undone von Daisuke_Andou ================================================================================ Kapitel 31: ------------ Undone Kapitel 31 Die Gefühlsachterbahn, in der Takanori saß, kam auch in den darauffolgenden Stunden nicht zum Stillstand. Er weinte bitterliche Tränen, hörte auf zu weinen und versuchte sich alles rational zu erklären. Er ging Fakten durch, Indizien, von denen er glaubte, dass es Fakten waren, aber letztendlich drehte er sich nur im Kreis und seine Kehle schnürte sich erneut zu. Das Stechen in seiner Brust wurde wieder einmal unerträglich und erneut gab er seinen Tränen der Enttäuschung nach. Was musste geschehen, dass ein Mensch seinen Tod vortäuschte? So perfekt vortäuschte? Wie viele Menschen hatten bei dieser Scharade mitgespielt, hatten den Schein einer Welt aufrechterhalten, in der es Akira nicht mehr gegeben hatte? Das konnte doch nicht nur dazu da gewesen sein, um ihn zu täuschen? Und selbst wenn er nicht der Dreh- und Angelpunkt dieses Schauspiels gewesen war, warum gehörte er nicht zu den Menschen, die eingeweiht worden waren? War er so wenig wert? Unwichtig? Vertrauten sie ihm nicht? Warum wusste Kouyou über alles Bescheid? Warum hatte er ihn mir nichts, dir nichts über Jahre dieses perfide Schauspiel liefern können? Hatte er gar keine Ehre oder ein Gewissen? Takanori hatte keine Antwort auf all die Fragen, die sich in seinem Kopf überschlugen. Irgendwie musste er sich unter Kontrolle kriegen, die Enttäuschung wegstecken und wieder aufstehen. Sich bloß nicht runterziehen lassen in diesen schwarzen Sumpf, aus dem es keinen Ausweg gab. Taka zwang sich, ruhig und tief zu atmen und seinen Tränen nicht erneut nachzugeben. Nur er, hier, atmen. Nicht denken. Nicht hoffen. Nicht sehnen. Besonders nicht denken. Und dann triggerte ihn eine Frage erneut aus dem Nichts. Ein weiterer Stich, der tief ging und ihn dort verletzte, wo es so richtig wehtat. Er begann abermals, bitterlich zu weinen, gab seinem Dämon nach. Teils aus Trauer, teils aus Wut und, teils aus Verzweiflung. Es hatte ihm sprichwörtlich den Boden unter den Füßen weggezogen. Akira hatte ihm ein Messer in den Rücken gerammt. Genau so fühlte es sich an. Taka war erschöpft von diesem Chaos in seinem Kopf, dabei dämmerte es draußen längst. Zeit war unwirklich, floss, schien stillzustehen. Alles war illusorisch, nicht mehr greifbar für ihn. Er sehnte sich nach einer Pause. Einfach nur den Schalter umlegen und die Chance bekommen, sich zu regenerieren. Doch an Schlaf war nicht zu denken, selbst wenn sein Körper vor Erschöpfung zitterte. Er wusste, dass er nicht in der Lage war, Ruhe zu finden. Innerlich war er aufgewühlt. Jedes noch so kleine Detail ließ sein Gehirn rattern und er versuchte vehement die Puzzleteile in seinem Kopf zu einem Ganzen zusammenzusetzen. Aber es gelang ihm nicht. Die Fehlersuche blieb ergebnislos. Er war nur ein Spielball, ein Statist. Jeder machte mit ihm, was er wollte, positionierte ihn so, wie er gerade gebraucht wurde. Ein Bauer beim Schach, geopfert ohne mit der Wimper zu zucken. Offenbar für einen größeren Zweck. Und auch hier in seiner Wohnung fühlte er sich nicht geborgen. Nachdem ihm bewusst geworden war, dass vielleicht der Einbruch in seine Wohnung nur zu diesen perfiden Spielchen gehörte, fühlte sich Takanori fremd in seiner Haut. Anscheinend konnte derjenige, der die Fäden zog, wann