Discours tragique sur le bonheur von Mad Hatter-sama ================================================================================ Kapitel 1: ----------- Da war es wieder. Das kalte Wasser, das Eissplitter in meine Brust zu treiben schien. Die Dunkelheit und die Stille, die mich umgaben. Der Sog, der mich unerbittlich nach unten zog. Und irgendwo in meinem Kopf dieses kalte, höhnische Gelächter. Die Muskeln in meinen Armen und Beinen brannten von dem Versuch, mich wieder an die Oberfläche zu strampeln und die Kälte lähmte meine Bewegungen. Ich versuchte zu schreien und spürte, wie das Wasser meinen Mund füllte. Kein Sauerstoff. Mein Inneres verkrampfte sich schmerzhaft. Dann konnte ich den Reflex nicht mehr unterdrücken und atmete ein. Wasser strömte in meine Lungen und ich musste husten. Ein seltsam watteartiges Gefühl breitete sich in meinem Kopf aus, meine Bemühungen wurden unkoordinierter, langsamer und hörten schließlich ganz auf. Der Teil von mir, der noch klar denken konnte, dachte: das ist es also. Ich werde sterben. Und ich sah ein Licht, ein wunderbares Licht - Und fuhr schweißgebadet hoch. Zitternd kauerte ich mich auf meinem Kopfkissen zusammen und atmete tief durch, bis die Bilder allmählich vor meinem inneren Auge verblassten. Bisher hatte es selten eine Woche gegeben, in der mich mein Albtraum nicht wieder eingeholt hatte. Die Zeit in der Klinik hatte ihm nichts von seiner Intensität genommen, sondern sie eher noch verstärkt. Und wenn ich jemals zugeben würde, dass sich nichts an meinem Zustand verändert hatte, ich wäre schneller wieder dort, als ich ‘Es gibt sechs Sinne‘ sagen konnte. Damals, vor fast sieben Jahren, erwarb ich mir eine der menschlichen Grundkompetenzen: Ich lernte zu lügen. Es gibt eine Grenze dessen, was man ertragen kann. Es gibt auch eine Grenze dessen, was man den Leuten zumuten kann, die man liebt. Schließlich durfte ich mit meinen Eltern nach Hause und in ein normales Leben zurück. Sie durften vergessen. Noch ziemlich wackelig auf den Beinen stand ich auf und tappte fröstelnd zum Fenster hinüber. Dort lehnte ich die Stirn an die kühle Scheibe und starrte auf die Straßenlaterne draußen direkt vor dem Haus, die orangefarbenes Licht in mein Zimmer warf. Da waren sie. Die gewöhnlichen Vorstadtstraßengrundstücke in der gewöhnlichen Vorstadtstraße in der gewöhnlichen Vorstadt, bewohnt von noch viel gewöhnlicheren Leuten, die morgens aufstanden, Bentos machten und ihre zwei Kinder in die Schule schickten; Auto, Job, einmal Urlaub um Jahr. Man lebte ruhig hier und träumte bescheiden. Ich wusste, würde ich das Fenster öffnen, würde ich den salzigen Geruch des Meeres riechen, und, wenn ich ganz genau hinhörte, sogar das Wasser gegen die Klippen donnern hören. Mein kleiner Bruder hatte Asthma, nur deshalb waren wir hergezogen, der Arzt meinte, Seeluft sei gut für ihn. Mein Vater hatte einen besseren Job gefunden und meine Mutter drei neue Initiativen, für die sie sich engagieren konnte. Und ich? Ich hatte ein größeres Zimmer und endlich einen eigenen Fernseher. Sogar eine neue Stereoanlage und auch eine Erhöhung meines Taschengelds. Alles nur, damit ich kein Gesicht zog. Ich tat mein Bestes, doch dummerweise war mein Bauchgefühl eines dieser Dinge, die mit Geld allein nicht zu beruhigen sind. Ich musste nur einen Blick nach draußen und in meine nahe Zukunft werfen um zu wissen, dass mich diese Stadt und alle ihre Bewohner abgrundtief hassen würden. Mit einem Blick auf die Uhr stellte ich fest, dass es bereits kurz vor sechs war. In etwas mehr als einer halben Stunde würde ich aufstehen müssen, keine Chance also auf nochmaligen Tiefschlaf. Ich kniff die Augen zusammen und konzentrierte mich auf die Spiegelung meines Zimmers und meiner selbst in der Scheibe. Mein Fenster-Ich schaute unglücklich zurück, den Pony immer noch schweißnass in die Stirn geklatscht und seine Augenringe sprachen ganze Bände über das Ausmaß seines Schlafmangels. Vielleicht log das unvorteilhafte Licht von draußen und Fenster waren nun wirklich nicht die vertrauenswürdigsten Spiegel, dachte ich noch und dann sofort: Wem machen wir hier was vor. Gott, ich würde im Badezimmer immer noch genauso beschissen aussehen. Ich stöhnte. Da konnte ich ja gleich an meinem ersten Schultag einen richtig guten Eindruck hinterlassen. Aus dem Zimmer meiner Eltern auf der anderen Seite des Flurs konnte ich das Piepsen des Weckers hören. Sechs Uhr. Mit einem leisen Seufzer löste ich meinen Kopf von seiner sehr angenehmen Position am Fenster. Es gab ein leises Geräusch, ähnlich dem, wenn man Scheiblettenkäse öffnet. Dann würde ich eben duschen gehen und dann den Versuch unternehmen, diese Augenringe zu überschminken. Darin hatte ich Übung. Ein kalter Schauer lief mir über den Nacken, als hätte mir jemand ins Genick gepustet, und als ich mich umdrehte, hatte ich für einen kurzen Moment den Eindruck, die Tür stünde offen. Doch als ich mit dem Fenster im Rücken ins Halbdunkel lugte, war das Zimmer leer und die Tür geschlossen. Ich seufzte noch einmal, ging zu dem Umzugskarton hinüber, der am nächsten an meinem Schrank stand und begab mich darin auf die Suche nach der hier angesagten Schuluniform, entschlossen, nicht weiter über den Vorfall nachzudenken. Irgendetwas (oder aber, und das hätte jeden anderen vermutlich gegruselt, irgendjemand) befand sich mit meiner Familie in diesem Haus. Das hatte ich schon beim Einzug gemerkt. Aber wem sollte ich davon erzählen? - Dreiviertel acht, gewöhnliche Straße, gewöhnliche Stadt. Kamui Gakuto ist unterwegs. Ja, da war ich, der ultimative Oberchecker auf dem Weg zu meinen neuen Untertanen. Ich würde es ihnen allen zeigen; sie würden vor mir knien, denn ich war ein Sexgott. Ich sah geil aus und ich hatte es voll drauf. Oh yeah, Baby. Bring it. Mein Psychiater hatte immer wieder betont, wie wichtig es sei, die Dinge positiv zu betrachten. Ein wenig gesunde Selbstüberschätzung, so die Maxime, könne nie schaden und so hatte ich vor dem Spiegel im Flur noch ein paar Superheldenposen durchgezogen (frei nach dem Motto: Fake it, ‘til you make it) und war jetzt bemüht, nur das beste aller Lichter auf meine Wenigkeit herableuchten zu lassen. Intelligent. Individuell. Imposant. Andere positiv konnotierte Wörter mit I. Mit jeder verstreichenden Minute wurde es allerdings schwieriger, die Realität zu ignorieren, die mit meinen I-Wörtern so gar nichts zu tun haben wollte. Anzunehmen, dass sie darüber schmunzelte, war noch eine wohlwollende Annahme: Nein, die Realität musste lauthals lachend auf dem Boden liegen und mit ihren Fäustchen trommeln über meine verzerrte Wahrnehmung… oder den kläglichen Versuch einer solchen. Ich hatte den Tipp übrigens schon immer scheiße gefunden. Ich war eher der neurotische Typ und der festen Überzeugung, dass man auf alle Eventualitäten vorbereitet sein musste. Der erste Schultag war voller Risiken. Und wie sollte ich mich darauf einstellen, wenn ich schon mit vollkommen falschen Annahmen an die Sache ranging? Zum Beispiel die, ich wäre begabt, betörend und besonders? Nun ja. Zumindest letzteres mochte zutreffen. Bisher hatte es allerdings nie den Anschein gehabt, als wäre diese Eigenschaft ein Grund zum Feiern. Als ich der Schule langsam näher kam, änderte sich die Umgebung. Erst waren es kleine Dinge – ein Faltenrock hier, eine Krawatte in den Schulfarben dort – dann das zunehmende Gemurmel, mehr Umhängetaschen, eine Buchhandlung spezialisiert auf Schulbücher, und schließlich bog ich auf den Schulhof ein und blieb erst einmal stehen. Das waren ziemlich viele Menschen. Ok. Gut. Du kannst das. Haare glätten. Krawatte richten. Und wieder einen Schritt zurück und um die Ecke machen. Eine Gruppe von Mädchen trippelte an mir vorbei und erst, als sie verschwunden waren, atmete ich einen zittrigen Schwall Luft aus, von dem ich nicht gemerkt hatte, dass ich ihn angehalten hatte. Das wäre jetzt doch ein guter Zeitpunkt für ein paar Fakten. Fakt Eins: Ich sollte mich jetzt wirklich beeilen, sonst kam ich zu spät. Meine Füße waren allerdings wie festzementiert und bewegten sich keinen Millimeter. Fakt Zwei: Mein Augenmakeup hatte vor der heutigen Aufgabe kapituliert. Man sah, dass ich mich geschminkt hatte und gleichzeitig immer noch deutlich, dass ich absolut übernächtigt war. Ja, ist denn das nicht entzückend. Fakt Drei: Schuluniformen betonen nicht gerade meine Schokoladenseite. Wobei ich zu dieser Behauptung jetzt erstmal irgendwas an mir finden müsste, das man als solche bezeichnen könnte. Aber wenn ich eine hatte, dann kam sie hierin nicht zur Geltung. Fakt Vier, und er bringt uns zurück zu Fakt Eins: Es hatte soeben geläutet. Oh ja. Ich war im wahrsten Sinne des Wortes der Oberchecker. Ich liebte mein Leben. Oberchecker Gackt brauchte geschlagene zwei Minuten um sich dazu durchzuringen, einen der wichtig aussehenden älteren Schüler nach dem Weg zu fragen. 30 Sekunden bis zum Gong. Der ultimative King bewegt sich graziös zum Sekretariat. Drei Minuten nach Unterrichtsbeginn. Der King kennt den Weg zu seinem Klassenzimmer. Sieben Minuten nach dem Gong. Der King hat sich verlaufen. Neun Minuten nach dem Gong. Der King rennt den Gang auf und ab auf der Suche nach dem Raum. Zwölf Minuten nach dem Gong. King Gackt steht endlich vor der Tür, glättet die Haare, kaut noch einmal nervös an den Fingernägeln und klopft an. Meine Coolness war fast ungeheuerlich. Eine Frauenstimme forderte mich zum Eintreten auf. Schon seltsam, dass einen so ein einfaches Wort wie ‘Herein’ wünschen lassen konnte, auf die dunkle Seite des Mondes zu flüchten. Ich atmete tief durch und öffnete die Tür. Da saßen sie, alle, deren Namen ich noch nicht kannte und starrten die willkommene Ablenkung vom Unterricht an. Ein paar flüsterten sich etwas zu. Andere wirkten von uninteressiert bis zu Tode gelangweilt. Und ein paar kicherten. Das Objekt des Witzes war unschwer zu erraten. Ich konnte spüren, wie sich meine Wangen rosa färbten. Hab ich schon mal erwähnt, wie sehr ich mein Leben liebe? „Ich, äh…“ „Gakuto Kamui?“ „Ähm ja. Entschuldigung. Ich hab den Raum nicht gefunden…“ „Macht nichts. Aber sorgen Sie bitte dafür, dass Sie in Zukunft pünktlich sind. Setzen Sie sich neben Hagino.“ Sie deutete auf einen Tisch in der dritten Reihe, an dem ein Junge mit Sidecut saß, dessen linke Haarhälfte bräunlich rot-orange gefärbt war und ihm tief ins Gesicht hing. Er schaute mich mit dem Arsch nicht an. Ich ging hinter, bemüht, nur auf meine Füße zu sehen, spürte die Blicke meiner neuen Klassenkameraden in meinem Nacken und setzte mich neben den Punk, nur um möglichst zu verschwinden. Mein neuer Banknachbar räumte wortlos seine Sachen ein Stück zur Seite. Na klasse. Es hatte den Anschein, er mochte mich schon jetzt nicht. Ich zog Heft, Stifte und schließlich den Stundenplan aus meiner Tasche, den man mir im Sekretariat nachgeworfen hatte. Mathe. Und bald schon lag das Interesse nicht mehr auf mir, worüber ich wirklich sehr glücklich war. Ich schrieb mit. Alle schrieben mit. Der Typ neben mir schrieb nicht mit. Um genau zu sein zeichnete er. Und das ziemlich gut. Als er merkte, dass ich ihn beobachtete, legte er seinen Arm davor. Die Message kam an. Ich schaute nicht mehr. Um die Zeit gut zu nutzen, beschloss ich, mir den Rest meiner Klasse anzusehen, solange sie noch so schön versammelt und anderweitig beschäftigt waren. Alle wirkten sie recht normal, zumindest das, was ich sehen konnte. Mich umzudrehen wagte ich nicht. Solange ich keine Aufmerksamkeit auf mich zog, pustete mir zumindest niemand Spucke-Papier-Kugeln in den Nacken. Oder rief mich an die Tafel. „Kamui?“ … ich hatte es ja heraufbeschwören müssen. Aber wenn es darum ging, anderen Leuten telekinetisch in die Fresse zu schlagen, dann versagte die Macht meiner Gedanken natürlich! Scheiße, dachte ich, während ich nach vorne tappte – dabei war ich gerade so froh gewesen, in der Masse unterzugehen! – und nahm das mir angebotene Kreidestück. Ich hatte doch nicht mal die Frage gehört. Ok Gackt. Zahlen. Viele davon. Come on, du bist gut, du bist schlau, du bist in Mathe absolut „- nicht auf unserem Niveau.“ Und da sage noch einer, positive Einstellung sei alles. Kinder, glaubt mir: Esoterik ist Bullshit. „Wir hatten das noch nicht…“ erklärte ich kleinlaut. So viel zu meinen vermeintlichen Mathekenntnissen. Es wurde wieder gekichert. „Oh, das ist aber nicht gut. Sie werden das nacharbeiten müssen.“ Nacharbeiten? Ich war in Mathe mies, seit es für gute Lösungen keine lachenden Sonnen mehr in mein Heft gegeben hatte. Sollte ich diese langen Jahre nacharbeiten? „Lady, wie stellen Sie sich das vor?“ – sagte ich natürlich nicht. Ich drehte mich wortlos um, um auf meinen Platz zurückzugehen und hatte zumindest einmal Gelegenheit, auch die hinteren Reihen zu begutachten. „Ukyou, kommen Sie mal an die Tafel, bitte.“ Ein sportlicher Junge mit überhüftlangen, etwas verfilzten Haaren, die eine Mischung aus rot, braun und schwarz waren und sich sicher nicht kämmen ließen, schlenderte nach vorne. Dort löste er die Riesengleichung – allerdings mit einiger Hilfestellung - und schlenderte wieder zurück. Mein Banknachbar schob einen Zettel an den Tischrand und der Langhaarige ließ ihn unauffällig mitgehen. Freunde also. Mich ignorierte Hagino noch immer. Mathe wurde abgelöst von Japanisch. In Japanisch war ich immer gut gewesen und ich machte mir keine allzu großen Sorgen. Die Klasse behandelte gerade Gedichte, und wir sollten als Hausaufgabe eines interpretieren und irgendwann in diesem Jahr eines schreiben und es der Klasse vortragen (auf dass meine Worte von Unwürdigen zerfetzt werden, dachte ich ein wenig bitter). Aber auch das machte mir letztlich keine nennenswerten Sorgen. Dann läutete es zu Pause. Und DAS machte mir WIRKLICH Sorgen. Ich hatte die Loserkarte gezogen. Ich war der Neue in der Ecke des Pausenhofes, der sich von allen angaffen lassen durfte. Mein Banknachbar und sein Kumpel waren beim Läuten hochgesprungen und hatten das Klassenzimmer fast fluchtartig verlassen, und ich schickte mich an, es ihnen gleich zu tun. Genau wie ich vorhergesehen hatte, starrten mir alle hinterher und das auf eine so aufdringliche Weise, dass ich mich schon fragte, ob ich etwas im Gesicht kleben hatte. Ich fand das äußerst störend, da ich viel zu sehr damit beschäftigt war herauszufinden, aus welcher Richtung ich gekommen war. Meine neue Schule war ein älterer Bau aus den siebziger Jahren. Gefühlte 342 Türen, 183 Gänge und mindestens 583 Treppen, die mich niemals dahin brachten, wo ich gerade hinwollte, schienen ihr Hauptbestandteil zu sein. Als ich nach fünf Minuten endlich wieder an die frische Luft gelangte, beschloss ich, mir einen sichtgeschützten Platz im Pausenhof zu suchen um den Blicken zu entgehen. Für eine so große Schule war der Neue eine ziemliche Attraktion. Und deswegen waren Kleinstädte so gefährlich. Es tat sich einfach nichts anderes. Und Manieren lernte man scheinbar auch keine. Wer war ich denn, der Gorilla im Zoo etwa? Ich umrundete das Schulhaus einmal, kam zu einer ruhigen Ecke, schaute um einen Säule und zog den Kopf genauso schnell wieder ein, wie ich ihn ausgestreckt hatte. Da hinten standen zwei Personen, denen ich nun weniger hatte begegnen wollen. Strategischer Rückzug war angesagt! Doch in diesem Moment hörte ich Schritte hinter mir. In seiner Betrachtung aufgeschreckt, schaltete mein Gehirn auf Fluchtmodus: ich warf einige panische Blicke um mich und schlug mich dann in die Büsche, die das Schulgebäude umgaben. Dann klinkte sich mein rationaler Hirnteil wieder ein und fragte mich (nicht ohne leisen Tadel), wieso ich jetzt hier in den Büschen hockte und mich von Ästen in den Hintern pieken lies. Ich hatte zweifellos das Recht, dort draußen herumzustehen. Ich schob ein paar Zweige zur Seite, gerade noch rechtzeitig, um ein stark geschminktes Mädchen mit hochgesteckten blauschwarzen Haaren vorbeilaufen zu sehen. Ach ja, stimmte. Ich wollte nicht von der Schulhofelite angemacht werden. Ich streckte den Kopf etwas weiter aus dem Geäst und glotzte ihr nach. Sie war schön, zweifellos, aber irgendwas an ihr kam mir seltsam vor. Ums Verrecken hätte ich aber nicht sagen können, was es war. Dann sah ich zu, dass ich den Kopf wieder zurück in die Blätter bekam, denn ein dritter Junge ging nur knapp an mir vorbei. Er trug eine Brille und wurde von der Aura eines gruseligen Puppenmachers umwabert. Mir stellten sich die Nackenhaare auf. Als ich mich wieder traute, meinen Hals auszufahren, hatten sich die vier bereits zusammengerottet und sich mit einem Handschlag begrüßt. Die Jungs zumindest. Na super, anscheinend kannte ich damit die Clique meines Banknachbarn. Und jetzt konnte ich auch noch ihre Privatgespräche mithören. Dabei wollte ich doch einfach nur mein Reisbällchen essen. (Mmh. Umeboshi.) „Na Közi, schon wieder nachsitzen?“ „Woher weißt du das jetzt schon wieder?“ „Ich weiß viele Dinge… und die meisten sind nicht schön.“ „Pff. Lehrers Liebling.“ Das Mädchen murmelte etwas halblaut. Koji (oder wie auch immer der hieß) und Filzhaar brachen in albernes Gekicher aus. Der Typ mit der Brille stand mit dem Rücken zu mir, aber ich konnte mir seinen wenig begeisterten Gesichtsausdruck gut vorstellen. „Haha Mana, lustig. Sagst ausgerechnet du. Meine Berechnungen haben übrigens ergeben, Noten verhalten sich indirekt proportional zur Länge des Rocks. Ist doch sicher interessant für dich.“ Ich hörte ein dumpfes Geräusch und ein „Au!“ und konnte sehen, wie sich der untote Streber das Schienbein hielt. Das Mädchen hatte die Arme verschränkt und murmelte wieder etwas. „Ach, Lappalie. Fünfmal ohne Hausaufgabe oder so was war es, oder Kami?“ Ich wagte einen Blick. Der Langhaarige schien nachzudenken. „Nein, ich glaube diesmal war es, weil du die Kreide nach Ayou geworfen hast.“ „War das nicht schon vorletzte Woche? Ich verlier so schnell den Überblick.“ Koji grinste. „Du planst jetzt wirklich den Rekord der meisten blauen Briefe, was?“, fragte der Zombie, der sich scheinbar von seinem schmerzenden Bein erholt hatte. „Nein, ich plane einen Rekord an den meisten Disziplinarausschüssen. Schon vier Tagungen auf mein Konto. Noch zwei und ich hab den Rekord des großen Takahashi gebrochen.“ „Wir könnten dich tatkräftig unterstützen.“ „Ach ja?“ „Na ja, wenn jemand durchsickern lassen würde, wer die Bühne am Schulfest sabotiert hat…“, meinte Kami, das Langhaar, und setzte sich im Schneidersitz auf den Boden. „…oder die Stinkbombe im Direktorat versteckt ...“, sagte der vampirartige Goth. „…“, sagte das Mädchen. Koji lachte gluckernd auf. „Ich hab noch nie den Mensafraß in die Luft gesprengt. Aber hervorragende Idee, danke Mana. Werd ich auf meine Liste setzen.“ Oh Nein Nein Nein. Ich hörte hier gerade Dinge, die ich nicht wissen sollte. Das würde mir noch wahnsinnige Schwierigkeiten machen, sollten die jemals rausfinden, dass ich hier im Gebüsch gehockt hatte. „Wieso häng ich noch mal mit euch rum?“ seufzte der Typ mit der Brille, den ich Heinz taufte, weil mir die blumigen Umschreibungen meines Hirns auf die Nerven zu gehen begannen. „Weil du uns seit Jahren kennst. Außerdem sind wir cool.“ "Semiüberzeugend." „Diss mich nicht auf Latein.“ Koji schlang seine Arme um das Mädchen und legte seinen Kopf auf ihrer Schult aber, in der eindeutigen Absicht, das Thema eindeutig zu wechseln. Oder so etwas in der Richtung. Er erinnerte an einen Straßenkater, der sich zum Hauskätzchen schleicht. „Und Mana, wie war dein Tag?“ Sie drehte den Kopf und flüsterte ihm etwas ins Ohr. „Ouh, armes Mana-Schnucki. Kann man deine Laune aufhellen?“ Falls dem so war, hörte ich die Antwort nicht. Was war denn los mit ihr? Vielleicht hatte sie es mit den Stimmbändern. Koji zog eine Schachtel Zigaretten aus der Tasche. Kami hielt ihm ein Feuerzeug hin. „Der Herr.“ „Zu aufmerksam.“ „Kenn dich lang genug um zu wissen, dass du keins hast.