Klimawandel von Newt ("Wenn man lange genug wartet, wird das schönste Wetter." - japanisches Sprichwort) ================================================================================ “Der Dezember dürfte an diesem Wochenende in weiten Teilen der Ostküste eher Tristesse und graue Melancholie als festliches Schneegestöber bringen. Unbeständiges Wetter und Dauerregen werden nach Angaben des Wetterdienstes in den kommenden Tagen vielerorts vorherrschen. Die Chancen auf weiße Weihnachten stehen schlecht, falls nicht---”   Das grobe Profil seiner Stiefelsohlen verursachte ein ekelhaftes Geräusch, als er auf die vom Regen aufgeweichten Reste einer Zeitung trat, die irgendjemand achtlos auf den Gehweg geworfen hatte, anstatt sie im wenige Meter entfernten Mülleimer zu entsorgen. Mundi, dachte Alec leicht verstimmt, während er versuchte, die klebrigen Zeitungsreste unter seinem Schuh am Bordstein loszuwerden, werfen mit ihrem Müll um sich, als ob die Welt ihre persönliche Halde wäre, und wundern sich dann, dass mitten im Dezember fünfzehn Grad und Nieselregen herrschen.   Nicht, dass Alec so etwas wie ein leidenschaftlicher Ökokrieger im Kampf gegen den Klimawandel gewesen wäre, auch wenn ihn das Thema natürlich genauso stark oder weniger stark betroffen machte wie jeden anderen Erdenbürger. Als Schattenjäger kämpfte er allerdings eher gegen etwas substanziellere, akute Probleme. Probleme, die riesige Reißzähne, Klauen oder Tentakeln besaßen und einem, sollte man ihnen begegnen, ein wenig mehr Schaden zufügen konnten als ein weiteres Jahr ohne weiße Weihnachten. Und genau eines dieser Probleme hatte ihn überhaupt erst bewogen, in diesem Mistwetter das Institut zu verlassen, nachdem Jace ihn per SMS darüber informiert hatte, dass eine seiner Selkie-Informantinnen scheinbar Hinweise über einen letzte Nacht stattgefundenen Vorfall in Brooklyn besaß.   Er streifte die Reste des klebrigen Zeitungspapier-Matsches von seiner Schuhsohle und warf einen etwas genervten Blick auf den Fernsehbildschirm im Schaufenster des Geschäftes, vor dem er gezwungenermaßen Halt machen musste. Die blonde Wetterfee von Channel 5 ließ sich in einem fort über die möglichen Ursachen des ungewöhnlich milden Winterwetters aus und gestikulierte in Richtung einer bunt animierten meteorologischen Karte, als ob sie einer internationalen Verschwörung auf der Spur wäre. Dabei war die Wahrheit, dass New York bereits seit einigen Jahren keine weiße Weihnachten mehr gesehen hatte. Alec konnte sich dunkel erinnern, dass er als Kind das eine oder andere Mal mit seiner Schwester durch den zugeschneiten Central Park gestreift war, doch das war lange her und mittlerweile war er aus dem Alter heraus, in dem er mit leuchtenden Augen am Weihnachtsmorgen aus dem Fenster gespäht und den hinab schwebenden Flocken  zugesehen hatte.   Alec beeilte sich, seinen Weg fortzusetzen, um dem Regen zu entkommen. Zum Glück war es nicht mehr weit bis zu Taki’s, aber dennoch veranlasste ihn der stärker werdende Nieselregen, seine Schritte zu beschleunigen.   Es war nur seinen angeborenen Schattenjäger-Reflexen zu verdanken, dass er die Person, die plötzlich aus dem Nichts aus einer Seitengasse trat, nicht frontal umrannte.  Sie stießen dennoch unsanft gegeneinander, sodass Alec einen halben Schritt zurück stolperte, bis er sich wieder fangen konnte. Er spürte das unverkennbare Kribbeln von Magie auf seiner Haut, noch bevor der andere Passant ihn ansprach und er erkannte, wer gerade mitten auf der Straße beinahe mit ihm kollidiert war.   “Wieder mal so stürmisch, Alexander?” Magnus Bane, oberster Hexenmeister von New York, ließ ein leises, amüsiertes Lachen erklingen und schien über diese unbequeme Art der Begegnung nicht im geringsten Maße überrascht zu sein, was in Alec beinahe automatisch leises Misstrauen weckte. “Magnus. Was tust du hier…draußen?”, ließ er seine Frage ein wenig unsicher ausklingen. Der Hexenmeister verließ seine Wohnung seines Wissens nach nicht allzu häufig, zumindest nicht mitten am Tag und vorallem ganz sicher nicht bei einem unangenehmen Wetter wie diesem. Wie um Alecs Gedanken zu bestätigen, blinzelte der Angesprochene gen Himmel und wischte sich sichtlich ein wenig pikiert über die Ärmel seines schreiend bunten… Alec wusste nicht einmal, wie man ein solches Kleidungsstück nannte. Es hatte etwas von einem Frackrock, war jedoch an strategisch geschickten Stellen modisch mit Flicken und Strasssteinen versehen. Garantiert ein Designerstück. Ein fragwürdiges Designerstück.   “Oh, nunja…” Magnus schnippte einmal beiläufig mit den Fingern, woraufhin Alec leicht verdutzt feststellte, dass der Regen in einem Umkreis von einem guten Meter von einer Sekunde auf die andere aufhörte, auf sie nieder zu rieseln, “Ich bin ganz zufällig hier vorbeigekommen.” “Zufällig”, wiederholte Alec tonlos die Worte des Hexenmeisters und ließ seinen Blick mit hochgezogener Augenbraue in Richtung der Gasse schweifen, aus der dieser eben gekommen war. “Hältst du dich öfters mal zufällig in düsteren Seitengassen auf?” Das Lächeln seines Gegenübers flackerte nur für einen kurzen Moment.   “Man muss ja nicht immer das selbe auf seinen Spaziergängen sehen, oder?” “Und da dachtest du dir, Mülltonnen und betrunkene Obdachlose wären eine gute Abwechslung?” “Das sind bestimmt sehr interessante Leute. Zeig doch mal ein wenig Offenheit.” “Und deine plötzliche Menschenliebe hat dich dazu bewogen, just in dem Moment, in dem ich hier vorbeikomme, zufällig aus einem Portal zu steigen?” Er konnte sehen, wie Magnus geschlagen die Schultern sinken ließ und wusste, dass er recht hatte, auch ohne dass er seine Vermutung nachprüfen musste. Gleichzeitig bedeutete die Tatsache, dass Magnus sich mit voller Absicht zu genau diesem Zeitpunkt in diese Seitengasse teleportiert hatte, dass auch ihr Aufeinandertreffen kein Zufall war. Der Gedanke irritierte Alec, denn er konnte sich keinen Reim darauf machen.   “Gut, also schön.” Magnus fuhr sich einmal leise seufzend durch die hochgegelten Haare und blickte dem Schattenjäger geschafft lächelnd ins Gesicht. Er hatte anscheinend einen Zauberglanz auf seine Erscheinung gelegt, denn seine normalerweise auffällig grün-gelb leuchtenden Katzenaugen mit den geschlitzten Pupillen hatten eine gewöhnlich geformte, schmutzig-braune Iris. “Die Wahrheit ist, ich wollte mit dir sprechen. Und dir einen Vorschlag machen.” Alec zog langsam seine Augenbraue hoch, aber ließ den Hexenmeister, der nun begann, ein wenig theatralisch vor ihm auf und ab zu gehen, fortfahren.   “Ich bin heute morgen aufgewacht und habe nach einem Blick aus dem Fenster festgestellt, dass New York - behalte bitte dabei im Hinterkopf, dass ich diese Stadt wirklich wertschätze und im Laufe der Zeit sogar eine recht sentimentale Gefühlsbindung zu ihr entwickelt habe - einfach unfassbar hässlich und trübselig ist. Dieses ewige Regenwetter schlägt mir aufs Gemüt und ich musste heute morgen eine halbe Stunde mit dem Glätteisen im Bad verbringen, weil die Feuchtigkeit meine Haare kräuseln lässt.” Den letzten Satzteil untermalte Magnus mit einem zutiefst empörten Blick, der aussagte, dass er dies als persönlichen Affront betrachtete. Alec fuhr sich genervt mit der Hand über das Gesicht. “Könntest du bitte zum Punkt kommen? Ich habe noch was vor.”   Diese Worte schienen den Hexenmeister wieder aus seiner kleinen Sphäre der Erbostheit hervorzuholen, denn er stieß den ausgestreckten Zeigefinger gegen Alecs Oberkörper und fuhr ebenso lebhaft wie zuvor fort: “Richtig. Und genau darüber wollte ich mit dir sprechen. Ich finde, es ist dringend Zeit für einen Tapetenwechsel.”   “Du möchtest verreisen?” Alec wischte die Hand des Hexenmeisters ein wenig unangenehm bewegt beiseite und rieb leicht über die Stelle auf seiner Brust, obwohl die Berührung noch nicht einmal grob gewesen war. Magnus hatte ihn, gelinde gesagt, mittlerweile gedanklich abgehängt, abgesehen davon, dass er viel zu spät zu seiner Verabredung mit Jace kommen würde.   “Stell dir Folgendes vor.” Magnus streckte feierlich die Handflächen vor sich aus und ließ den Blick träumerisch in die Ferne schweifen, als ob er das Bild, das er mit seinen Worten zu beschwören gedachte, tatsächlich vor sich sehen konnte. “Die schneebedeckten Berggipfel der Alpen... verschneite Wälder und Wiesen, soweit das Auge reicht. Einsame Täler, rauschende Bäche, eine beschauliche Hütte mitten auf der Alm. Ein kleines Feuer prasselt im Kamin, man räkelt sich bei einem Gläschen Rotwein auf dem Bärenfell…” Er schenkte Alec ein kurzes Augenzwinkern, welches diesem ohne sein Zutun die Hitze ins Gesicht steigen ließ. “Das ist zumindest der Plan. Was sagst du dazu?”   “Ja, ähm… dann viel Spaß?”, entgegnete der Angesprochene ein wenig konfus und machte Anstalten, seinen Weg fortzusetzen, um sich weiterer Schilderungen der malerischen Alpenlandschaft zu entziehen , “Ich muss dann jetzt auch wirklich los. Schönen Urlaub.” “Wa--- Halt, Moment mal!”   Magnus stellte sich ihm in den Weg und provozierte damit beinahe eine weitere Kollision. Diesmal jedoch legten sich die Hände des Hexenmeisters um seine Oberarme und hielten ihn effektiv davon ab, sich der Unterhaltung erneut zu entziehen. “Alexander. Du bist manchmal wirklich schwer von Begriff.” Alec ärgerte sich ein wenig über den betont langsamen und belehrenden Tonfall, mit dem Magnus auf ihn einredete, als sei er ein kleines Kind, dem er die Welt erklären müsste. “Ich möchte natürlich, dass du mitkommst.”   Alec blinzelte begriffsstutzig. “Wohin?” “Na, in die… hast du mir eben nicht zugehört?” “Du möchtest mit mir in die Alpen fahren?” “Nun ja, fahren ist vielleicht nicht das richtige Wort, aber… ja. Ich würde gerne einen kleinen Winterurlaub im Schnee mit dir verbringen.” Seine Worte untermalte der Hexenmeister mit einem kleinen, einladenden Lächeln. “Komm schon. Du hast den Regen doch sicher auch satt.”   Für einen langen Moment, in dem nur das Prasseln des Regens um sie herum zu hören war, starrte Alec sein Gegenüber einfach nur stumpf an, während er versuchte, den schlichten Wahnwitz dieser kühnen Einladung zu verarbeiten. Und das Schlimmste daran war, dass er tatsächlich begann, darüber nachzudenken und ihm diese Gedanken vielleicht doch ein kleines bisschen zu sehr gefielen.   “Du bist doch verrückt”, antwortete er schließlich leicht stockend und versuchte, sich aus dem Griff des Hexenmeisters zu befreien, “Ich kann hier nicht einfach verschwinden und irgendwo am Ende der Welt die Beine hochlegen.” Er meinte, es für einen kurzen Moment golden in Magnus’ mit Zauberglanz belegten Augen aufblitzen zu sehen, als dieser spitzfindig erwiderte: “Du denkst also darüber nach.” Alec gab einen hilflosen, genervten Laut von sich und ließ unruhig seinen Blick schweifen, um dem Hexenmeister keinen allzu genauen Einblick in die widerstreitenden Emotionen zu geben, die sich in seinen Augen widerspiegelten. “Es… es geht einfach nicht. Und überhaupt, ich sollte längst bei Taki’s sein und Jace bei der Verhörung einer Augenzeugin helfen und…”   Er kam nicht weiter, denn ein Finger legte sich auf seine Lippen und brachte ihn so zum Schweigen. “Ich mache dir einen Vorschlag, Alexander. Du nimmst jetzt dein Handy und schreibst dem guten Jace eine Nachricht, dass du heute leider verhindert bist. So wie ich ihn kennengelernt habe, macht es ihm nichts aus, sich mal einen Nachmittag alleine auszutoben.” Bevor Alec protestieren konnte, fuhr der Hexenmeister mit ernstem, aufrichtig bittendem Blick fort. “Ein Nachmittag, Alexander. Mehr verlange ich nicht. Und wenn es dir nicht gefällt oder du wider Erwarten hier doch unabkömmlich wirst…” Er zuckte mit den Schultern und lächelte sein Gegenüber schief an.   