auch immer er beliebte, alles mit ihm machen. Zu seiner Wut und der Verzweiflung gesellte sich Hoffnungslosigkeit. Was war wahr und was war gelogen? Wem konnte er noch vertrauen? Wo war er noch sicher? Wann hatte das alles überhaupt angefangen? So gern er noch intensiver über diese Dinge gegrübelt hätte, die Realität holte ihn ein. Die stemmte nämlich ihre kleinen Pfoten gegen seine Couch und begann zu fiepen. Mit geröteten Augen sah Takanori über den Rand des Polsters und begegnete den braunen Knopfaugen, die ihn erwartungsvoll ansahen. Ein Hund. Sein Hund. Nach wie vor noch mit Leine. Und er hatte keinen Schimmer, wie das alles funktionierte, wie man sich um ein Lebewesen kümmerte. „Hunger? Oder Gassi?... Beides?“, erkundigte er sich bei Koron. Immerhin hatte er die Verantwortung für den Kleinen, nachdem er ihn Akira entrissen hatte. Und er sah in keinster Weise ein, ihn wieder an dieses verantwortungslose Arschloch zurückzugeben. „Beides also!“, kommentierte Taka, als das Jaulen nicht aufhörte. Vorsichtig nahm er den Hund auf seinen Schoß und streichelte ihm über den Rücken. „Okay, es ist mitten in der Nacht. Wir beide gehen jetzt in einen 24-Stunden-Supermarkt. Wir besorgen dir was zu Futtern, solche Gassi-geh-Tütchen und… was wir noch so finden. Für mich einen Kaffee. Wenn ich es mir recht überlege, dann vielleicht auch zwei!“, weihte er Koron in seinen anstehenden Plan ein. Selbst, wenn das Tier ihm nicht antwortete, so tat es ihm gut, sich auf etwas anderes zu konzentrieren als auf diese Akira-Misere. Koron wurde auf dem Boden abgesetzt und Taka kramte alles zusammen, was er für einen größeren Einkauf benötigte. Um seinen Hals wickelte er einen dicken Schal. Gerade fror er schlimmer als im tiefsten Winter. Mit Koron an der Leine fuhr er mit dem Fahrstuhl nach unten und ignorierte verbissen sein Abbild in der spiegelnden Rückwand des Aufzugs. Er sah aus wie ein neureicher Snob mit seinem Designerhündchen an der Leine und einer riesigen Sonnenbrille auf der Nase. Als wolle er nicht erkannt werden. Doch im Grunde wollte er nur seine verheulten Augen verstecken. Da war es ihm egal, dass er die Sonnenbrille des Nachts trug. Was sein musste, musste eben sein. Kaum draußen, spannte sich die Leine und Koron flitzte zur nächsten Straßenlaterne. Die war entsprechend ‚seine‘. Anscheinend war es höchste Zeit gewesen. Takanori war dankbar, dass nicht sein Teppich vorm Bett hatte dran glauben müssen. Wer wusste schon, wie lange Akira sich um diesen Hund kümmerte oder wie es um seine Erziehung bestellt war. Allerdings wäre es gut zu wissen, ob er stubenrein wär. Trotzdem würde er einen Teufel tun und Akira danach fragen. Jetzt war Akira sowieso nur Nebensache, total unwichtig. Jetzt zählten ausschließlich Koron und dessen Bedürfnisse! ~*~ „Ich hab dich lange schon nicht mehr rauchen gesehen!“, durchdrang Kouyous Stimme die Stille in Akiras ehemaligem Kinderzimmer, in dem nur ein kleines Nachtlicht brannte. Akira blieb regungslos am geöffneten Fenster stehen und zog an seinem Glimmstängel. Dabei hörte er das Knistern des verbrennenden Papiers. „Och, komm schon, Aki-chan! Der Abend mit deinen Eltern war doch ganz nett!“, versuchte es das Model noch einmal, seinen langjährigen Freund in ein Gespräch zu verwickeln. „Hab dich lang schon nicht mehr so verlogen gesehen wie heute Abend!