“ „Weil ich dich lang genug kenne um zu wissen, dass du mich lang genug kennst um zu wissen, dass ich kein habe weil du weißt das ich weiß, dass du weißt, dass ich keins habe weil ich weiß, dass-“ „Klappe“, stöhnte Kami und packte sein Feuerzeug wieder weg, während Koji genüsslich an seiner Kippe zog. Der Rauch veranlasste das Mädchen, lieber wieder die Nähe zu Heinz zu suchen, der sich etwas entfernt auf der Blumenbeeteinfassung niedergelassen hatte. Langsam aber sicher wurde mir kalt. Außerdem kam ich mir echt dämlich vor, wie ich da im Gebüsch hockte und mich nicht raus traute. Also schlich ich kurzerhand ein paar Schritte weiter durch die Büsche (ich fand drei Bälle - einen Tennisball, einen Tischtennisball und einen platten Fußball), schaute noch mal über die Schulter, ob sie auch ja nicht guckten (taten sie nicht) und huschte von dannen. Ich kann sehr schnell huschen. Auf der anderen Seite des Schulhofes hielt ich schließlich an und fühlte mich in etwa so, wie ich es mir nach einem Triathlon vorstellte. Nur dass die Leute bei einem Triathlon eine bessere Kondition hatten als ich. Seufzend packte ich mein Onigiri aus seiner Alufolie und setzte mich auf eine Treppe, mich im Inneren damit abfindend, doch der Angestarrte zu sein. Aber zumindest piekten mich keine Zweige mehr. Es läutete zur nächsten Stunde und King Gackt, dessen Selbstwertgefühl den Tag über schon sehr gelitten hatte, beschlich das leise Gefühl des Zweifels, ob er Koji und seinen Gesellen nicht vielleicht doch aufgefallen war. Sollte dem so gewesen sein, so zeigten sie es nicht, als ich wenige Meter hinter ihm und Langhaar zurück in mein Stockwerk trödelte. Es stellte sich heraus, dass wir eine Doppelstunde Englisch hatten. Ich war nicht unbedingt schlecht in Englisch. Womit ich aber gar nicht klar kam, war auf Kommando fremde Sprachen brabbeln zu müssen. Mein Hirn schaltete dann auf Alarm und mir fiel überhaupt nichts mehr ein. Also hing ich diese eineinhalb Stunden möglichst klein auf meinem Stuhl rum und versuchte, nur nicht aufzufallen. Und trotzdem kam ich natürlich dran. Nachdem ich fünfmal beim gleichen Wort gestolpert war, ließ die Lehrerin endlich jemand anderen lesen, dieser jemand war da mein Banknachbar. Zu meiner großen Erleichterung las er nicht nennenswert besser als ich. Dann ging auch diese schreckliche Stunde vorbei, in der mich die Lehrerin nach meinem ein-Wort-Debakel vollkommen ignoriert hatte. Sollte mir recht sein. Zum Pausenläuten sprangen wieder alle auf. Ich zockelte langsam hinterher. Als ich gerade am Treppenabsatz ein Stockwerk tiefer stand und mir überlegte, wo ich diese Pause verbringen konnte, schwebte eine Stimme aus einem offenen Klassenzimmer zu mir herüber. Sofort schossen mir sämtliche Szenen aus allen Typ-geht-in-die-Schule-und-hört-eine Frauenstimme-aus-einem-leeren-Klassenzimmer-Filmen, die ich je gesehen hatte durch den Kopf. Es waren nicht viele, aber mehr, als man vielleicht erwartet hätte. Was? Ich mochte ein wenig seltsam sein, aber ich war immer noch sechzehn und Single. Doch es war meine ach so geliebte Mathelehrerin. Und Frauen in der Menopause mochten ihre Vorzüge haben – ich fand das mit über 50 nicht mehr wirklich erotisch. Oder vielleicht eher ‘noch nicht‘. Fragt in zwanzig Jahren nochmal. „Kommen Sie doch bitte mal kurz zu mir.“ Das ‘kurze’ Gespräch dauerte fast die ganze Pause, was mich gehörig ärgerte, mich aber andererseits auch davor bewahrte, durch diese endlosen Flure zu wanken. Ergebnis der kleinen Unterhaltung war, dass ich mich nach ihrer Einschätzung in Mathematik auf dem Niveau der 8. Klasse bewegte. Danke. Das wusste ich schon. Neu war, dass ich mir am besten jemanden suchen sollte, der mir Nachhilfe gab. Sie empfahl mir einen gewissen Yuuki Yoshida aus der Parallelklasse. Ich verließ das Zimmer in Weltuntergangsstimmung. Mein erster Schultag und schon stand ich unter Zeitdruck, denn natürlich erwartete meine liebste Lehrerin vermutlich, dass ich baldmöglichst Erfolge vorzuweisen hatte. Hallo? Das entsprach nicht meiner Art, mit Menschen umzugehen. Kurze Einführung: Menschen. Zuallererst muss man von dieser überaus aggressiven Rasse wissen, dass es grundsätzlich solche und solche gibt. Es gibt Menschen, die beliebt sind und dann gibt es noch solche wie mich. Ich hab da eine genetische Theorie: irgendwo in der DNA gibt es einen itsy-bitsy Strang – vermutlich ist er golden und glitzert – den manche Menschen haben und andere nicht. Dieser ist verantwortlich für Beliebtheit: er sorgt dafür, dass man gut in Sport ist, immer einen lockeren Spruch auf den Lippen hat, nie zum falschen Outfit greift und was es nicht sonst noch alles für Qualitäten gibt, die einen cool machen. Aber wie gesagt, das ist nur meine Theorie, erzählt niemandem davon. Bei Menschen, die beliebt sind, empfiehlt es sich für einen Angehörigen der anderen Gruppe (Gackt) den bestmöglichen Abstand einzuhalten, der im Idealfall die Strecke Tokio-Moskau beträgt. Sollte ein Angehöriger der unbeliebten Rasse (Gackt) jedoch Bekanntschaft mit einem Wesen seiner Art machen, so empfiehlt sich langsame Annäherung. 1. Woche: gegenseitiges Beobachten. 2. Woche: leichtes Anlächeln. 3.-4. Woche: vorsichtiges Austauschen von Floskeln wie Guten Morgen, Tschüss, bis dann, wie geht’s. Und DANACH konnte man vielleicht darüber reden, ob man den anderen Angehörigen der unbeliebten Rasse mal nach Hause einladen wollte und DANACH konnte man über Gefallen wie Nachhilfe, Hausaufgaben abschreiben und nebenbei über Dinge wie…. Freundschaft reden. So viel zu meiner geistigen Verfassung. Und jetzt verlangte diese Frau doch tatsächlich von mir, meine heiligen Prinzipien über den Haufen zu werfen und bei diesem Yuuki, von dem ich nicht mal wusste, in welche Gruppierung er gehörte (ok, er war gut in Mathe, das ließ nicht viele Optionen offen), die ersten drei Wochen einfach so zu überspringen. Während ich so vor mich hin grübelte, wie ich aus meinem selbstfabriziertem Schlammassel wieder rauskam, bemerkte ich nur aus weiter Ferne das Läuten. Ein Getrappel von hunderten von Füßen brach los. Ich seufzte und machte mich auf den Rückweg zu meinem Klassenzimmer. Und da passierte es. Eine Gruppe von Fünftklässlern alberte vor mir auf der Treppe herum. Einer schubste den, der genau vor mir stand. Dieser fiel gegen mich. Ich wiederum machte einen Satz nach hinten, hielt mich gerade noch am Geländer fest, spürte etwas Hartes an meiner Schulter und realisierte eine Zehntelsekunde später, dass ich bei meinem nicht ganz freiwilligen Manöver total in jemanden reingerasselt war, der jetzt einige Stufen unter mir lag, seine Sachen bis zum nächsten Treppenabsatz verstreut. Und als ich weitere zwei Sekunden später bemerkte, um wen es sich da handelte, wäre ich am liebsten gestorben. Da unten, sich mit einer Hand das Knie haltend und mit der anderen ihr Zeug wieder aufsammelnd, saß das Mädchen, das ich bei Koji gesehen hatte. „Scheiße“, murmelte ich und sprang die Stufen runter, die Gaffer am Rande der Treppe, von denen sich natürlich niemand die Mühe, machte ihr zu helfen, geflissentlich ignorierend. „Hey, tut mir leid! War keine Absicht, bist du ok?“ Ich bückte mich und hob ihre Bücher auf. Sie nahm sie mir ab, lies ihre Augen einmal abschätzend über mein Gesicht wandern, schenkte mir einen äußerst merkwürdigen Blick und ging dann genauso stumm, wie sie gekommen war weiter. Na super. Jetzt war sie eingeschnappt. Als ob ich nicht schon genug Probleme hatte! „Hey, wart mal! Ich hab mich doch entschuldigt!“ rief ich ihr nach und setzte dazu an, ihr zu folgen. Gakuto Kamui war vieles, aber ein gemeiner Frauenschubser war er nicht! Da packte mich eine Hand an der Schulter. Ich schlug sie weg. „Sekunde, ich bin grad-“ „Lass es bleiben.“ Mein ganzes Inneres wurde auf einmal schwer wie Blei. Ach du Schande. Ich drehte den Kopf. Da stand doch wirklich mein Banknachbar und sah mich mit einem Blick an, der sogar als mörderisch gegolten hätte, wenn wir uns gemocht hätten. Was mir aber mehr Sorgen machte, war das überhaupt nicht dazu passende Lächeln. Freundlich. Zu freundlich. So wie ein Hund freundlich aussah, kurz bevor er auch anspringt und euch ins Gesicht beißt. Jetzt schien ich überhaupt kein Inneres mehr zu haben. „Ich, äh, ich wollte nur-“ „Ja, lass es einfach gut sein. Gehen wir, mmh?“ „Gute Idee“, murmelte ich und machte den Versuch, zurück zum Klassenzimmer zu gehen. Ich wartete auf die Hand an meinem Nacken, doch nichts passierte: Ich erreicht das Zimmer unbeschadet. So unbeschadet, wie man sich fühlen kann, wenn einem sein imaginäres Ego mitsamt der Wirbelsäule rausgerissen worden war. Die nächsten zwei Stunden benahm ich mich so unauffällig wie möglich und ich war sicher, wenn man mich unter eine Messlatte gestellt hätte, so wäre ich irgendwo bei der drei-Zentimeter-Marke gelandet. Ich war verdammt froh, als es ENDLICH läutete und sah zu, dass ich Land gewann. Als ob der Tag nicht schon mies genug gewesen wäre, stand Miss Schweigsam vor der Tür und ich hätte sie fast zum zweiten Mal an diesem Tag über den Haufen gerannt. Zuhause angekommen war ich der festen Überzeugung, der Triathlon würde für mich bald in erreichbare Nähe rücken. Den Rest des Tages war ich der liebe Kamui. Ich räumte weitere Sachen aus meinen Umzugskisten in mein Zimmer, in dem bisher nur mein Spiegel (wichtig), mein Bett, mein Schrank und mein Schreibtisch (alle ohne Inhalt) gestanden hatten und kämpfte fast eine halbe Stunde lang mit dem Poster über meinem Bett, das meinen halb-gefluchten Argumenten, warum es da hängen sollte, partout nicht nachgeben wollte. Warum es da hing, wusste ich auch nicht, denn schlau war anders. Ein Poster, das im Schlaf auf euch fällt? Experience Fear. Ich ging mit dem Hund am Strand spazieren, machte einen halbherzigen Versuch meine Mathehausaufgaben zu lösen, fühlte mich zu unkreativ, um das Gedicht für Japanisch zu schreiben und ging schließlich, ganz der perfekte Sohn, meiner Mutter in der Küche zur Hand. Ich aß mit meiner Familie zu Abend, erzählte brav, dass ich mich in der Schule schon toll eingewöhnt hatte, lächelte freundlich und hörte meinem Bruder zu, der fröhlich von seinem ersten Schultag herumquäkte. Dann erzählte mein Vater von seiner Arbeit. Er war Anwalt, und jetzt schon der Überzeugung, seinen ersten Fall in dieser Stadt zu gewinnen. Und meine Mutter erzählte, dass sie heute beim Einkaufen die Nachbarsfrau getroffen hatte, und die uns zum Abendessen eingeladen hatte, morgen, zur Begrüßung. „Sie haben einen Sohn in deinem Alter, ihr werdet euch sicher mögen. Und eine kleine Tochter.“ Meine Mutter strahlte bei dem Gedanken, so perfekte Nachbarn zu haben, mit denen sich ihr seltsamer Sohn sicher wunderbar verstehen würde. Mein Vater ging und holte Wein für uns, sogar einen Schluck für meinen Bruder, meine Mutter zündete Kerzen an. Das taten sie nur, wenn sie froh waren und ich hatte sie zu lange nicht mehr so gesehen, um es übers Herz zu bringen, die Stimmung zu vermiesen. Kapitel 2: ----------- Der nächste Tag brach bleiern und regnerisch an. Ich wachte vor dem Weckerklingeln auf und lauschte noch eine Weile dem Regen, der gegen das Fenster trommelte. Dann erschien die Grausamkeit des Lebens in Form meiner Mutter und zog mir die Bettdecke weg. Und schickte mich mit dem Hund raus in die Kälte. Sadistin. Um Viertel vor Acht schlängelte ich mich zwischen plappernden Sechstklässlern hindurch durch die Aula und fand das Klassenzimmer wirklich schon beim dritten Versuch. Ich war so stolz auf mich. Physik in der ersten Stunde. Und dann Mathe. Der Tag fing ja schon mal gut an. Ich platzierte mich in die dritte Reihe, ließ respektvollen Abstand zu den Jungs neben mir und packte mein Zeug aus. Ein Blick zeigte, dass die Lehrer Kami und Koji wohl in jedem Fach auseinandergesetzt hatten, denn Koji saß vorne links bei der Tafel, worüber er nicht glücklich schien und Kami drei Reihen hinter ihm auf der anderen Seite des Klassenzimmers. Mit diesem interessanten Fakt konnte ich mich leider nicht mehr lange beschäftigen, denn Physik und Mathe hatten eines gemeinsam und zwar Zahlen und mit denen stand ich auf Kriegsfuß. Ich überstand zwei Stunden lang den Horror pur und verbrachte die Pause wie am Vortag allein. Das war gar nicht so übel… immerhin war ich es bereits gewohnt. Danach durchlebte ich Erdkunde und Geschichte, wo die Lehrerin dem Pult etwas über die Kriege des Mittelalters erzählte, weil ihr niemand sonst zuhörte. Ich kritzelte Strichmännchen in meinen Block, bis es wieder läutete. Gerade als ich sehr langsam aufstand – ich überlegte noch, was ich jetzt mit mir anstellen wollte (vielleicht konnte man sich in der Schulbibliothek gut hinter den Regalen verstecken) - erschien eine Traube von fünf oder sechs giggelnden Mädchen vor meinem Tisch. Zwei davon waren in meiner Klasse, der Rest musste zur allgemeinen Erheiterung hier sein: Sie kicherten und schubsten sich gegenseitig in meine Richtung, als könnte sich keine entscheiden, endlich was zu sagen. Dann trat eine vor, ein großes, schwarzhaariges Mädchen mit einem frechen Kurzhaarschnitt und einem energischen Kinn. „Hey, wir dachten uns, du langweilst dich vielleicht in den Pausen-“ hinter ihr kicherte jemand und sie warf einen bösen Blick zurück, „wo du dich noch nicht auskennst. Deswegen dachten wir uns, wir nehmen dich mal mit. Ich bin Aiko.“ Sie streckte mir nach westlicher Sitte die Hand hin. „Äh… ok, ähm, ich…“ Hirn! Auftritt Hirn, bitte! „Danke.“ Na also… Ich stand auf, ergriff ihre Hand und hatte das Gefühl, mir würden die Finger gebrochen. Gemeinsam gingen wir den Gang hinab, die Treppe runter und verließen das Gebäude. Während ich mit ihnen trottete, ging mein Gehirn wichtigen Fragen nach: 1. Wieso bewegen sich Mädchen immer in Gruppen? 2. Worüber kichern sie? Zu schlüssigen Antworten kam ich allerdings nicht, denn nachdem die erste Scheu sich langsam verlor, wurde mir bewusst, dass ich mitten in ein Kreuzfeuer aus Fragen gelaufen war und die meisten davon richteten sich an mich. Während ich also versuchte, sozial möglichst verträgliche Antworten zu geben, lässig zu wirken, witzig zu sein und dabei trotzdem nicht zu lügen – ich konnte mir nie merken, was ich wem wo erzählte und mein Leben war in dieser Hinsicht schon kompliziert genug, ohne auch noch hier damit anzufangen – sammelte sich kalter Schweiß in meinem Nacken, wie es immer passierte, wenn mich etwas überforderte. Gerade als das Gespräch vielleicht peinlich geworden wäre, erreichten wir die Mensa. An einem Tisch auf der linken Seite saßen bereits einige andere Mädchen und zwei, drei Jungs, die sehr offensichtlich zu ihnen gehörten. Ich wurde abgecheckt, mein Hintern für schön genug befunden und man rutschte zur Seite, um uns Platz zu machen. Während der nächsten Dreiviertelstunde erfuhr ich, was in nächster Zeit so geplant war, wieso welcher Typ gerade diese Frisur oder jenes Shirt hatte und auf welche 53 Arten man Nagellack auftragen kann. Das würde ich bei Gelegenheit mal probieren. Die Männer redeten nicht. Dazu hatten sie entweder ihre Zungen zu tief im Hals ihrer Freundinnen oder zu wenig Hirnmasse. Was auch immer. Dann war die Pause zu Ende und ich konnte meinen Klassenkameradinnen, die Chiyo und Saki hießen (ich wusste nur nicht mehr, wer wer war) zum Biologietrakt folgen. Ich setzte mich in die vorletzte Reihe. Kurz vor knapp sprinteten Kami und Koji herein und ließen sich schräg hinter mich fallen. Offenbar hatte man hier nicht auf Trennung bestanden. „Hilfst du mir jetzt oder hilfst du mir jetzt nicht?“, fragte Koji gerade. Kami seufzte genervt. „Mein Vater meinte, wenn er noch einmal einen Anruf von der Schule bekommt oder mich die Polizei nach Hause bringt, schickt er mich aufs Militärinternat. Militär. Internat. Közi. Das bedeutet keine Freizeit und keine Mädels!“ Ein paar dumpfe Laute deuteten darauf hin, dass Bücher auf den Tisch geworfen wurden. „Warum machst du auch immer so Scheiße!“ „Ja, das war ein bisschen unglücklich…“ „Das war ein bisschen unglücklich“, äffte Kami ihn nach. „Ich zeig dir gleich, was ein bisschen unglücklich ist!“ Kurz war es still. „Andererseits“, sagte Koji dann, „lernt man auf dem Militärinternat vielleicht, Leute mit einem Nackengriff zu killen. Und sie servieren das Essen in so Tabletts mit kleinen Einzelkompartiments… kein Vermischen von unterschiedlichen Geschmacksrichtungen mehr, wenn du weißt, was ich meine.“ „Du bist ein Riesen-“ Was Koji war erfuhr, ich leider nicht mehr, denn in diesem Moment erschien eine kleine, pummelige Frau, die freudig vor der Klasse hin und her wuselte, schließlich tief Luft holte und strahlte: „Also meine lieben Kleinen, was wisst ihr denn so über Bienchen und Blümchen?“ Nach der letzten Schulstunde des Tages dann trat ich mit Aiko und meinen beiden Klassenkameradinnen durch das Schultor nach draußen auf die Straße. Ich hatte mich noch keinem Club angeschlossen, dementsprechend lag ein freier und potentiell wunderbarer Nachmittag vor mir: die Regenwolken des Vormittags hatten sich, wie sie es hier am Meer gerne taten, verzogen und ein belebender, kühler Wind strich mir durch die Haare. Ich fühlte mich ausnahmsweise besonders poetisch und drehte mich zu meinen Begleitungen, um ihnen solange ich noch im Flow war möglichst romantisch zu erklären, warum ich nicht mit ihnen gehen würde. Noch in der Drehung wurde ich mir jedoch einer allgemeinen Unruhe bewusst. Einer der Fußballtypen vom Mittagessen war aufgetaucht, und scheinbar nicht, um seine Zunge irgendwo hin zu stecken, sondern um kräftig die Buschtrommel zu schlagen. „Was ist los?“ Aiko wandte sich mir zu und verdrehte die Augen. „Koji tut es schon wieder.“ „Tun was?“, fragte ich. „In Probleme geraten.“ „Koji hat heute Mittag anscheinend drei Oberschüler aus dem Karateklub mit irgendwas beschimpft, das man in dieser Situation besser nicht sagt“, sagte der Fußballtyp. (Ich musste dringend eine Liste mit Namen anlegen.) „Und jetzt warten sie hinten am Sportgelände.“ „Na ist doch wunderbar“, sagte Aiko und schüttelte den Kopf. „Viel Spaß dabei und ich geh jetzt.“ Ihre Freundin schaute überrascht von dem Handy hoch, auf dem sie offenbar gerade die neusten Infos überprüfte. „Was, du willst nicht zuschauen?“ „Ja“, sagte Aiko trocken. „Drei Idioten, die einem noch größeren Idiot das Mus rausquetschen. Genau was ich immer sehen wollte.“ Sie drehte sich zu mir. „Kommst du?“ „Äh“, machte ich. So viel zu meinem romantischen Flow. Auf der anderen Seite des Sportgeländes hatte sich bereits eine kleine Traube gebildet. Die Traube hielt respektvollen Abstand zu drei großen, breiten Kerlen, die die Arme verschränkt da standen und offenbar versuchten, möglichst eindrucksvoll auszusehen. Ich weiß nicht, wie es den anderen ging, aber bei mir klappte das ganz gut. Und das, obwohl der mittlere ein wenig aussah wie ein Mops. Wir reihten uns in die respektvolle Traube ein. Mir war nicht ganz klar, was ich hier machte. Es musste eine Mischung aus Flucht vor Aiko, Langeweile und Sensationslust sein. Die gleiche, die es unmöglich macht, bei diesen unwitzigen Pannenvideos im Kinderkanal wegzuschalten. Ich wollte gehen. Ich tat es nicht. Wir warteten. „Wetten, dass er kneift?“, sagte der linke gerade zu dem Mops, als Koji um die Ecke bog und langsam zu uns hinüberschlenderte. Und er war nicht allein. „Oh Fuck“, fluchte der rechte leise. „Was? Die Ratte traut sich aus dem Loch, und?“ „Ich wusste nicht, dass er Ukyou mitbringt“, zischte der rechte zurück. „Und ist das andere Yoshida?“, flüsterte der linke. Der gruselige Goth und das Mädchen waren hinter den beiden aufgetaucht. „Alter. Wir können nicht Yoshida aufs Maul geben.“ „Ach, dann geh nach Hause zu Mama, du Baby“, zischelte der Mops zurück. Kami, Koji, das Mädchen und der Goth, der außer Heinz noch einen Namen hatte, den ich allerdings wieder vergessen hatte, waren jetzt in Hörweite. Der Goth und das Mädchen blieben zurück, während die anderen beiden sich vorbewegten, bis sie das Testosteron der anderen Partei riechen konnten. Dann blieben auch sie stehen. Und wie jeder Mann meines Alters wusste ich, was jetzt kommen musste: Die macho-männlichen Riten des Männertums. „So“, sagte Koji. „So“, sagte der Mops. Er schenkte erst Kami, dann dem Goth einen Blick, in dem ein Funken Unsicherheit lag. „Ja“, sagte Koji. „Willst du dich entschuldigen?“, fragte der Mops. Arme verschränken. „Ich wüsste nicht wofür.“ Arme verschränken. „Közi“, sagte Kami. Koji hob abwehrend die Hände: „Ich hab nur gesagt, dass seine Mutter –“ „Közi“, sagte Kami noch einmal, mit mehr Nachdruck. „Ja, ist gut.“ Koji seufzte. „Es tut mir leid –“ Der Mops zog eine Augenbraue hoch, was bei seinem Gesicht einen wirklich extrem witzigen Effekt erzielte. Ich versuchte, nicht zu grinsen und wurde mir aus den Augenwinkeln gewahr, dass es dem Goth ähnlich ging. „- dass dich die Wahrheit so verletzt“, schloss Koji. Kami schlug sich mit der Hand gegen die Stirn. „Ich ramm dich unangespitzt in den Boden, du Zwerg!