Wenn er es nicht besser wüsste, hätte Alec angenommen, Magnus habe einen Zauber auf ihn gewirkt, der wichtige Teile seines Gehirns einfach ausschaltete und seinen Widerstand zu schmelzen brachte. Widerwillig begann er, das Ganze zu durchdenken. Was war schon dabei? Jace würde natürlich mal einen Nachmittag ohne ihn klarkommen. Der Hexenmeister hatte recht, er war diesen ewigen Regen und das Grau der Stadt leid, und nach allem, was in der letzten Zeit passiert war… vielleicht würde ihm eine kleine Pause gut tun. Es war ja immerhin nicht so, als ob der Andere vor hätte, ihm Schaden zuzufügen. Es war immerhin Magnus. Der etwas melodramatische, flamboyante Hexenmeister, der aus irgendeinem für Alec nicht nachvollziehbaren Grund einen Narren an ihm gefressen zu haben schien und dessen durchdringender Blick ihm manchmal vielleicht ein wenig mehr Verheißung versprach, als gut für Alec war.   “... Ein Nachmittag.” Diesmal war es keine Einbildung, Magnus’ Augen leuchteten aufgrund seiner Worte intensiv gold-grün auf, und irgendwie verspürte Alec so etwas wie Erleichterung ob des vertrauten Anblicks. “Exzellent. Wollen wir dann?”, erwiderte der Hexenmeister mit übersprudelndem Tatendrang, der seine Reisebegleitung in spe ein wenig überrumpelte. “Jetzt gleich? Sollte ich nicht erst noch… naja, packen?” Der Blick, den Magnus ihm daraufhin zuwarf, war eine seltsame Mischung zwischen Nachsicht und Schalk: “Du sagtest es doch selbst: Wir bleiben einen Nachmittag. Es sei denn du planst doch einen längeren Aufenthalt mit mir…?”   Alec blieb eine Antwort auf die provokante Frage erspart, was vermutlich ein großes Glück war, denn viel Intelligentes wäre aus seinem Mund in dem Moment, als Magnus seine Hand ergriff und ihn mit sanftem Nachdruck in Richtung der Seitengasse bugsierte, nicht gekommen. Wahrscheinlich war es tatsächlich das Beste, einfach dem Hexenmeister die Kontrolle zu überlassen und sich selbst zur Abwechslung einfach mal treiben zu lassen, so sehr ihm das auch normalerweise widerstrebte.   Magnus hatte sich zuvor anscheinend nicht die Mühe gemacht, das Portal, aus dem er gekommen war, wieder hinter sich zu schließen, sodass Alec schon von weitem die unterschwellige Vibration von gebündelter Magie wahrnehmen konnte. Immerhin hatte der Hexenmeister den Eingang seines Portals ein wenig versteckt hinter zwei großen Müllcontainern platziert, sodass vorbei eilende Passanten den türhohen, leuchtenden Strudel von der Straße aus nicht sehen konnten. Dennoch, es war leichtsinnig. Magnus wischte seinen strafenden Blick jedoch nur mit einer unbekümmerten Handgeste beiseite: “Wir sind doch gleich weg.”   “Warum habe ich nochmal gleich zugestimmt…?”, murmelte Alec mehr zu sich selbst als zu seinem Begleiter, während er das Portal mit leichtem Unbehagen musterte. Auf diese Weise zu reisen war ihm nicht unbekannt, nach Idris gelangte man ausschließlich durch ein Portal, jedoch waren ihm die Nebenwirkungen leider nur allzu vertraut. Dass Magnus noch immer seine Hand hielt, wurde Alec erst in dem Moment bewusst, als er einen aufmunternden, warmen Druck um seine Finger verspürte.   “Versuch am besten, an gar nichts zu denken. Ich werde uns führen.” Der Hexenmeister nickte ihm einmal sanft zu und begann dann, ohne zu zögern auf das leuchtende Portal zuzugehen. Sein Verstand sagte Alec, dass Magnus’ Rat seine Berechtigung hatte, wenn Sie nicht Gefahr laufen wollten, inmitten des Soges auseinandergerissen und zwischen den Dimensionen herumirren wollten, nur um am Ende unwiederbringlich an einem unbekannten Ort zu landen zu landen. Es war nicht ganz ungefährlich für einen Schattenjäger, durch ein Portal zu reisen, ohne das Ziel seiner Reise zu kennen, und so verstärkte Alec seinen Griff um Magnus’ Hand und überließ sich ganz dessen Führung.   