[EN]counters von Alaiya ([1219AK2016]) ================================================================================ [DIE STADT – 2082] ------------------ Wie ein Labyrinth aus Lichtern und Schatten lag DIE STADT unter ihr. Von hier aus waren keine Menschen erkennbar und selbst die Wagen erkannte man nur dank der sich bewegenden Scheinwerfer, die in der Tiefe der Straßenkluft schimmerten. Die Atmosphärenanzeige im Fenster selbst sagte ihr, dass draußen gute zwölf Grad Celsius herrschten – nicht unbedingt winterliche Temperaturen. DIE STADT lag zu weit im Süden. Ivory hatte nie gedacht, dass sie einmal hierher kommen würde. DIE STADT war in ihrer Kindheit legendär gewesen. Das Herz der neuen Welt. Mit gesamt 80 Millionen Einwohnern der größte Metroplex der Welt. Ein Ort mit unendlich vielen Möglichkeiten, so hatte man es ihr damals gesagt. Sicher, als Kind hatte sie, wie so viele andere, davon geträumt einmal hier zu sein – nur waren jene Szenarien doch ganz anders als die jetzige Realität gewesen. Sie seufzte und rief die Fenstersteuerung im AR-Feld auf, um das Glas wieder milchig weiß werden zu lassen, so dass DIE STADT nur noch ein Schimmer war, der von außen hereindrang. Sie hatte sie nur einmal von hier oben sehen wollen, konnte sie doch noch immer nicht glauben, dass sie wirklich hier war. Mit einem tiefen Atemzug sog Ivory, die nach Kräutern riechende Luft tief ein, ehe sie zur hölzernen Bank zurück ging und sich auf sie legte. Mit einer Handbewegung rief sie ein weiteres AR-Feld auf, um das Atmosphärenlicht wieder anzuschalten, ehe sie die Augen schloss. Sie war froh, diesen Ort gefunden zu haben. Es erinnerte sie an Zuhause. „Dienstag ist Saunatag“, hatte ihr Vater immer gesagt. Immer und immer wieder. Egal wie es in seinem Leben gelaufen war. „Dienstag ist Saunatag.“ Manchmal hatte ihre Mutter dann geschimpft, hatte gemeint, dass es wichtiges zu tun gab, dass es keine Zeit zum Entspannen gab. Ihren Vater hatte das nie gestört. Er hatte dann nur gelacht und gemeint: „Du bist nicht aus Skandia, du kannst das nicht verstehen.“ Und dann hatte ihre Mutter die Augen verdreht und gelächelt. Ivory hatte es gemocht. Ob zur Schulzeit oder später im Studium. Es war eine Konstante gewesen, etwas, worauf sie sich freuen konnte. Dienstagsabends blieb Zeit zum Entspannen. Dienstagsabends konnte sie allen Ärger vergessen. Als sie vor zwei Wochen jedoch hier angekommen war, war es alles andere als leicht gewesen, diese Tradition aufrecht zu erhalten. Immerhin war DIE STADT groß. Es war nicht schwer gewesen, eine Sauna zu finden – schwer war es gewesen, die richtige zu finden. Wie jedes Kind ihrer Generation hatte auch sie die anderen Geschichten gehört. Die Megaplexes waren berüchtigt dafür. Die Gewalt, die Kriminalität, jene Art von Menschen, vor denen Eltern Kinder warnten. Unten in den dunklen Gassen gab es jede Art von menschlichen Abschaum. Manche von ihnen handelten nur mit Drogen und Waffen, die meisten natürlich nicht sauber, doch in den dunklen Schatten der Häuserschluchten konnte alles zur Ware werden. Gerade ihre Art lief besonders Gefahr, so hatte es ihre Mutter ihr immer wieder eingebläut, eines Tages ohne Kleidung in einem fremden Zimmer aufzuwachen. Doch solange sie hier stationiert war, hatte sie das Geld um sich zumindest einmal die Woche den Luxus zu leisten. Zu dem Schluss war sie angekommen, nachdem sie sich einige der kleinen Salons angeschaut hatte, die es unten in der Stadt gab. Doch am Ende konnte sie nicht sicher sein, ob auch nur einer dieser Schuppen nicht mit Drogen handelte oder gar mit anderen Dingen. Deshalb hatte sie sich für das Shahara Spa entschieden, eins der teuersten Spas DER STADT. Es war in einem der Multiplexe gelegen. Das Centix Multiplex war in der Nähe der Hauptstation gelegen und erstreckte sich 68 Stockwerke in den Himmel über der Stadt. Die obersten zehn Stockwerke wurden vom Shahara eingenommen. Hier gab es eine Therme, Massagesalons und eine der größten Saunen der Stadt. Auch wenn sie es sich nicht würde wöchentlich leisten können, hatte Ivory es sich erlaubt, eine eigene Saunenkabine für eine halbe Stunde zu mieten. Kleine, gerade einmal zweieinhalb Quadratmeter große Kabinen, die sich jedoch komplett auf die eigenen Bedürfnisse regulieren ließen. Ein Timer im AR Feld sage ihr, dass sie nur noch fünf Minuten hatte. Sie schloss wieder die Augen, um zumindest ihre letzten Minuten noch zu genießen, ehe sie in den Hauptbereich zurückkehren würde. Selbst durch die geschlossenen Augenlider konnte sie das grüne Licht sehen, ausgestrahlt von den milchigen Platten an der Decke. Sie beachtete es nicht und konzentrierte sich auf die Geräuschkulisse – Urwaldatmosphäre – während sie die heiße Luft weiter einsog. Eigentlich mochte sie die Gesellschaft anderer Menschen, doch war DIE STADT für sie, die sie nur aus einer Kleinstadt kam, für