“, brüllte der Mops. Öffnen der Arme zur Einschüchterungsgeste. „Ah ja?!“, rief Koji zurück. „Vielleicht willst du aber auch lieber gehen, solange du noch gehen kannst!“ Spannen der Brust als Einschüchterungsgeste. „Und vielleicht willst du mich ja mal am Ar-“ „Jaja, was auch immer“, fiel Kami genervt dazwischen und winkte ab. „Bringen wir’s hinter uns, ich komm zu spät.“ Knappe zehn Minuten später klopfte Koji sich Staub von der Schuluniform und leckte sich dort über die Lippe, wo sie blutete. „Das lief doch ganz gut.“ „Du hast echt nur Scheiße im Hirn!“, fauchte Kami und hielt sich das Taschentuch des Goths gegen die Stirn. Genau über der linken Braue war die Haut ein wenig aufgeplatzt. „Scheiße ist ein starkes Wort“, kontemplierte Koji. „Es ist eher… Poo-poo.“ Dann drehte er sich zur Traube. „Ok ihr Gaffer, es gibt nichts mehr zu sehen. Verpisst euch, bevor ich mit dem nächsten in der Reihe weiter mache“, sein Blick streifte mich eine Sekunde zu lange, „und ich schlage auch Mädchen – wenn es ihnen gefällt. Hehe. Nein. Echt jetzt. Geht.“ Ich schluckte und machte mich auf den Heimweg. Nachdem ich mich umgezogen hatte, beschloss ich, mein Gedicht für Japanisch zu verfassen und schmiss mich aufs Bett, aber meine Gedanken drehten sich im Kreis. Irgendwie hatte ich heute ein bisschen zu viel Input für einen Tag bekommen. Wenn Situationen sich zu schnell veränderten, war mir das überhaupt nicht recht. Mit einem Seufzen schlug ich meinen Block auf, vertrieb die Gedanken an den heutigen Tag aus meinem Kopf und starrte auf das leere Blatt. Dann wanderten meine Augen zu meinem Wecker und schauten den Sekunden beim Vergehen zu. Zurück zu meinem leeren Blatt. Ich kaute auf meinem Stift herum. Mein Blick fiel auf meine rechte Hand. Da waren solche kleinen weißen Halbmonde in den Nägeln meines kleinen und meines Mittelfingers. Was bedeutete das nochmal? Zuwenig Calcium? Zuviel Calcium? Schlechter Schlaf? Zurück zu meinem leeren Blatt. Na los, dachte ich. Mir fiel nichts ein. Ich runzelte die Stirn. Das war ja mal was Neues. Es gab nicht viele Dinge, in denen ich gut war. Aber wenn mich eines bisher noch nie verlassen hatte, dann war es meine Muse. Ich hatte geschrieben seit… ja. Seit ich schreiben konnte eben. Gut, meine ersten Gedichte waren nicht sonderlich ausgereift gewesen. Sie drehten sich um Dinge, die einen als Kind beschäftigen. Aber ich hatte Ideen gehabt. Tausende von Welten in meinem Kopf. Gefühle, Personen, Geschichten. Doch wenn ich jetzt in mein Inneres lauschte, fand ich nur Ameisenflimmern auf allen Bildschirmen. Ich setzte mich auf. Vielleicht war ich bloß ein bisschen unterzuckert. Nachdem ich ein Glas Cola getrunken und einen Erdnussbuttertoast gegessen hatte, fand ich mich wieder auf meinem Bett ein. Leeres Blatt. Ok, here we go. Ääähm…. Die Sonne schien an einem - … Ne. Vielleicht: Und wenn ich nicht gesehen hätte - …So eine Scheiße. Uhm… Es war einmal - ... „Im Ernst jetzt?“, fragte ich mein Hirn genervt. Dieses zuckte ratlos mit seinen Windungen. Ich schmiss den Block vom Bett auf den Boden. Vielleicht war es die Seeluft. Oder noch die Nachwirkungen des Umzugs. Bestimmt würde das wieder besser, wenn ich mich eingewöhnt hatte. Oder aber, dachte ich, ließ mich nach hinten fallen und betrachtete trübsinnig die Wand neben meinem Bett, ich hatte meine Kreativität zu Hause gelassen und das war es jetzt gewesen. Ich lauschte noch einmal. Da war eine große Leere irgendwo in meinem Brustkorb und ich wusste, dass es eine Zeit lang dauern würde, das Gefühl zu identifizieren, welches diese Leere verursachte. Also konnte ich wohl damit anfangen. Einsam? Ne. Ich hatte meine Familie und davon abgesehen war ich jetzt schon seit langer Zeit allein. Deprimiert? Nicht wirklich. Seit ich die rosafarbenen Pillen nicht mehr nahm, sondern heimlich in meine Socken steckte und später wegwarf, war ich emotional stabil. Angst? Koji war beunruhigend. Ja. Aber auch diese Situation war eigentlich nichts Neues für mich. Nein. Ich hatte keine Angst. Was sollte er schon machen? Ich war schon öfter weggerannt, ich konnte auch ihm ausweichen lernen. Also… das waren sie, die negativen Grundstimmungen. Komm schon, Gefühl, dachte ich. Was bist du? Wenn ich das nur rausfand, gab sich der Rest bestimmt von selbst. Ich starrte an die Decke. Mein Handy vibrierte an meinem Oberschenkel. Ich fand es in den Falten meines zerknautschten Lakens und hielt es mir zu nah vors Gesicht. Wie lässt sich’s an?, stand dort. Wie immer, schrieb ich zurück. Es gibt die einen und die anderen und dann noch mich. Willst du reden?, erschien nach ein paar Sekunden. Vielleicht morgen, schrieb ich zurück. Ich brauch noch Zeit, um meine Situation zu bewerten. Kurz passierte nichts. Dann erschien: Überanalysier nicht. Das Leben ist einfach. Darauf fiel mir nichts mehr ein. Kraftlos ließ ich meine Hand zurück aufs Bett fallen. Das Handy rutschte mir zwischen den Fingern hindurch und verschwand wieder in meiner Decke. Ich starrte wieder in die Weiten über mir. Vielleicht wäre es besser gewesen, mit jemandem zu sprechen, dachte ich noch. Doch ich fühlte mich ausgelaugt und gleichzeitig kribbelig und hätte nicht gewusst, was ich erzählen sollte. Nein… ich blinzelte langsam…. Das war schon … in Ordnung so… „KAMUI!!!!“ Ich schrak auf, bekam einen Schlag an den Kopf und wusste nicht mehr, wer ich war. Oder doch, ganz klare Sache, ich war Austin Powers. Ok, wo waren die Mädchen? Hier geht’s bumsfidel zu! Halt, Moment, ich war nicht Austin Powers, der Schlag war meine Nachttischlampe und nicht Dr. Evil und die Stimme war auch keine Roboterbraut in Nöten sondern meine Mutter, die mich aufforderte, jetzt runterzukommen. Ich war eingedöst. Das Gefühl war noch da. Ich seufzte, erhob mich vom Bett wie ein 80-Jähriger, kämmte meine Haare kurz mit dem altbewährten Fünf-Finger-Kamm und schlurfte die Treppe nach unten. Die zwölf Schritte von unserer Haustür, durch die Einfahrt und die andere Einfahrt hoch bis zu jener Haustür kamen mir vor wie eine Odyssee. Mein Vater richtete seinen Hemdkragen und klingelte. Eine Frau ungefähr im Alter meiner Mutter öffnete die Tür. Sie war Ausländerin, amerikanisch oder europäisch, denn ihre Augen waren blaugrau. Ihre Kleidung war schlich aber gewählt und ihre hellbraunen Haare hatte sie einfach hochgesteckt. Ich konnte nicht umhin mit einzugestehen, dass ich sie attraktiv finden würde, wäre sie ein wenig jünger. Ich sah unwillkürlich ein bisschen länger hin, als die Höflichkeit gebot. Irgendwo hatte ich ihre Augen schon einmal gesehen… Sie sprach mit einem leichten Akzent, als sie uns hereinbat. Das erste was ich feststellte war, dass unsere Häuser gleich gebaut waren. Wir standen nämlich im selben Flur, den wir auch hatten. Rechts ging eine Tür weg, die genau wie bei uns ins Esszimmer führte, links wandte sich die Treppe nach oben. Nur die Farben waren andere. Unser Flur war pfirsichfarben. Ihrer pastellblau. Unsere Gastgeberin führte uns ins Wohnzimmer, das sich ans Esszimmer anschloss. Auf dem Sofa saß ein Mann im Alter meines Vaters, der aufstand, als wir eintraten, um meinem alten Herren die Hand zu reichen. Durch und durch Soldat, schoss es mir durch den Kopf und ich wusste, dass ich richtig lag, lange bevor ich die Abzeichen in der Vitrine oder die Urkunden an der Wand entdeckte. Er hatte einen rigiden Kurzhaarschnitt, eine aufrechte Haltung und die Stimme von jemandem, der wusste, was zu sagen wichtig war. Seine Augen hatten die Farbe von dunklem Bernstein und er schien damit durch Mauern sehen zu können, so durchdringend war sein Blick. Der mir im Übrigen auch bekannt vorkam. Standhaft, mutig, vom Tod erprobt und mit Leben bestanden. Das war dieser Mann alles. Und ich hatte einen Scheißrespekt vor ihm. Wir platzierten uns um den Tisch im Wohnzimmer und die Gespräche begannen. Ich schwieg und fragte mich nach ein paar Minuten, ob man mich zum Essen wohl an einen Kindertisch verfrachten würde, denn da war ich augenscheinlich besser aufgehoben – die Merkwürdigkeit des Gefühls, alle Themen zu verstehen, aber bei keinem wirklich einbezogen zu werden und sich für die meisten nicht einmal halb so sehr interessieren, wie es das Lächeln und das gelegentliche Nicken glauben machten sollten. Ich fragte mich, wann ich aus dieser Lebensphase herauswachsen würde und ob es eher langsam und allmählich oder plötzlich mit einem ‘Bang‘ passieren würde. Daneben hörte ich mit halben Ohr zu, grade genug, um falls nötig die richtige Emotion auf meinen Zügen aufzusetzen. Von denen wenigen Sachen, die hängen blieben, war eine, dass unsere Nachbarin aus Amerika kam und sie unser Nachbar (der ein hohes Tier bei der aktiven Marine gewesen war, bis sie ihn aufgrund seines Alters und aufkommenden Rheumas an einen Schreibtisch gepflanzt hatten), sie bei einem Manöver kennen gelernt hatte. Und da Pearl Harbor inzwischen lange genug her war, hatten sie sich verliebt und sie war geblieben. Ich bemerkte, dass sich sein Gesicht eine ganze Nuance aufhellte, wann immer er von seiner Frau sprach, und das machte ihn ein bisschen weniger gruselig. Ein ganz kleines bisschen aber nur. Nach ungefähr zehn Minuten Elend steckte ein kleines Mädchen mit schwarzen Haaren und den Augen ihrer Mutter schüchtern ihren Kopf durch die Tür und keine dreißig Sekunden später war sie mit meinem Bruder auf und davon. Ich kam mir ein bisschen von der Welt verarscht vor. Auf der einen Seite hatte ich Angst davor, dem unbekannten Wesen im Nachbarhaus zu begegnen, das – wie mir mitgeteilt wurde - noch nicht vom Kendo zurück war, auf der anderen Seite war ich sicher, dass alles besser sein musste, als hier am Tisch zu sitzen und die Deko zu betrachten. Wie um mich zu erlösen gab es genau in diesem Moment Essen: es wurde laut die Treppe hinaufgerufen, bevor Frau Ukyou im Türrahmen erschien und uns ebenfalls zu Tisch bat. Ihr Esszimmer war anders als unseres. Zum einen deshalb, weil wir einen niedrigen Tisch hatten und die Ukyous einen westlichen. Zum anderen, weil sich hier scheinbar keine Frau mit einer Vorliebe für Nippes auslebte. (Ich hatte ja die Hoffnung gehegt, das Zeug könne während des Umzugs verloren gehen, doch Nein – die ersten der hässlichen Dinger hatten bereits ihren Weg zurück auf alle freien Oberflächen gefunden.) Hier jedoch gab es nur helles Pastellblau, weiße Rahmen und klare Formen. Ich war mir sicher, dass wenn Dinge in diesem Haushalt zur Ästhetik beitragen wollten, Herr Ukyou sie ganz genau darauf untersuchte, ob sie dieser Funktion auch in vorbildlicher Weise nachkamen und andernfalls entsorgte. Das reduzierte aufs Wesentliche. Eine Vase orangefarbene Blumen stand auf der Anrichte, ein Kerzenleuchter daneben. Bilder von Kalifornien und den Rocky Mountains reihten sich an der Wand nahtlos an die Weiten von Hokkaido und die Schreine von Osaka. Es gefiel mir. Mein kleiner Bruder und das Nachbarsmädchen kamen kichernd zurück ins Esszimmer. Ich sah es kommen: Das war der Beginn einer laaaangen Freundschaft. Aber gut, dachte ich. Hatte zumindest einer von uns Glück bei den Mädchen. Es sei ihm gegönnt. Es gab Essen aus dem Wok. Ich liebe Wok, aber meine Gedanken waren bei ganz etwas anderem als bei den Gerüchen, die aus dem Topf stiegen. Ich hörte die Haustür und jemand rumorte im Flur mit Jacke und Schuhen. Ich hatte das Gefühl, mein Herz wäre auf einmal in meinen Hals gewandert. Jetzt ließ es sich wohl nicht mehr vermeiden. Obwohl: ich könnte mich alternativ auch auf den Teppich übergeben oder den Tisch umwerfen, zum Fenster rausspringen oder einfach nur unseren Herr Nachbarn mit Sachen anbrüllen, die man normalerweise nicht sagt. Er würde mich dann sicher gratis mit einem Bodycheck nach Hause schicken. Natürlich tat ich nichts dergleichen, sondern zerquetschte stattdessen nervös ein Stück Hühnchen zwischen meinen Stäbchen. Es fiel mit einem weichen ‘Blobb –Flopp‘ auf meinen Teller zurück Und dann ging die Tür auf. Ich glaube in Realzeit dauerte es nicht mal eine Sekunde, aber für solche Fälle hatte mein eh schon lädiertes Gehirn die uralte Ninjakunst des unendlichen Augenblicks gemeistert. Ich sah die Tür sehr langsam aufgehen, so langsam dass ich mich schon fragte, was falsch lief und dann wurde es mir klar: ich saß an diesem Tisch, und alles daran war falsch! Denn in der Tür stand niemand anderes als Kami. Ich starrte ihn an. Ja, das sanfte Gesicht und die Augen seiner Mutter und den unnachgiebigen Ausdruck seines Vaters über einem entschlossenen Kinn. Ganz klar. Ukyou. Scheiße, mein Gedächtnis. Ich war am Arsch. Er starrte zurück. Mein Vater trat mir unter dem Tisch unauffällig gegen das Bein, eine Aufforderung, höflich zu sein. „Hi“, meinte ich stimmlos, um überhaupt irgendwas zu sagen. Zwei Buchstaben, mehr konnte man auch echt nicht verlangen. „Hi“, kam es genauso zurück. Kamis Vater schenkte ihm einen strafenden Seitenblick und ein Räuspern. Mein Gegenüber reagierte mechanisch. Er verbeugte sich halb, sagte: „Ukyou Kamimura, erfreut Sie kennen zu lernen“ und verharrte die exakt richtige Anzahl von Sekunden, bevor er sich wieder aufrichtete. Dann zog er seinen Stuhl zurück und ließ sich darauf fallen, ohne mich aus den Augen zu lassen. Das hier musste für ihn genauso befremdlich sein wie für mich und irgendwie beruhigte mich das ein wenig. Seine Mutter reichte ihm ein Schälchen. „Du bist zu spät“, sagte sein Vater tadelnd. „Ja“, sagte Kami und warf sich die Haare über die Schulter, auf dass sie nicht ins Essen hingen. „Ich… ja. Verzeihung.“ Offenbar fiel ihm über die Bestätigung des Offensichtlichen hinaus nichts weiter ein. „Wie war die Schule, Schatz?“, versuchte es als nächstes seine Mutter. „Grandios.“ „In welcher Klasse bist du denn?“, fragte meine Mutter. An ihrem Tonfall bemerkte der Kenner, dass der Plan, mir Freunde zu verschaffen, noch keineswegs aufgegeben war. „10. A.“, sagte Kami und steckte sich dann schnell einen Brokkoli in den Mund. Vermutlich, damit er nichts mehr sagen musste. Ich konnte das nachvollziehen. Zum Glück war diese Stadt so klein, dass es nur eine High School gab. Sonst hätte er nochmal ein bis zwei Wörter dranhängen müssen. Meine Mutter zählte zwei und zwei zusammen und fing zu strahlen an. „Ach, seid ihr in einer Klasse?“ Sie war ganz begeistert. „Ja… schon…“, druckste ich herum und warf Kami einen unsicheren Blick zu. Dieser machte ein unbestimmtes Geräusch. Es war kein Ja und kein Nein, sondern ein Wenn-ich-irgendwas-mache-ist-das-Thema-vielleicht-schneller-vorbei-Geräusch. „Das ist ja schön“, strahlte auch Kamis Mutter, erst an mich gewandt und dann in Richtung ihres Sohnes. „Warum unternehmt ihr zwei nicht mal was zusammen? Dann hast du endlich auch mal normale Freunde!“ Warum bekommen Mütter eigentlich immer diesen ‘Ach mein kleines Putzelbabyschatzi wird endlich erwachsen‘-Tonfall wenn sie von ihren Söhnen reden? Ist das genetisch veranlagt, oder entwickelt sich das erst? Kami schien das Ganze genauso peinlich zu sein wie mir, denn er beugte sich tiefer über seinen Teller und das was ich noch sehen konnte, hatte die Farbe von Rotwein angenommen. „Die sind normal“, murmelte er seinem Reis zu. „Na ja“, kommentierte Kamis Vater trocken. „Und setz dich aufrecht hin.“ Kami folgte der Aufforderung und ich checkte unwillkürlich meine eigene Haltung auf Missstände. Alles gut. „Ist alles in Ordnung?“ Der väterliche Tonfall war zumindest ein wenig besorgter geworden. Kamis Hand wanderte unwillkürlich zu seiner Stirn. „Ja. Es war… gutes Training.“ Kurz schwenkten seine Augen zu mir, als wartete er darauf, dass ich ihn verpfiff. Nichts lag mir ferner. Sein Vater nickte also, sogar ein wenig zufrieden, und das war das. Danach wandte sich das Gespräch unseren Lebensgeschichten zu, von denen wir selbst natürlich so wenig Ahnung hatten, dass unsere Eltern sie unbedingt erzählen mussten. Sie fingen bei der ‘schlimmen Pubertät’ an, dann Grundschule und immer weiter abwärts, bis sie sich zum Babyalter durchgearbeitet hatten. Kami und ich trafen eine stillschweigende Übereinkunft, während wir krampfhaft versuchten, nur auf unsere Teller zu sehen: er lachte mich nicht aus, ich lachte ihn nicht aus. Wobei das ziemlich schwierig wurde, als seine Mutter eine sehr amüsante Geschichte zum Besten gab, an deren Ende Kami aus dem Gartenteich geangelt werden musste. Na gut, der Fairness halber: die Geschichte, wo ich es irgendwie geschafft hatte, mich selbst im Kofferraum einzusperren, war …. lassen wir das. Nach einer qualvollen Viertelstunde wandte sich das Gespräch glücklicherweise unseren Geschwistern zu. Denen war das egal – sie steuerten sogar noch Details bei. Hach, die Unbedarftheit der Kindheit! Nachdem uns das Vorhandensein eines Nachtisches noch weitere zehn Minuten an den Tisch gekettet hatte, erhielten wir die Erlaubnis, aufzustehen. Ich folgte Kami mit einem unguten Gefühl. Seit unserem armseligen Versuch einer Begrüßung hatte er kein Wort zu mir gesagt, was mich extrem verunsicherte. Was, wenn er auch Menschenprinzipien hatte? Ich würde auch nicht gerne einen Unbekannten in mein Zimmer mitnehmen. Aber vielleicht hatten sie ja eine geheime Folterkammer, was konnte man schon wissen bei dem Vater. Vielleicht würde Kami mich in kleine Stücke häckseln und sie Koji schenken, nett verpackt, der würde sich sicher freuen. Gerade hatte ich mich soweit in meine Paranoia hineingesteigert, dass ich bereit war, schreiend wegzurennen, als wir vor einer Tür standen. Ich betrachtete perplex einen verunstalteten lila Papierschmetterling, der in der oberen rechten Ecke sein Dasein fristete. Kami folgte meinem Blick und verzog das Gesicht. „Schwester, kein Kommentar.“ Dann stieß er die Tür auf. Dahinter erwartete mich keine Folterkammer, sondern ein Zimmer, das meinem nicht unähnlich war. Bis auf eine Sache, die einen sofort ansprang: es war ordentlich. Links neben dem Fenster stand ein großes, bis zur Decke reichendes schwarzes Bücherregal, in dem neben wenigen Büchern – auf den ersten Blick größtenteils Geschichte und Kaligraphie - auch all jene Sachen standen, für die anscheinend nirgendwo anders mehr Platz gefunden worden war. Ich sah einen Stein, ein paar Fotografien und eine für einen Typen ziemlich große Sammlung an Parfümflakons. Um seine Ehre zu retten sage ich hier aber auch, dass genau daneben auch einige Pokale standen, vermutlich sportbezogene. Genau unter dem Fenster stand ein Schreibtisch, auf dem sich allerdings nicht wie bei mir sonst Blätterstapel, schmutziges Geschirr und kleine Münzen tummelten. Rechts neben dem Fenster stand das Bett. Es war breiter als meines und das ebenfalls schwarze Bettzeug darauf war ordentlich zusammengelegt. An der Wand darüber hing die Kriegsflagge von Shingen Takeda - ich erkannte sie aus dem Geschichtsunterricht. Beruhigend. Ich ließ mich auf das angebotene Sofa an der Wand links von mir fallen und sah Kami dabei zu, wie er seine Sporttasche vor den Schrank warf und eine CD in seine Anlage klatschte. Musik war immer gut. Man konnte zur Not zuhören und so tun, als gäbe es gerade keine peinliche Stille. Dann sah ich mich um. Aus vielen der Poster an den Wänden wurde ich nicht schlau, aber einige erkannte ich doch, die mir vage sympathisch erschienen. Weiter wanderte mein Blick, auf der Suche nach irgendetwas, über das man Konversation machen konnte. Kami hatte ebenfalls einen Fernseher, aber er war wesentlich älter als meiner. Interessanter allerdings war… „Du hast ‘ne Playstation!“ Kami, der auf dem Weg zum Sofa gewesen war, hielt inne. „Wer nicht?“ „Ich nicht“, antwortete ich trocken. „Meine Eltern haben sieben lange Jahre gebraucht um herauszufinden, wie man beim Fernseher andere Programme außer die ersten drei einstellt. Außerdem glaubt mein Vater, alle Videospiele machten einen zu einem schießwütigen Zombie, der irgendwann Drogen nimmt und ins Gefängnis kommt, ohne vorher über Los zu gehen.“ Kami machte ein Geräusch, welches ich als amüsiertes Schnauben deutete und warf mir einen Controller zu. „Ein bisschen hinterm Berg, oder?“ „Vielleicht etwas…“, murmelte ich und betrachtete das Plastikding mit Knöpfen in meiner Hand. „Du musst mich anlernen.“ „Wir haben sonst gerade nichts zu tun.