Der Sog der Magie erfasste ihn mit einer übelkeitserregenden Wucht, die ihm mit einem Schlag die Luft aus den Lungen trieb. Sie riss an ihm, zerrte an seinen Haaren, seiner Kleidung, seiner Haut, nahm ihm jegliches Gefühl von Gleichgewicht und Zeit. Es tat nicht weh, aber Alec hatte das Gefühl, einmal komplett in seine kleinsten, atomaren Einzelteile zerlegt und wieder zusammengesetzt zu werden. In Wahrheit verging wahrscheinlich weniger als eine Sekunde, bis die Magie ihn freigab und er wieder festen Boden unter den Füßen spürte.   Eiskalter Wind schlug ihm unerwartet scharf ins Gesicht, und für einen Moment war er sich nicht sicher, ob Magnus sie nicht doch versehentlich in irgendeine zutiefst lebensfeindliche, fremde Dimension teleportiert hatte. Er spürte, wie der Hexenmeister neben ihm überrascht die Luft einsog, aber er konnte nichts sehen, denn der Wind trieb ihm Schnee in die Augen, sodass er sein Gesicht mit seinem Unterarm zu schützen versuchte. “Nunja… das ist vielleicht doch ein wenig zu winterlich für meinen Geschmack.”   Magnus’ etwas kleinlaute, vom Rauschen der Bäume beinahe verschluckten Worte waren die Übertreibung des Jahrhunderts. Mühselig blinzelte Alec in die Dämmerung, doch es war angesichts des Schneesturms, in dem Sie sich befanden, schwer sich zu orientieren. Das Portal hatte sie anscheinend mitten auf eine verlassene Anhöhe geführt, denn um sie herum konnte er nur die schneebedeckten dunklen Umrisse von gewaltigen Nadelbäumen ausmachen, die sich vor weit in den Himmel ragenden Berggipfeln abhoben. Nach allem, was Alec aus Büchern über das höchste Gebirge Mitteleuropas wusste, waren sie ganz zweifellos in den Alpen angekommen, doch von der durch Magnus beschworenen Bergidylle war nicht viel zu sehen. Das Winterwunderland war eine Schneehölle.   “Bring uns hier weg!”, fuhr er den Hexenmeister über das Heulen des Windes hinweg an. “Geht nicht!”, brüllte Magnus zurück, und erst jetzt realisierte Alec, dass sich das grüne Leuchten des Portals hinter ihnen verflüchtigt hatte. Ihr einziger Rückweg hatte sich aufgelöst. “Kannst du kein neues Portal öffnen?”, gab Alec zurück, doch im Grunde wusste er, dass die Frage sinnlos war, was ihm kurz darauf auch Magnus’ defensive Erwiderung bestätigte: “Ich befürchte, ich habe meine Kräfte ein wenig überstrapaziert, indem ich es so lange offen gehalten habe.”   Alec unterdrückte einen Fluch und verwünschte den Hexenmeister innerlich, doch Vorwürfe würden ihnen in dieser Situation auch nicht weiterhelfen. Er spürte bereits, wie die eisige Kälte unter seine Kleidung kroch und seine Finger taub werden ließ. Kurz entschlossen riss er seine Stele aus seinem Gürtel und trug mehrere Wärmerunen auf seinen Unterarmen auf. “Wir können nicht hier stehen bleiben. Wir müssen irgendwo Schutz suchen”, fasste er die Situation rational zusammen und versuchte, durch das Schneegestöber hindurch Magnus’ Blick zu finden, “Da drüben stehen die Bäume eng zusammen, dort sollten wir dem Wind entgehen können.” Er steckte seine Stele wieder ein und tastete blind nach der Hand des Hexenmeisters, der keine Widerworte hören ließ und mit der Gesamtsituation überfordert schien. Vielleicht war ihm auch einfach schon der Mund zugefroren, wofür Alec gerade tatsächlich dankbar gewesen wäre.   Diesmal übernahm er die Führung. Es war nicht leicht, sich in den beinahe wadenhohen Schneewehen vorwärts zu bewegen, wobei sich Alecs Schattenjägerkluft als weitaus zweckdienlicher erwies als Magnus’ elegante Halbschuhe und der feine Stoff seiner Hose. Offenbar war der Plan des Hexenmeisters nicht wirklich auf längere Aufenthalte im Freien ausgelegt gewesen. Mittlerweile hätte aber auch Alec einiges für ein Kaminfeuer und eine Tasse dampfenden Kakao gegeben, obwohl die Runen auf seiner Haut die Kälte weitestgehend abschwächten. Er mochte sich nicht vorstellen, wie es Magnus gehen musste, dem keine solchen Hilfsmittel zur Verfügung standen, jetzt, wo seine Magie geschwächt war.   