere ihm zu. „Du solltest deine Sachen packen und wieder verschwinden!“, sagte Akira. Im selben Moment schubste er Kouyou gegen die Rückwand des Fahrstuhls, sodass er ins Straucheln kam. Akira hingegen nahm die Beine in die Hand und drückte im Vorbeirennen noch den Knopf, der die Türen sich wieder schließen ließ. Er schlüpfte durch die Lücke, konnte Kou noch wettern und rufen hören, aber seine Stimme wurde dumpfer. Akira verlor keine Zeit und stürmte nach draußen. Er lief der Straße lang, gleich in die erste Seitengasse. Von dort aus schlug er Haken, damit Kouyou ihn nicht so schnell einholen konnte. Im Laufen war der andere ihm nämlich einiges voraus. Aber nicht, wenn er gar nicht wusste, wohin er denn rennen sollte. Kouyou glaubte auch, dass er Bock hatte sein Gezeter den gesamten Tag zu ertragen. So nicht! Allerdings konnte er jetzt auch nicht einfach bei Takanori auf Arbeit aufschlagen. Dort würde dieses Spatzenhirn ihn wohl am ehesten Suchen, um ihn weiter den Kopf zu waschen. ******* Zeit war relativ. Das war die Weisheit, die Takanori aus dem heutigen Tag zog. Manchmal verging sie wie im Flug, aber heute zog sie sich wie Kaugummi. Jede Minute fühlte sich an wie eine Stunde oder sogar mehr. Alles gefüllt von diesen miesen Gedanken, die ihn begleiteten. Auch der Abstecher beim Doc dauerte nicht so lange, wie er es sich erhofft hatte. Die Unterlagen erhielt er wie ihm zugesagt sehr unkompliziert an der Rezeption. Einen Teil trug er schließlich zu einer Apotheke, um sie gegen eine Packung kleiner Glücklichmacher zu tauschen und den anderen Teil brachte er auf seiner Arbeit vorbei, warf sie direkt in einen dafür vorgesehenen Briefkasten. Und damit war sein Pflichtteil für heute und die nächsten Tage erfüllt. Freier fühlte er sich trotzdem nicht. Die Gedanken quälten ihn weiter, schürten den Wunsch in ihm, nicht mehr er selbst zu sein. Er verstand nicht, was da gerade passierte, verstand auch nicht, wie er an diesem Punkt angelangt war. Aber irgendwas sagte ihm, dass er den Fehler nicht bei sich suchen sollte. Generell war es besser, die Vergangenheit ruhen zu lassen. An ihr konnte man nichts mehr ändern. Nun galt es, einen Ausweg zu finden. Wer auch immer ihn manipulierte – Akira oder Kouyou oder sonst wer im Hintergrund – diese Person kannte ihn. Daher war es an der Zeit etwas zu tun, was so gar nicht Takanori-like war. Aber irgendwie musste er aus dieser Abwärtsspirale ausbrechen, um nicht komplett von ihr verschlungen zu werden. ******* Die Klingel schrillte in seinen Ohren und er starrte die weiße Tür ihm gegenüber an. Hier war er nun also. An einem Ort, an dem er nie wieder sein wollte. Und doch befand er sich hier. Und das zusammen mit seinem Reisekoffer, seiner Laptoptasche und seinem Hund an der Leine, der nervös auf und ab tippelte. Das würde er wohl auch tun, würde ihm sein Stolz dies nicht verbieten. Er hörte Schritte und dann öffnete sich die Tür vor ihm. Sofort schlug ihm Erstaunen entgegen. „Taka-chan? Du? Hier?“, fragte Takeru voller Unglauben nach. Dabei rutschte ihm auch seine modische, runde Sonnenbrille in rot bis vor zur Nasenspitze. Noch ein Stück weiter und sie wäre wohl gefallen. Mehr oder minder elegant schob Takeru sie wieder nach oben, musterte aber genau das Bild, welches sich vor seiner Tür abspielte. „Darf ich hereinkommen?