sie ein ungewohnt voller Ort mit zu vielen Menschen unterschiedlicher Ethnien. Bei sich zuhause war sie nur eine von sechs En gewesen, die in der gesamten Stadt gelebt haben. Sie war es gewohnt angestarrt zu werden, doch die Blicke hier waren anders. Vielleicht bildete sie es sich nur ein … Seit sie von den UF eingezogen worden war, hatte sie mehr En getroffen, als sie es je gedacht hätte. Ihr Leben war anders, als sie es erwartet hätte – doch wie hätte sie als Kind auch mit dem Krieg rechnen können? Langsam wurde das Licht heller und auch ohne in das AR Feld zu schauen, wusste sie, dass ihre Zeit um war. Mit einem tiefen Seufzen setzte sie sich auf und ging in die kleine Kabine, die an den Raum angeschlossen war, um sich kalt abzuduschen. Anschließend machte sie rasch ihren Zopf neu, ehe sie den Bademantel wieder überwarf. Sie trat zurück in den Hauptbereich: Ein großer Saal mit einem großen, runden Wasserbecken in der Mitte, um das Liegestühle aufgestellt waren. Das Wasserbecken war leicht erhoben, so dass man erst eine kleine Treppe hinaufsteigen musste, um hinein zu kommen. Die Wände des Beckens waren halb durchsichtig und in blauen Licht erleuchtet. Für einen Moment zögerte Ivory, doch als sich die ersten Blicke ihr zuwandten, wandte sie sich ab und ging an den Liegestühlen vorbei zur Treppe, die in das Stockwerk drunter führte, wo es weitere Saunen gab. Saunen für vielleicht jeweils dreißig Leute. Saunen, in denen nicht überall gesprochen wurde. Sie wusste, sie würde sich daran gewöhnen müssen – doch aktuell fühlte sie sich einfach nicht bereit dafür. Natürlich war ihr klar, dass sie selbst in DER STADT Blicke auf sich zog, mit ihrer viel zu blassen Haut und ihren hell blonden, fast weißen Haaren, wie sie nur bei En vorkamen, doch mochte die diese Blicke nicht. Sie waren nicht einfach nur neugierig. Einige Blicke waren abwertend und andere – die sie noch viel mehr verunsicherten – beinahe hungrig. Es war nicht so, als hätte sie die Pornos nicht gesehen und von jenen Orten nicht gehört, auch wenn es selten wirkliche En waren, sondern viel eher normale Menschen, die sich Haut und Haare bleichen ließen. Ivory bemühte sich, die Blicke zu ignorieren, die ihr folgten, als sie in der Etage drunter zwischen den auch hier stehenden Liegen hindurch lief. Sie wusste, dass sie warten musste, ehe sie in die nächste Sauna ging, wenngleich sie gerne in das nebelige Zwielicht des Dampfbades verschwunden wäre. Sie sah sich um. Sie war das erste Mal hier, weshalb sie nicht sicher war, ob es einen Ort gab, wohin sie vor den Blicken fliehen konnte. Schließlich entdeckte sie eine Tür, die laut Aufschrift zu weiteren Bädern führte. Von den Blicken abgesehen, musste sie zugeben, dass die gesamte Einrichtung sie etwas verunsicherte. Es war eins der luxuriösesten Spas DER STADT und war entsprechend eingerichtet: Schwarze Natursteine bedeckten den Boden, die Becken waren aus Marmor oder Kristallglas, die hölzernen Bänke aus Holzen von Bäumen, die in den sterbenden Dschungeln der Welt schon lang nicht mehr wuchsen. Es war anders als die kleine Sauna, in die sie mit ihrem Vater gegangen war. Eine kleine Sauna im Keller eines Schwimmbades. Drei kleine Saunen, in denen sich die „normalen“ Menschen fanden. Anders als hier, wo die wortwörtlichen Reichen und Schönen DER STADT sich zu treffen schienen. Es war offensichtlich, dass die Menschen hier sich selbst hatte optimieren lassen – auch wenn sie nicht En waren. Ebenso war deutlich zu sehen, dass auch andere UF Soldaten hier waren. Auf dem Weg zu den Bädern sah sie gleich zwei Männer und eine Frau mit Cybergliedmaßen, wie sie sie auch an der Kaserne gesehen hatte. Schließlich floh sie in eins der Eisbäder, da sie hier nur drei andere sah. Immerhin wusste sie noch von Zuhause, dass die meisten Leute hier im Süden die Abkühlung zwischen den Saunen nicht zu schätzen wussten. Sie zog ihren Bademantel aus und legte ihn in eins der hölzernen Regale am Rand des Beckens, ehe sie sich in das kalte Wasser gleiten ließ. Während eine andere, junge Frau das Becken gerade verließ, bemerkte einer der Männer Ivory und sah sie an. Es war ein junger Mann, auch wenn man es mit den Mitteln der modernen Medizin nur schwerlich sagen konnte. Zumindest schien sein Gesicht glatt und jung zu sein, was sein Alter auf irgendwo zwischen dreißig und sechzig legen konnte. Er musterte sie und während sie ihren Blick abwandte, meinte sie dennoch zu sehen, wie ein Lächeln seine Lippen umspielte. Ihm den Rücken zuwendend tauchte sie unter. Das Becken war gebogen – eigentlich dazu gedacht als ein tieferes Tretbecken zu dienen, so dass das Wasser ihr, wenn sie stand, bis zur Brust reichte. Als sie wieder auftauchte, konnte sie seinen Blick noch immer im Nacken spüren. Doch sie drehte sich nicht um. Sie wollte nicht mit diesem Mann sprechen, wusste sie doch nicht wie. DIE STADT war soweit von ihrer Heimat entfernt und die Sitten ihr so fremd. Kleine Wellen breitete sich auf der Wasseroberfläche aus. Kam er zu ihr hinüber? Oh, bitte nicht, dachte sie, schwieg aber, während sie unbewusst selbst einen Schritt zum Rand des Beckens hinüber machte. Da kamen weitere Schritte in den abgetrennten Bereich, in dem das Becken war. „Hey, Richard“, sagte eine männliche Stimme. Der Mann hinter ihr drehte sich offenbar um. „Was?