“ Er plumpste neben mich aufs Sofa und wir wählten Charaktere. Ich wählte irgendetwas mit einer Axt, da ich auch einmal im Leben Muskeln haben wollte. Kami wählte ein kleines Mädchen, das meinen Riesendämonen in jeder Runde mit erstaunlich gutaussehenden Attacken in den Boden rammte. Wir spielten eine Weile und ich begann, mich etwas zu entspannen. Der Drang, einfach wegzurennen, hatte ein wenig nachgelassen und ich konnte atmen. Also gut. Wenn ich atmen konnte, konnte ich auch… „Du…?“ Mein Dämon bekam gewaltig eins auf die Mütze, weil ich vergessen hatte wie man Schutz drückte. Ich schaute vom Bildschirm auf meine Finger, um mich zu erinnern und wurde in dieser Zeit Opfer einer weiteren grandiosen Niederlage. „Hhm?“, machte Kami. „Wenn meine Eltern nicht grade da unten hocken würden, würdest du mich rauswerfen, oder?“ Er dachte eine Runde lang darüber nach. Zu seiner Verteidigung muss man sagen, dass es sehr kurze Runden waren. „Sagen wir es anders…“ antwortete er schließlich während der Cutscene, „ich würde dich nicht rauswerfen, aber die Möglichkeit, dass du überhaupt reingekommen wärst, wär gering gewesen.“ Ich beobachtete eine Zeit lang das Geschehen auf dem Bildschirm und sagte nichts. Weil mir nichts einfiel. Kami seufzte schließlich und drückte auf Pause. „Nimm es nicht persönlich. Ich hab kein… Problem mit dir. Ich suche mir bloß meine Freunde gern genau aus. So was braucht Zeit.“ „Klar“, sagte ich. „Is‘ ok.“ Und das war es tatsächlich. Wir spielten noch eine Runde. Ich landete einen Treffer und starb. „Mehr Seeeelen!“, sprach ich die eröffnenden Worte des Kampfs mit. Ihr literarischer Wert war gering. „Du kommst ja wunderbar bei den Mädchen an, stell ich fest“, bemerkte Kami, das Thema wechselnd. „Äh…“, meinte ich und er musste lachen, als er meinen gequälten Gesichtsausdruck sah. „Es… ist ja nicht so, dass es nicht nett von ihnen wäre, aber… irgendwie hab ich’s nicht so mit Mädchen…“ Er kicherte, besiegte mich und sagte verstehend: „Ach so…“ Als mir auffiel, was ich da eben gesagt hatte, lief ich rot an. „Was, Nein, doch nicht so!“ „Ich weiß schon…“ meinte er, allerdings immer noch grinsend. „Und du?“, fragte ich, auch wenn ich nicht wusste, ob unsere Beziehung dafür schon fortgeschritten genug war. Aber wenn er mich mit Mädchen verarschte, durfte ich das auch. „Naaah“, machte Kami. „Ich hab zu viel zu tun für ‘ne Freundin. Wüsste gerade gar nicht, was ich damit soll.“ „Was machst du denn so?“, fragte ich weiter. Es interessierte mich wirklich, was in dieser kleinen Stadt so ging, auch wenn ich es für unwahrscheinlich hielt, dass Kamis und meine Interessen sich überschnitten. „Uhm“, machte er, „Kendotraining, Krafttraining, Tennis-“ “Kurzfassung?”, hakte ich ein. Keine Überschneidung der Interessen. Wie gedacht. Kami lachte. „… ich hab viel Training.“ „Kann ich wen anderes bekommen?“, fragte ich. Wir unterbrachen das Spiel und ich suchte mir einen neuen Charakter aus. Er sah aus wie Draculas Onkel, wenn Draculas Onkel Pirat gewesen wäre. „Nimm nicht die Holzschwerter“, sagte Kami. „Oh“, sagte ich. Während ich meinen neuen Charakter einweihte und feststellte, dass meine Pechsträhne offensichtlich nicht in diesem Aspekt begründet lag, nickte ich zu einigen neuen Paar Sticks hinüber, die neben der Tür lagen, offenbar, um nicht vergessen zu werden. „Spielst du?“ „Nein, ich sammel die nur“, sagte Kami so ernst, dass ich es tatsächlich etwa zehn Sekunden lang glaubte. „Idiot“, sagte ich. Wir schwiegen ein paar Sekunden und lauschten der Musik. „Danke übrigens“, sagte Kami schließlich. „Fürs Klappe halten.“ „Klar“, sagte ich. Wir schwiegen ein paar Sekunden. „Warum machst du das?“, fragte ich dann, mutig geworden. Vielleicht war es die Limo zum Essen. Zuviel Zucker bekommt meinem Verstand nicht. „Was?“ „Probleme.“ Kami schien darüber nach zu denken. Allerdings nicht sonderlich lange. Dann kratzte er sich am Kopf und hob die Schultern. „Ich weiß nicht. Das ist es, was Freunde tun, oder? Noch nie die Probleme deiner Freunde abbekommen?“ Ich starrte auf meinen Dracula auf dem Bildschirm und biss mir innen auf die Unterlippe. Es blutete. „Ich … kann sein.“ Schwer zu sagen. Ich war nicht sicher, schon einmal Freunde gehabt zu haben. Als ich an diesem Abend schließlich in meinem Bett lag, konnte ich lange nicht schlafen. Vielleicht lag es daran, dass ich nachmittags ein Nickerchen gemacht hatte, vielleicht am späten Essen, wahrscheinlicher jedoch am sozialen Kontakt. Ich brauchte nach so etwas immer eine Weile, um wieder runter zu fahren. Ich war aufgekratzt, und trotzdem war das komische Gefühl noch da. Mit einem Seufzen knipste ich das Licht wieder an, rollte mich auf den Bauch und griff nach dem Stapel CDs, die ich mir von Kami ausgeliehen hatte, um meinen Horizont zu erweitern. Auch in Zeiten der Internetdownloads gab es ja Leute, sinnierte ich, während ich mein Laptop angelte, die lieber was in der Hand hielten. Offenbar war Kami so ein jemand. Ich hörte ein Album von Culture Club und dann noch eines von Duran Duran, und irgendwo in der Mitte von What happens tomorrow schließlich, schlummerte ich ein. You've got to believe It'll be alright in the end You’ve got to believe It’ll be alright again * Am nächsten Tag hatte ich eine Grippe, fünf Erkältungen und ein gebrochenes Bein. Na gut, ich hatte nicht wirklich eine Grippe und ein gebrochenes Bein, aber eine Erkältung war es! Ok, ich hatte keine Erkältung. Aber so ein ekliges Kratzen im Hals. Ja, ich bildete es mir ein. Ich wusste das. Zu meinem Pech wusste meine Mutter es auch. Und so musste ich wieder in die Schule. Warum ich so einen Aufstand machte? Ein Mann, ein Wort: Sport. Eine Doppelstunde lang rennen, schwitzen, springen und sinnlos Bälle durch die Gegend werfen. Außerdem hatte ich eine Abneigung dagegen, mich vor der halben Welt auszuziehen. Ich hasste Umkleidekabinen, den Geruch nach Schweißfuß, dieses klebrig-feuchte Gefühl von Turnmatten und Bällen, das Quietschen von Schuhsohlen auf Hallenboden, den Muskelkater am Tag danach und die Scham währenddessen: kurz, ich hasste Sport. Fast noch mehr als Mathe… aber auch nur fast. An diesem Tag versuchte ich, mich am Ende der zweiten Pause zu verlaufen, aber wie das eben so ist, war ich nicht sonderlich erfolgreich, da zwei Typen aus meiner Klasse an mir vorbeigingen und mich sozusagen unfreiwillig zur Höhle des Löwen führten. Einfach blau zu machen traute ich mich auch nicht. Mein Vater sah Sport als ‘Ausdruck der männlichen Männlichkeit im Manne’, also musste ich eine halbwegs annehmbare Note hinkriegen, auch oder gerade weil sich meine männliche Männlichkeit nicht gerade in jedermanns Gesicht klatschte. Tatsächliche hatte ich im zarten Alter von zwölf schon einmal Probleme damit gehabt, eine Verkäuferin in der Mädchenabteilung loszuwerden, die mir absolut nicht hatte glauben wollen, dass ich ein Kerl und nur wegen meiner Schwester dort war, und nicht aufhören wollte, mir ein mintgrünes Sommerkleid anzudrehen. Mich rettete die Flucht durch die Parfümabteilung. Danach lachte mich meine Schwester ein halbes Jahr lang aus. In der Umkleide bemühte ich mich um einen Platz irgendwo in einer Ecke, wo mich niemand beachtete. (Natürlich beobachtete mich objektiv betrachtet auch so niemand, aber wir erwähnten ja bereits meine schleichende Paranoia.) Wir hatten mit einer unserer Parallelklassen Unterricht, wie ich feststellte. Ob ich mich darüber freuen sollte war mir unklar. Mehr Leute vor denen ich mich blamieren konnte. Andererseits auch mehr Leute, zwischen denen ich mich so klein wie möglich machen und hoffentlich untergehen konnte. Ich trödelte so lange mit dem Aufknoten meiner Schuhe herum, dass die meisten schon hinausgetrippelt waren, bis ich überhaupt mit meinem Oberteil angefangen hatte. Als der letzte Turnschuh hinausgetrampelt war, schlüpfte ich in Rekordzeit in meine Sportsachen und lies mich dann auf die Bank fallen, auf der sich schon was weiß ich wie viele Leute den Hintern plattgedrückt hatten, um meine Schuhe anzuziehen. Raus ging ich erst, als es sich wirklich überhaupt nicht mehr vermeiden lies. Und wie sich herausstellte gerade noch rechtzeitig. „Gakuto, Kamui?“ „Hier.“ Der Blick meines Lehrers schweifte über die ihm bekannten Gesichter und versuchte, der neuen Stimme ein Gesicht zu geben. Er war groß, breitschultrig und sah mich mit stählernem Blick über eine mindestens dreimal gebrochene Nase an, die einem Geier Respekt eingeflößt hätte. Seine Oberarmmuskeln traten hervor, sobald er nur den kleinen Finger krümmte. Ich war mir sicher, dieser Kerl gehörte zu denen, die eine Bierdose mit einer Hand an ihrer Stirn zermatschen konnten und es auch regelmäßig taten - zum Spaß, verstand sich. Ich schluckte. Dieses Jahr würde ich in Sport wohl nichts zu lachen haben. Er dachte sich wohl auch seinen Teil zu meiner Person und kehrte dann zu seiner Liste zurück. „Satou, Manabu?“ „Krank“, kam Kojis Stimmte von irgendwo hinter mir. Unser Lehrer runzelte die Stirn und machte ein Zeichen auf seiner Liste. „Seien Sie so nett und richten Sie ihm aus dass, wenn er noch einmal… ’krank’ ist, ich ihn wegen Sport durchfallen lassen werde.“ Die Betonung auf krank ließ keinen Zweifel daran zu, dass er ziemlich genau wusste was gespielt wurde. Ich wusste nicht, wer dieser Mana war, aber ich konnte ihn verstehen. Danach folgten Aufwärmübungen. Wie ich erwartet hatte, lag das Augenmerk von Mr. Geier, der in Wirklichkeit Tori hieß, was nicht viel besser war, heute auf mir. Er war so liebenswürdig, mir beim Aufwärmen zu helfen, was damit endete, dass mir Muskeln wehtaten, von deren Existenz ich noch nie etwas gewusst hatte. Aus den Augenwinkeln konnte ich sehen, wie sich Koji den Arsch über mich ablachte. Ok, ich sah lächerlich aus, aber so sehr? Kami machte sich zumindest die Mühe, sein Lachen zu unterdrücken, auch wenn man sah, dass es ihm reichlich schwer fiel. Vermutlich knackste er sich bei der Anstrengung drei Rippen an. Wenigstens eine nette Geste. Und als mir dann alles ausreichend wehtat, begann der eigentliche Unterricht. Wir mussten Völkerball spielen. Ich wurde als einer der letzten ausgewählt, was mich nicht verwunderte. Die Vorstellung, ein Windhauch würde mich umwehen war allgegenwärtig - und nebenbei bemerkt nicht sonderlich abwegig. Doch ich war ihnen allen einen Schritt voraus und hatte einen Plan: Ich würde mich irgendwann am Anfang abwerfen lassen, dann an den Rand gehen und da gemütlich bis zum Ende der Stunde herumgammeln. Vielleicht sollte ich zwischendurch so tun, als würde ich versuchen einen Ball zu fangen, der Echtheit halber. Wir platzierten uns auf dem Spielfeld (nun, die anderen platzierten sich, ich humpelte). Közi und Kami waren beide in meiner Gegnermannschaft. Meine Kameradenschweine schickten mich als Hintermann auf die andere Seite, wahrscheinlich in der Hoffnung, dass sie mich nicht brauchen und ich ihnen auf diese Weise nicht im Weg stehen würde. Die Rechnung ging auf: Ich stand geschlagene zwanzig Minuten herum, ohne irgendetwas zu tun zu haben. Doch leider stellte sich meine Mannschaft als sportliche Nieten heraus und weitere zehn Minuten später stand ich als letzter Mann im Feld. Mit einem Koji, der mich von der anderen Seite her angrinste. Meine Definition der Hölle. Ich sprang ein paar Minuten lang wie ein Irrer übers Feld und wich den Bällen aus, was einfacher klang als es war. Selten erschienen einem runde, fliegende Objekte so bedrohlich, als wenn testosterongesteuerte Teenager sie auf einen abfeuerten. Ich hüpfte wie ein junges Reh in die hintere Ecke und als ich mich umdrehte, bekam ich noch so eben mit, dass Koji einen Ball warf, an den ich mich gar nicht erinnern konnte. Ich hatte gerade genug Zeit um mir zu denken: Moment mal – und dann bekam ich irgendwas sehr hartes voll ins Gesicht und war erstmal weg. Lange konnte meine angenehme Ohnmacht allerdings nicht gedauert haben, denn als ich wieder zu mir kam, war das Erste, was ich hörte, wie Mr. Tori Koji zusammenschrie, was er sich dabei gedacht hatte und von wegen das sei der schlimmste beabsichtigte Foul des Jahrhunderts gewesen und er solle bloß nicht glauben, dass er sich dumm stellen konnte. Mir war das alles allerdings relativ gleichgültig, denn ich mein Schädel brummte wie eine Waschmaschine. Ich hob einen Arm, von dem ich glaubte, dass es meiner war, und tastete nach meinem Gesicht. Fühlte sich normal an. Ich hatte Nasenbluten, aber es tat nicht weh, also hatte ich wohl keine zermatschte Zucchini im Gesicht. Ich setzte mich auf, bereute es aber gleich darauf, weil mir kotzübel wurde. Irgendwer reichte mir ein kaltes, nasses Handtuch, worüber ich mehr als nur froh war. Ich wischte mir das Blut aus dem Gesicht, legte mir das Handtuch in den Nacken, damit das Nasenbluten aufhörte und bekam mich irgendwie auf die Beine, so dass ich zur Bank am Rand der Halle taumeln konnte. So gern ich Koji auch für diese Aktion gekillt hätte, es hatte den Vorteil, dass ich früher gehen durfte. Ich konnte mich in aller Ruhe anziehen und dann verschwinden. Ein kurzer Stopp bei der Schulkrankenschwester und dann raus. Wie ich nach Hause gekommen war, wusste ich später nicht mehr. Ich wusste, ich hatte meine Sachen in den Flur geschmissen, mich die Treppe raufgeschleppt und war dann tot in mein Bett gefallen. Irgendwann abends wachte ich dann wieder auf und stellte nach einem Blick in den Spiegel zufrieden fest, dass ich mies genug aussah, dass mir ein paar Tage zuhause durchaus zustanden. Ich piekte noch etwas auf meiner Nase herum und ging dann runter in die Küche, wo ich meiner Mutter erst mal einen irren Schrecken einjagte. Cool. Ich durfte am nächsten Tag lieben bleiben. Meine Mutter brachte mir morgens Kakao und mein Vater war begeistert, wie gut ich mein Leiden ertrug - dass mein Gesicht fast gar nicht wehtat, musste ja niemand wissen. Also verbrachte ich einen wunderschönen Tag im Bett und sah fern, weit weg von Koji und allen anderen, die mir Probleme hätten machen können. Am Nachmittag kam meine Mutter mit den Hausaufgaben nach oben. „Der Nachbarsjunge war eben da. Wirklich ganz ein Netter. Ich hab ihn gefragt, ob er nicht reinkommen möchte, aber er musste weiter.“ „Mmh…“ machte ich und streckte meine Hände nach den Zetteln aus. Der oberste war eine Liste mit den Hausaufgaben, die anderen irgendwelche Arbeitsblätter. Ich widmete mich der Liste. Ach wie schön, Mathehausaufgabe, hahaha… mach ich nicht. Mmh, Englisch. Mal sehen, S. 23/4 ... Uh, Biologie. Wie bitte, ich sollte WAS machen? Nene, ich war kein Pornostar, nix da. Geschichte. An das Thema erinnerte ich mich düster… Ganz unten auf der Liste dann fand ich eine Message an Gackt. >Du machst es aber nicht lang… Na ja, gute Besserung.< Darunter hatte er einen Chibi von sich gekritzelt, der einen Chibi von mir mit einer großen Spritze verfolgte. Kami, das wurde aus den wenigen Strichen klar, hatte sicher wundervolle Talente, aber Malen war keines davon. Ich sah auf das Blatt und musste einfach grinsen. War ja schon nett von ihm. Auch wenn ... Naja. Das würde ihn irgendwann anders fragen. „KAMUI!“, kam eine Stimme von unten. „JAAA?“ „Hier ist ein Mädchen für dich!“ Ich stand auf und sprang die Treppe runter, erinnerte mich rechtzeitig daran, wie krank ich war und schlurfte an meiner Mutter zur Tür, wie der Tod in Venedig. Draußen stand Aiko, mit einem Blätterstapel, der mir bekannt vorkam. „Hey Gackt, ich bring dir die Hausaufgaben.“ „Danke, ähm…“ Normalerweise würde jetzt ‘möchtest du reinkommen’ kommen, aber ich wollte das nicht wirklich. „… wie war der Tag?“ „Wie immer, wie immer…“, sagte Aiko und schaute mich interessiert an, während sie ohne hinzusehen ihren Umhängetasche durchforstete. „Dein Gesicht sieht schlimm aus. Hier.“ Sie reichte mir eine Salbe gegen Prellungen und Blutergüsse. „Danke“, sagte ich artig. „Ich hab mir alles GANZ genau erzählen lassen. Koji ist wirklich schrecklich…“ „Ähm, na ja, vielleicht hab ich auch einfach nicht aufgepasst…“ Moment, wieso verteidigte ich hier gerade Koji? „Das glaub ich nicht. Er macht so was. Irgendwas ist falsch bei ihm… und nicht auf die attraktive Weise, wenn du weißt, was ich meine.“ „Ähm“, machte ich vorsichtig, „ich bin ein Junge, deswegen… Nein.“ „Naja, wie auch immer. Wir denken jetzt schon länger darüber nach, wie man ihm mal beikommt. Obwohl es so aussieht, als würde er sich bald selbst von der Schule kriegen. Aber das hier hat ein Nachspiel.“ „Ähm“, machte ich nochmal und kratzte mich mit der Salbe am Hinterkopf, „vielen Dank, aber-“ „Mach dir keine Sorgen, Gackt!“ Sie tätschelte mir die Schulter, schenkte mir ein aufbauendes Lächeln und zog ab. „-macht euch keine Umstände…“, murmelte ich zu niemand bestimmten. Es war Freitag, als ich wieder in die Schule ging. Die erste Stunde war Geschichte, gefolgt von Japanisch bei unserer Klassenlehrerin, die sich am Ende der Stunde vor ihrem Pult aufbaute. „Nun denn, anlässlich der Klassenfahrt, die am Montag beginnen wird-“ Oh Nein. Klassenfahrt. ALLES, aber um Himmels willen keine Klassenfahrt! DAS hatte mir meine Mutter also am Mittwochabend nach ihrem zweistündigen Telefonat mit Frau Ukyou erzählt, als ich nicht zugehört hatte! “- möchte ich Sie noch einmal daran erinnern, dass sämtlicher Alkohol verboten ist! Vergessen Sie ihre Taschenlampen, falls vorhanden, und eine Regenjacke nicht. Der Bus fährt um acht Uhr vor der Schule ab, wer aus irgendeinem Grund nicht kommen kann meldet sich im Sekretariat ab. Seien Sie pünktlich. Das steht alles noch einmal auf den Informationsblättern, die ich jetzt durchgebe.“ Die Klasse bildete wieder Klümpchen und Knäulchen und diskutierte die Zimmeraufteilung aus, während sie in die Pause wuselten. Das einzige Knäul, das sich bei mir bildete, war das in meiner Magengegend. Später an diesem Tag hing ich gelangweilt in meinem Zimmer herum. Meine Abende waren seit jeher nicht sonderlich spannend gewesen und – seltsamerweise – änderte sich daran nichts, nur weil man ich in eine neue Umgebung umpflanzte. Ich hatte sogar meine Hausaufgaben gemacht, so langweilig war mir. Hausaufgaben. An einem Freitag! Der Tiefpunkt eines jeden Teenagerlebens. Zieht’s euch rein. Als es draußen dunkel wurde, zappte ich durch ein Abendprogramm, das aus Boxen, merkwürdigen Reality-Soaps und schlechten Krimis bestand und meine Chips waren auch schon seit einer halben Stunde leer. Genervt schaltete ich den Kasten aus, warf die Fernbedienung neben mir aufs Bett und stand auf. Dann nahm ich eben den Hund und ging mit ihm raus, so konnte ich zumindest versuchen, das Ausmaß der Langeweile in meinem Leben zu leugnen. Vor dem Haus wandte ich mich sobald es ging Richtung Strand, wo die Straßenbeleuchtung aufhörte und nur noch das Licht des Mondes, der sich im Wasser spiegelte, die Szenerie erhellte. Wawa lief freudig vor mir her und rannte dem Ball nach, den ich immer wieder warf. Der Name war eine Strafe für jeden männlichen Hund, aber der Gute war inzwischen fünf Jahre alt und an jenem Tag, als es auf einmal in der Aktentasche meines Vater gewufft und dieser mit gespielter Überraschung einen knuddeligen Fellball herausgezogen hatte, war für meinen Bruder noch jeder Hund Wawa, jede Katze Nya-nya und jeder Vogel Ramen, wusste der Henker woher das Letzte kam. Tatsache war, unser Hund hieß bis heute Wawa. Ein kalter Wind vom Wasser her kam auf und ich fröstelte leicht. Aber bis vor zum Anlegesteg konnte ich schon noch gehen. Dort ließ ich mich auf den Boden fallen und sah übers Meer. Es war hier sehr still. Nach meiner turbulenten Woche erschien es mir angenehm. Wawa streckte sich neben mir auf dem Holz aus und gähnte. Ich kraulte ihn einige Minuten hinterm rechten Ohr. Ein Schatten kam über den Strand in unsere Richtung. Jetzt blieb die Person stehen und hob etwas vom Boden auf, nur um es dann so weit es ging ins Wasser hinaus zu werfen. Ich kniff die Augen zusammen. Es war Koji. Irgendwie schockte mich diese Erkenntnis schon gar nicht mehr, was hatte ich bei meinem Glück auch erwartet. „Komm“, murmelte ich Wawa zu, der aufstand und mir nachtrottete. Ich hatte keine Lust darauf, dass meine Leiche morgen in der Bucht gefunden wurde. Zuhause angekommen warf ich zwei Aspirin gegen die hämmernden Kopfschmerzen ein, die sich in meinem Hirn breit gemacht hatten und kippte ins Bett, nur um – so kam es mir zumindest vor - drei Minuten später auf derselben Seite wieder herauszufallen. „Fuck…“, murmelte ich halblaut, während ich mich aufsetzte und meinen Hinterkopf rieb. Draußen schien schon die Sonne. Ich stand auf, nahm eine Dusche und sprang dann auf der Suche nach menschlichem Leben einmal durchs Haus. Ich fand meine Familie unten auf der Terrasse. Ich ließ mich neben meinen Bruder fallen, der hibbelig an seinem Tamagoyaki herumkaute und anscheinend nur darauf wartete, aufspringen zu können. Er würgte seinen letzten Bissen hinunter, während ich mir Kaffee einschenkte. „Papa, darf ich jetzt gehen?