“, erwiderte der Braunhaarige nun doch und schnaubte so sehr, dass der Rauch durch seine Nasenlöcher nach draußen gepresst wurde. Absichtlich wählte er eine ähnliche Wortwahl wie der andere. „Bitte?“, entrüstete sich Kouyou sofort und stellte sein Tun ein. Anstatt sein Handtuch zu falten, welches er vor ein paar Minuten noch im Badezimmer genutzt hatte, knüllte er es auf seinem Schoß zusammen, obwohl es feucht war. „Tu nicht so scheinheilig, Kouyou! Du weißt genau, was ich meine.“ Akira drehte sich um, lehnte sich mit seinem Hintern an die kleine Fensterbank. Mit dem Blick fixierte er seinen langjährigen Freund, der wie ein begossener Pudel auf seinem Bett Platz genommen hatte. Doch dieser scheinheilige Anblick vermochte es nicht, seine Laune zu bessern. „Du und deine kleine, heile Welt, die du allen vorspielst. Allen und jedem! Meinst du, auch nur eine klar denkende Person nimmt dir ab, dass alles Friede, Freude, Eierkuchen ist? Mag sein, dass du mittlerweile ein gefragtes Model bist oder Schauspielaufträge an Land ziehst, aber bei dir ist alles nicht so rosig, wie du es gern hättest. Du weißt gar nicht mehr, wie es ist, ehrlich zu sein. Allen willst du immer nur von den tollen Dingen erzählen. Sachen, die vorzeigbar sind. Es hängt mir so zum Hals heraus, Takashima!“ „Das ist so, wenn man in der Öffentlichkeit steht!“, prallten die Worte jedoch an Kouyou ab. „Man lässt andere nur das wissen, was sie wissen dürfen! Oder meinst du, ich will, dass sie sich das Maul über mich zerreißen? Piss‘ mir nicht ans Bein, nur weil du wegen Taka sauer bist!“, spielte das Model den Ball zurück und beförderte sein feuchtes Handtuch in Richtung seines Koffers, der aufgeklappt auf dem Fußboden neben dem Bett einen Platz gefunden hatte. „Wärst du nicht aufgetaucht, wäre der Abend anders verlaufen! Und Taka wäre jetzt nicht stinksauer auf mich!“, spie Akira die Worte nur so aus. Er war sauer und auf Krawall gebürstet. Kouyou bot gerade das richtige Ventil für seine schlechte Laune. „Vielleicht wäre er heute nicht sauer gewesen, aber dann vielleicht morgen oder an dem Tag, an dem er selbst herausgefunden hätte, wer du wirklich bist!“ Kouyou hielt den feindseligen Blick seines Freundes stand, der seinen abwandte und anschließend seine Zigarette schnaubend ausdrückte, da er am Filter angelangt war. „Vielleicht! Ich werde es nicht mehr erfahren, weil DU mir den schwarzen Peter zugeschoben hast!“ Akira ballte seine Hand zu einer Faust und merkte, wie kalt seine Finger waren. Daher entschied er sich, das Fenster zu schließen, selbst wenn seine Nerven noch eine zweite und eine dritte Zigarette vertragen hätten. In ihm herrschte ein tosender Sturm und er schaffte es nicht, sich zu beruhigen. „Werd nicht unfair, Akira. Ich habe mit der Sache wohl noch am wenigsten zu tun!“, erwiderte das Model gleichgültig. Er zog einen Haargummi von seinem Handgelenk und klemmte ihn sich zwischen seine vollen Lippen. Anschließend begann er, seine langen Haare zu einem Zopf zu flechten. Alles unter Akiras stechendem Blick, der nach wie vor auf ihm lag. „Der Plan war vielleicht nicht ausgereift, aber Taka vor den Kopf zu stoßen war nicht geplant. Das ist einfach nur Scheiße!