“ „Kommst du?“, fragte die Stimme. Kurzes Schweigen. „Sicher.“ Erneute Bewegung im Wasser und dann hörte sie, wie er das Wasser verließ. Sie atmete auf, kam jedoch nicht umher die nun folgenden geflüsterten Worte zu hören: „Ist das eine Echte?“ „Sah ganz danach aus“, erwiderte der Mann mit vielsagender Stimme. Ivory schürzte die Lippen, schwieg aber und tat so, als hätte sie nichts gehört. Sie schloss die Augen und zählte bis zehn. Irgendwann würde sie sich daran gewöhnen, wenn sie überhaupt so lange hier bleiben würde. Wenn der Krieg vorbei war, wenn die Rebellen zurückgeschlagen waren, würde sie versetzt werden – vielleicht konnte sie auch einfach nach Hause zurückkehren. An diesem Tag jedoch würde sie sich nicht mehr daran gewöhnen. Als sie die nächste Sauna besuchte folgten ihr die Blicke immer noch und sie hielt den eigenen Blick zu Boden gesenkt. So sehr sie sich auch bemühte, dennoch Entspannung zu finden, so kam sie nicht umher beinahe Angst zu spüren, die ihr die Brust umschlang. Sie war hier sicher. Niemand würde sie hier attackieren. Niemand würde sie entführen. Das schlimmste, was ihr passieren konnte, war, dass jemand sie blöd anmachte. Ein „Nein“ würde reichen, um die Situation zu beenden. Zwei Stunden später war sie dennoch noch immer hier, im Shahara, wenngleich sie nicht mehr in einer Sauna oder einem der Becken war. Stattdessen saß sie, in ihren Bademantel gekleidet, an der Bar am Rand des Saunabereiches. Auch wenn diese Bar nun etwas anderes war, als die kleine Theke mit einem Kühlschrank zur Selbstbedienung, den sie von Daheim kannte, war eine Sache, wie Zuhause. Es wurde hier kein Alkohol ausgeschenkt. Sie wusste dies zu schätzen. So saß sie an der langen Bar und trank langsam an einer hausgemachten Limonade, während sie dankbar war, dass zumindest der Barkeeper, dessen unnatürlich violetten Augen für genetische Optimierung sprachen, ihr nicht mehr Beachtung schenkte als seinen anderen Kunden. Während man im eigentlichen Saunabereich auf Zierde verzichtet hatte, so bemerkte sie hier einen Lichterbaum am Ende der Bar. Sie wusste, dass die meisten Menschen hier weder Sonnenwende, noch Weihnachten feierten, was es leichter machte. In Mitten der Feierlichkeiten ohne ihre Familie zu sein … Das hätte alles noch schwerer gemacht. Sie war in Gedanken versunken und so darauf verdacht, ihre Umgebung nicht zu beachten, dass sie zusammenzuckte, als jemand sie ansprach. „Hallo, junge Dame“, meinte der Mann neben ihr. „Bist du allein hier?“ Sie sah sich um und erkannte den Mann aus dem Eisbad auf dem Barhocker neben dem ihren. Sie zögerte. „Ob ich allein bin oder nicht, geht Sie nichts an“, antwortete sie, doch bei weitem nicht so selbstbewusst, wie sie es gern getan hätte. Ihre Stimme klang unsicher, beinahe schon zitterig. Der Mann, sein Freund oder Kollege zuvor hatte ihn Richard genannt, lächelte, doch etwas an seinem Lächeln, ließ sie frösteln. „Oh bitte, junge Lady, kein Grund zur Feindseligkeit. Ich will dir nichts Böses.“ Es ärgerte Ivory, dass er mit ihr sprach, wie mit einem kleinen Mädchen. „Was auch immer Sie wollen, ich bin nicht interessiert.“ „Ich habe nur eine Frage“, erwiderte er, noch immer lächelnd. „Ich habe dich vorhin und bin nicht umher gekommen, mich zu fragen … Du bist eine echte En, oder?“ Er hob eine Hand griff nach ihrem Haar. „Lassen Sie mich bitte in Ruhe“, sagte Sie steinern. „Jetzt komm schon, ich will nur eine Antwort“, meinte er und lachte. Jemand griff nach seiner Hand und zog sie fort von ihrem Kopf. Ein anderer Mann stand dort und sah „Richard“ an. Der Mann war großgewachsen, hatte dunkle Haut und krauses schwarzes Haar. Passend dazu war auch der Bademantel, den er trug, schwarz. Sein Blick war kühl. „Gibt es hier ein Problem?“ Richard entriss ihm seine Hand und sah ihn für einen Moment an. „Kein Problem, Mister. Kein Problem. Ich wollte die junge Frau nur etwas fragen.“ „Fühlen Sie sich belästigt?“, fragte der Mann nun Ivory und sah sie an. Für einen Moment zögerte sie, nickte dann aber. Der Mann sah Richard an, der nur eine Grimasse zog, dann jedoch Aufstand und ging. „Entschuldigen Sie bitte“, meinte der Mann. „Sie sind neu in der Stadt, nicht?“ „Ja“, antwortete sie leise. „Woher wissen Sie das?“ Der Mann lächelte wohlwollend. „Die Art, wie Sie sich halten. Sie sind den Umgang nicht gewohnt. Sie kommen weiter aus dem Norden, nicht? Und sind hierher gekommen, für einen Job, nehme ich an?