“, fragte Takanori direkt nach. „Ehm, ja, klar!“ Hektisch trat der Designer zur Seite und ließ seinen Gast eintreten. „Na, was bist du denn für ein Hübscher?“, fragte Takeru und hockte sich auf den Boden, als er den kleinen Hund sah, der zusammen mit seinem alten Freund die Wohnung enterte. Doch Koron tat nicht dergleichen und setzte sich neben Takanoris Bein. „Wusste gar nicht, dass du einen Hund hast?“, versuchte sich Takeru in Smalltalk, während Takanori seinen Blick durch den vorderen Teil des Apartments schweifen ließ. Viel hatte sich hier nicht verändert. An der großen Wand prangte noch immer das rote Chamäleon, welches zu Takerus Markenzeichen geworden war. „Ist noch recht neu“, tat Takanori es ab. Viel mehr interessierte es ihm, zu wem die anderen Schuhpaare gehörten, die hier im Eingangsbereich herumstanden. Teils teure Schuhe, aber definitiv alle von Männern. „Du bist nicht allein?“, fragte er daraufhin nach. Aber wie konnte er auch in dem Glauben gewesen sein? Es ging in Richtung Abend und Takeru war doch eigentlich nie allein, wenn er sich die Vergangenheit wieder vor Augen führte. „Hm… ein paar Leute vom ‚inner circle‘ sind da. Yuhma, Kaie und so“, erklärte der Besitzer des riesigen Apartments und musterte seinen Gast weiter. Ob Takanori blieb? Oder war er nur auf Durchreise? Bei ihrer letzten Begegnung war doch eine recht merkwürdige Stimmung aufgekommen, die er nicht hatte zuordnen können. Aber jetzt war Taka-chan hier. Mit dieser Wendung hätte er nie im Leben gerechnet. „Die beiden habe ich Ewigkeiten nicht gesehen!“, ging Takanori darauf ein. „Eh… ja. Sie freuen sich aber bestimmt, dich wiederzusehen.“ Ganz koscher kam ihm das Verhalten des Kleineren nicht vor, dennoch räumte Takeru die Sachen des anderen zur Seite. „Bist du auf der Durchreise?“, wollte der Größere schließlich wissen, aber Takanori schüttelte seinen Kopf. „Nein, viel mehr auf Besuch. Aber… das können wir auch später klären. Gehen wir erstmal zu den anderen!“, schlug er vor und nahm Koron auf seinen Arm. Einige Fragezeichen erschienen zwar im Gesicht von Takeru, aber er nahm diesen Umstand dann wohl erst einmal so hin. „Was möchtest du trinken?“, erkundigte er sich, während sich Taka durch das Apartment bewegte, als wäre er nie von hier weg gewesen. Alles war noch genau in dem Zustand von damals, als er sich geschworen hatte, diesen Ort nie wieder zu betreten. Und doch war er nun hier. „Orangina, bitte. Vorausgesetzt das hast du da.“ „Ja, klar! Nachdem du San damit angesteckt hast, ist das hier nicht mehr wegzudenken! Ich geh‘ dir eine Flasche holen!“ „Super, danke!“, erwiderte Takanori und ließ seinen Blick über das Regal an der Wand schweifen. Da waren mehr Auszeichnungen dazu gekommen. Es war also doch nicht alles beim Alten. Takeru hatte noch mehr an Fame gewonnen, wurde für seine Arbeit geschätzt und scheffelte Millionen. Und er selbst war nach wie vor ein Nichts. Taka atmete tief durch und besann sich wieder. Es war nicht die Zeit, in Selbstmitleid zu zerfließen. Das konnte er tun, wann immer er allein war. Also setzte er seinen Weg fort in den hinteren Bereich. Dort hatte Takeru ein