“, räumte der Ältere ein. Mal davon abgesehen, dass sich ihre Beziehung zueinander eh unkontrolliert entwickelt hatte. In der ursprünglichen Agenda stand definitiv nicht drin, mit ihm zu schlafen oder in seine Wohnung einzubrechen. Andererseits hatte er auch nie geplant, Taka ein Haustier zu kaufen. Das waren viel zu viele Kurzschlusshandlungen. Klar, dass man die nur schwer unter einen Hut brachte oder sie zu einem gut funktionierenden Plan formen konnte. „Ist es!“, stimmte Kouyou zu und band seine Haare zusammen. „Aber deine Chancen mit einem blauen Auge aus der Nummer herauszukommen, waren von Anfang an nicht gegeben. Du hast die Entscheidung vor fünf Jahren getroffen und das hättest du bis an dein Lebensende durchziehen sollen. Wir haben darüber mehr als nur einmal gesprochen. Aber nein, du musst ja wieder ein neues Kapitel von ‚Akiras Soloeskapaden‘ schreiben! Lass‘ Taka einfach in Ruhe und Haken dran!“, gab der großgewachsene Japaner seine Meinung kund und stand vom Bett auf, um sich neben seinen Koffer zu hocken. Aus diesem fischte er eine kleine Dose mit Creme, die er anschließend großzügig in seinem Gesicht verteilte, dabei die Ruhe in Person war, während es in Akira nach wie vor brodelte. „Du verstehst das nicht!“, setzte Akira zu einer erneuten Diskussion an. „Einfach einen Haken dran geht nicht! Es geht hier nicht um irgendwen oder irgendwelche Eskapaden! Ich vermisste Taka und ich hätte damals nicht so gehen dürfen. Nicht auf diese Art! Es war blöd ihn nicht einzuweihen!“ „Das fällt dir früh ein!“, spottete das Model. „Aber es war dein Wunsch es so zu machen und ihm nichts zu erzählen. Und nun glaubst du, dass du Jahre später herkommen kannst und alles ist wie damals? Als wäre nichts gewesen? No way, Akira!“ „Es war ein Fehler! Das weiß ich doch selbst!“ „No regrets! Deine Entscheidung! ‚Entweder – oder‘. Es funktioniert nicht, wie du dir das jetzt vorstellst. Es gibt kein Zurück, so wie du es dir wünschst. Also, schminke dir das endlich ab. Wir sind in keinem dämlichen Anime! Pack‘ morgen deine Sachen und wir fliegen zurück in die Staaten.“ „Nein!“ „Oh, doch!“, gab Kouyou zischend zurück und beendete seine Abendroutine, indem er sich eine kühlende Lotion aus einer Tube unter die Augen auftrug. „Vergiss es! Zwischen Taka und mir gibt es noch viele Dinge zu klären und ehe das nicht bereinigt ist, gehe ich ganz sicher nicht zurück. Aber du kannst gern fliegen! Ich bin der Letzte, der dich aufhält!“, stellte es Akira dem anderen frei sich wieder zu verpissen. Sein ganzer Körper war noch immer angespannt und rastlos. „Ich bin nur wegen dir und deinen Hirngespinsten hier! Ich lass‘ bestimmt nicht zu, dass du alles nur noch schlimmer machst!“ „Oh, glaub mir! Ich mache es schlimmer, wenn du dich nicht endlich aus dieser Sache raushältst! Ein paar Reporter wollen sicherlich private Details über dich hören, wenn du nicht die Füße stillhältst!“, spielte der Kleinere seinen Joker aus. „Das wagst du nicht!“, empörte sich das Model und verengte seine Augen zu Schlitzen. „Und wie ich es wage! Mir reicht es! Ich hab die Schnauze voll von dir und deinem selbstsüchtigen Verhalten. Yuu hilft mir wenigstens, ganz im Gegensatz zu dir!“ „Yuu!“ Kouyou schnaubte entnervt. „Wo hilft dir der tolle Yuu bitte? Wer weiß, was der sich für Vorteile davon erhofft! Der kennt Taka nicht einmal und weiß gar nichts über euch. Aber ist doch super, wenn er ‚hilft‘!“ Kouyou deutete das letzte Wort in Anführungszeichen in der Luft an. Er konnte sich bildlich vorstellen, wie die Hilfe des anderen aussah. Aber damit wollte er sich nicht beschäftigen. „Ich geh‘ jetzt schlafen und das solltest du auch tun! Vielleicht bist du morgen wieder normal?