“ Ivory senkte den Blick. „Ich bin mit den United Forces hier stationiert“, erwiderte sie und wusste nicht einmal genau warum. Der Mann nickte nur. „Dann rate ich Ihnen vorsichtig zu sein.“ Er streifte den Ärmel seines Bademantels hoch und zeigte eine Kerbe in seinem linken Arm, knapp unter dem Ellenbogen. Ivory kannte diese Kerben. Sie waren das einzige, was eine synthetische Prothese verriet. „Sie waren auch im Krieg?“ Mit einem seltsamen Ausdruck auf dem Gesicht, schüttelte er den Kopf. „Nicht einmal das. Ich war nur ein Cop hier. Aber das war ihnen egal.“ Bitterkeit schwang in seiner Stimme mit, doch er wandte sich ab. „Seien Sie vorsichtig“, meinte er erneut. „Und haben Sie einen angenehmen Aufenthalt.“ „Warten Sie!“, sagte Ivory schnell, bevor er gehen konnte. Er drehte sich um. Für einen Moment zögerte sie. „Danke für Ihre Hilfe.“ Ein erneutes Zögern. „Darf ich Sie auf etwas einladen?“ Auch der Mann zögerte, doch dann lächelte er. „Wenn Sie wollen … Sicher.“ Zugegebener Maßen war es nicht nur Dankbarkeit, die Ivory dazu bewegte. Es war angenehm sich mit jemanden zu unterhalten, der sich an ihrer Andersartigkeit nicht zu stören schien – und gleichzeitig hielt es andere davon ab, sie anzusprechen. Sie fand bald heraus, dass der Mann Thomas McCoy hieß und in DER STADT aufgewachsen war. Er war ein Polizist gewesen, bis er in eine der Attacken der Terroristen geraten war und seinen halben Arm verloren hatte. Er war nicht länger Einsatzfähig – in den Augen der Polizei gewesen – und arbeitete nun als Private Security. Seinen Einkünften hatte es nicht geschadet, im Gegenteil, doch Ivory wurde bald klar, dass er das Geld gern gegen seine alte Stellung getauscht hatte. „Ich komme nicht umher mich zu fragen“, meinte er und musterte sie, „was ein junges Mädchen wie du bei den UF macht. Verzeih mir, wenn ich das sage, aber du siehst nicht aus wie eine Soldatin.“ Ivory senkte den Blick und beobachtete das Glas in ihrer Hand. Es war mit roter Schorle gefüllt in der Eiswürfel schwammen. „Es war nicht meine Entscheidung. Oben im Norden wurden wir eingezogen.“ Aus den Augenwinkeln konnte sie sehen, wie er die Stirn runzelte. „Eingezogen? Zwangsrekrutiert?“ Er schüttelte den Kopf. „Davon wusste ich noch nichts.“ „Sie haben davon auch nicht berichtet“, erwiderte sie. „Es sind nur wir …“ Sie schwieg für einen Moment. „Wir En.“ Nun war es Thomas, der zögerte. „Können sie das einfach so tun?“ „In manchen Fällen …“ Sie trank einen Schluck, um sich eine Pause zu verschaffen. Vielleicht sollte sie nicht weiter reden, doch die Wahrheit war, dass sie sich einsam fühlte und sein Lächeln angenehm fand. „Bei uns hat die Regierung ein En-Programm gefördert. Embryos mit defekten Genen wurden optimiert. Ohne das Programm wäre ich nicht lebensfähig gewesen. Es waren Tests für eine neue En-Technologie“, erklärte sie mit gesenkter Stimme. Es fühlte sich so irreal an, darüber zu sprechen. Ihre Mutter hatte ihr davon erzählt, als sie noch jung gewesen war. Wie sie die Nachricht erhalten hatte, dass sie sie verlieren würde und wie die Regierung sich mit ihr in Verbindung gesetzt hatte. Ihre Eltern hatten lange versucht ein Kind zu bekommen – ohne Erfolg. Das unterschied sie von den meisten der anderen En. Die meisten En waren Kinder reicher Eltern, die es sich leisten konnten, die Gene ihrer Kinder umschreiben zu lassen. Ihre Eltern jedoch waren Mittelständler gewesen. Ihr Vater war ein einfacher Elektroingeneur gewesen mit einem eigenen kleinen Unternehmen. Nie hätten ihre Eltern das Geld für den Prozess gehabt, doch die Regierung hatte sie gerettet, hatte sie nicht nur Lebensfähig sondern besser als die normalen Menschen gemacht. Sie war stärker, schneller, leistungsfähiger als normale Menschen – wie alle Ens. Vielleicht hätten ihre Eltern es wissen müssen. Als der Krieg kam und sich länger hinzog, als man es zuerst angenommen hatte, wurden sie eingezogen. Sie, die Experimente der Staaten. Immerhin schuldeten sie den Staaten ihr Leben. „Wie lang ist es her?“, fragte Thomas. „Zwei Jahre“, erwiderte sie. „Wir wurden erst trainiert. Wir sind … Zu Wertvoll, um einfach so auf das Schlachtfeld geworfen zu werden.“ Sie machte eine Pause. „Ich bin erst seit zehn Tagen hier.“ Thomas schwieg für eine Weile, nun selbst den Blick auf sein Getränk gewandt. „Das erste Mal soweit fort von der Familie?“, fragte er mit einem bitteren Ton in der Stimme. „Ja“, antwortete sie nüchtern. Sie spürte etwas schweres in der Magengegend, als sie daran dachte, dass sie ihre Familie vielleicht nie wiedersehen würde. Irgendwann würde die nächste Attacke kommen und sie würde kämpfen müssen. Vielleicht würde sie dann sterben. Ein Zittern lief durch ihren Körper, bevor sie sich beherrschen konnte. Thomas legte eine Hand auf ihren Rücken. „Es gibt nicht viel, was ich sagen könnte, um dir zu helfen. Nur so viel: Man kann sich an vieles gewöhnen. Auch an Krieg.