großes Zimmer zum Chillen und Entspannen hergerichtet. Natürlich roch man schon vor der Tür gewisse Substanzen, die der Grund waren, warum die Anwesenden sich wohl der Natur sehr verbunden fühlten. Trotzdem musste Takanori sich eingestehen, dass er diesen Ort etwas vermisst hatte. Wie ein Kind, das Zuflucht in seiner selbstgebauten Räuberhöhle suchte und der Meinung war, dass ihm dort nichts Schlimmes widerfahren konnte. Als er die sanften Klänge der Musik wahrnahm, fühlte er sich merkwürdig melancholisch. Eigentlich hatte er vermutet, dass er viel mehr negative Gefühle hiermit verband. Doch jetzt, wo er hier war, fühlte es sich vertraut an. Fast so, als würde man nach Hause kommen. „Hey, Jungs!“, begrüßte er die anderen. Sie waren zu dritt. Auf der linken Seite saß Yuhma. Er hielt einen Joint in der rechten Hand, an dem er gerade zog. Das würde entsprechend den Geruch erklären, der in der Luft lag und schon vorab ankündigte, was hier los war. Tja, was sollte er über Yuhma sagen? Er hatte sein Gesicht noch nie leiden können. Er war zwar hübsch und auch die hellblond gebleichten Haare standen ihm, aber irgendwas an seinem Gesicht störte Taka. Es war aalglatt und bot nichts Besonderes. Er hätte ebenso gut in einem Hostclub sein Geld verdienen können. Es hätte nichts geändert. Für Takanori jedenfalls nicht. Viele Berührungspunkte hatten sie ohnehin nicht. Eigentlich nur den einen: Takeru. Yuhma war wohl nach wie vor Takerus persönlicher Assistent und Mädchen für alles. Würde er seine Aufgabe schlecht machen, wäre er wohl auch nicht mehr hier. Also erübrigte sich alles Weitere. Aus Businesssachen hatte er sich eh weitestgehend herausgehalten. Aufgaben empfangen, Aufgaben erledigen und nichts hinterfragen. Das war die Devise. Auf der anderen Seite der King-Size-Couch, die in edlen, schwarzen Leder gehalten war und einmal die längste Seite des Raumes ausfüllte, saßen San und Kaie. Neu war, dass sie oder besser ihre Zungen eng miteinander verschlungen waren. Zumindest, bis er die Anwesenden angesprochen hatte. Kaie war eigentlich eher ein Rebell. Diese Art von Typ, die andere als Rowdy bezeichneten. Im Grunde war er immer auf der Suche nach Streit, was nicht selten in einer Prügelei geendet hatte. Sein burschikoses Auftreten wurde von seinen rot gefärbten Haaren untermalt. Die rot gefärbten Haare, die zusammen mit Sans azurblauen Haaren einen sehr hübschen Kalt-Warm-Kontrast bildeten. Okay, die Haarfarbe war definitiv neu! San kannte er nur mit schwarzen Haaren, was aber nicht hieß, dass er nicht hübsch war. Wenn Taka es sich recht überlegte, war San viel zu hübsch. Er hatte dieses typische, unschuldige Gesicht mit Teddybärknopfaugen in Mandelform. Man konnte ihm nicht böse sein, egal um was es ging. Er verkörperte den perfekten Schuljungen, der kein Wässerchen trüben konnte. Vielleicht war er das auch mal gewesen, bis diese Typen ihn verdorben hatten. Doch dass die beiden, die sich sonst immer in der Wolle hatten, nun so ‚gut‘ verstanden, war definitiv eine neue Information. „Fuck! Taka! Scheiße! Du bist das ja wirklich!“, war Yuhma der Erste, der seine Sprache wiedergefunden hatte. „Taka-chan! Wir haben uns Ewigkeiten nicht mehr gesehen! Los, setz dich!