Freundschaft auf Russisch von abgemeldet ================================================================================ Kapitel 6: Besuch ----------------- BESUCH „Bryan, warten Sie!“ Er ist gerade aus seinem Zimmer getreten, die Sporttasche über der Schulter. Bereit für eine Einheit in den hauseigenen Fitnessräumen, bevor er am Abend zu einem Routinegespräch bei seinem Arzt erscheinen muss. Als er sieht, dass es eben dieser Arzt ist, der ihn vom Flur aus gerufen hat, ballt er seine rechte Hand zur Faust, löst sie aber wieder, sobald er das realisiert. Doktor Gorowzow, ein gewöhnlich aussehender Mann mittleren Alters mit Hornbrille und heute mit einem marineblauen Pullover, ist die einzige Person in dieser Einrichtung, der er sich anvertrauen würde. Im Gegensatz zu vielen anderen Ärzten hier scheint dieser immerhin ernsthaft daran interessiert zu sein, dass seine Patienten irgendwann entlassen werden können. Auch wenn es ihn manchmal wahnsinnig macht, wie genau er ihn während ihrer Gespräche beobachtet und sich Dinge notiert, die ihm auffallen. Ob er für den Mann wohl sehr leicht zu lesen ist? „Der Termin ist erst in drei Stunden. Lassen Sie mich jetzt in Ruhe!“ Aber Gorowzow hält weiterhin unbeirrt ruhigen Augenkontakt mit ihm. „geht nicht darum. Sie haben Besuch. Unten in der Cafeteria.“ „Tala?“ Gorowzow lächelt. „Ja, aber diesmal hat er noch jemanden mitgebracht. Entschuldigen Sie mich, aber ich muss jetzt weiter. Später schaue ich aber noch vorbei.“ Zum Abschied hebt sein Arzt noch die Hand, in der er ein Klemmbrett hält, dann haut er ab. Unsicher bleibt er im Flur stehen und versucht sich vorzustellen, wer ihn besuchen wollen könnte. Außer dem Rotschopf. Der kommt so regelmäßig vorbei, dass auch Gorowzow ihn mittlerweile schon beim Namen kennt. Schließlich drängt ihn die Neugier zur Eile. Zügig joggt die Treppe runter. In dem kleinen, von der Abendsonne durchfluteten Saal riecht es penetrant nach Milch, heißem Kaffee und Tee. Schnell macht er seinen Ex-Teamchef anhand seiner auffälligen Haare ausfindig und läuft auf den Tisch zu. Aber als er sieht, wer ihm gegenübersitzt, hält er vor Überraschung an. Was macht Hiwatari in Russland? Er spürt, wie sein Puls steigt. Kai entdeckt ihn vor Tala und sagt etwas zu dem Rothaarigen, woraufhin auch dieser sich zu ihm umdreht. Jetzt schauen ihn beide erwartungsvoll an. Während er sich dem Tisch weiter nähert, durchforstet er sein Hirn nach den richtigen Worten. Tala steht auf, der andere bleibt sitzen. Im Endeffekt bringt er nicht mehr raus als ein Grinsen und einen brüderlichen Handschlag für Tala und ein kurzes Nicken in Kais Richtung. Dann stellt seine Sporttasche ab und setzt er sich auf den Stuhl neben seinen ehemaligen Teamleader. „Wie geht´s?“, fragt dieser. Dabei lächelt er sogar, doch er durchschaut ihn sofort. Das Lächeln ist nur halb echt, es erreicht seine eisblauen Augen nicht. Sein ehemaliger Teamleader versucht so zu tun, als wäre nichts Ungewöhnliches. „Kann nicht klagen“, antwortet er deshalb betont schroff, um ihm deutlich zu machen, dass der Versuch, eine lockerere Stimmung zu verbreiten, bei ihm nicht zieht. Dann wendet er sich an Kai. Er hat sich äußerlich nicht verändert, seit er ihn das letzte Mal gesehen hat. Das ist schon einige Monate her. Schwer zu erraten, was ihm gerade durch den Schädel geht. „Was machst du denn hier?“ „Ich bin zu Besuch bei Tala.“ „Hmm.“ Wie immer großzügig mit Details, der Grau- blauhaarige. Muss man ihm Alles aus der Nase ziehen, verdammt? Der Rothaarige erhebt sich wieder. „Ich hole mir was zu trinken. Wollt ihr auch was?“ Er und der Jüngere nicken. „Ein Kräutertee, bitte“, bittet er. Kai äußert denselben Wunsch. „Und was machst du bei Tala?“, hakt er nach, als sie zu zweit sind. Der Angesprochene verschränkt die Arme vor der Brust und starrt nachdenklich auf den Tisch. „Das weiß ich ehrlich gesagt auch nicht genau… er hat mich einfach eingeladen.