“ Sie nickte, antwortete aber nicht. „Sag, Ivory“, fuhr er fort. „Wie alt bist du eigentlich?“ „27“, antwortete sie. Sie sah ihn an. „Ich wollte eigentlich Chemikerin werden. Ich hatte mein Studium gerade abgeschlossen, als die Nachricht kam. Jetzt bin ich hier und vielleicht …“ „Und vielleicht bist du in ein paar Monaten wieder zuhause“, beendete er ihren Satz. Nach einem Zögern hob er seine Hand und strich ihr über die Wange. Sie zuckte zusammen. Nicht ob der unerwarteten Geste, sondern weil sie sich erst in diesem Moment, als sie die kalten Finger spürte, daran erinnerte, dass es nicht seine richtige Hand war. Dennoch schaffte sie es, sich zu beherrschen und nicht zurück zu weichen. Ivory wusste nicht, wie sie diese Geste interpretieren sollte. Sie erinnerte sich daran, dass sie Thomas nicht einmal seit einer Stunde kannte. Doch eine Tatsache war, dass sie sich in dieser fremden STADT einsam fühlte. Von den anderen Soldaten kannte sie kaum jemand. Auch die anderen En, die wie sie unfreiwillig da waren, erschienen ihr oft fremd. Außerdem hasste sie, von allen nur als „eine En“ gesehen zu werden. Vielleicht, weil sie zumindest einen Sinn in diesem Krieg sahen, den sie nicht finden konnte. Vielleicht auch nur, weil sie Heimweh hatte. Die Sonnenwende war nur wenige Tage entfernt. Um diese Zeit im Jahr würde sie normal nach Hause kommen. Ihr Vater würde sie abholen. Dann würde sie bis zum Neujahr bei ihrer Familie bleiben. Jetzt schien das kommende Jahr so weit entfernt. Thomas zog seine Hand zurück. „Entschuldige. Ich wollte dir nicht zu nahe treten.“ Sie schüttelte nur den Kopf. „Schon gut.“ Er sah sie für einen Moment nachdenklich an. „Vielleicht ist dies nicht der richtige Ort für solche Gespräche.“ „Vielleicht“, erwiderte sie. „Es tut mir leid, dich damit belastet zu haben.“ „Schon gut“, meinte Thomas und lächelte sie an. Er machte eine Pause. „Was würdest du davon halten, das Gespräch über einem guten Abendessen fortzuführen. Weiter unten im Centix gäbe es ein Restaurant, das ich empfehlen könnte.“ Ivory verstand die Andeutung, die in seinem Vorschlag mitschwang. Wieder musste sie zögern, doch dann lächelte sie matt. „Ja, wieso nicht.“ Nach allem, was sie über DIE STADT wusste, war es vielleicht falsch einem praktisch Fremden zu vertrauen – doch sicher war es besser, als eine weitere Nacht einsam im Dunkeln zu liegen. Thomas schien ein aufrichtiger Mann zu sein. Jemand, dem sie zumindest für jetzt vertrauen wollte. [DIE STADT – 2084] ------------------ Ivory fröstelte. Nichts vermochte sie aufzuwärmen. Die Sauna hatte 80 Grad Celsius, doch es war nicht genug. Es konnte die Bilder, die Geräusche nicht aus ihren Gedanken vertreiben. Es war vorbei, erinnerte sie sich. Es war vorbei. Es war wirklich vorbei. Sie war wieder hier, in DER STADT. Sie war wieder zurück. Sie lebte noch. Doch so viele andere nicht. Sie hatte nicht dabei sein wollen. Sie hatte es nicht gewollt. Nichts davon. Sie hatte es nicht tun wollen. Es war falsch gewesen, das hatte sie gewusst. Sie hatte es nicht tun wollen. Doch sie hatte auch nicht sterben wollen. Der Krieg dauerte schon viel zu lange an. Egal wie oft eine Seite zuschlug – es waren doch zu viele, um die Gegenseite auszulöschen. Es waren nicht nur Rebellen. Es war keine kleine Gruppe. Es waren Millionen von ihnen. Es waren Menschen. Menschen, die einfach nur leben wollten. Nur ein Teil von ihnen hatte kämpfen wollen. Sie hatten nicht kämpfen wollen. Sie hatten nicht gekämpft. Tief sog Ivory die heiße Luft ein, die in ihrer Nase und im Rachen brannte. Es störte sie nicht. Der Geruch von Früchten schaffte es zumindest für einen Moment die Erinnerung an den Gestank, der wie ein Geist in ihrer Nase haften geblieben war, zu vertreiben. Irgendwann würde es besser werden, das hatte man ihr gesagt. Sie hatte es schon vorher erlebt. Als sie hatte das erste Mal kämpfen müssen. Damals war es die Gewalt an sich gewesen, die sie schockiert hatte. Als sie das erste Mal auf einem Einsatz gewesen war, hatte sie Angst gehabt. Sie hatte gewusst, wie sie die Waffe, die man ihr gegeben hatte, bedienen sollte, doch sie hatte Angst gehabt. Angst zu töten. Angst getötet zu werden. Es war die Angst gewesen, die sie für Wochen hatte aufwachen lassen. Die Angst und die Toten, die sie gesehen hatte. Doch dieses Mal war es anders gewesen. Sie verließ die Sauna und konzentrierte sich auf ihre Umgebung. Das Shahara war noch immer genau so edel, wie bei ihrem ersten Besuch. Ein Teil der anderen Besucher, starrte sie noch immer so an, wie damals. Es war jedoch so, wie sie es bei jenem ersten Besuch gewusst hatte: Sie hatte sich daran gewöhnt. Sie duschte sich. Sie ging in ein Eisbecken. Die Blicke, die ihr dabei folgten bedeuteten nichts mehr. In den vergangenen zwei Jahren hatte sie die Erfahrung gemacht, dass die Leute zwar starrten, es