Unweigerlich beschleunigte Alec seine Schritte und duckte sich als erster unter einigen tiefhängenden Zweigen hindurch, wobei der Hexenmeister mehr hinter ihm her stolperte, als dass er ging. Die eng beieinander stehenden Bäume boten tatsächlich ein wenig mehr Schutz vor dem eisigen Wind, und nach einigen Momenten erspähte Alec dank der Nyx-Rune auf seinem Handrücken in der Dunkelheit eine riesige Kiefer, deren Zweige beinahe den Boden berührten. Ein Ort, genauso gut wie jeder andere, um nicht den akuten Kältetod zu sterben und um dort in Ruhe über ihre nächsten Schritte nachzudenken. Magnus’ Hand fühlte sich eisig in seiner eigenen an, und fast widerstrebte es Alec, sie loszulassen, doch er brauchte beide Hände, um einige der Kiefernzweige anzuheben und dem Hexenmeister somit den Zugang unter das schützende natürliche Dach zu ermöglichen. “Mein Kavalier”, quittierte Magnus die Geste, doch der übliche verspielte Klang seiner Stimme wurde von einem leichten Beben darin abgeschwächt und er beeilte sich, sich unter den angehobenen Zweigen hindurch zu ducken. Alec folgte ihm wenig später, nachdem er sich noch einmal aus reiner Gewohnheit umgesehen hatte.   Der Freiraum um den Stamm des Baumes herum bot genügend Platz für zwei Personen, und wie erhofft war der Boden hier nicht mit Schnee bedeckt, sondern vollkommen trocken, wenn auch durch den Frost steinhart gefroren. Die beiden Männer beeilten sich, den Schnee von ihrer Kleidung zu klopfen und ein wenig Atem zu schöpfen, was Magnus schließlich nutzte, um kleinlaut zuzugeben: “Das ist jetzt doch etwas kälter, als es im Reiseprospekt aussah.” Gereizt ließ Alec seinen Blick zu dem Hexenmeister schweifen, dessen Frisur durch den Schnee und den Wind vollkommen zerstört war und der einen beinahe bemitleidenswert kläglichen Eindruck machte. “Vielleicht hättest du uns dann nicht anhand eines verdammten Prospektfotos teleportieren sollen.” Fast hoffte er, dass Magnus auf seinen Kommentar einsteigen und ihm einen Grund geben würde, einen handfesten Streit vom Zaun zu brechen, doch der Hexenmeister seufzte nur einmal tief, wischte sich etwas Glitter von der Wange und erwiderte leise: “Du hast recht. Entschuldige, Alexander.”   Das ehrliche Schuldbewusstsein in der Stimme des Anderen nahm Alec den Wind aus den Segeln. Er strich sich unschlüssig durch die nassen Haare und antwortete nach einem Moment ebenso leise: “...schon gut.” Dies entlockte Magnus ein kleines Lächeln, und irgendwie erschien Alec die Situation in diesem Moment gar nicht mehr so katastrophal. Jetzt waren sie nun einmal hier, aber irgendwann würden sich die Kräfte des Hexenmeisters schon regenerieren, oder? Unsicher, ob er noch etwas sagen oder vielleicht eine Unterhaltung beginnen sollte, lehnte sich Alec mit dem Rücken gegen den Stamm der Kiefer und schwieg. Auch Magnus schien vorerst der Gesprächsstoff ausgegangen zu sein, sodass die einzigen Geräusche um sie herum das Rauschen der Nadelbäume und das stetige Heulen des Windes war, der an den Zweigen rüttelte. Alec versuchte zurückzurechnen, wie spät es wohl sein musste. In welcher Zeitzone befanden sie sich?  In New York war es später Nachmittag gewesen, also musste es hier etwa früher Morgen sein. Die vorherrschende Dunkelheit machte es schwer, eine präzise Schätzung anzustellen, und Alec war erneut froh, dass ihn die Nyx-Rune davor bewahrte, komplett blind dazustehen. Er war sich beinahe sicher, dass Magnus ebenfalls entsprechende Wege und Mittel offen standen, doch die ungewohnte Schweigsamkeit des Hexenmeisters ließ in ihm den Verdacht aufkeimen, dass es um dessen Kräfte besorgniserregender stand, als erwartet.   