“ Mein Vater schmunzelte. „Verschwinde, du Wirbelwind. Aber zum Mittagessen bist du zurück.“ Schneller als ich gucken konnte, war er auch schon verschwunden. „Wo geht er denn hin?“ nuschelte ich über meinen Mund voll Ei hinweg. „Zu Kaede. Wirklich ein nettes Mädchen, und gut erzogen außerdem. Und was hast du heute so vor?“ Ich zuckte mit den Schultern. Das war eine wahrheitsgemäße Antwort - Ich hatte keinen Plan. „Wuss nisch.“ Ich schluckte. „Ich sollte ein wenig für die Schule tun, die sind hier viel weiter.“ „Das ist mein Sohn, immer am Arbeiten!“ Mein Vater beäugte mich stolz über den Rand seiner Zeitung hinweg. „Hmhm…“, imitierte ich das Geräusch, welches ich gestern von Kami gelernt hatte und gab vor, sehr beschäftigt mit meinem Kaffee zu sein. Von den ungemachten Mathehausaufgaben (ganz zu schweigen von meiner alles durchdringenden Ahnungslosigkeit) und dem unfertigen Gedicht musste ja keiner was wissen. Nach dem Frühstück begab ich mich also wirklich nach oben in mein Zimmer und setzte mich vor die Mathehausaufgaben - so ungefähr fünf Minuten lang. Danach fand ich es viel interessanter, aus dem Fenster zu gucken oder einfach die Wand anzustarren. Mir war nie aufgefallen, dass die Farbe nach oben hin dunkler wurde, wirklich raffiniert. Gegen elf Uhr schließlich hatte mir die Wand auch nichts mehr weiter zu bieten und ich beschloss, mir die Siedlung mal etwas genauer anzusehen, wenn ich schon nichts zu tun hatte. Sobald ich ein paar Schritte gelaufen war, wurde mir klar, dass man hier anscheinend auch am Wochenende die Bürgersteige hochklappte - kein menschliches Wesen weit und breit. Nur Gekreische zeugte hin und wieder von der Existenz jüngeren menschlichen Lebens und an der nächsten Straßenecke standen ein paar Poser und checkten sich gegenseitig durch die Gegend. Ich lief eine gute Viertelstunde und erreichte schließlich das, was hier wohl eine Innenstadt darstellen sollte. Und da machte es auf einmal vor meinen Augen Tadaaa. Ein Musikgeschäft war direkt vor mir aus dem Boden gewachsen. Ich tastete nach meinem Geldbeutel. Vorhanden, ausgezeichnet! Meine Gitarre braucht dringend neue Saiten und auch sonst fiel mir spontan kein besserer Ort ein, um dort etwas Zeit zu verbringen, als ein Musikgeschäft mit seinen zahlreichen Möglichkeiten. Ich öffnete die Ladentür und irgendwo weiter hinten klingelte es leise. Zögernd trat ich ein und blickte mich um. Die Ladentheke war unbesetzt und ein wenig befreiter machte ich einige weitere Schritte in den Laden. Wie überall befanden sich im vorderen Teil all jene Instrumente, die gerne von Leuten gekauft werden, die sich einbilden, Musiker zu sein bedeutete, eine Blockflöte, eine 12 000-Yen-Gitarre oder eine Bongo zu besitzen. Ich mochte allerdings diese kleinen Echsen aus Holz, deren Rücken ein Geräusch erzeugte, wenn man mit einem Holzstab darüber fuhr. Ich wiederstand der Versuchung und ging weiter nach hinten. Am anderen Ende des erstaunlich großen Raumes erspähte ich einige Klaviere und einen Treppenaufgang, wo ein Schild auf Gitarren und Bässe im Keller und Blasinstrumente im Obergeschoss hinwies. Andersherum wäre es vermutlich hinsichtlich genervter Nachbarn schlauer gewesen, dachte ich und ging die Treppe hinunter. „Junge!“ Auf halbem Weg die Treppe hinunter zuckte ich zusammen und schaute mich hektisch um, da wurde mir klar, dass der Typ gar nicht mit mir redete. Langsam stieg ich tiefer. „Du schaus‘ seit Ewichkeit’n immer uff de jleiche Jitarre. Wird det nu‘ mal was oda nich‘?“ „Wird, wird“, sagte eine andere Stimme. Ich erstarrte und zog reflexartig den linken Fuß wieder eine Stufe nach oben, zum rechten. Diese Stimme… „Noch zwei Wochen. Du verkaufst sie nicht vorher, oder?“ „Det frachst du mir jetz‘ ooch schon drei Monate, wa? Und ich sach jedes Mal Nein. Mana, allet klar da hinte‘?“ Ich hörte keine Antwort, aber scheinbar gab es eine, denn das Gespräch ging nahtlos weiter. „Ah, bevor ick’s verjesse – kannstema eine Extraschicht mach’n, diese Dienstach?“ „Klar.“ „Dafür mack ick dein Herzblatt billijer, sachma bis zur Hundertastelle.“ „Danke, Mann. Dann kann ich sie mir nächste Woche leisten. Ein Traum wird wahr.“ „Jaja, nu hör emal uff mit der Säuselei hier, det kannichnich leide‘. Und nu‘ packt zusamme‘ und raus mit euch. Ich hab ooch zahljende Kunden.“ Ich wandte mich um und stieg die Treppe hastig doch lautlos wieder hinauf, stahl mich zu einer Ladenecke und betrachtete angestrengt ein Piano, da wohl weit über meiner Einkommensmarke lag. Erst als ich die Ladentür hörte drehte ich mich wieder um, und ging nach vorne, um nach meinen Saiten zu fragen. Fünf Minuten später verließ ich den Laden wieder. Während ich das Päckchen in meiner Tasche verstaute, drehten sich meine Gedanken im Kreis. Ich erfuhr am laufenden Band irgendwelche Dinge, die ich eigentlich nicht hören sollte. Was interessierte mich Koji? Ihn interessierte an mir ja auch nur, wann er mich am unauffälligsten verdreschen konnte. Wieso begegnete ich denen denn überhaupt andauernd? Konnte ich nicht EINMAL jemand anderen treffen? „Hey, Gackt! Kamui, wart mal!“ Und wieder einmal beweist uns das Leben, dass man aufpassen sollte, was man sich wünscht. Danke, Leben! Ein Schatten mit einer Einkaufstüte schob sich neben mich. Sie verfolgte mich. Sie musste mich einfach verfolgen! Das war doch nicht mehr normal! „Hallo Aiko...“ Sie grinste mich an. „Was für ein Zufall! Und, wie geht’s? Ist dein Gesicht wieder ok?“ „Ja, ja ich denk schon…“ Ich drehte mich zu dem Schaufenster hinter mir, um nachzusehen. Ja, ich würde keinen Oscar gewinnen für mein Aussehen, aber es näherte sich wieder dem Normalbereich an. Wieder zurück zu meiner neusten Begegnung. „Hast du irgendwas Bestimmtes vor? Weil da läuft ein neuer Film im Kino und-“ Seht ihr, die Sache mit solchen Fragen ist – sobald sie einmal raus sind, kann man nicht mehr Nein sagen, ohne dazustehen wie ein Riesenarsch. Die Kunst ist also, Nein zu sagen, schon bevor die Frage im Raum steht. Ich fiel ihr also kurzerhand ins Wort. „Äh, furchtbar gern, wirklich, aber ich, ähm, ich muss meinem Vater helfen.“ Sie sah mich enttäuscht an. „Oh. Schade. Wobei denn?“ „Ich, ähm, also er…. Streicht das Wohnzimmer. Und äh, deswegen muss ich jetzt auch noch äh… wo anders vorbeigehen, ja.“ „Na gut… Dann ein andermal?“ „Klar…“ Zwei Lügen zur gleichen Person innerhalb von zehn Sekunden. Gute Leistung, Kamui. „Soll ich dich noch ein Stück begleiten? Also, weil du kennst dich noch nicht so aus-“ „Nene, is ok, wirklich. Mach’s gut.“ Ich winkte, lächelte und sah zu, dass ich Land gewann. Also wirklich, wer war ich denn? Sah ich wirklich so aus, als bräuchte ich einen Babysitter? Nein, brauchte ich nicht! Ich war groß, gut aussehend und äh… Wort mit G, ähm… ach, drauf geschissen: fotogen. … Ok, und wo war ich noch gleich? Ratlos drehte ich mich einmal im Kreis. Super, wie die Realität meinen Worten immer so schön Nachdruck verlieh. Seufzend machte ich mich daran, meinen Weg fortzusetzen. Diese Stadt war nicht groß und hatte auf einer Seite Wasser, irgendwann würde ich wieder irgendwo rauskommen, wo ich mich auskannte. Ich schlenderte weiter die Straße runter, erkannte eine Kreuzung und bog in die richtige Richtung ab. Schließlich kam ich an einem Kinderspielplatz vorbei. Er war leer, was mich nicht wunderte: der Himmel hatte zugezogen und ein Wind, der deutlich den Herbst ankündigte, wehte vom Meer her. Nur ein einziges Mädchen schaukelte vor sich hin. Ich ging hinüber und setzte mich neben sie in die andere Schaukel. Mann, das letzte Mal als ich geschaukelt hatte, war sicher sieben Jahre her. „He“, sagte ich nach einiger Zeit. Ich war mir inzwischen sicher. „Hallo“, sagte sie und schaute mich überrascht an. „Ich bin Kamui. Und wie heißt du?" Sie schaukelte ein bisschen langsamer und hielt schließlich an. „Natsu." „Was machst du denn hier so ganz alleine?“, fragte ich. Natsu deutete in Richtung Rutsche. „Ich bin da drüben gestorben.“ „Oh. Das tut mir leid.“ „Ist schon ok. War niemandes Schuld.“ „Wieso bist du denn dann noch hier?“ „Ich schaukel so gern.“ Ich schaute sie ein wenig genauer an. Sie trug die geflochtenen Freundschaftsbänder am Handgelenk, die bei mir daheim vor zwei Jahren in gewesen waren. Selbst wenn ich davon ausging, dass in diesem Kaff hier die Bomben später einschlugen, war das ziemlich viel Schaukeln. „Magst du denn nicht mal nach Hause?“ Sie druckste herum. „Vielleicht… aber ich hab auch meine Haarspange verloren. Die schöne mit dem Kätzchen. Ich mag nicht ohne die…“ Unwillkürlich suchte ich von meinem Warte aus den Boden ab. „Ach, mach dir keine Mühe“, sagte sie traurig. „Ich such schon ewig.“ Wir schaukelten noch ein wenig. Dann ging ich nach Hause. Ich brauchte dringend Erholung von meinem Wochenende. Kapitel 3: ----------- „Mama, ich bin fühl mich echt nicht gut. Kann ich nicht doch daheim bleiben?“ „Nein.“ „Aber schau doch mal, ich bin ganz blass, und hier, die grünlichen Flecken, und da, guck mal, Belag auf der Zunge, siehst du hier: Bääääääääh-“ „Kamui, hör auf dich aufzuführen wie ein Kindergartenkind!“ „Aber Mama-“ „Nichts da aber Mama! Schau mal, wir sind doch schon da.“ Wir fuhren am Pausenhof rechts ran. Ich seufzte. „Ok Mutter, Karten auf den Tisch. Du suchst jemanden, der jeden Tag des nächsten Jahres abspült und ich will wirklich nicht auf diese Klassenfahrt. Ich hätte da ein interessantes Angebot.“ Meine Mutter lächelte und ich wusste, dass ich verloren hatte. Sie drückte mir die Schulter. „Kamui, ich weiß, das alles hier ist schwer für dich. Aber versuch, einfach ein bisschen Spaß zu haben. Vielleicht lernst du neue Leute kennen und das werden gute Freundschaften. Ich hab dich lieb. Ruf an, wenn ihr angekommen seid.“ Ich sah sie leidend an, seufzte und stieg aus dem Wagen. Gut ein dreiviertel meiner Jahrgangsstufe war scheinbar schon da. Sie standen herum, lachten, gaben den Busfahrern ihre Sachen und schlägerten sich darum, wer wo sitzen durfte. Falls ihr die Highschool verpennt habt: die coolen Kids sitzen hinten. Ich drückte meiner Mutter noch einen halbherzigen Kuss auf die Wange und schleppte meine Reisetasche Richtung Bus. „Hallooooo Gaaaackt!“, rief eine mir altbekannte Stimme, als ich gerade meine Tasche dem Busfahrer reichte. „Oh Neiiiin…“, murmelte ich halblaut. Der Busfahrer grinste wissend. „So sind sie, die Mädels.“ „Gackt, huhuuuu!“ Na gut, ich konnte dem wohl nicht mehr entgehen. Ich fabrizierte ein Lächeln, von dem ich hoffte, dass es nicht zu gequält wirkte und drehte mich um. „Na, schönes Wochenende gehabt?“ fragte Aiko. „Ging so, und deins?“ „Bestens. Hast du Lust bei uns zu sitzen? Wir sitzen fast ganz hinten.“ Sie deutete auf den zweiten Bus. Hinten. Bedeutete, sie musste nah an der Quelle der Coolness sein. Aber das war es mir dann auch wieder nicht wert. „Ähm, ich, also, ich würde ja wirklich sehr gerne, aber ich bin noch ziemlich müde und das würd ich gern noch nachholen, also wenn du nichts dagegen hast, bleib ich lieber da. Ich vermiese sonst noch die Stimmung… Weißt ja, musste das Wohnzimmer streichen und einräumen und so.“ Meine eigene Lüge vom Vortag war mir wieder eingefallen. „Oh. Ok.“ Aiko zog einen Flunsch und dann enttäuscht von dannen. Ich war frei. Ich stieg in den von mir auserkorenen Bus und sah mich nach einem freien Platz um. Im vorderen Drittel wurde ich fündig. Ich lies mich auf den Sitz fallen und beobachtete, wie sich auch der Rest zum Einsteigen bequemte. Die Lehrer zählten durch und dann ruckelten wir los. Also denn, auf ins Unbekannte! So unbekannt war das Unbekannte dann aber anfangs doch nicht, denn wir fuhren erst mal eine Stadtbesichtigung machen, bis unser Busfahrer die Karte richtig herum auffaltete und uns zur Autobahn manövrierte. ‘Ein Hoch auf unseren Busfahrer, Busfahrer, Busfahrer‘ sang ich im Kopf vor mich hin. Einmal auf der Autobahn gab es nichts mehr, was den Blick aus dem Fenster noch gelohnt hätte, von einer Fabrik hier und ein paar Schafe dort mal abgesehen, also wandte ich mein Augenmerk ins Innere des Busses. Ich lehnte mich in den Gang und sah mich nach meinen Mitmenschen um. Weiter vorne konnte ich den Hinterkopf meiner Biolehrerin und den Bürstenhaarschnitt von Tori sehen. Hinter mir entdeckte ich ein paar sportbegeisterte Jungs aus meiner Klasse, die Beauty Queen der Jahrgangsstufe und die Clique von Koji, die auf der anderen Seite des Gangs nicht weit von mir saß. Heinz, oder Yuuki, wenn ich mich nicht täuschte, hatte die Knie gegen den Sitz vor sich gestemmt und las, das Mädchen sah nach draußen, Kami hatte die Augen geschlossen und hörte Musik und Koji hatte sich auf einer eigenen Sitzreihe eingekringelt und schien zu schlafen. Überhaupt, dämmerte es mir, schlief Koji sehr oft. In der wenigen Zeit, die ich ihn kannte, war er bereits zweimal im Unterricht eingepennt. Da bekam jemand sein Leben ja sowas von nicht auf die Reihe, dachte ich innerlich den Kopf schüttelnd und begab mich wieder in eine aufrechte Sitzposition. Nach ungefähr einer Stunde wurde es im Bus allgemein ruhiger. Das leise Motorengeräusch und das fahle Dämmerlicht des grauen Himmels draußen zeigten ihre einschläfernde Wirkung und binnen kürzester Zeit war ein Großteil meiner Mitschüler eingenickt. Ich fühlte mich selbst ein bisschen dösig, kämpfte aber wacker gegen den Schlaf an. Schlafen am Tage führte grundsätzlich zu Zerknautschtheit (war das ein Wort? Egal.), sowohl äußerlich als auch geistig. Die gepflegten Felder draußen wurden von zerklüfteten, waldbewachsenen Bergen abgelöst. Wir machten Rast an einem Parkplatz, genau als die Sonne durch die Wolken zu spitzen begann. Yuuki stupste Mana an, die an seiner Schulter eingeschlafen war, Kami trat Koji, der sich murrend aufrichtete und ein bisschen tranig in die Gegend starrte. Diese Szenen wiederholten sich mit unterschiedlichen Protagonisten im ganzen Bus. „Boah, hab ich einen Hunger!“ „Ey, ich erst!“ „Ich muss aus Klo, kommt einer mit?“ „Holst du was zu trinken? Ja, Cola wär toll!“ Ich sah kurz ein Feuerzeug den Besitzer wechseln und Koji verschwand vom Erdboden. Da ich weder Hunger noch Durst hatte, nutzte ich einfach die Zeit, um ein bisschen den Parkplatz auf und ab zu gehen und meine Beine daran zu erinnern, dass sie noch nicht abgestorben waren. Es wurde langsam wärmer und mit dem Sonnenlicht besserte sich auch meine allgemeine Laune. Was konnte schon schief gehen, wenn die Sonne schien? Eine ganze Menge, das stimmte. Ich war keiner von den positiv eingestellten Hippies, die ihre innere Batterie mit Blümchenenergie aufladen konnten. Aber ja: Mit einer Dosis Vitamin D fühlte auch ich mich schon etwas besser. Eine Dreiviertelstunde später passierten wir ein kleines Dorf und fuhren dann eine schmale Straße bergan. Schließlich hielt der Bus vor einer mittelgroßen Herberge. Der zweite Bus hatte sich in der Pampa verfahren und würde wohl noch eine ganze Weile brauchen und ich beglückwünschte mich zu meiner Wahl des fahrbaren Untersatzes. Diese halbe Stunde meines Lebens konnte ich nun hoffentlich besser als neben Aiko und ihren Freundinnen verbringen. Drinnen begrüßte uns eine rundliche Frau mit roten Wangen und Pockennarben, die mich an eine meiner Tanten erinnerte. Sowohl im Positiven als auch im Negativen. Tori klapperte nacheinander alle Grüppchen ab und verkündete Zimmernummern. Ich schob mich so lange nach hinten, bis ich als Einziger übrig war. „Nun denn, Gakuto, Sie haben sich nirgendwo eingeschrieben wie ich sehe.“ „Ich ähm… ich weiß nicht“, stammelte ich. „Irgendwie –“ Mein Stolz sträubte sich dagegen ‘hat mich niemand gefragt’ zu sagen, also schloss ich etwas lahm mit „keine Ahnung.“ Er sah mich kurz abschätzend über seine Liste hinweg an. „Mmh…„Dann nehm ich ihnen die Arbeit ab. Sie gehen rauf in die 13.“ Ich schleppte meinen Koffer die Treppe rauf. Rechter Fuß, Tasche raufwuchten, linker Fuß. Meine Arme dehnten sich um zehn Zentimeter, dessen war ich mir sicher. Tasche meets Fuß. Aua. Wand meets Ellenbogen. Aua aua. Tür meets Stirn. Argh! Idioten! Endlich dort angekommen, wo ich hinwollte, stellte ich meine Tasche ab, wischte mir die feuchten Haarsträhnen aus der Stirn und atmete erst mal tief durch. Vielleicht sollte ich mir auch mal welche von diesen Muskeln zulegen, die zurzeit so in Mode waren. Nochmal atmen. So! Wer sich wohl hinter dieser Tür verbarg? Vielleicht welche aus der Nahbarklasse, mit denen ich noch nichts zu tun gehabt hatte. Das konnte ganz neue Möglichkeiten eröffnen. Zumindest würde ich Aiko nicht treffen. Erstens war sie noch nicht hier, zweitens gab es keine gemischten Zimmer. Also gut Gackt, klopfen und lächeln. Ich klopfte also und lächelte. Niemand öffnete. Ich klopfte nochmal und lächelte weiter. Nichts. Gut, dann würde ich die Tür eben einfach aufmachen. Vielleicht war noch niemand da. Ich öffnete die Tür enthusiastisch und das Lächeln fiel mir vom Gesicht und zerbrach auf dem Boden in viele kleine Stücke. Da wankte gerade eine Gestalt mit einem Bettbezug über dem Kopf durchs Zimmer, seine Decke hinter sich herschleifend wie eine gruselige Version von Linus aus den Peanuts. „Jetzt Kami, hilf mir, verdammt noch mal!“ Schallendes Gelächter. „Mana! Yuuki!“ Das Gelächter wurde lauter. „Die sind nicht mehr da, du hast nur mich!“ „Kameradenschweine! Ihr seid doch alle bescheuert! Und du am meisten!“ Kami sprang von seinem Stockbett und half Koji, sich aus dem Bettbezug zu befreien. „Oh Gott, danke!“, hustete Koji und schnappte nach Luft. „Du kannst auch einfach Kami zu mir sagen.“ „Ahahahaha. Wie witzig. Weißt du eigentlich, da-“ Koji wandte sich zu seiner Decke um und erstarrte in der Bewegung, als er mich in der Tür stehen sah. Kami drehte sich ebenfalls um. „Was los?“ „DAS IS JA WOHL ‘N WITZ!!“ Ich stand neben Kami im Speisesaal und sah Koji dabei zu, wie er seinem Ärger Luft machte. „Hagino, hören Sie sofort auf, mich anzubrüllen. Ich bin untröstlich, Ihre kleine Privatparty zu stören, aber da Sie das einzige Zimmer mit freien Betten sind … “, Toris Blick sagte deutlich ‘warum nur?‘ und ich konnte Kojis knirschenden Zähnen entnehmen, dass er den Seitenhieb verstand, „gehört Gakuto zu ihnen. Sie werden sich schon nicht die Köpfe einschlagen.“ Ich schnitt Tori eine unfreiwillige Grimasse, die aussehen musste, als hätte ich Bauchschmerzen. Bitte? Hatte der Kerl denn nicht kapiert, dass Koji versucht hatte, mir das Genick zu brechen? Ich kam mir irgendwie benutzt vor. Koji klappte den Mund auf, vermutlich um nochmal kräftig nachzulegen, doch Kami trat ihm unauffällig von hinten in die Kniekehle. Kochend drehte er sich auf den Fersen um und stampfte von dannen, nicht ohne mich dabei anzurempeln. So ein Arschgesicht! Das würden die schrecklichsten drei Tage meines Lebens werden. Mein Gesicht musste meine Gedanken deutlich zeigen, denn ich spürte eine Hand auf meiner Schulter. „Los, komm. Der beruhigt sich schon wieder.“ Ich folgte Kami schweigend. Ich bezweifelte, dass Koji sich beruhigen würde; eher würde er ein Breitschwert bei ebay ersteigern und meine Hinrichtung nachholen. Wieder im Zimmer wuchtete ich meine Tasche auf das Stockbett neben dem Schrank, dessen Fuß- an Kamis Kopfende lag. Da ich zögerte, Dinge auszupacken, die mir womöglich weggenommen und versteckt werden konnten - oder mit einem Breitschwert gespalten - packte ich einfach mein ganzes Zeug auf den Schrank und machte mich daran, mein Bett zu beziehen. Ich war gerade beim Kopfkissen, als die Tür wieder aufging und mir das laute Plärren vom Gang sagte, dass der zweite Bus angekommen war. „-wird es nicht besser“, hörte ich eine Stimme, die mir bekannt vorkam. Der Typ mit Brille, Yuuki, kam, seinen Koffer hinter sich herschleifend, ins Zimmer und warf ihn achtlos auf sein Bett. „Wo ist Közi?“ Kami, der sich mit einer Zeitschrift auf seinem Bett ausgestreckt hatte, murmelte: „Was weiß denn ich.“ Die Stirn in Falten drehte Yuuki sich um – vermutlich um Kami zu fragen, warum die Laune im Keller mit ‘frag nicht weiter‘ Samba tanzte - und sah mich. Sein Blick ging von mir zu Kami, wieder zu mir und wieder zu Kami. „Was ist denn das?