“, setzte auch San ein und patschte auf das Leder auf der freien Seite neben sich. Takanori nickte. „Hm, ja, da bin ich wieder“, antwortete er und ging der Aufforderung des wohl Harmlosesten aus der Gruppe nach. Er setzte sich zusammen mit Koron auf dem Arm, auf die Couch und machte seinem neuen Schützling erst einmal die Leine ab. „Das ist voll cool! Kommst du jetzt wieder öfters?“, plapperte San weiter. Unmittelbar in diesem Augenblick fiel Taka auch wieder ein, was er an dem anderen weniger hatte leiden können. Dieses ständige Reden und Plappern ging einem irgendwann gehörig auf den Geist. Doch für den Augenblick war es ok. „Ich weiß noch nicht. Mal sehen, was sich ergibt!“ „Ich fand es jedenfalls blöd, dass du auf einmal weg warst. Takeru fand das auch doof!“ Natürlich. Und zu der Aussage schmollte San auch noch. „Was sollte sich denn ergeben? Willst Takeru zurück? Ich dachte, die Trennung ist durch?“, war es Yuhma, der sich recht argwöhnisch äußerte. Man musste kein Genie sein, um zu bemerken, dass es ihm nicht sonderlich recht war, dass er hier war. Doch in dem Moment stieß Takeru zu ihnen. Im Vorbeigehen donnerte er Yuhma die Flasche Orangina gegen den Hinterkopf und grinste spitzbübisch. „Ich hab mich nie von Taka-chan getrennt. Du halluzinierst. Vielleicht solltest du weniger kiffen, Yuh-chan!“, kommentierte Takeru seine Handlung. Schwungvoll ließ er sich neben Taka auf die Couch fallen und reichte ihm die gekühlte Flasche mit dem Erfrischungsgetränk. „Du bist herzlich willkommen. Und das weißt du auch!“, betonte der Gastgeber noch einmal und San nickte eifrig. Seine Aufmerksamkeit galt aber dem Chihuahua, der es sich nun zur Aufgabe gemacht hatte, die Couch zu erkunden. „Danke“, sagte Takanori und behielt die Flasche in der Hand. Er blickte kurz in die Runde. Es war nicht zu übersehen, dass Yuhma grummelte, sich aber dafür entschied, die Klappe zu halten, da Takeru ein Machtwort gesprochen hatte. „Nun“, begann Taka, „was gibt es denn bei euch so Neues zu berichten?“, versuchte er auf die Art wieder Anschluss zu finden. „Wir haben jetzt unsere eigene Homepage!“, rückte Kaie mit der Sprache heraus. Er hatte sich bisher, ganz wider seiner Natur, sehr zurückgehalten. Doch sofort wurde er von San auf den Oberschenkel gehauen. „Du musst schon alles erzählen! Also, Kaie und ich haben zusammen ein Label gegründet: ‚Are Zan‘!“ „Ist sein Label, ich hab nur Geld beigesteuert!“, korrigierte Kaie die Aussage des anderen. „Ja, ja. Bla, bla! Jedenfalls… Label gegründet und die Sachen werden über eine Homepage vertrieben. Alles ganz ohne physischen Shop und doofe Mieten. Die Sachen kann man bestellen und das Zwischenlager ist in Yokohama. Läuft gut. Wir haben sogar schon Sachen nach Amerika geschickt“, berichtete der Blauhaarige freudig von ihrem kleinen Unternehmen. „Das ist echt cool. Was macht ihr denn so?“, fragte Taka nach. „ALLES“, kam sofort die gegackerte Antwort. „Also wir haben Shirts, Jogger, auch Jacken und Caps. Ich bin gerade an Sportswear dran. Aber da bin ich mit dem Material noch nicht zufrieden. Wir lassen nämlich in China produzieren. Ist billiger. Aber ja, die Muster, die wir bekommen haben, nun ja, fühlt sich halt nicht gut auf der Haut an.