“, wurde Kouyou etwas ausfällig und krabbelte unter die Decke. Demonstrativ drehte er Akira den Rücken zu. Das Gespräch war aus seiner Sicht vorerst beendet, auch, wenn er nach wie vor die missbilligenden Blicke in seinem Nacken spüren konnte. Doch anders als erwartet schien Akira es für heute gut sein zu lassen. Bis auf lautstarkes Atmen, welches einem Schnauben gleich kam, konnte man von ihm nichts mehr hören. Wenn er noch einen Kampf austrug, dann im Inneren. Eigentlich war Akira ein friedliebender Mensch und Streit legte sich bei ihm immer direkt auf den Magen. Daher war es nicht verwunderlich, dass dieser ihm Schmerzen verursachte. Augenscheinlich litt er nicht nur wegen des Streites mit Taka, sondern auch, weil einer seiner besten Freunde ihm bei dieser Sache in den Rücken gefallen war. Kouyou hatte zweifelsohne Stellung bezogen. In Akira keimten Zweifel auf, Szenarien, die er bereits mehr als nur einmal durchgegangen war. Wann wusste man, dass man eine falsche Entscheidung getroffen hatte? Wenn die Konsequenzen unerträglich wurden? Er konnte sich diese Frage nicht ehrlich beantworten, sagte sich, dass es sinnlos wäre, darüber nachzudenken. Geschehen war geschehen. Etwas, das passiert war, konnte man nicht rückgängig machen, egal, wie sehr man es bereute. Danach galt es nur, den Schaden zu begrenzen. Aber was, wenn der Schaden so groß war, dass man ihn nicht mehr begrenzen konnte, weil das Unheil seinen Lauf genommen hatte? Wieder einmal zermarterte er sich den Kopf darüber, was gewesen wäre, wären die Dinge zu jener Zeit anders abgelaufen? Aber all das lag nicht in seiner Hand. War es wirklich so vermessen von ihm, sich nach einem glücklichen Ende zu sehnen? Würde er sich verzeihen können, wäre er an Takanoris Stelle? Unweigerlich erinnerte er sich zurück an damals. Der salzige Geschmack des Meerwassers in seinem Mund, auf seinen Lippen. Um ihn herum der sterile Geruch von Desinfektionsmittel, von Plastik und Gummi. Die unbequeme Liege, die an seinem nackten Rücken klebte. Das stetige Ruckeln, sodass er das Gefühl hatte, ihm wurde schlecht. Die Unebenheiten der Straße, die er gespürt hatte, als sie mit dem Krankenwagen durch die Straßen jagten. Der Lärm der Sirene, der plötzlich verstummte. Seine Orientierung war komplett gestört. Er hätte nicht einmal sagen können, in welche Richtung sie gefahren waren oder wie lange die Fahrt gedauert hatte, während sie ihn abtransportierten. Plötzlich wurde der Wagen langsamer, es wurde dunkler. In einer Tiefgarage hatten sie Halt gemacht. Einer der vermeintlichen Sanitäter hatte ihn unwirsch am Oberarm gepackt, ihn von der Liege gezogen und aus dem Wagen geschubst. Zwei grimmig dreinblickende Kerle in schwarzen Anzügen, einer mit Sonnenbrille, hatten ihn in Empfang genommen. Er war keine zwei Schritte weiter gestolpert und sie verfrachteten ihn in einen abgedunkelten, schwarzen Van. Er fing sich mit dem Knie auf der Rückbank ab, setzte sich auf seine vier Buchstaben. Noch ehe er sich orientieren konnte, waren die beiden Kerle eingestiegen und der Fahrer düste los, raus aus der Tiefgarage, zurück in den Dschungel der Großstadt. „Umziehen!