“ „Ich bin Gakuto Kamui, erfreut…“ Es wunderte mich selber, dass meine Zunge nicht erstarrt war wie sonst in solchen Situationen. Aber man konnte einfach keine Angst vor Brillenträgern haben. „Da hast du’s, es ist ein Gackt“, murmelte Kami unterstreichend und blätterte die Seite um. In diesem Moment betrat Miss Ich-rede-nicht-mit-schäbigen-Knechten die Bildfläche. Ich hatte es irgendwie schon kommen sehen. Jetzt war mir zumindest klar, was mir an ‘ihr’ so merkwürdig vorgekommen war. Sie, er, es kam auf jeden Fall rein, warf mir einen geschockten Blick zu, erinnerte sich aber fast sofort daran, dass geschockt zu sein nicht schick war und wechselte übergangslos in den bin-nur-gelinde-überrascht-Modus. Yuuki hingegen schaute mich immer noch an. Anscheinend hatte er noch Fragen. Vielleicht war das also nicht die beste Gelegenheit um ihn zu fragen, ob er mir Nachhilfe gab. „Ahja, ein Gackt. Und was macht Gackt hier?“ „Er atmet, er schläft, er läuft rum, was man halt so tut in einem Zimmer.“ „Ich hab nicht dich gefragt.“ „Dann red nicht in der dritten Person von ihm.“ „Ok ok, was machst DU hier?“ „Tori hat mich zu euch gesteckt, weil ihr freie Betten hattet…“ Ich schluckte die Entschuldigung, die mir auf der Zunge lag, runter. War ja schließlich nicht meine Schuld! „Ahja.“ Damit schien das Gespräch für Yuuki abgeschlossen, denn er machte sich daran, seine Sachen auszupacken. Mana war damit offenbar schon fertig. Anscheinend dachte er(?) ähnliche wie ich – warum auch immer, immerhin war er im Gegensatz zu mir hier unter Freunden – denn er schob seinen Koffer einfach wie er war unters Bett. Ich stellte meinen Wecker auf die Ablage am Kopfende, wühlte einen Manga unter meinen Socken hervor und begann, ein bisschen zu lesen. Eine knappe halbe Stunde später brüllte irgendjemand „ESSEN!“ den Gang hoch. Wir fanden Koji an dem uns zugewiesenen Tisch im Speisesaal. Man konnte die Gewitterwolken hinter ihm praktisch anfassen, so allgegenwärtig waren sie. Nachdem uns eine mürrische Mensafrau typischen Mensafraß auf halbsaubere Teller geklatscht hatte, setzte ich mich neben Kami ganz an den Rand des Tisches und fühlte mich nicht wohl in meiner Haut. Aiko, die zwei Tische weiter saß, machte eine meine Tischnachbarn zusammenfassende Geste, schnitt mir eine Grimasse und vollführte eine Bewegung, als würde sie sich selbst erhängen. Ihre Zunge hing theatralisch aus dem Mund. Das munterte mich ein bisschen auf. Sie und ihre Freundinnen waren höllisch nervig und ein bisschen hohl, aber sogar ein Tisch giggelnder Mädchen wäre mir lieber gewesen als das hier. Ich schenkte ihr ein halbes Lächeln und hob die andere Hälfte für schlechte Zeiten auf. Die würden sicher bald kommen. Lustlos stocherte ich in meinem Essen herum, bis Yuuki die Frage aussprach, die sich wohl jeder hier stellte. „Kann mir mal einer sagen, was das sein soll?“ Koji griff die Vorlage auf. Er schob sich eine große Ladung voll Pampf in den Mund und schmatzte ein paar Mal wie ein Sommelier auf Weinverkostung. „Ja Yuuki, das ist… mmh, delikate Mehlpampe mit Gammelhackfleisch und… aaaahja, hier, Tomatensoße aus der Büchse, abgeschmeckt mit geriebenem Fußkäse.“ „Danke Közi“, murmelte Yuuki und beäugte sein Essen noch misstrauischer. Mana schob seinen Teller von sich weg. Ich probierte todesmutig. Es schmeckte nach gar nichts, aber es war essbar. Der Hunger treibt’s rein, dachte ich. Koji sah mir interessiert zu. „Ist was?“ „Nein, ich warte nur, ob du eingehst. Salmonellen, BSE, Tuberkulose …“ Er klang, als wären das seine größten Wünsche auf dieser Welt, gleich nach einem Pony. Ich nahm trotzig einen weiteren Bissen. Als so gut wie alle fertig waren, stand meine Biolehrerin auf und verschaffte sich Gehör, indem sie an ihr Glas klopfte. „Also meine Lieben, ich werde euch jetzt die Hausordnung vorlesen und ich erwarte das JEDER und JEDE, und damit MEINE ich auch JEDER und JEDE, sich daran hält!“ Es folgte eine Liste von wegen nach elf Uhr ist Ruhe, keine Übernachtungen in anderen Zimmern, kein Vandalismus und bloß nicht die Betten mit einem brennenden Iltis anzünden, denn Iltisse standen unter Naturschutz. (Wie sie auf diesen Punkt kam ist mir bis heute unklar.) „In einer halben Stunde, also um halb drei, treffen wir uns unten vor dem Haus! Jacken und Wasser nicht vergessen und ich will keine Ausreden hören!“ Es erhob sich allgemeines Gemurre, als alle aus dem Speisesaal zurück zu ihren Zimmern strömten. Da ich nicht wusste, was ich dort groß sollte, beschloss ich nach draußen zu gehen und mir die nähere Umgebung anzusehen. Hinter dem Haus begann gleich der Wald. Ein steiniger Pfad führte hinein und verlor sich zwischen den Bäumen und Büschen. Ein Stück den Hang hinunter lag ein kleiner See und ein Sportplatz und, gleich daneben, eine überdachte Feuerstelle umgeben von einigen rustikalen Holzbänken. Ich ging zum See hinunter, weil es wichtig ist, sich seinen Ängsten zu stellen und stand einige Minuten am Schilf, bis ich es nicht mehr aushielt. Dann ging ich mein Zeug holen. Wir trotteten mit unseren Lehrern bergab in Richtung Dorf, doch bogen lang vor den ersten Häusern auf einen breiten Waldweg ab. Nach einer guten halben Stunde erreichten wir ein Freilichtmuseum und verbrachten den Nachmittag damit, uns in Begleitung einer jungen, zu sehr von der Thematik begeisterten Studentin und eines älteren Mannes mit nur vier Zähnen alte Brunnen und Landwirtschaftsgeräte anzusehen, doppelte Böden und Geheimtüren zu finden und die traditionellen Gewerbe von anno dazumal kennenzulernen. Die meisten zogen dabei ziemliche Gesichter, aber ich musste gestehen, dass es mir eigentlich gefiel. Ich mochte den Charme des ländlichen und ich stellte mir gerne vor, wie … nun, ich stellte mir eigentlich alle möglichen Dinge gerne vor. Wie es wohl gewesen war, vor dreihundert Jahren hier zu leben, war nur eine von vielen Fantasiewelten. Wäre ich ein Samurai gewesen oder doch nur ein armer Bauer? Oder hätte man mich in einer abgelegenen Bergregion zum Shinobi ausgebildet, nur weil ich zufällig in die Familie meines Vaters und nicht in die nächstbeste geboren worden war? Wäre ich ein wandernder Mönch gewesen oder vielleicht sogar eine Frau? Ich wanderte durch die Räume und verlor mich ein wenig. Vielleicht würde mir das hier endlich wieder den kreativen Schub geben, den ich brauchte. Glücklicherweise war ich mit meinem Wohlwollen diesem Nachmittag gegenüber zumindest nicht ganz allein, denn einige Mädchen aus der Nachbarklasse hatten Spaß dabei, die nachgefertigten Kleider der damaligen Epoche anzuprobieren und Kami verwickelte unseren ältlichen Führer in ein stellenweise hitziges Gespräch über das Shogunat und die fragwürdigeren Taktiken Tokugawa Ieyasus. Es wurde mir nicht ganz klar, auf welcher Seite er hierbei stand. Am späten Nachmittag schließlich kehrten wir zur Herberge zurück, um zu Abend zu essen. Es war zum Glück essbarer als das, was es zum Mittagessen gegeben hatte und ich beschloss, meine fehlenden Kalorien nachzuholen, auch als der Rest meines Zimmers sich verkrümelte. Danach ging ich noch mal nach draußen und sah der Sonne beim Untergehen zu; die halbherzige Einladung einiger Jungs aus meiner Klasse, mit ihnen Basketball zu spielen, lehnte ich ab. Als auch das letzte Stück Feuerball hinter den Hügeln versunken war, ging ich wieder drinnen. Es wurde kühl und mich fröstelte in meinem kurzen Shirt. Ich klopfte an und wartete nicht auf ein Herein. War ja schließlich auch mein Zimmer, ob es uns gefiel oder nicht. Meine Zimmergenossen blickten mit Ausnahme Kojis kurz auf und wandten sich dann wieder dem zu, was sie gerade taten. Ich hangelte mich nach oben auf mein Bett und zog einen Pullover über, dann wandte ich mich wieder meinem Manga zu. Kami saß im Schneidersitz neben mir auf seinem Bett und hatte seine liebe Mühe damit, eine Bürste durch seine Haare zu bekommen. Immer, wenn er gerade durch war, hing es wieder am Anfang. Schließlich erbarmte sich Mana und kletterte zu uns nach oben. Kämmen, ein Knäuel finden, das Knäuel aufdröseln, weiterkämmen. Leider schienen die Haare davon nicht weniger zu werden. „Weißt du Kami, da gibt’s ein ganz tolles Mittel gegen. Nennt sich Haarschnitt“, spöttelte Koji, der alles über seinen Block hinweg verfolgte, auf dem er herumkritzelte. „Das ist mein Style“, stellte Kami fest. „Und du musst reden. Du siehst aus wie ein halbrasierter Waschbär.“ Ich drehte mich zur Wand, um meine zuckenden Mundwinkel zu verstecken. Der Vergleich war treffend. „Außerdem wecke ich so Manas Mutterinstinkt, deswegen kriege ich hier gerade die Aufmerksamkeit und du nicht.“ Er grinste. Mana hielt im Kämmen inne, schien abzuwägen und zog Kami dann kurzerhand die Bürste über den Schädel. „Au!“ Kami rieb sich den Hinterkopf. Ich allerdings konnte damit den Schlussstrich unter meine Beobachtungen des Tages ziehen: von allen Todesblicken, die Mana so austeilte, traf keiner Kami. Dieser schien vollkommen immun gegen jegliche Form von Negativität. Eine Viertelstunde später schenkte Yuuki Tee aus. Ich bekam auch eine Tasse, was ich sehr nett fand. Koji sagte nichts. Ich kuschelte mich in meine Decke, nippte an meinem Tee und sah zum Fenster hinaus, das ich gut im Blick hatte, wenn ich mich an den Schrank lehnte. Koji hatte es geöffnet, lehnte auf dem Fensterbrett und rauchte eine. Und dann noch eine. Das letzte Licht ließ das Wasser im See lila leuchten. Das sah schön aus. Ich verschwand zum Duschen ins Bad und wurde tatsächlich nicht gestört. (Meine „wie leg ich mein Zeug so hin, dass ich mich damit möglichst schnell verteidigen kann“-Taktik hätte ich mir also sparen können.) Um kurz nach elf steckte Tori seinen Kopf ins Zimmer (Mana warf ihm einen äußerst eisigen Blick zu) und erinnerte uns, dass ab jetzt das Licht aus zu sein hatte und wehe wenn nicht. Natürlich hielt sich niemand daran. Im Nebenzimmer ging es laut her und so dauerte es bis kurz nach eins, bis es auch bei uns allmählich ruhiger wurde. Die Gespräche im Raum, denen ich nur gelauscht hatte, wurden weniger und erstarben schließlich ganz. Ich hatte ohnehin das etwas unangenehme Gefühl, dass meine Zimmergenossen wegen meiner Anwesenheit nicht so offen miteinander waren, wie sie es normalerweise gewesen wären. Danach lag ich mit offenen Augen da, starrte durch das Halbdunkel im Zimmer an die Decke und lauschte dem Atem der anderen. Nach einiger Zeit waren meine Ohren so konzentriert, dass ich sie sogar auseinanderhalten konnte. Mana schlief, daran bestand kein Zweifel, genau wie Yuuki. Koji schien irgendwo im Halbschlaf herumzudämmern, denn er wälzte sich durchs Bett, ohne dass sich sein Atem beschleunigte. Ich drehte mich auf den Bauch und legte den Kopf auf die Unterarme. Kami war ebenfalls wach, ich konnte seine Augen leicht im Dunkeln glitzern sehen, denn er blickte genau wie ich zuvor an die Decke. Ich hatte mein Bettzeug so hingelegt, dass wir Kopf an Kopf lagen und konnte einen Blick auf seinen Wecker werfen. 02:14 . „Kami…?“ murmelte ich so leise ich konnte. „Mmh?“ „Kannst du auch nicht schlafen?“ „Nein, du siehst doch wie ich schlafe.“ Danach war erst mal Ruhe. War ja auch ehrlich gesagt nicht die intelligenteste Frage ever gewesen. „Ey Gackt.“ „Mmh?“ „Lass uns rausgehen.“ „Jetzt?“ „Ja, vom Rumliegen werden wir auch nicht müder.“ „Aber die Ausgangs-“ „Scheiß doch drauf, wir-“ Yuuki drehte sich geräuschvoll um und unser gemurmeltes Gespräch erstarb kurz. „Ok…“, flüsterte ich und setzte mich im Bett auf. Die Sachen, die ich getragen hatte, lagen noch auf meinem Koffer. Ich nahm sie und stieg die Leiter runter. Unten latschte ich fast Yuuki auf die Hand, fluchte in Gedanken und tippelte dann leise hinaus, wobei ich über Manas Schuhe fiel, was meinem Leise etwas mehr ‘laut’ gab. Kami folgte mir geräuschlos. Auch das musste so eine genetische Sache sein. Wir zogen uns schnell draußen im Gang an und gingen dann Richtung Speisesaal, wo unsere Lehrer sich anscheinend dem Genuss des Bieres zugewandt hatten. Vorsichtig schlichen wir am Eingang vorbei und weiter zur Eingangstür. Ein kurzes Zerren offenbarte, dass sie abgeschlossen war. Kami nickte mir zu, ihm zu folgen und wir huschten zurück und kletterten zu einem Fenster im Gemeinschaftsraum nach draußen, vor das Kami den Vorhang zog. Ungefähr zehn Meter vom Haus entfernt überkam mich das große Kichern. Das, das Leute immer kriegen, wenn der Körper Anspannung verarbeiten muss. Nachdem ich mich wieder beruhigt hatte, sah ich ihn an. Im Mondlicht hatte ich eine relativ gute Sicht. „Und jetzt?“ „Keine Ahnung.“ Er grinste. „Ich dachte, du wüsstest was.“ „Wieso bin ich immer der Kerl mit der Ahnung, hä?“ „Siehst halt so intelligent aus.“ „War das jetzt ironisch?“ „Aber nie im Leben.“ „Ahahahahahaha. Der Lacher des Tages. Danke, dass du mein überflüssiges Leben damit bereichert hast.“ Er piekte mich. Ich piekte zurück. Wir schlenderten langsam Richtung Waldrand. Sobald wir die ersten Bäume hinter uns gelassen hatten, umfing uns eine fast gespenstische Stille. Hin und wieder schuhute eine Eule, ein Bächlein plätscherte und Tiere raschelten im Unterholz. Wir hielten uns an den Weg. Keiner von uns schien irgendetwas loswerden zu wollen. Es war wie die Stille in der Kirche, einfach zu tief, als dass man sie mit Worten, die so oberflächlich schienen, stören wollte. Nach einer knappen Viertelstunde, zumindest schätzte ich das so, erreichten wir eine Lichtung und jetzt konnte ich auch den Bach sehen, der die ganze Zeit in der Dunkelheit neben uns hergeflossen war. Der Mond stand in voller Größe genau über der Lichtung und lies das Wasser silbern leuchten, als würde sich ein Band aus Licht durch den Nebel ziehen. Kami pfiff leise. „Keine Beleidigung, Gackt, aber ich wünschte grade, du wärst ein Mädchen. Weil hierfür würde ich ganz schön Bonuspunkte kriegen.“ „Ich geb dir vier“, sagte ich. Kami lachte leise. „Und damit mach ich dann was genau?“ Wir stiegen zum Ufer runter, setzten uns daneben ins feuchte Gras und sahen in den Himmel. „Orion“, sagte ich und deutete auf das einzige Objekt am Himmel, das ich außer dem Mond identifizieren konnte. „Großer Bär“, murmelte Kami und zeigte ein Stück weiter links. Ich suchte danach. Ah. „Kennst du noch welche?“ „Polarstern. Kassiopeia.“ „Wo?“ Er zeigte es mir. „Cool. Woher weißt du das alles?“ Sternengucken wirkte auf mich eher wie ein Hobby, das Yuuki gefallen könnte. „Hat mir mein Vater beigebracht. Survival und so… Folge dem Fluss, verlier nie dein Messer und iss keine gelben Käfer, der ganze Scheiß.“ „Das ist ziemlich abgefahren“, sagte ich. „Das ist deine Sicht der Dinge.“ Der Bach gluckerte leise in der darauf folgenden Stille. Ich schloss die Augen und atmete tief ein. Ich konnte das Wasser riechen und das Gras. Um uns herum zirpten Grillen. Etwas krabbelte an meiner Hand, ich wischte es weg. „Kami?“ „Mhh.“ „Wieso hast du Koji nicht davon abgehalten mich umlegen zu wollen?“ „…“ Kami seufzte leise und ich spürte mit geschlossenen Augen, wie er sich zur Seite drehte, so dass er mich ansehen konnte. „Weißt du… das mag jetzt klingen wie eine Ausrede aber… es ist Közi. Man kann ihm nichts ausreden.“ Er schwieg kurz und schien auszuformulieren was er sagen wollte, bevor er leise weitersprach. „Wenn du mit ihm befreundet bist, du… du kannst versuchen, die Folgen seines Handelns abzuschwächen, du kannst versuchen, ihn aus dem Ärger, in den er sich reinmanövriert rauszuholen … vielleicht kannst du ihn sogar über die Jahre ein wenig ändern. Aber du wirst es niemals schaffen ihn von etwas abzuhalten, das er tun will.“ Ich dachte über das nach, was er gesagt hatte. „Nimm das nicht falsch aber… ist er ein bisschen ein egoistischer Arsch?“ „So würd ich das nicht ausdrücken. Wenn er einen genug mag, dann… dann nimmt er auch Rücksicht. Aber er würde nie Rücksicht nehmen, weil man ihm sagt, dass er es tun soll, verstehst du?“ „Mmh… ist schwierig oder?“ Kami lachte leise. „Was ist schon schwierig? Es ist Közi. Das ist alles. Ich bin auch nicht einfach.“ „Du versucht nicht, mich umzulegen.“ „Ich habe keinen Grund.“ „Hat er ihn?“ „Keine Ahnung.“ „Ist abgrundtiefer Hass nicht was, was man mit seinem besten Freund teilt?“ „Wir sind doch keine besten Freunde, wie kommst du denn auf den schmalen Holzweg.“ „Ich dachte, weil ihr immer…“ „Naaah. Ich glaub, der einzige, der wirklich schnallt, was hinter Közis Stirn vorgeht, ist Mana. Und andersrum…“ „Ähm…“, sagte ich. Das Koji-Thema war für mich zwar noch lange nicht abgeschlossen – wusste Kami wirklich so wenig, wie er tat? – aber wo sich die Gelegenheit schon ergab, musste ich sie ergreifen: „Wegen Mana …“ „Ja?“ Ich konnte das Grinsen in Kamis Stimme hören, bevor ich die Augen aufgeschlagen hatte. „Was… äh… ist da genau ähm… also… solange ich mir ein paar Quadratmeter mit ihm teilen muss, irgendwelche … Warnhinweise?“ Kami lachte wiehernd auf. Anscheinend hatte ich da einen Nagel auf den Kopf getroffen. Damals war mir aber noch nicht klar, wie sehr das Wort Warnhinweis bei Mana angebracht war. Ich verzog also das Gesicht und wartete, bis er sich wieder eingekriegt hatte. „Also, es ist eigentlich einfach. Wenn du mit ihm reden musst, benutz Ja-Nein-Fragen. Er spricht nicht so gern mit Leuten. Also wenn du’s umgehen kannst, und das ist meistens so, lass es einfach ganz. Ansonsten… sei ganz normal.“ „Ok... Aber eins noch: Sag ich er oder sie zu ihm?“ „Mana ist ganz passend.“ „Ähm… ja. Gut. Also… wirst du mir nicht sagen, was da…?“ „Ich will’s selbst gar nicht so ganz genau wissen“, sagte Kami. Es schien kein Witz zu sein. „Aha“, sagte ich. Wir lauschten den Grillen. „Woher kennt ihr euch eigentlich alle?“, fragte ich dann. „Weil, also, ihr seid so… verschieden.“ „Wir beide sind verschieden“, sagte Kami. Darauf fiel mir dann nichts mehr ein. „Mir ist kalt“, sagte er schließlich. Ich erhob mich fröstelnd. „Lass uns zurückgehen.“ Wir stiefelten genauso schweigsam durch den Wald, wie wir gekommen waren. Da es bergab ging, rutschte ich ein paar Mal im Dunklen auf losen Steinen ab, aber Kami zog mich jedes Mal wieder hoch, bevor ich einen peinlichen Abgang machen konnte. Anscheinend hatte er viele Karotten gefuttert oder sein Vater hatte ihm auch Überleben bei Nacht beigebracht. Ich war ein bisschen neidisch: Alles was mein Vater mir je beigebracht hatte, waren ein paar Klauseln aus dem Strafgesetzbuch. Schließlich standen wir wieder hinter dem Haus. Kami drückte gegen das Fenster und machte ein pikiertes Gesicht. „Was ist?“, flüsterte ich halblaut. Vorne im Speisesaal brannte kein Licht mehr und die Zimmer unserer Lehrer lagen einen Stock höher. Wer wusste schon, ob und wie tief sie inzwischen schliefen. „Zu“, flüsterte er zurück. „Vielleicht ist es das falsche?“ „Nein, das dritte von links…“ Er lehnte sich noch mal gegen das Glas. „Fuck!“ Über uns wurde ein Fenster geöffnet. Ich packte Kami mit einer mir unbekannten Geistesgegenwart und zerrte ihn in den Schutz eines Busches. Mit klopfendem Herzen sah ich unsere Biolehrerin genau zu uns herunterlugen. Einen schrecklichen Moment lang hatte ich das Gefühl, sie würde mir in die Augen sehen, doch dann schloss sich das Fenster wieder und der Spuk war vorbei. Wir zählten wohl beide innerlich bis zwanzig, denn wir atmeten gleichzeitig aus. „Und wie kommen wir jetzt rein?“, flüsterte ich dann. Kami zog mich auf die Beine. Wir umrundeten das Haus und machten schnell unser Zimmerfenster ausfindig. Kami warf einen Kiesel. Dann noch einen. Es klirrte leise. Da ich eine Koordination wie ein Faultier hatte, schaute ich nur interessiert zu. Beim vierten Mal erschien Yuuki am Fenster. Er öffnete und lehnte sich hinaus. „Was zur Hölle macht ihr da?“ „Später. Mach das Fenster im Gemeinschaftsraum auf und lass uns rein“, zischte Kami. Yuuki schüttelte den Kopf und schloss mit etwas, das entfernt nach „Idioten“ klang das Fenster wieder. Ich und Kami sahen uns an und zuckten mit den Schultern. Das hieß wohl ja. Wir liefen wieder zurück zur anderen Seite. Und tatsächlich erschien kurz darauf eine Gestalt am Fenster. Es wurde gekippt. „Uhlala, da haben aber zwei Leute ein kleines Problemchen, nicht wahr?“ Es war Koji, der durch den Spalt zu uns hinausflötete. „Lass den Scheiß und mach das Fenster auf“, knurrte Kami und warf ihm einen angepissten Blick zu. „Mmh… was krieg ich von dir, wenn ich euch beide reinlasse?“ „Keine Spielchen morgens um vier.