“ „Okay? Hmm.“ Verwundert runzelt er die Stirn. „Wie lange bleibst du?“ „Bis Sonntag.“ Bryan verdreht die Augen. „Bist du mit Geld eigentlich genauso sparsam wie mit Worten? Wann bist du angekommen?“ Kai schnaubt, aber weiter reagiert er nicht auf seinen indirekten Vorwurf. „Gestern.“ „Aha. Na dann: herzlich willkommen zurück in Russland. Oder so.“ Er ringt sich ein schwaches Grinsen ab, und Kai erwidert es vorsichtig. „Danke. Ist tatsächlich ein komisches Gefühl.“ Innerlich staunt er darüber, dass Kai immer noch akzentfrei russisch spricht. Immerhin hat er nun fast die Hälfte seines Lebens in einem anderen Land verbracht. Während Tala Kaffee und heißes Wasser in drei Tassen gießt, beobachtet er gespannt von weiter weg seine Freunde. Er sieht, dass ein zaghaftes, zögerliches Gespräch entsteht. Das lässt ihn erleichtert aufatmen. Bei zwei Tölpeln wie Kai, der stets darauf bedacht ist, bloß kein Wort zu viel zu verlieren, und Bryan, dem es an allen Ecken an sozialen Kompetenzen mangelt, weiß man nie, wie sie miteinander auskommen. Obwohl sie sich damals prächtig verstanden haben. Als Realist ist er sich sicher, dass es zwischen ihnen drei nie mehr so sein wird wie früher. Aber irgendetwas in seinem Kopf sagt ihm, dass sie zumindest einen Neustart versuchen sollten. Kaum zu glauben, dass sie mal unbeschwert zusammen gelacht haben und sich alles erzählt haben. Das ist Ewigkeiten her. Können sie sich nach allem, was sie durchgemacht haben, wirklich komplett fremd geworden sein? Kai greift sich eine Tasse von dem Tablett, das Tala auf den Tisch gestellt hat, und rührt fünf Löffel Zucker in sein heißes Getränk. Bryan beobachtet das mit einer Mischung aus Schock, Staunen und Ekel. „Machst du deinen Tee immer so süß? Dann frage ich mich, warum du noch Zähne hast.“ „Ja. Oder warum bei dir noch kein Diabetes diagnostiziert wurde! Aber du warst ja schon als Kind extrem verrückt nach Süßkram“, merkt Tala an. „Tss. Das sind doch die meisten Kinder!“, verteidigt Hiwatari sich. „Ja, aber du…“, fängt der Rotschopf an, bekommt aber plötzlich einen Lachanfall, als er darüber nachdenkt, was es erzählen will. „Wisst ihr noch, als Kai sich einmal mit seinem Geburtstagsgeld alleine aus der Abtei geschlichen hat und spät abends mit einem Rucksack voll Schokoladentafeln, Keksen und Apfelringen wiederaufgetaucht ist?“ Seine Freunde blinzeln ihn an und denken nach. Dann breitet sich auf Bryans Gesicht ein großes Grinsen aus. „Stimmt, das hatte ich schon ganz vergessen! Aber jetzt, wo du es erwähnst, erinnere ich mich an das Gesicht von Boris an dem Abend. Ich hab´ den selten so sauer gesehen! Nicht mal an die Ohrfeige erinnerst du dich?“ Kai schüttelt den Kopf. Dann hebt er halb skeptisch, halb belustigt, eine Augenbraue. „Sowas hab´ ich gemacht? Aber ich muss zugeben, dass das schon nach mir klingt.“ „Klar! Regeln und Vorschriften haben dich als Kind wenig interessiert. Das hat sich wahrscheinlich nicht geändert, hmm?“ Hiwatari meint, die Andeutung eines kleinen Lächelns auf Bryans Gesicht zu sehen. Insgeheim beeindruckt ihn das ausgezeichnete Gedächtnis seiner Freunde. “Nein, das hat sich nicht wirklich geändert“, antwortet er, während Tala immer noch von einem Lachkrampf geschüttelt wird. „Das tragischste ist ja, dass dir dieser kleine Einkaufsausflug gar nichts gebracht hat. Die Ware wurde konfisziert, und das gute Geld war umsonst ausgegeben. Du hast noch Tage danach demonstrativ geschmollt“, japst er vom Lachen atemlos. Etwas erstaunt starren die anderen beiden den Rotschopf an. Beide haben ihn schon seit einer Ewigkeit nicht mehr derart unbeschwert erlebt. Nachdem Tala wieder runtergekommen ist, nimmt er seelenruhig einen Schluck von seinem Tee. „Habt ihr Lust, spazieren zu gehen?“ Kai zuckt relativ gleichgültig mit den Schultern und nickt. „Warum nicht?