“ „Bei San muss sich alles gut auf der Haut anfühlen. Sonst wird er quengelig!“, kommentierte Kaie und grinste breit. Das war der Grund, warum er sich einen erneuten Schlag auf den Oberschenkel einfing. „Halt die Klappe, oder bei dir wird sich bald gar nichts mehr gut anfühlen!“, drohte der Blauhaarige. „Oh, oh, dann bin ich lieber still. Hatte doch noch Hoffnung auf ein paar gute Gefühle später am Abend!“, machte Kaie seine Absichten klar. San aber rollte mit den Augen. „Ja! Das ist jedenfalls bei uns neu!“, kam San wieder auf das Thema zurück, das sie gerade besprochen hatten. „Takeru hat in Hongkong einen Modepreis verliehen bekommen. Als Auszeichnung für die Kollektion von letztem Jahr! Gab auch eine schöne Stange Preisgeld“, meldete sich anschließend Yuhma zu Wort und schwenkte sein Glas mit augenscheinlich alkoholischem Inhalt. „Oh! Davon hast du ja noch gar nichts erzählt! Glückwunsch!“, sagte Takanori. Alle Infos, die seinen Ex anbelangten, hatte er gründlich aus seinem Leben gestrichen gehabt. Daher war wohl auch das an ihm vorbeigegangen. Sehr freundlich von Yuhma ihm das unter die Nase zu reiben. „Wir hatten auch noch nicht die Gelegenheit uns etwas persönlicher zu unterhalten“, äußerte sich Takeru zu dieser Sache und lehnte sich entspannt zurück. „Aber ich denke, das können wir im Laufe des Abends sicherlich noch nachholen.“ „Mir fallen noch ein paar Neuigkeiten ein! Wir haben jetzt unsere eigene Band!“, warf Yuhma ein. Das Lächeln, welches sich auf seinen Lippen abzeichnete, konnte alles und auch nichts bedeuten. Trotzdem sah Takanori, was für einen scharfen Blick Takeru seinem Assistenten zuwarf. Sie hatten also darüber geredet. Über… Kloe und ‚die Band‘. Was wussten sie wohl? Yuhma traute er alles zu, auch, dass er extra noch Salz in offene Wunden streuen würde, wenn sich die Gelegenheit dafür ergab. Ob Kloe geplaudert hatte, dass sie sich kannten? „Was denn? Wenn Taka-chan nun öfters kommt, wird er sie doch sicherlich auch kennenlernen. Oder möchtest du nicht teilen, Takeru-chan?“, fragte Yuhma direkt nach. „Du weißt doch: Auge um Auge, Schwanz um Schwanz!“, fügte er an. „So heißt das Sprichwort aber nicht, Yuh-chan!“, warf San ein. Yuhma aber schnaubte und erhob sich. „Ich geh pissen!“, äußerte er sich vulgär und stellte sein mittlerweile leeres Glas mit einem lauten Knall auf dem Glastisch, der mittig vor der Couch platziert war, ab. Dann verließ er den Raum. Takanori sah fragend zu Takeru. Da war doch was im Busch. Das sah ein Blinder mit Krückstock. „Was?“, sagte Takeru, lachte dann aber. „Ich hab mit seinem Spielzeug gespielt. Fand Yuh-chan nicht so geil. Seitdem ist er auf dem Trip mir das immer wieder unter die Nase reiben zu müssen. Hat ihn sonst auch nie gestört, wenn ich Jungs klargemacht habe, aber er hat anscheinend einen Narren an dem Sänger der Band gefressen. Eigentlich ist es nämlich er, der nicht teilen kann und will!“, folgte die Erklärung von Takeru. Wie immer machte er sich die Welt so, wie sie ihm gefiel. Es hatte sich wohl doch nicht so viel geändert. Trotzdem blieb die Frage, ob Kloe geredet hatte oder nicht. Vielleicht wussten die anderen gar nichts von der Verbindung, die Takanori zu ihm gehabt hatte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)