“, spie ihm der Kerl entgegen, der die zwei Sitzreihen des Vans mit ihm teilte. Auffällig war, dass seine Haut im Gesicht von Narben übersät war, doch Akira wollte nicht starren. Der Mann mit Sonnenbrille war vorn auf dem Beifahrersitz eingestiegen. Auch der Fahrer trug eine schwarze Sonnenbrille, doch darüber sollte er sich bestenfalls keine Gedanken machen. Er versuchte, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Das war ferner der Moment, in dem Akira die schwarze Tasche auffiel, die neben ihm am Boden des Vans stand. Wohl fühlte sich Akira in der Gegenwart der drei Hünen nicht. Er konnte Teile von Tattoos am Nacken des Fahrers ausmachen und auch der Mann ihm schräg gegenüber wies Verzierungen an seinen Händen auf. Da er den Unmut der Männer nicht auf sich ziehen wollte, zog Akira die schwarze Tasche neben sich auf den Sitz und öffnete sie. Bis oben lag ein Handtuch, welches er sofort herauszog und es sich um die Schultern legte. Mittlerweile war er zwar zum Großteil getrocknet, aber er fror und seine blonden Haare waren nach wie vor feucht. Auch das Gefühl des harten Gummis unter seinen nackten Fußsohlen missfiel ihm. Es war erstrebenswert, seine Situation zu ändern. Daher durchforstete er den weiteren Inhalt der Tasche. Als Nächstes sah er Unterwäsche. Kurzzeitig schämte er sich bei dem Gedanken, sich hier vor einem Fremden auszuziehen, aber dann kam ihm der Gedanke lächerlich vor. Immerhin spielten sie gerade seinen Tod vor. Er würde weder seine Familie, noch seine Freunde oder diesen Mann ihm gegenüber wiedersehen. Warum sollte er sich also Gedanken über so etwas Banales machen? Er zog sich die Shorts aus, die er für das Shooting angezogen hatte, und ließ sie im Fußraum liegen. Nur grob rubbelte er sich mit dem Handtuch ab, ehe er in die schwarzen Boxershorts schlüpfte. Dennoch versuchte er den anderen Mann weitestgehend zu ignorieren. Auch die restlichen Sachen, die sich in der Tasche befanden, zog er sich nach und nach über. Darunter eine schwarze Jeans, Socken, ein himmelblaues Shirt, eine schwarze Sweatjacke und ein Cappy einer amerikanischen Baseballmannschaft. Die dunkelgrüne Jacke mit den hellbraunen Fellkragenbesatz sowie den dunkelgrauen Schal ließ er noch neben sich liegen. „Schuhe“, merkte der Mann ihm gegenüber mit dunkler Stimme an und Akira sah nach unten, erblickte seine Biker Boots. Diese konnte er, anders als die anderen Sachen, als sein Eigentum identifizieren. Also schlüpfte er in die schwarzen Schuhe und fühlte sich stückweise erleichtert. Alles hier fühlte sich wie ein surreales Schauspiel an, aber der Anblick seiner Boots beruhigte ihn. Er war am richtigen Ort und vermutlich verlief alles nach Plan. Einem Plan, den er selbst nicht kannte. Ein Blick nach draußen verriet ihm, dass sie auf einer Schnellstraße waren. Nur Schilder konnte er keine im Vorbeifahren lesen. Ein weiterer Versuch dies zu tun wurde durch ein Räuspern des Mannes unterbunden, der ihm andeutete, die Tasche weiter zu durchsuchen. Also warf er wiederholend einen Blick in diese. Es dauerte nicht lange und er fand am Boden der Tasche eine dicke schwarze Ledermappe. Ohne zu zögern, öffnete er den Reißverschluss und erblickte ein Bündel Dokumente, fein säuberlich sortiert. Auf diesem befanden sich noch ein paar andere Dinge. Sofort fiel ihm der Pass auf, der bis oben lag. „Suzuki… Akira…“, las er leise vor und starrte den Jungen auf dem Foto an. Das war er, ein älteres Foto. Sein Geburtsdatum war verändert worden. Zumindest das Jahr. Er war nun zwei Jahre