“ „Nanana, es ist drei Uhr siebenundvierzig. Mhh, was passiert wohl wenn ich jetzt hier das Schreien anfange?“, meinte Koji und legte einen nachdenklichen Gesichtsausdruck auf, der nur durch sein süffisantes Grinsen gestört wurde. Kami atmete tief durch, mit der Kontenance eines Mannes, der wusste, wann der Krieg aufhörte und die Diplomatie anfing. „Sag schon was du willst.“ Koji winkte ihn näher an die Scheibe und flüsterte ihm etwas ins Ohr. „Vergiss es!“ „Na gut, dann: Nachti!“ „…. Ok, ok, du hast gewonnen.“ Koji kicherte leise und öffnete das Fenster. Kami sprang mit einem Satz aufs Fensterbrett, ich brauchte ein bisschen länger. Koji schien ziemlich zufrieden mit dem zu sein, was er Kami aufgeschwatzt hatte, denn er hatte einen Gesichtsausdruck wie ein glücklicher fetter Kater und vergaß sogar, mich zu ärgern. Oben ließen Kami und ich uns ins Bett fallen, ohne uns vorher noch umzuziehen. Etwa eine halbe Stunde verging, in der ich trotz jetziger Müdigkeit nicht schlafen konnte, weil mir meine Gedanken gegen den Schädel trommelten. „Kami?“, murmelte ich kaum hörbar. „Mmh?“ „Denkst du… kann es vielleicht sein, dass Koji das Fenster zugemacht hat?“ Kami hob den Kopf und sah mich im Halbdunkeln mit einem verständnislosen Blick an, bevor er antwortete. „Natürlich hat er das.“ * Als am nächsten Morgen der Weckruf durch den Gang hallte, fühlte ich mich wie gerädert. Außerdem musste ich andauernd niesen. Anscheinend war unser Ausflug meiner Gesundheit nicht unbedingt zugutegekommen. Ich setzte mich auf, registrierte meine Rückenschmerzen, die daraus resultierten, dass ich auf meinem Manga gepennt hatte - und nieste. Koji seufzte genervt, drehte sich zur Wand und zog sich die Decke über den Kopf. „Jetzt mach schon Közi, raus da“, meinte Yuuki, der gerade mit nassen Haaren aus dem Bad kam. Frühaufsteher wie es schien. Ekelhaft. „Nur wenn Mana mir einen Gutemorgenkuss gibt“, kam die dumpfe Antwort aus dem Deckenberg. Mana nahm wortlos (wie immer) seine Sachen und verschwand Richtung Bad. „Friendzoned“, lachte Yuuki und wühlte in seinem Koffer herum. „Nur ein Scheißtag kann morgens anfangen!“ „Du bist ja wieder besonders gut gelaunt heute…“ Ich zog mir ein frisches Shirt über den Kopf, nieste noch einmal und sprang von meinem Bett. Koji setzte sich auf und guckte langsam durch die Gegend. Dann lies er sich wieder in die Kissen zurückfallen und zog Kopfhörer und Handy irgendwo aus seiner Decke. „Közi!“ „Ja, Mama! Nur noch fünf Minuten! Unsere Drag Queen blockiert eh das Bad erfahrungsgemäß jetzt eh erst mal für ‘ne halbe Stunde!“, knurrte dieser und schloss die Augen. Irgendwie schafften wir es trotzdem, rechtzeitig zum Frühstück zu erscheinen. Mana murmelte zwar irgendetwas, was Yuuki als: >Ich war noch nicht fertig, ihr Affen< übersetzte, ich hatte nur kurz mal in den Spiegel geguckt und Koji zog sich auf dem Weg nach unten noch fertig an, aber im Großen und Ganzen waren wir recht erfolgreich. Nachdem wir das Frühstück, bei dem Ameisen über die Butter liefen (Anmerkung: Verarbeitung traumatischer Schullandheimausflüge der Autorin) überlebt hatten, oder eher ich es überlebt hatte, ohne mit dem Gesicht voran in meine Kaffeetasse zu fallen und einen grausamen Erstickungstod zu sterben, watschelte meine Klasse unserer Biolehrerin und Tori nach, die uns in den Gemeinschaftsraum pferchten, wo wir einen Sitzkreis machen durften. Ich hockte mich zwischen Aiko und eine ihrer Freundinnen, was mir am sichersten schien. Unsere kleine, pummelige Lehrerin watschelte in die Mitte des Kreises. „Heute Vormittag machen wir eine kleine Vorstellungsrunde, damit ihr etwas mehr über eure Mitschüler erfahrt, ist das nicht toll? Deswegen sagt jetzt jeder von euch seinen Namen, seine Lieblingsfarbe, was er gerne hat, seine Hobbys und was er einmal werden will.“ Sie strahlte in die Runde. Die Runde strahlte nicht eben zurück. Sie watschelte auf ihren Platz und das Mädchen neben ihr begann zögernd. Ich versuchte, mir diejenigen einzuprägen, die mir sympathisch schienen. Das war einfach, denn viele waren es nicht. Schließlich stand Koji äußerst widerwillig auf. „Hagino Koji, meine Freunde nennen mich Közi. Also ihr alle nicht. Meine Lieblingsfarbe ist Rot. Ich mag Clowns, hänge gerne rum und rauche zu viel. Ich werde Musiker.“ Ein paar Jungs kicherten. Koji brachte sie mit einem Mörderblick zum Verstummen. Anders als Manas eisiger Blick des nahenden Todes, aber genauso zielführend. „Das ist Mana“, fuhr er dann fort und machte eine Handbewegung zu seiner Linken. „Mitternachtsblau, alte Horrorfilme, Spielekonsolen und Mode, und Zeit für Hobbys hat er nicht. Ich hoffe stark, dass er auch Musiker wird, weil ohne ihn bin ich voll gefickt. Dankeschön.“ Koji machte eine linkische Verbeugung und setzte sich. Tori hatte die Arme verschränkt und schaute Koji und Mana nicht sehr freundlich an. „Kann Satou nicht selbst reden?“ „Doch. Aber er tut es nicht. Das ist psychologisch sogar interessanter als die Lieblingsfarbe“, sagte Koji unbeeindruckt. „Analysieren Sie das mal. Nächster!“, herrschte er Yuuki an. „Yoshida Yuuki, erfreut. Gelb, Lesen und Programmieren, und ich denke, ich werd auch irgendwas damit machen. Ja.“ „Ich bin Ukyou Kamimura, meine Lieblingsfarbe ist Lila und ich mag Duran Duran und Schmetterlinge und mach gern Sport. Was mit viel Bewegung wär gut, so berufsmäßig.“ Ein paar Statisten. Aiko stand auf. „Ukoniro Aiko, ich mag hellblau, Karaoke und shoppen. Vielleicht Stylistin.“ Und dann war ich dran. Ich erhob mich zögernd. „Ähm, ich bin Gakuto Kamui, meine Lieblingsfarben sind schwarz und weiß. Ich weiß, das sind keine Farben, aber… ja. Ähem. Ich mag….“ Tja, was genau mochte ich eigentlich? Ich mochte vieles. Den Himmel. Das Meer an einem stürmischen Tag. Den Wind, der durch einen Wald im Herbst strich und wie die Blätter langsam zu Boden segelten. Aber das war alles nicht geeignet, um es hier zu erzählen. „Ich mag… Erdbeerkuchen“, so ein Unsinn, „und… singe gern.“ Kaum hatte ich das ausgesprochen, registrierte ich, dass es ein Fehler gewesen war, denn ich wurde schon wieder ausgekichert. Ob das am Erdbeerkuchen oder an der Vorstellung lag, wie ich sang, wollte ich gar nicht wissen. „Und was möchtest du einmal werden?“, ermunterte mich meine Biolehrerin strahlend. Vermutlich wäre es mir einfacher gefallen, wenn sie nicht so begeistert geschaut hätte. Warum tun Pädagogen das? „Ich, äh…“, die Antwort wäre ebenfalls Musiker gewesen, aber das konnte ich jetzt irgendwie nicht mehr sagen. „…irgendwas mit Medien?“ Es folgt ein Zeitsprung und wir übergehen das Mittagessen, wo Koji mich in der Misosuppe ertränken wollte… Ich bin mir ganz sicher. Ich konnte es in seinen Augen sehen! Aber gut, gut… wenden wir uns dem Nachmittag zu. Um es kurz zu machen: Wir machten bescheuerte Wettkämpfe, um unsere Klassengemeinschaft zu stärken und ich war froh, dass ich mich öfter als nicht hinter Leuten verstecken konnte, die besser in so etwas sind als ich. Ähm… was ich sagen wollte, ist … mmh. Ich wollte das sagen, aber ich wollte es so tun, dass ich besser damit wegkomme. Ok, nächste Szene! Als der Horror inklusive Abendessen endlich vorbei war, war es bereits kurz nach acht und draußen ging die Sonne unter. Ich drehte mich gerade im Kreis und überlegte, was ich jetzt tun konnte, wenn ich nicht schlafen wollte (wollte ich nicht), als mir jemand gegen den Oberarm piekte. „Aua.“ Es war Yuuki. „Wir gehen Lagerfeuer machen, kommst du mit runter?“ Ich war verwundert über das Angebot, nickte aber. Mit einem Zwischenstopp bei unserem Zimmer, um wärmere Pullis auszugraben, machten wir uns auf den Weg aus dem Haus und den Hügel ein Stück runter. Hinter dem Sportplatz, von der anderen Seite des kleinen Sees, flackerte schon ein warmes Licht zu uns hinüber. Die Luft roch nach Rauch, Wald, Wasser und den letzten warmen Sommertagen und ich atmete tief durch, während wir durch das hohe Gras hinübergingen. Um das Feuer herum saßen Aiko mit ihren Freundinnen, Kami, ein paar Jungs aus der Fußballgruppe und Mana, der als einziger so gar nicht ins Bild passen wollte. Yuuki und ich ließen uns neben ihn auf einen der Baumstämme fallen und sahen Aiko dabei zu, wie sie mehr Holz auflegte. Das Feuer wurde kleiner. „Boah Aiko“, sagte Kami. „Wo hast du Feuer machen gelernt, beim Wandelnden Schloss?“ „Mach’s halt besser, Fettarsch!“ Kami versuchte sein Glück, aber es sah nicht eben besser aus. „Ha-ha!“, machte Aiko glücklich. Ich fragte mich, ob wir jämmerlich erfrieren würden. Doch die Natur hatte ihre Mittel und Wege, und allmählich wurden die Flammen höher und angenehme Wärme erreichte meine Knie und mein Gesicht. Koji kam den Hang runter auf uns zugestapft, eine Gitarre in der Hand, die er wohl irgendwo im Gemeinschaftsraum entdeckt und entwendet hatte. Er stockte kurz, als er sich der Menschenansammlung bewusst zu werden schien und, bevor er gewohnt selbstsicher zu uns schlenderte. „Kami, auf?“, fragte er, während er Mana die Gitarre hinstreckte. Dieser ergriff sie, als brauche er dringend etwas, um sich daran festzuhalten. „Wohin geht ihr?“, fragte Aiko. „Runter ins Dorf, einfach so…“, erklärte Kami äußerst vage. Aiko vollzog den Gedankengang und schaute nicht amüsiert. „Ihr wollt ernsthaft Bier kaufen?“ „Wer redet denn von Bier.“ „Genau, wir reden vom harten Stoff: Wodka, Gin, Hello Kitty Sekt…“ Koji zählte an den Fingern ab, während er sprach. „Ich komm mit!“, meinte einer der Fußballer. Sein Kumpel nickte zustimmend. Koji sah nicht begeistert aus. „Aber nicht mehr, sonst fällt das auf. Wir sind in zwanzig Minuten wieder da.“ Kami sah ihn ungläubig an. „Wie schnell genau willst du rennen?“ „Sehr schnell, in 13 Minuten macht der letzte Laden zu.“ Die vier sprinteten los und waren bald in der Dämmerung verschwunden. Aiko sah ihnen entrüstet nach. „Was ist nur los mit denen?“ Die nächste halbe Stunde verging größtenteils damit, dass alle ins Feuer starrten und sich gegenseitig erzählten, wie bescheuert dieser ganze Tag gewesen war und wer sich peinlicher benommen hatte als irgendwer anders und ob man als Lehrer wohl auch ein Leben hatte? Eher nicht. Dann ertönte hinter uns ein Klirren und Klappern aus der Dunkelheit, gemischt mit atemlosen Gelächter, und dann sprintete Kami in sehr ausgebeulten Hosen ins Licht des Lagerfeuers. Immer noch lachend begann er damit, seine Taschen auszuräumen, als ihm drei andere, ebenso lachende wie ausgebeulte Gestalten folgten. „Wenn euch einer erwischt, ihr seid alle fällig!“, murrte Aiko und betrachtete missmutig Flaschen und Knabbereien. Letztere vielleicht nicht ganz so missmutig. „Wir wurden bereits erwischt!“, verkündete Kami kichernd, während er sich neben Aiko fallen ließ und ein Bier öffnete. „Was?“ „Ja, auf halbem Weg rauf kam uns der Tori entgegen. Wir den ganzen Alk halt in der Hose versteckt, sind ja nicht doof, meinten, der sieht das nicht im Dunkeln. Aber hat uns beäugt mit seinen Geieraugen, hat gemeint er sieht nichts, so lange wir dann später auch verstecken, dass wir betrunken sind – “ „Und wir ihm ‘ne Flasche abtreten“, hängte einer der Fußballjungs an. „Ihr seid so scheiße“, verkündete Aiko und verschränkte die Arme, während der Rest der kleinen Gesellschaft die Flaschen und Tüten öffnete. „Ach Aiko, schau mal, lecker Bier… Schau, es sieht dich an…. Es will dich….“, lamentierte Kami, die Flasche vor Aikos Gesicht schwenkend. Koji sah den beiden etwas angewidert zu, nahm einen großen Schluck eines eklig aussehenden grünen Cocktails und griff nach der Gitarre, welche Mana vermutlich nur hergab, weil er jetzt wieder da war, um sozialen Rückhalt zu bieten. Die Fußballer johlten grölten, als er anfing, ein bisschen Teen Spirit aus dem Stück Holz zu dudeln. Abwechselnd grölten alle mal mit, aber niemand konnte den Text ganz. Danach folgten verschiedene andere Songs, die das Radio bereits totgespielt hatte. Zum Ende des zehnten Songs war dann ein Großteil schon so weit, dass albernes Gelächter ausbrach, wenn jemand den Text vergaß und schließlich begannen wir, einfach das zu singen, was uns gerade einfiel (Happy Birthday to you, Marmelade im Schuh war ein absoluter Hit). Nicht, dass es eine wirkliche Rolle gespielt hätte – kaum einer bekam noch einen geraden Satz raus. Ich hatte das erste Mal das Gefühl, dass sich alle vertrugen. Niemand sah Kojis Clique dumm von der Seite an, niemand motzte, denn auch Aiko war inzwischen einigermaßen abgefüllt und alle kamen einander näher. Yuuki war bis auf zehn Zentimeter an ein schüchternes Mädchen mit Brille herangerutscht und mit noch einer Flasche Sangria würde sich sicher auch dieses Problem lösen lassen. Sogar Koji sah glücklich aus. Gegen ein Uhr oder auch später, ich konnte meine Uhr nicht mehr richtig lesen, wurde es dann langsam ruhiger. Die letzten Chips waren vernichtet, das letzte Getränk geöffnet und die Unternehmungen des Tages noch deutlich in den Knochen spürbar. Koji leerte seine letzte Flasche auf Ex und fing noch mal an zu spielen. Es war Simon & Garfunkels Sound of Silence. Und irgendwie hatte ich jetzt Lust, dieses Lied zu singen. Vielleicht war es die Menge an Alkohol, die dafür sorgte, dass es mir egal war, was weiter passierte. Oder die Tatsache, dass ich den Text konnte. Oder vielleicht auch, dass ich überzeugt davon war, noch mehr als fünf Worte am Stück rauszubringen, ohne zu lallen. Hello darkness, my old friend, sang ich. I've come to talk with you again, Because a vision softly creeping, Left its seeds while I was sleeping, And the vision that was planted in my brain Still remains Within the sound of silence. An dieser Stelle bemerkte ich, dass Koji auch sang. Ich begegnete seinem Blick über die züngelnden Flammen hinweg. Es lag keine Begeisterung darin, aber er hörte nicht auf. Musik musste ihm wirklich enorm viel bedeuten, wenn er dafür sogar bereit war zu vergessen, dass er mich hasste. "Fools," said I, "You do not know. Silence like a cancer grows. Hear my words that I might teach you. Take my arms that I might reach you." But my words like silent raindrops fell And echoed in the wells of silence. Es klang gut. Es war seltsam. Als wir zu Ende gesungen hatten, war es einige Minuten still. Jeder hing seinen eigenen Gedanken nach. Ich war mir noch vage bewusst, dass Mana mich seltsam anschaute. Also, noch seltsamer als sonst. Und irgendwann, irgendwie – und ich hätte wirklich nicht mehr sagen können, wie genau - gingen wir wohl zurück zum Haus und dann zu Bett. Vielleicht hätte ich den Wein nicht trinken sollen, dachte ich noch träge. Der Geschmack hing immer noch auf meiner Zunge. Der Geschmack nach Wein… Ich nahm einen vorsichtigen Schluck aus meinem filigranen Glas. „- glaube ich, dass das unvermeidlich sein wird“, sagte mein Gesprächspartner gerade. „Nun“, sagte ich, wunderte mich nicht darüber, dass ich wusste, worum es hier ging, und antwortete: „Monsieur Laval hat das nötige Kapital. Es ist also nicht alles verloren.“ „Aber was wenn ihm das Stück nicht gefällt?“, fragte mein Gegenüber. Sein Name war Jules, und er war ein kleiner, rundlicher Mann, der immer schwitzte, wenn er sich aufregte und den es nur weiter aufregte, wenn er schwitzte. Keine gute Kombination bei einem Chefintendanten. „Dann hat er keinen Geschmack“, sagte ich. Ich hatte einen langen Tag voller Generalprobe hinter mir und wollte eigentlich nur noch ins Bett. „Jetzt hör auf, dir Gedanken zu machen. Er wird es mögen und alles wird gut.“ Das Theater brauchte dringend einen neuen Sponsor. Ein gutsituierter Manufakturbesitzer hatte potentielles Interesse bekundet, aber alles hing an der morgigen Vorführung. Vierundzwanzig Stunden später lugten wir durch den Spalt im Vorhang. „Ist er da?“, fragte Arlette hinter mir. „Ja“, sagte Claude. „In der linken Loge.“ „Darf ich mal?“, fragte ich und Claude reichte mir sein Opernglas. Ich suchte die Ränge an. „Der mit dem Bart?“, fragte ich. „Eins weiter.“ „Blond mit Geheimratsecken?“ „Genau der.“ Ich begutachtete den Mann, der heute Abend darüber entscheiden würde, ob wir alle in der Gosse landeten oder in Geld schwammen. Er war überaus durchschnittlich. Und neben ihm, ins Gespräch vertieft, saß ein Engel. Ich starrte. Blonde Locken umrahmten ein ebenmäßiges Gesicht mit blauen Augen und roten Lippen. Ihr hellblaues Kleid unterstrich eine schlanke Figur, nicht mehr Mädchen aber noch nicht ganz Frau. Ich spürte ein unbändiges Verlangen in mir aufwallen, diese Porzellanhaut zu berühren, die Worte zu hören, die über diese wundervollen Lippen kamen, ihr Parfüm zu riechen. Da drehte sie plötzlich den Kopf und sah genau in meine Richtung. Ich zuckte zurück, verbarg mich hinter dem Vorhang. Sie konnte mich nicht bemerkt haben, dachte ich. Trotzdem hämmerte mein Herz wie verrückt. Mir war heiß und kalt gleichzeitig, meine Hände waren verschwitzt. Es war nicht nur der Schreck. Oh, der Himmel wusste, es war beileibe nicht nur der Schreck! „Alles in Ordnung?“, fragte Arlette. „Du bist auf einmal so blass.“ „Ich…“, sagte ich, „ich…“ „Noch zwei Minuten!“, rief Francois von hinten. „Position!“ „Gackt!“, sagte eine Stimme. Jemand zog an meinen Haaren. „Au!“, sagte ich und schlug auf gut Glück in die Richtung, aus der die Störung kam. Meine Hand traf einen durchtrainierten Oberkörper. Das tat weh. „Was?“, stöhnte ich und hob den Kopf, um Kami aus kleinen Äugelein anzustarren. Der Winkel war seltsam. Lag… ich auf dem Boden? Im Flur? Ich schaute langsam weiter. Lag… Koji ebenfalls auf dem Boden? Im Flur? „Es gibt gleich Mittag.“ „Was?“, fragte ich noch einmal schwammig. Die Frage wurde durch Wiederholung nicht intelligenter. „Kurz vor zehn. Steh auf jetzt.“ Kami zwickte mich in die Wade. „Aua!“, machte ich, setzte mich auf und spürte meine Migräne. „Oh…“ Im Speisesaal saßen Yuuki und Mana bereits am Tisch und tranken Kaffee. Koji warf ihnen einen düsteren Blick zu, als er sich an die gegenüberliegende Tischseite setzte und nach dem Orangensaft griff. „Wie kommt es, dass wir auf dem Boden geschlafen haben und ihr zwei nicht?“ „Mmh, eine gute Frage“, sagte Yuuki und schmierte sich einen Toast, „ich nehme an das kommt daher, dass ich kein Idiot bin, also bin ich irgendwann aufgestanden und zu Bett gegangen.“ „Und hätte es dich umgebracht, uns zu wecken, als du in dein warmes Bettchen gekrochen bist?“ „Das habe ich versucht, aber außer Mana habe ich niemanden überzeugen können, den langen beschwerlichen Weg vom Fußboden ins Bettchen anzutreten. Wenn du dich erinnerst. Also vermutlich nicht.“ Ich seufzte und schenkte mir ebenfalls eine Tasse Kaffee ein. Trotz der harten Nacht sahen sowohl Yuuki als auch Kami beide besser aus als ich, was mich nicht wunderte, denn sie waren weniger gut dabei gewesen. Mana sah ebenfalls besser aus, was aber vermutlich daran lag, dass er dem Anlass entsprechend einfach mehr Makeup aufgelegt hatte. Aber auch Koji ging es anscheinend nach dem ersten Stückchen Toast wieder blendend, und das fand ich wirklich unfair. Scheinbar vertrug er mehr als ich. Ich stocherte in meinem Müsli herum und sah dabei anscheinend so mitleiderregend aus, dass Yuuki sich ein Herz fasste und mir einen Streifen Aspirin über den Tisch schob. Danach fiel ich in die Dusche und dann mit dem Gesicht voran ins Bett. Nur noch ein paar Stunden… Nach dem Mittagessen standen wir alle wieder unten vor dem Haus. Tori erläuterte das Programm als wäre es ein Nachmittagsappell. „Wie einige von euch vielleicht wissen, macht ihr heute eine Schatzsuche. Wir teilen euch nach Reihenfolge in der Klassenliste in Zweierteams. Getauscht wird nicht.“ Und Scheinwerfer an: Meine Biolehrerin begann, Namen vorzulesen. Ich hatte ein ungutes Gefühl. „Gakuto Kamui und Hagino Koji.“ Ich stöhnte verzweifelt. Das durfte doch nicht wahr sein! Irgendjemand da oben musste mich hassen. Aber mein weitaus größerer Sorgenfaktor war: Jemand hier unten tat es tatsächlich. Ich warf einen Blick zu Koji. Oh ja, jemand tat es. „Ukoniro Aiko und Ukyou Kamimura.“ Aiko machte ein Gesicht, als würde sie den Himmel um Stärke anflehen. Kami schien auch nicht eben begeistert. Was auch immer da gestern Abend passiert war, es hielt nicht sonderlich lange vor. Nachdem wir alle schön aufgeteilt waren, händigte unsere Biolehrerin jeder Gruppe eine Landkarte aus. „Also. Irgendwo dort drin“, Tori machte eine ungefähre Handbewegung über den Wald, „haben wir einen Schatz versteckt. Er liegt an einem kleinen Bergschrein. Ihr habt alle die gleiche Karte, aber auf jeder ist ein anderer Weg. Sie sind alle gleich schwer und alle gleich lang, ihr müsst also gar nicht tauschen“, meinte er scharf und zwei Mädchen zuckten zusammen und ließen es bleiben. „Jeder hat ein Handy dabei? Gut. Falls ein Notfall eintritt, ruft ihr an. Viel Erfolg. Die Gewinner dürfen den Schatz behalten. Und los.