Wie um seinen Gedankengang zu bestätigen, trat Magnus unruhig von einem Fuß auf den anderen und rieb sich schaudernd über die Oberarme. In Alec regte sich die Sorge. Die bunte, feine Kleidung musste nach den Gewaltmarsch durch den Schneesturm komplett durchnässt sein und die Minusgrade würden auf Dauer selbst einem uralten Hexenmeister gefährlich werden. Angestrengt versuchte Alec einen Weg zu ersinnen, irgendetwas zu unternehmen, doch ihre Möglichkeiten waren stark eingegrenzt. Ein Feuer konnten sie hier drin schwerlich machen und eine andere Wärmequelle gab es nicht. Wobei... Er warf einen etwas unsicheren Seitenblick auf den sichtlich vor Kälte bebenden Hexenmeister, der inzwischen dazu übergegangen war, in dem engen Freiraum unter den Zweigen hin und her zu gehen. Das Bild hatte ein wenig etwas von einem Tiger, den man in einem engen Käfig eingesperrt hatte, und idiotischerweise fühlte sich das, was er vorzuschlagen hatte, für Alec genauso gefährlich an.   “Magnus.” Der Angesprochene hielt in seinen Bewegungen inne und blickte fragend auf. “Willst du… naja?” Alec kam sich etwas blöd dabei vor, als er seine zuvor vor der Brust verschränkten Arme löste und leicht ausbreitete, und er hoffte, dass die Botschaft ankam.   Magnus wirkte überrascht, doch der von Alec befürchtete taktlose Kommentar blieb aus. Stattdessen trat der Hexenmeister langsam und bedächtig auf ihn zu, bis sie sich direkt gegenüberstanden. Wenn er gewollt hätte, hätte Alec ihn berühren können, doch irgendwie scheute er sich davor, diesen Schritt zu tun. Es war furchtbar albern, es ging hier nur um eine Umarmung, und eine rein zweckmäßige obendrein, und trotzdem war er nervös.   Magnus schien zu spüren, was in ihm vorging, denn nachdem er ihm für einen Moment prüfend ins Gesicht geblickt hatte, legten sich die Arme des Hexenmeisters langsam um Alecs Hals und lehnte seinen Körper sachte gegen den des Schattenjägers. Alec konnte spüren, wie ein leichtes Schaudern durch Magnus ging, und er bekam seinerseits eine Gänsehaut, als er spürte, wie eisig sich der Hexenmeister anfühlte. Einzig der Atem, der unweigerlich über seinen Hals strich, als Magnus leise das Wort ergriff, war warm: “Danke.”   Es war schwer zu sagen, wie viel Zeit vergangen war. Es mochte eine Stunde oder vielleicht auch zwei gewesen sein, in der sich Magnus’ Körper nach und nach mit angenehmer Schwere immer dichter gegen ihn gelehnt hatte und seine eigenen Arme irgendwann ihren Weg um den Rücken des Hexenmeisters gefunden hatten. Alec konnte schwer einschätzen, ob die Wirkung seiner Runen wirklich ausreichte, um ausreichend viel Wärme an Magnus abgeben zu können, doch immerhin hatte dessen Zittern bereits seit einer Weile aufgehört. Nach einer Weile, die er in tiefen Gedanken zugebracht hatte, meldete sich Alecs Unterbewusstsein zu Wort, und kurz darauf erkannte er, was es ihm mitteilen wollte.   “Es ist so still.” “Fehlt dir der Lärm der Großstadt jetzt schon?”, meldete sich Magnus zu Wort, ohne jedoch seinen Kopf von der Schulter des Schattenjägers zu heben. “Nein, ich meine… es ist still. Der Schneesturm muss vorübergezogen sein.” Alec erlaubte sich, ein wenig Hoffnung zu schöpfen. Wenn sie nicht mehr Gefahr liefen, sich im Sturm zu verirren, konnten sie nun versuchen, einen anderen Unterschlupf und vielleicht sogar eine Siedlung zu finden. Nun kam auch wieder ein wenig Leben in Magnus, der sich leicht aufrichtete, seine Arme jedoch weiterhin locker um Alecs Nacken geschlungen hielt. “Dabei war es gerade so lauschig. Beinahe schade.” Da war es wieder, das vertraute, schalkhafte Schmunzeln, doch diesmal war Alec fast versucht, dem Hexenmeister zuzustimmen.   