älter. Die Adresse war eine andere als seine. Ansonsten war alles wie immer. Mit zittrigen Fingern öffnete er den Reisepass, der darunter lag. Auch hier starrte ihn das Foto an, auch hier die geänderten Angaben zu seiner Person. Beim Durchblättern konnte er sogar Stempel sehen, von Reisen, die er offenbar bereits unternommen haben sollte. Details. Klar, eine Lügengeschichte lebte von Details. Er nickte sich abwesend selbst zu, versuchte sich zu erklären, was er vor seinen Augen sah. „Sie benötigen für die Einreise die Unterlagen in der roten Steckmappe. Reisedokumente inkl. der Flugtickets und Sitzplatzreservierungen. Sie sind bereits eingecheckt. Es sollte keine Probleme geben. Alle Unterlagen, die nach der Landung abgegeben werden müssen, sind lückenlos ausgefüllt. An Bord ist eine Japanerin mit Namen Harima Mito. Sie wird sie in New York ansprechen und sie die nächsten Tage begleiten.“ „New York?“, fragte Akira entgeistert, was dem Mann in Schwarz nur ein Nicken entlockte. Akira aber war irritiert. Es war nicht das erste Mal, dass er eine Reise nach Amerika antrat, aber sein Ziel war sonst ein anderes. Trotzdem zog er die Bordkarte aus der roten Mappe heraus und konnte zweifelsfrei sein Ziel lesen: JFK. Direktflug. „Okay“, murmelte er. Diese neue Info musste er sacken lassen. Er wollte nicht wissen, was sie ihm angedichtet hatten. Trotzdem nahm er die Geldbörse, die sich in der Mappe befand, aus dieser heraus und öffnete sie. Kurz checkte er den Inhalt, stutzte. Es sah so aus, als hätte er Einkäufe getätigt. Sogar zwei Kassenzettel waren vorhanden, die auf Besorgungen aus einer Buchhandlung und einem Supermarkt hinwiesen. Er hatte eine überschaubare Summe an Yen-Scheinen in dem einen Fach, im anderen mehrere hundert Dollar. Außerdem befanden sich mehrere Karten in der Geldbörse. Eine identifizierte er als Kreditkarte, eine andere war eine Karte von einer amerikanischen Bank. Anscheinend war alles durchgeplant bis ins kleinste Detail und er musste nur noch mitspielen. Mit einem tiefen Seufzen steckte er seine neue ID-Card zu den restlichen Karten und klappte die Geldbörse zu. „Halten sie sich an Harima-san. Sie wird sie in den nächsten Tagen auf alles vorbereiten.“ Wieder dieser Name und wieder blieb Akira nichts übrig, als zu nicken. Das war also das Ende von Shiino Akira und am anderen Ende der Welt wartete das Leben von Suzuki Akira auf ihn. „Wir liegen gut in der Zeit. 2 Stunden bis zum Boarding. Begeben Sie sich direkt zum Gate. Ihre Koffer sind bereits aufgegeben. Ihr Handgepäck befindet sich hinter ihnen. Falls sie noch umpacken wollen, dann jetzt!“ Was hatte er auch erwartet? Dass man ihn mit Samtpfoten anfasste? Oder einen liebevollen Abschied plante? Eigentlich nicht, aber dieser Ausdruck von dem Kerl kam ihm vor, als war er auf dem Weg zu einem Umerziehungslager für schwer erziehbare Jugendliche. Trotzdem traute er sich kaum, etwas zu sagen. Unsicher kniete sich Akira auf die Sitzbank und warf einen Blick dahinter. Dort stand ein schwarzer Rucksack zusammen mit einer Laptoptasche. Er langte hinter den Sitz, um seinen Rucksack nach vorn zu ziehen. Das Gleiche machte er mit der Tasche. Routiniert steckte er sich die Geldbörse in die Jackentasche. Den Reisepass verstaute er in der Außentasche der Laptoptasche und dann fiel ihm ein weißer Zettel auf, der zusammengefaltet in der Ledermappe lag. Er nahm ihn und las darauf fein säuberlich notierte Wörter: „Du musst stark sein!