sich aber nur wenige trauten, sie anzusprechen, und noch weniger versuchten aktiv mehr – und bisher hatte sie sich gegen diese paar verteidigen können. Die meisten Menschen waren feige. Sie hielten vielleicht große Reden, doch am Ende taten sie nichts, von dem was sie sagten. Es war ein weiterer Dienstag und das Ende des Jahres stand vor der Tür. Die Sonnenwende war vergangen, während sie draußen in der „Schlacht“ gewesen war. Eine weitere Sonnenwende, die sie nicht bei ihrer Familie verbracht hatte. Was für einen Unterschied machte es? Den meisten Menschen in DER STADT war es egal. Hier war es egal, wie die Zeit verging – DIE STADT war in konstanter Veränderung, weshalb Jahreszeiten auch keinen Unterschied mehr darstellten. Hier gab es ohnehin wenig Unterschiede. Selbst das Wetter … Seit sie hier war, hatte sie keinen echten Schnee mehr gesehen. DIE STADT lag zu nahe am Äquator. Es wurde etwas kühler im Winter, endlos heiß im Sommer. Es regnete mal mehr und mal weniger. Doch echte Kälte gab es hier nicht. Sie stand an einer der großen Fenster am Rand der Etage und sah hinaus. Das Glas war nach außen verspiegelt, so dass man von hier zwar hinaus, aber nicht von außen nach innen sehen konnte. Natürlich – immerhin wollten die Reichen und Schönen keine Drohnenaufnahmen von sich im Netz finden. Von hier oben hatte sie eine gute Aussicht auf DIE STADT. Das Centix war eins der größten Gebäude – selbst in der massiven Skyline DER STADT. Doch vor dem Szenario, das sich ihr draußen bot, sah sie etwas anderes. Ihr eigenes Spiegelbild. Blasse Haut, helles Haar und der weiße Bademantel. Beinahe schien ihr, als wäre da noch etwas rot, etwas Blut, doch sie wusste, dass es nur Einbildung war. Ihr Unterbewusstsein, ihr Gewissen, dass ihrem Verstand einredete, etwas zu sehen, was nicht da war. Sie blinzelte. Da war kein Blut auf ihrer Haut. Wie auch. Ivory wandte sich vom Fenster ab und bemerkte, dass sie von drei Leuten beobachtet worden war. Sie schenkte ihnen einen kühlen Blick, ehe sie sich auf den Weg zur nächsten Sauna machte. Selbst nach zwei Jahren kam sie nicht umher das Shahara mit der kleinen Sauna in ihrer Heimat zu vergleichen. Die Aufgüsse hier fanden vollkommen automatisiert statt, selbst wenn eine AI in der Form von hübschen jungen Männern oder Frauen einem etwas im AR Feld, sofern man die AR Sicht aktiviert hatte, dazu erzählte. Während des Aufgusses saß Ivory auf der obersten Bank. Nun war sie es, die die anderen Besucher beobachtete. Sie waren die Elite DER STADT – nun, vielleicht nicht die aller obersten, die wohl eher eine eigene Sauna besaßen, wo sie sich den Raum nicht mit anderen teilen mussten, doch zumindest sahen diese Leute sich hier als ein Teil der Spitze. Die hatten es geschafft, andere nicht. Niemand dachte gern darüber nach, dass er vielleicht nur dank glücklicher Umstände an seine Position gekommen war. Die meisten kamen mit Freunden, Kollegen, manche mit Liebhabern. Ivory kam allein. Sie hatte keine Freunde hier, sie wollte keine Freunde. Zu unregelmäßig war ihr Leben geworden und die anderen Soldaten … Sie hatte gesehen, was der Krieg mit ihnen machte, und sie hatte Angst denselben Pfad hinab zu wandern. Doch sie war einsam. Was ein anderer Grund war, wieso sie hierher kam. Wieder versuchte sie sich zu entspannen, doch sobald ihre Gedanken schweiften, waren da wieder die Erinnerungen. Schreie. Blut. Der Geruch von Tod. Sie hatte es nicht gewollt. Erneut spürte sie ein Frösteln und stand unbedacht auf. Als man sie ansah, murmelte sie nur eine Entschuldigung und kletterte zwischen zwei Herren vor sich hindurch, um die Sauna zu verlassen. Unter der Dusche atmete sie durch. Sie musste es vergessen. Irgendwann würde sie es vergessen. Als sie aus der Dusche herauskam, verließen die anderen Menschen, die Sauna in der sie eben noch selbst gesessen war – offenbar war der Aufguss zu Ende. Während sie sich ihren Bademantel über warf, beobachtete sie die anderen, wohl wissend, dass einige ihren Blick erwiderten. Hätte sie mit den anderen die Sauna verlassen, hätte sie es vielleicht nicht bemerkt, doch nun, wo sie die anderen Gäste beobachtete, sah sie ein nicht unvertrautes Bild. Ein errötetes Gesicht, das viel zu schnell blass wurde, schweißüberlaufene Haut. Sie reagierte noch, bevor sie realisierte, was geschah, als die junge Frau zu schwanken begann. Bevor die junge Frau umfallen konnte, war Ivory an ihrer Seite und stützte sie. „Vorsicht“, sagte sie leise. Die junge Frau blinzelte sie an. „Danke.“ Sie schwankte noch immer, offenbar die Folgen eines Kreislaufabsturzes. „Sie sollten sich setzen“, meinte Ivory sanft und bugsierte sie zu einem freien Liegestuhl hinüber. Als sie sicher war, dass die junge Frau lag, ging sie zurück, um das Handtuch, was sie auf halben Weg verloren hatte, aufzusammeln und es zu ihr hinüber zu bringen. „Danke“, murmelte die junge Frau – Ivory schätzte sie als nicht älter als vielleicht 26 oder 27 ein, wenngleich es nichts heißen musste – und zog das Tuch wie eine Decke über sich. „Sie haben sich überhitzt“, sagte Ivory, während sie sich neben die Liege hockte. „Soll ich jemanden holen?