“ Die Aussicht auf eine Belohnung ließ die meisten schon wieder etwas vergnügter schauen. Bei mir reichte sie allerdings nicht, um die bedrohliche Aussicht zu verbergen, die gerade auf mich zustapfte. Aiko und Kami gingen an mir vorbei. „Gib mir die Karte“, sagte Kami. „Hol sie dir, wenn du kannst.“ „Du kannst das Ding doch nicht mal lesen!“ „Sagt wer?“ „Sag ich!“ „Das werden wir ja sehen. Und keine Sorge, ich formulier es so, dass auch du es verstehst“, fauchte Aiko. Sie richtete ihren Rucksack und die beiden zogen von dannen. Das konnte ja was werden. Aber gut. Mein Problem war wahrscheinlich das Größere. Es überragte Aiko um ungefähr fünfzehn Zentimeter. „Wo lang?“, fragte er missmutig und sah mich mit einem ‘Geh sterben’-Blick an. „Ich äh…“, ich hantierte mit der Karte. „Da“, und deutete auf einen kleinen Pfad, der sich weiter unten in den Wald schlängelte. „Und nu?“, fragte er, kaum dass sich das Blätterdach über uns schloss. „Geradeaus. Ewig geradeaus“, murmelte ich nach einem kurzen Blick und das Papier in meiner Hand. Und so war es dann auch. Ich und Koji führten eine Zeit lang einen schweigsamen Kampf darüber, wer vorangehen und damit die ständige Unsicherheit des anderen im Nacken ertragen musste. Am Ende ließen wir uns beide andauernd so weit zurückfallen, dass wir schließlich nebeneinander zum Stehen kamen, uns ansahen, beide aggressiv „Was?“ zischten und dann einfach nebeneinander weitergingen. Der Weg war dazu nicht gemacht und ständig schrammten kleine, dornige Äste über meine Arme und Hände. Das tat weh, aber da Koji keinen Laut von sich gab, tat ich es auch nicht. Nach einer guten Dreiviertelstunde kamen wir an eine Weggabelung. Koji drehte sich wortlos zu mir um. Ich schlug die Karte auf. „Das ist hier nicht.“ Mein Teampartner schnaubte genervt und riss mir die Karte aus den Händen. „Oh, bist du unfähig, gib das her!“ Nachdem Meister Koji fünf Minuten lang gesucht hatte, gestand er ein, dass die Weggabelung wirklich nicht da war. „Gut, Kopf oder Zahl?“ „Was?“ „Zahl, hervorragend!“ Koji warf eine Münze, fing sie auf und grinste. „Kopf, wir gehen links.“ „Nicht dein Ernst!“ „Doch, klar.“ Und dann lief er einfach los und ließ mich mitten in unserem Streit stehen. Das war mir auch noch nicht passiert, so viel Ignoranz auf einem Haufen. Seufzend lief ich dem Affen nach. Der Wald um uns herum wurde dichter und die Geräusche erstarben. Sogar die Vögel hörten auf zu singen. Nach ungefähr einer weiteren Stunde, in der wir einige kleine Bäche überquert, über ein paar Lichtungen gelatscht und endlos über Wurzeln gestolpert waren, (die natürlich alle nicht auf der Karte waren) hörte der Weg auf. Und ich meine das, wie ich es sage. Wir liefen um einen Busch und standen im Nichts. Ende der Fahnenstange. „Und jetzt?“, fragte ich nicht eben intelligent. „Wir gehen weiter. Irgendwann werden wir schon ankommen.“, meinte er und machte ein paar Schritte ins Unterholz. „Koji, wir haben uns verirrt, ok? Daran gibt’s nichts mehr zu ändern. Dieser ganze Weg hier ist nirgendwo auf der Karte. Und wir müssten den Schrein inzwischen sehen.“ „Ah-buhu“, machte Koji und tat, als würde er sich die Augen reiben. „Hat das kleine Gackt-Baby Angst? Will es seinen Schnuller? A-guchi, guchi, gu.“ Ich starrte ihn drei Sekunden ob so viel Blödheit an. „Was ist dein Problem?“, fragte ich schließlich bissig, aber gezwungen ruhig. „Was mein Problem ist? Ich sag dir ganz genau, was mein Problem ist, mein Problem bist du!“ Er tippte mir gegen den Oberkörper und ein knochiger Finger bohrte sich zwischen meine Rippen. Ich gab ihm nicht die Genugtuung eines Quietschens. Ich war mit einem kleinen Bruder und einer älteren Schwester aufgewachsen, ich konnte diese Dinge ab. „Du kennst mich doch nicht mal! Was hab ich denn gemacht?“ „… Fick dich“, sagte Koji, drehte sich um und stiefelte querfeldein. Ich starrte ihm nach, bis sein Rücken zwischen den Bäumen verschwunden war. „So ein Arschloch“, sagte ich zu niemand bestimmten und zog mein Handy aus der Tasche. Ich würde in der Herberge anrufen und ihnen sagen, dass man mich retten kommen musste. Vielleicht fand sich jemand, der wusste, wo ich war und der mir einen Tipp geben konnte. Sollte Koji doch sehen, wo er blieb. Ein paar Sekunden lang schaute ich aufs Display und biss mir auf die Unterlippe. Ich fuchtelte ein paar Mal wie ein Idiot mit meinem Telefon in der Luft herum, bis ich mir die grausame Wahrheit eingestand: es gab kein Netz und vermutlich würde ich auch durch Wedeln so schnell keines kriegen. „Verfluchtes Hinterwäldler-Scheiß-Kaff!“, fluchte ich. Das war eigentlich nicht mein Stil, aber gerade war mir danach. Ich trat nach einem Pilz, dessen Kappe durch die Luft davonsegelte und mit einem ‘Flopp‘ ein paar Meter entfernt landete. „AAAARGH!“, machte ich meinem Ärger nochmal Luft. Dann steckte ich mein Handy wieder ein und stiefelte in die gleiche Richtung wie Koji los, tiefer in den Wald hinein. Ich holte ihn einige Minuten später ein. Der Weg führte jetzt wieder bergab, doch der Waldbogen war mit unterschiedlich großen Steinbrocken bedeckt, welche sich unter dem modrigen Laub von Jahrzehnten versteckten. Wir kämpften uns voran. Es war anstrengend und ich verdrehte mir den Fuß innerhalb einer Viertelstunde vier Mal. Das hier war definitiv keine gute Gegend für Turnschuhe. Schließlich gelangten wir an einen kleinen Tümpel und entschlossen uns für einen radikalen Schwenk nach rechts, der uns wieder näher an unseren eigentlichen Weg zurückführen sollte. Vielleicht. Dass wir überhaupt wieder ein paar Worte wechselten, zeigte wohl, wie verloren wir uns fühlten. Weitere zwanzig Minuten später und wieder oben auf einem Hügel biss ich in einen Schokoriegel. Vielleicht nicht die beste Idee, wenn man bedachte, wie lange ich vielleicht damit überleben musste, doch die einzig andere Option war, Koji zu erwürgen. Gerade überlegte ich, ob ich damit wohl davonkommen würde, als es hinter mir im Gebüsch raschelte und ein mittelgroßer brauner Hund auf uns zusprang. Ich schrie leise auf und machte einen unwillkürlichen Satz in Richtung des einzig anderen menschlichen Wesens im mir bekannten Umkreis. Der Hund blieb stehen und schaute mich an. „Was?“, fragte Koji. Er folgte meinem Blick zu dem zerzausten Hund, schaute aber schnell unbeeindruckt wieder zu mir. Er sah ihn nicht. Ich schaute genauer hin. Ein leichter, gräulicher Schein umgab den Hund. Dieser wedelte zweimal schwach mit dem Schwanz und verschwand dann wieder im Gestrüpp. „… warte hier“, sagte ich und ließ Koji stehen. „Wo willst du hin?“, rief er mir genervt nach. „Pissen“, fauchte ich zurück. „Ist erlaubt, oder?“ Ich entfernte mich aus Kojis Sichtweite und ging dann in die Hocke. „Psst. Hund? Hundi-Hundi-Hund?“, flötete ich halblaut in den Wald hinein. Es raschelte hinter mir und ich drehte watschelnd in der Hocke um. Das Tier war nur ein paar Meter von mir entfernt. Jetzt konnte ich sehen, dass das Fell an seinem Hals von halb eingetrocknetem Blut verfilzt war. Seine Augen glänzten seltsam und Schaum tropfte von seinen Lefzen. Ich mochte Hunde, aber das hier kostete mich Überwindung: ich streckte die Hand aus und sagte leise: „Guter Junge. So ein lieber Junge. Na komm her.“ Zögernd beobachtete der Hund meine Hand und kam dann langsam auf mich zugetrottet. In respektvoller Entfernung hielt er inne, schnüffelte an meiner Hand. Ich ließ ihn. Nach ein paar Sekunden streckte ich mich ein bisschen weiter und kraulte ihn hinter den Ohren. Sein Fell fühlte sich seltsam an, wie der Pelz eines uralten Teddybären, den man hinter in einem Karton im Keller wiederentdeckt. Kälte stieg meinen Unterarm empor, meine Fingerspitzen wurden taub. Der Hund schloss die Augen und schien meine Massage zu genießen und ich hielt durch, bis das taube Gefühl meine Schulter erreichte. Dann hörte ich auf. „He Junge“, sagte ich dann. „Mein … Freund und ich haben uns verlaufen. Kennst du den Weg ins Dorf? Kennst du ihn?“ Ich schaute ihn erwartungsvoll an. Der Hund schaute zurück, dann wedelte er mit dem Schwanz, bellte einmal und preschte davon. „Koji!“, brüllte ich über die Schulter. „Ich hab den Rückweg gefunden!“ Dann rannte ich dem Hund hinterher. Ich folgte dem Hund im Dauerlauf. Es ist verwunderlich, dass einen Unebenheiten im Boden immer weniger irritierten, umso schneller man wurde. Die Kraft des Momentums, dachte ich, während ich versuchte, gleichzeitig zu gucken, zu rennen und zu atmen. Ich rannte, bis meine Beine weh taten und dann rannte ich weiter. Wir erreichten eine Hügelkuppe und es ging wieder bergab. Dann war der Hund weg. Ich wurde langsamer und hielt schließlich an. Links von mir Bäume. Rechts von mir Bäume. Hinter mir irgendwo das näherkommende Knacken und Rascheln und Fluchen, das mir sagte, dass Koji aufholte. Vor mir ging es auf einmal ziemlich steil bergab. Ich näherte mich vorsichtig und guckte. War das Tier dort hinuntergegangen und wenn ja, wie? Konnte ich das auch, ohne mich umzubringen? In diesem Moment prallte Koji gegen mich. Ich verlor das Gleichgewicht und gemeinsam purzelten wir die Böschung hinunter. Purzeln ist ein sehr putziges Wort und es wird der Schmerzhaftigkeit dieser Angelegenheit nicht im Geringsten gerecht. Ich landete auf meinen Ellenbogen und auf meinem Kinn. „Aaaaaah“, machte ich schmerzerfüllt und sortierte meine Knochen. Alles schien in etwa zu sein, wo es hingehörte. Das allein fand ich schon faszinierend. „Hast du keine Augen im Kopf, du Idiot?“ „Was rennst du auch so, du blöder Penner!“, herrschte Koji mich an. Er blutete aus einem Kratzer an der Wange. „Vermutlich sitzen wir jetzt noch viel tiefer in der Scheiße als –“ An dieser Stelle brach er ab und schaute sich um. Wir lagen auf einer Forststraße. Links von uns und ein ganzes Stück weiter vorne stand mein neuster Freund wartete mit dem Schwanz wedelnd auf uns. „Da lang“, sagte ich und deutete, noch liegend, in seine Richtung. Koji widersprach nicht. Wir erreichten das Dorf kurz nach Einbruch der Dunkelheit. Von dort aus war es noch eine knappe Viertelstunde hangaufwärts bis zur Jugendherberge. Mir tat alles weh und als die hell erleuchteten Fenster dieses bettwanzenverseuchten Höllenlochs vor uns auftauchten, hätte ich heulen können. Ich hatte noch nie etwas so wundervolles gesehen! „Also das war echt ein Scheißtag“, sagte Koji und ließ mich stehen. Keine kitschige Versöhnung am Ende des Films. Ich zählte bis zehn. Dann warf ich über die Schulter hinweg ein „Danke“ in die Dunkelheit und folgte Koji nach drinnen. Wir meldeten uns bei unseren sehr besorgten Lehrern. Dann nahm ich eine heiße Dusche – mir doch egal, ob Koji auch wollte oder nicht, wer zuerst kommt, mahlt zuerst - und ging dann ich in den Speisesaal, um zu sehen, ob ich noch was zu Essen abgreifen konnte. Ich war müde und abgeschlagen und wollte eigentlich nur ins Bett, aber mein Magen knurrte so laut, dass meine Armgelenke vibrierten. Ich bekam noch etwas zu Essen. Reis und irgendeine Gemüsepampe und einen Fisch, der schon lange Zeit kein Meer mehr gesehen hatte. Essenszeit war lange vorbei und ich hatte damit gerechnet, allein zu sein, doch überraschenderweise fand ich Kami und Aiko an einem Tisch in der Ecke. Zwischen ihnen stand eine Truhe von der Größe eines Schuhkartons. „Gewonnen?“, fragte ich und setzte mich neben Aiko. „Jap“, sagte sie und rutschte rüber. „Aber das Ding ist verschlossen und wir bekommen es nicht auf. Gut, dass du zurück bist, nebenbei. Ich hab mir Sorgen gemacht.“ „Naja, es ist nur ein Wald“, sagte ich und biss in mein Gemüse. Das Beißen hätte ich mir sparen können. „Das glaubst du“, sagte Aiko. „Hier ging vor Jahren ein Psychopath um. Hat vier Frauen vergewaltigt und umgebracht und im Wald verscharrt. Sie haben ihn erwischt, aber er hat nicht geredet und man hat die letzte Leiche nie gefunden.“ „Gruselig“, sagte Kami. „Woher weißt du das alles?“ „Mein Vater ist Cop.“ „Das erklärt einiges.“ „Was soll das denn heißen?“ Kami stockte. „Nichts. Du hast… gut durchgehalten heute. Für ein Mädchen.“ „Danke? Und dafür, dass du mal was Nettes gesagt hast, weise ich jetzt nicht darauf hin, dass ich weniger am Arsch war als du.“ Sie drehte sich zu mir und flüsterte: „Ich war am Ende weniger am Arsch als er.“ „Ein Scheiß“, sagte Kami. „Du bist ein Scheiß.“ Er seufzte und klopfte auf den Deckel. „Zurück zum Problem. Ich sag immer noch, wir werfen es einfach aus dem Fenster.“ „Und wenn der Inhalt zerbrechlich ist?“ „Dann hätten sie ihn nicht reinpacken sollen.“ „Veto.“ „Yuuuuuki“, sagte Kami und versuchte sich an einem koketten Augenaufschlag. Ein Seufzen erklang hinter mir und Yuuki zog den Stuhl am Kopfende zurück, um sich darauf niederlassen zu können. „Du weißt du immer alles. Wie kriegen wir das Ding auf.“ „Ich geb dir ‘nen Tipp. Das-“ „Ey halt, du weißt das tatsächlich?“, unterbrach ihn Aiko überrascht. „Der weiß allen möglichen Scheiß“, erklärte Kami und wandte sich wieder an seinen Freund. „Ja bitte?“ Yuuki seufzte noch einmal. „Was war denn das große pädagogische Ziel des heutigen Tages?“ „Uhm… Auch faule Schüler mal zum Laufen zu bekommen?“, fragte Kami zurück. „Mit Leuten zusammenzuarbeiten, die man vielleicht nicht mag“, sagte Aiko. Yuuki schaute Kami an. „Es tut mir leid, mein Freund, aber das Mädel ist schlauer als du.“ Kami schnaubte. „Und was hat das jetzt damit zu tun?“ Er klopfte auf die Kiste. „Nun“, sagte Yuuki, „das heute war eine Übung im Teamwork. Team. Zwei Leute.“ „Hä?“, machte Kami. „Oh!“, machte Aiko. „Was, oh?“, fragte Kami. „Alter, wir haben zwar versucht, das Ding aufzukriegen, aber immer nur einzeln! Das ist eine Trickschachtel, für die man vier Hände braucht! Zwei Leute!“ „Oh“, sagte Kami. Aiko nahm die Kiste vom Tisch und begutachtete sie noch einmal gründlich von beiden Seiten. „Ok, siehst du das hier? Halt mal da fest, und nur da. Ok, und jetzt zieh ich hier und-“ Mit einem leisen, fast fröhlichen Knacken schob sich die Kiste auseinander. Die beiden stellten sie ab. „Abgefahren“, sagte Kami. „Die haben sich echt was gedacht dabei“, stimmte Aiko zu. „Dürfen Lehrer das überhaupt?“, fragte Kami. Aiko zuckte mit den Schultern. „Ich hab gehört, dass es so was gibt, aber ich dachte immer, das wären Stadt-Legenden.“ „Hallo?“, sagte ich an meinem Reis vorbei, „bevor ihr euch in der Geilheit der Kiste verliert, wollt ihr jetzt vielleicht mal reinschauen?“ „Guter Punkt, Gackt.“ Aiko öffnete den Deckel. „Ok, was haben wir hier… Wir haben: Schokolade!“ „Iih“, sagte Kami. „Du Unwürdiger“, sagte Aiko. „Yuuki, willst du eine davon? Ohne dich würde wir immer noch dasitzen wie die Schweine vor dem leeren Trog.“ „Wenn du so fragst… Ich sage nie Nein zu Schokolade.“ Aiko reichte ihm eine Tafel und legte die andere neben sich ab. Dann zog sie ein grünes und ein rotes Knäuel Fäden hervor. „Wir haben weiterhin: Glückssträhnen und Geduldsfäden.“ „Das ist bescheuert“, sagte Kami. „Das ist total lustig!“, widersprach Aiko und warf ihm die Geduldsfäden zu. Dieser schwieg ein paar Sekunden, dann zuckten seine Mundwinkel. „Ok. Du hast Recht. Das ist echt ziemlich lustig.“ „Zwei kleine Daruma… Uuuund… Kinogutscheine.“ Sie reichte Kami jeweils einen. Dieser zog eine Schnute und blies Luft zwischen den Lippen hervor. Er sah aus wie ein Kugelfisch. „Was ist?“, fragte Aiko. „Nichts. Ich hatte mich nur heute Morgen darauf eingestellt, dass ich heute Abend sagen könnte, dass das echt eine Scheißaktion war und wie bescheuert ich das alles fand und dass Tori ein riesen Arschgesicht ist. Und jetzt kann ich nichts davon sagen.“ „Das muss diese Tragik der Welt sein, von der immer alle reden.“ Aiko blickte auf und fing den Blick zweier ihrer Freundinnen ein, die in der Tür des Speisesaals aufgetaucht waren und fragend schauten. „Ich sollte dann wohl mal, jetzt, wo das Problem geöffnet ist. Willst du die Kiste?“ „Ne“, sagte Kami. „Kannste behalten.“ Sie packte ihre Sachen zurück in die Truhe und klappte sie zu, darauf achtend, die Verriegelung nicht wieder einrasten zu lassen. Dann stand sie auf, machte aber keine Anstalten, zu gehen. Sie wirkte ein bisschen unschlüssig. „Das war gar nicht so scheiße heute“, sagte sie schließlich. „Eigentlich… war’s sogar ganz witzig.“ Kami nickte langsam. „Ja. War echt ok.“ „Aiko?“ „Komme! Ja, also dann. Tschüssi!“ „Was war denn das?“, fragte Yuuki. „Ach“, sagte Kami und betrachtete die Geduldsfäden, „sie ist gar nicht so übel. Also sie ist eine Riesenzicke, aber daran gemessen ist sie erträglich.“ Er wandte sich zu mir. „Alles klar bei dir?“ „Der Schlaf“, sagte ich und schob meinen leeren Teller von mir, „ist die beste Erfindung aller Zeiten.“ Kurz darauf lag ich im Bett. Koji schlief, die anderen unterhielten sich. Mir war es gleich. Irgendwo draußen bellte ein Hund. Ich schlief ein. Ich rannte mit Koji einen Trampelpfad hinunter, weil wir unbedingt Kassiopeia finden mussten, aber wir fanden Aiko, die hielt mir eine Moralpredigt, dass Bier schlecht sei und wenn ich wieder durchs Fenster rein wolle, dann müsse ich erst Geduldsfäden aufwickeln. Dann wurde Aiko zu Mana, der mir an den Kragen wollte, weil ich seine Gitarre verschrottet hatte. Ich klärte ihn aber darüber auf, dass mir egal war, wie viel die Erdbeeren kosteten, ich mit Yuuki da war und ich außerdem noch meinen Gartenzaun streichen musste. Außerdem konnte ich mir doch gar keinen Erdbeerkuchen leisten. Dann war Koji auf einmal zurück. Wir waren wieder im Wald. „Du kennst mich doch nicht mal! Was hab ich denn gemacht?“, herrschte ich ihn an. Koji sah mich im fahlen Dämmerlicht an. Seine honigfarbenen Augen brannten sich in meine. Eine Flut von Bildern brach plötzlich über mich herein. Ich sah ein edles Herrenhaus, einen Kristalllüster, hörte das Getrappel von Hufen und das Poltern von Kutschenrädern auf Kopfsteinpflaster, roch den Rauch eines Kaminfeuers, Kerzenwachs, altes Papier und ein edles Parfüm, das in mir den Wunsch weckte, die Frau die es trug an mein Herz zu ziehen und nie wieder los zu lassen. „Du hast mir alles genommen“, sagte eine Stimme kalt. Es war Kojis Stimme und auch nicht. Sie kam auf einmal von jemandem hinter mir. Ich drehte mich um und - war wieder am See. Und durchlebte meinen Tod. * Ich wachte auf. Ich atmete durch. Ein Hund bellte draußen. Ich lag in meinem Bett und sah dem Leuchtzeiger auf meiner Armbanduhr beim Vorrücken zu. Es war kurz vor fünf, als ich meine Sachen nahm, leise vom Bett kletterte und aus dem Zimmer huschte. Wie schon in der vorletzten Nacht zog ich mich auf dem Gang vollständig an und stieg durch ein Fenster im Gemeinschaftsraum nach draußen. Ungesehen. Der Himmel im Osten färbte sich bereits blassrosa. Ich atmete tief die frische Morgenluft ein und fühlte mich gleich ein bisschen wacher, als ich über den Parkplatz und in die Richtung lief, aus der ich gestern mit Koji gekommen war. Um kurz nach Sechs bog ich auf die Forststraße ab, kam an der Böschung vorbei, die wir hinuntergekugelt waren und ging noch eine Viertelstunde weiter. Schließlich blieb ich stehen und lauschte. Nichts war zu hören. Ok. „Hund?“, rief ich. „Huuund? Hundi-Hund?“ Mir kam, dass ich Aiko nach dem Namen des Tiers hätte fragen sollen. Andererseits, dachte ich, hätte sie den vermutlich eh nicht gewusst. Wozu auch. Langsam ging ich weiter. Gräuliches Dämmerlicht fiel durch die Baumwipfel und leises Vogelgezwitscher hob an. „Huuund?“, rief ich noch einmal. Da hechelte etwas rechts vor mir aus dem Gebüsch. Ich machte einen erschrockenen Satz rückwärts. „Oh Gott!“, sagte ich und ging in die Hocke. „Du kannst mich doch nicht so erschrecken!“ Er bellte und wedelte freudig mit dem Schwanz. Offenbar war es ihm nach so langer Zeit des Ignoriert-Werdens egal, ob er positive oder negative Ansprache hatte, solange man sich nur mit ihm beschäftigte. Noch einmal überwand ich den leichten Ekel, den diese Handlung auslöste, und kraulte ihm den Nacken. Dann seufzte ich. Also los. Unsicher, ob ich die folgenden Worte für den Rest meines Lebens bereuen würde, schaute ich ihn fest an und sagte: „Such das Frauchen. Such!“ And no one dared Disturb the sound of silence Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)