“. Die Schrift war ohne Zweifel die seiner Mutter. Ein beklemmendes Gefühl kroch in ihm nach oben und er wollte diesem kurzzeitig nachgeben, atmete tief durch, um die aufkeimenden Tränen zu unterdrücken. Hecktisch steckte er den Zettel zurück in die Ledermappe, ganz nach unten. Jetzt war nicht die Zeit für Gefühlsduseleien. Er zog den Reißverschluss wieder zu und packte die Mappe auf den Laptop, der sich in der Tasche befand. Alles wurde sicher verstaut. Er würde auf dem Flug noch genügend Zeit haben, um den Inhalt der Ledermappe zu durchforsten. Alles Wichtige schien er in sein Handgepäck gepackt zu haben, also band sich Akira den Schal locker um und warf sich in die Jacke, die für ihn bereitgelegt worden war. Trotzdem fühlte es sich an, als ob etwas fehlte. „Uhm, Handy?“, fragte er nach. Seins lag schließlich noch in der Maske vom Set bei seinen privaten Sachen, die er heute mit zum Strand genommen hatte. Aber vermutlich würde er das nicht wiederbekommen. „Später!“, wurde Akira gemaßregelt. Seine Unzufriedenheit über diese Antwort konnte er nur schwer verbergen. Er wusste nicht, wohin es ging, was sein Ziel war und man beraubte ihm seiner einzigen Kommunikationsmöglichkeit. Das waren tolle Aussichten. Andererseits war das ein notwendiges Übel. Wen sollte er auch anrufen, wenn er tot war? Doch eigentlich wollte er sich mit diesem Szenario nicht auseinandersetzen. „Wo werde ich Harima-san treffen?“, erkundigte er sich bei dem Mann ihm gegenüber und versuchte seine Gedanken zu fixieren. Er konnte es sich nicht leisten sich irgendwelchen Tagträumen hinzugeben. Gerade musste er mit den aktuellen Gegebenheiten arbeiten und sich auf seine Flucht ins Ungewisse konzentrieren. „Sie wird nach der Landung auf sie zukommen. Seien Sie sicher, dass sie auch während des Fluges ein Auge auf Sie hat. Wir gehen kein Risiko ein.“ „Okay.“ Anscheinend gehörte es zum Plan, ihn nicht einzuweihen was Sache war. New York. Danach vielleicht Hawaii oder Washington? Akira wusste, dass er keinen Rückzieher mehr machen konnte, trotzdem hatte er sich den Start in ein neues Leben anders vorgestellt – mit mehr Mitspracherecht zum Beispiel. „Haneda – JFK, krieg ich hin!“, meinte er trotz allem optimistisch. Kurz darauf kam der Van zum Stehen. Ein Blick nach draußen verriet ihm, dass sie unmittelbar vor einem Eingang des Flughafengebäudes gehalten hatten. Mehr musste man ihm nicht sagen. Die Aufforderung war selbsterklärend. Akira schnappte sich seinen Rucksack, schulterte diesen und die Laptoptasche nahm er in die Hand. Auch, wenn es womöglich fehl am Platz war, schenkte er dem Mann ein freundliches Lächeln, ehe er sich das Cappy noch ein Stück mehr ins Gesicht zog. „Richten Sie meinen Eltern aus, dass sie sich keine Sorgen machen brauchen. Ich schaff das schon! Und danke für alles!“ Mit diesen Worten sprang der blonde Junge aus dem schwarzen Van und trat seinen Weg in das Flughafengebäude an. Die automatische Tür schloss sich nahezu geräuschlos hinter ihm und er ging festen Schrittes auf die Anzeigetafel zu. Seinen Flug konnte er problemlos unter den angezeigten Flugdaten ausmachen. Geleitet von dieser neuen Information begab sich Akira zum Gate, bereit, ein Leben hinter sich zu lassen, um ein neues Leben zu beginnen. 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