“ Immerhin hatte das Shahara medizinisches Personal vor Ort. Die Frau schüttelte den Kopf. „Es geht gleich schon wieder.“ Sie legte sich eine Hand auf die Stirn. „Uh“, stöhnte sie dann. „Wieso musste das jetzt passieren?“ „Sind Sie öfter hier?“, fragte Ivory vorsichtig. „Ja.“ Die Frau nickte. „Und sowas … Ist mir noch nie passiert.“ „Vielleicht haben Sie sich einen Infekt eingefangen“, schlug Ivory vor. „Vielleicht haben Sie auch einfach zu wenig geschlafen oder sind aus einem anderen Grund angeschlagen.“ Sie schenkte ihr ein vorsichtiges Lächeln. Die Frau hatte langes braunes Haar und leicht gebräunte Haut, etwas, das bei den Bewohnern DER STADT nicht selten war. Sie war zierlicher als Ivory, was jedoch ebenso wenig verwunderlich war, wenn man bedachte, dass Ivory die letzten vier Jahre unter den UF trainiert hatte. Sie war hübsch, das ließ sich unvoreingenommen sagen, und zeigte generell keine Anzeichen von Optimierung, was beinahe schon selten war. Sie schloss für einen Moment die Augen, wohl in einem Versuch das Schwindelgefühl zu überwinden. Unsicher sah Ivory sich um. Sie wollte die Frau nicht allein lassen, wollte jedoch auch nicht aufdringlich erscheinen, auch wenn sie etwas Gesellschaft gebrauchen konnte. „Sind Sie alleine hier?“, fragte sie. „Nein“, erwiderte die Frau matt. „Das heißt, ja. Ich war eigentlich mit zwei Kolleginnen hergekommen, aber … Na ja, sagen wir es so: Jetzt bin ich allein.“ Sie seufzte. „Vielleicht sollte ich auch gehen.“ „Erst einmal sollten Sie sich ausruhen“, widersprach Ivory sanft. „Soll ich Ihnen etwas zu trinken holen?“ Die Frau schüttelte den Kopf. „Nicht nötig. Es geht schon gleich wieder.“ So sah es allerdings nicht wirklich aus. „Ich bestehe drauf“, meinte Ivory mit einem Seufze und richtete sich auf. Es half ihr, sich auf etwas zu konzentrieren. So konnte sie die Bilder der letzten Tage vergessen. Also ging sie in die Etage drunter, wo am Rand des Bereiches die Bar war. Bezahlen tat sie automatisch über das AR System. Keine drei Minuten später kehrte sie mit einem gekühlten Tee zu der Frau zurück, die sich mittlerweile aufgesetzt hatte. „Vielen Dank“, sagte sie mit einem Lächeln. „Es ist schon wieder gut.“ Dennoch nahm sie den Tee entgegen und trank einen Schluck. „Vielleicht bin ich wirklich übermüdet.“ Sie sah zu Ivory, die sich nun auf einen der benachbarten Liegestühle setzte. Für einen Moment beobachtete die Frau sie. „Wie heißen Sie?“ Ivory musterte sie für eine Weile. Das Gesicht der Frau war zumindest weniger gerötet als zuvor. „Ivory“, sagte sie schließlich. Die Frau lächelte sie an. „Mein Name ist Emily.“ Sie streckte Ivory ihre Hand entgegen. „Danke noch mal.“ Nun schüttelte Ivory den Kopf. „Kein Problem. Ich habe es durch Zufall bemerkt und … Wir brauchen hier keinen Unfall, oder?“ Sie bemühte sich selbst um ein Lächeln. Emily nickte nur und musterte Ivory, während sie einen weiteren Schluck Tee trank. „Du bist früh rausgegangen aus der Sauna. War dir auch nicht wohl?“ Auf diese Frage antwortete Ivory nicht sofort. Sie fragte nicht, wieso Emily es bemerkt hatte. Sie hatte Aufmerksamkeit auf sie gezogen und sie war die einzige En in der Sauna gewesen. Es überraschte sie nicht, dass Emily sie bemerkt hatte und sie erkannte. Sie wusste nur nicht, ob sie antworten wollte. „Was ist?“, fragte Emily, als sie ihr Zögern bemerkte. „Mir ging es nur nicht gut“, meinte Ivory und blickte zu Boden. In den letzten zwei Jahren war sie so oft schon in so einer Situation gewesen. Sie hatte mit anderen Menschen geredet. Fremden, die ihr zumindest für eine Nacht Gesellschaft geleistet hatten. Sie wusste, dass sie auch diese Nacht würde Gesellschaft gebrauchen konnte – doch war sie sich unsicher. Am Anfang war es seltsam gewesen, mit Fremden hier zu reden, während sie nackt, abgesehen von einem Bademantel oder Handtuch hier saßen. Doch mit der Zeit hatte sie sich daran gewöhnt. Was für einen Unterschied machte es auch, was für Kleidung man trug? Wenn sie so die Nähe eines Fremden suchte endeten sie meistens am Ende ohnehin nackt zusammen in einem Hotelzimmer. „Dir ist etwas schlimmes passiert, nicht?“, fragte Emily und sah sie an. Verwirrt blickte Ivory sie an. „Ich bin Psychologin“, erklärte die junge Frau rasch. Unfreiwillig lachte Ivory kurz auf, verkniff es sich jedoch rasch. Sie atmete tief durch. „Was für ein Zufall“, murmelte sie halb an sich selbst gewandt. Die junge Frau beobachtete sie aufmerksam. „Es ist nur ein Angebot“, sagte sie. „Aber ich glaube, du bist jemand, der Hilfe braucht.“ „Wieso glaubst du das?