“, murmelt sein anderer Freund. Was sie alle nicht mitbekommen: Doktor Gorowzow läuft an der Caféteria vorbei, macht aber eine Vollbremsung, als er aus dem Augenwinkel Bryan dort sitzen sieht. Neugierig späht er zu der Dreiergruppe. Als er Bryans Mimik und Gestik beobachtet, schleicht sich ein sanftes Lächeln auf sein Gesicht. ´Tala, du weißt nicht, wie gut du seiner Gesundheit mit deinen Besuchen tust´, denkt er, bevor er weiterhastet. Nachdem sie ihren Tee ausgetrunken haben, verlassen sie das Gebäude durch eine Art Hintertür. Hiwatari staunt, als er sich an einer riesengroßen Parkanlage wiederfindet. Vor ihnen beginnt ein breiter Weg aus roten, groben Pflastersteinen, der sich an Wiesen, einem Rondell mit einer Fontäne in der Mitte, einem Spielplatz und einem kleinen Tannenwäldchen entlangschlängelt. Und das ist erst das, was er von ihrem Standpunkt aus sehen kann. Die hölzernen Ausschilderungen, die an einigen Kreuzungen dieser Wege stehen, lassen ihn vermuten, dass es hier noch mehr zu sehen gibt. Sie schlendern los. Der Weg führt zuerst bergauf. Niemand hat es eilig. Eine seltsame Stille legt sich über sie, wird aber bald von Tala vertrieben. „Gehen wir zum Pavillion am See?“, fragt er an seinen Freund und Patienten dieser Psychatrie gewandt. Der nickt stumm. „Das ist ein netter Ort. Ich wusste gar nicht, dass es hier so was gibt“, erzählt Kai. „Es ist immerhin eine geschlossene Abteilung. Das heißt, dass die Patienten das Gelände der Klinik nicht verlassen dürfen. Es wird versucht, ihnen ihren Aufenthalt so angenehm wie möglich zu machen, denke ich“, antwortet ihm der Rotschopf nachdenklich. Der Blaugrauhaarige, der zum ersten Mal hier ist, schaut sich aufmerksam um. Jetzt, im frühen Herbst, färben sich die Blätter allmählich bunt, und die Tannennadeln beginnen zu trocknen. Bald würden die Bäume kahl sein. Über ihnen, im leicht bewölkten Himmel, macht sich ein Schwarm Zugvögel bereits auf den Weg in wärmere Regionen. „Bryan...“ Kai setzt zum reden an, starrt zögernd auf den Boden. „,...Du bist in der Geschlossenen wegen Aggressionsproblemen. Aber in der ungefähr halben Stunde, die wir bereits hier sind, hast du dich ziemlich normal verhalten.“ Der Angesprochene atmet tief ein und räuspert sich. Es liegt ihm immer noch unangenehm im Magen, dass Kai ihn so sieht, aber jetzt, da es nun mal passiert ist, kann er auch mit allem rausrücken. „Es war am Anfang tatsächlich schlimmer. Ich habe Menschen attackiert, die im meinen Augen einfach nur Schwächlinge sind. Oder manchmal auch Menschen, die mir einfach nur widersprochen haben. Ich war eine akute Bedrohung für andere. Außerdem hatte ich nachts oft Albträume, die mit der Abtei zu tun hatten. Seit alldem hatte ich bestimmt fünfmillionen Gespräche mit meinem Arzt. Es ist inzwischen so gut, dass ich bald in die halboffene Abteilung wechseln darf... trotzdem gibt es immer noch Aussetzer und Wutausbrüche. Und ein Medikament muss ich auch noch nehmen.“ So. Nun ist es raus. Eine weitere Person weiß über sein Elend bescheid. „Glückwunsch zur baldigen Umsiedlung in die Halboffene! Das sind gute Neuigkeiten.“ Tala schenkt ihm ein aufmunterndes Lächeln. „Und weißt du schon, was du machen willst, wenn du hier weg bist?“ Er nickt eifrig. „Ich hätte Bock auf eine eigene Werkstatt. Hier habe ich zum ersten Mal an Autos und Motorrädern rumbasteln dürfen, und es gefällt mir. Aber lass' mich erstmal hier rauskommen, Kai.“ Er blickt seiner Entlassung aus diesem Gefängnis mit ungleich gemischten Gefühlen entgegen. Er wird danach erstmals alleine wichtige Entscheidungen für sich treffen müssen. Ein kleiner Teil von ihm hat Panik vor dieser Selbstständigkeit. Hat Panik davor, alles falsch zu machen und auf der Straße zu enden. Aber ein viel größerer Teil freut sich auf die Chance, sein Leben selbst in die Hand nehmen zu können. Rumkommandiert wurde er schon mehr als genug. Und außerdem: Tala hat es schon geschafft. Dann wird er es ja wohl auch locker schaffen, oder? Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)