Dennoch löste er sich langsam aus der Umarmung und Magnus ließ ihn gewähren. Als sie sich unter den Kiefernzweigen hervorduckten, hatte sich der Sturm tatsächlich gelegt. Nur noch einzelne Schneeflocken schwebten gen Boden, sodass sich ihnen ein regelrecht friedlicher Anblick auf die nächtliche Berglandschaft eröffnete. “Vielleicht hat dein Reisekatalog ja doch nicht ganz gelogen”, konnte sich Alec eine kleine Spitze in Richtung des Hexenmeisters nicht verkneifen, doch dieser ließ nur ein leises, versonnenes Murmeln hören: “Eventuell könnte ich das Ganze noch etwas für dich aufwerten.”   Ehe Alec nachfragen konnte, was das bedeuten sollte, hatte Magnus mit den Fingern geschnippt, sodass zwischen seinen Fingerspitzen blaue Funken entfacht wurden. Er führte mit seinen Händen eine Abfolge anmutiger, kompliziert aussehender Gesten aus, bis sein gesamter Körper in ein pulsierendes, blaues Leuchten gehüllt wurde und die gesamte Umgebung ebenfalls darin eintauchen ließ. Sprachlos sah Alec zu, wie der Schnee auf den Bäumen und auf dem Boden das Licht als unwirkliches Glitzern reflektierte, was der Landschaft etwas Märchenhaftes, Magisches verlieh. Eine lange Weile standen sie stumm nebeneinander und nahmen diesen Anblick in sich auf. Selbst Magnus schien von seinem eigenen Werk ein wenig berührt zu sein.   “Das ist unglaublich. Es…”, machte Alec schließlich Anstalten, irgendetwas zu sagen, um seine Gedanken auszudrücken, doch bevor er seinen Satz beenden konnte, schob sich Magnus in sein Gesichtsfeld und er spürte, wie sich warme Lippen unvermittelt sanft auf seine legten. Der Kuss dauerte nur wenige Augenblicke an, viel zu kurz, als dass er in irgendeiner Weise hätte reagieren können. “Gern geschehen”, flüsterte der Hexenmeister ihm mit einem Lächeln zu, das selbst den Minusgraden trotzte und in Alec ein unbestimmtes, warmes Kribbeln auslöste, “Wollen wir dann zurück?” Der Schattenjäger blinzelte ein wenig konfus, weil der Gedanken an den Heimweg angesichts ihrer Situation und den Geschehnissen der letzten Stunde weit weg schien. Doch noch etwas anderes bewegte ihn dazu, irritiert nachzuhaken: “Reicht deine Magie denn schon wieder aus, um uns nach Hause zu bringen?” Immerhin hatte der Hexenmeister gerade eine nicht gerade kleine Lightshow veranstaltet, und… “Wie lange reicht deine Magie schon wieder aus?”, setzte er ungläubig hinterher, und Magnus leicht schuldbewusstes Grinsen ließ ihm so einiges klar werden.   “Ach, nun ja… schon seit einer ganzen Weile? Ich habe vielleicht ein halbes Stündchen Pause gebraucht.” “Du willst mir ernsthaft sagen, dass wir stundenlang in der Kälte herum gestanden haben...vollkommen umsonst?!” “Wie gesagt”, entgegnete Magnus schulterzuckend und mit einem kleinen, verschmitzten Lächeln, “Es war so lauschig. Das war es wert.”   Ungläubig starrte Alec den Hexenmeister an, der summend und allem Anschein nach komplett mühelos begann, ein neues Portal mittels seiner Magie heraufzubeschwören, und was auch immer für Gefühle der Kuss eben in ihm ausgelöst hatte, sie wurden Effektiv von dem dringenden Wunsch verdrängt, Magnus einen Faustschlag zu verpassen. Doch bevor er sich entscheiden konnte, ob er seinem Drang nachgeben sollte oder nicht, drehte der Hexenmeister sich wieder zu ihm um und fuhr in versöhnlichem Tonfall fort: “Da das mit dem gemütlichen Nachmittag vorm Kaminfeuer leider nicht so geklappt hat, wie wir uns das vorgestellt haben… darf ich dich vielleicht noch auf einen warmen Kakao bei mir zuhause einladen?” Der Einladung schwang ein unbestimmter Tonfall mit, der Alec unweigerlich an das Gefühl von weichen Lippen auf seinen denken ließ und die Wut in seinem Bauch schneller verdampfen ließ, als er daran festhalten konnte. Also seufzte er nur geschlagen, zuckte schief lächelnd mit den Schultern und erwiderte: “Also gut.” Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)