“, fragte Ivory, vielleicht ein wenig zu kühl. Emily zuckte mit den Schultern. „Es ist etwas in deinen Augen. Ich sehe dort noch immer Schrecken. Wenn du in meinem Feld arbeitest, dann sieht man so etwas. Vielleicht brauchst du einfach jemanden, der dir zuhört.“ Ivory wich ihrem Blick aus. „Ich kann darüber nicht reden“, murmelte sie. „Man könnte sagen, ich habe selbst so etwas wie Schweigepflicht.“ „Du bist Soldatin?“, fragte die junge Frau. Man musste ihr lassen, dass sie ganz offenbar äußerst aufmerksam war. Hatte sie es sich einfach so hergeleitet oder hatte sie zuvor die Wunde auf Ivorys Schulter gesehen? „Ja“, bestätigte Ivory und seufzte. „Sag, Emily, was würdest du davon halten, dieses Gespräch woanders fortzuführen?“ Die Psychologin zögerte für einen Moment, zuckte dann aber mit den Schultern. „Was schwebt dir vor?“ „Ich kenne ein Restaurant hier im Centix“, erwiderte Ivory. Ein weiteres Schulterzucken, gefolgt von einem Lächeln. „Wieso nicht?“ Ivory hatte in den vergangenen zwei Jahren nie versucht herauszufinden, was es genau war, das es so leicht machte jene kurzweilige Form der Nähe zu finden. War das Leben in DER STADT einfach so? Wie konnte sie das sagen, hatte sie es doch in ihrer Heimat nie versucht. Lag es an der eitlen Einsamkeit all jener, die sich das Shahara leisten konnten? Auch dies konnte sie nicht sagen, da sie es zumeist noch immer mied, sich zu lange in den schlechteren Teilen DER STADT aufzuhalten und bisher nie versucht hatte hier jemanden zu verführen. Waren die Menschen, mit denen sie so eine Nacht verbrachte, nur neugierig, da sie eine En war? Darüber wollte sie nicht weiter nachdenken. So blieb ihr nur die Erkenntnis, dass es ihr leicht viel, kurzweilige Bekanntschaften dazu zu bringen, eine Nacht in einem Hotelzimmer mit ihr zu verbringen. Sicher, es gab ein paar Ausnahmen, ein paar, die es abgelehnt hatten, doch wie sich herausstellte, gehörte Emily nicht zu diesen. Ivory mochte sie. Sie hatte etwas Unschuldiges an sich, wenngleich Ivory vermuten musste, dass sie älter war, als sie aussah. Sie fragte jedoch nicht. Wahrscheinlich würde sie sie ohnehin nicht wiedersehen. Wie all die anderen würde sie vielleicht irgendwann im Shahara an ihr vorbei laufen – ihr jedoch keine Beachtung schenken. Sie tat es ihnen gleich. „Woran denkst du?“, fragte Emily, während Ivory über ihre Haut strich. Ivory antwortete nicht sofort – die Wahrheit war, dass sie noch immer über die Ereignisse der letzten Tage nachdachte. „Die Rebellen“, sagte sie schließlich. „Die meisten wollen einfach nur, dass es vorbei ist“, seufzte Emily. „Wir sind jetzt schon seit fünf Jahren an der Frontlinie.“ „Ich weiß“, murmelte Ivory. „Wieso mussten wir kämpfen?“ Emily drehte sich auf die Seite, um sie anzusehen. „Wenn du mich fragst ist es, weil niemand dem anderen Zuhört. Die Regierung, die Rebellen, sie wollen dem jeweils anderen nicht zuhören.“ Ivory schwieg. Bis vor zwei Tagen hatte nie jemand von den Rebellen versucht zu reden. Doch bis vor zwei Tagen hatte sie nie wirklich darüber nachgedacht, dass auf der anderen Seite nicht nur Kämpfer standen. „Du solltest dir wirklich jemanden suchen, mit dem du reden kannst, Ivory“, meinte Emily und strich über ihre Wange. „Sonst machst du dich kaputt.“ „Ich sagte doch“, flüsterte Ivory, „dass ich darüber nicht reden kann.“ „Haben die UF keine eigenen Psychiater?“, fragte Emily. Ivory konzentrierte sich auf das Fenster, wenngleich es abgeblendet war. „Niemand, dem ich vertrauen könnte.“ Seufzend legte Emily eine Hand auf ihre Wange. Für einen Moment wirkte es so, als wollte sie etwas sagen, doch am Ende schwieg sie. Ivory konnte Mitleid in ihren Augen sehen – und genau das war etwas, das sie nicht wollte. „Ich möchte nicht weiter darüber reden“, sagte sie schließlich. Sie ließ ihre Hand über die nackte Seite der anderen gleiten. „Bitte.“ Ihre Hand wanderte zu Emilys Brust und begann sie langsam zu massieren. Emily sah sie an. Sie seufzte, doch dann schloss sie die Augen und drehte sich auf den Rücken. Mit einer Hand strich sie Ivorys Arm entlang, ehe sie ihre Hand nahm und ihren Körper entlang führte. [DIE STADT – 2086] ------------------ „Worüber denkst du nach?“, fragte David und trat an sie heran. Wieder stand Ivory an dem großen Fenster am Ende der kleinen Sauna und sah auf DIE STADT hinab. Sie waren in einer der mietbaren Saunen im zweitobersten Stockwerk des Centix. Ivory hatte das Fenster durchsichtig gemacht und beobachtete die sich bewegenden Lichter in der Tiefe. Sie erinnerte sich, wie groß DIE STADT ihr erschienen war, als sie das erste Mal hergekommen war – doch jetzt wirkte sie so klein. Von hier aus sahen die Menschen kleiner aus als Armeisen, die wie die Insekten keinen größeren Plan verfolgten, sondern nur von Tag zu Tag lebten, von Aufgabe zu Aufgabe. Sie hinterfragten nicht. Sie glaubten dem Bild, das ihnen die Regierung und die Medien vorgaukelten. „Nichts“, antwortete Ivory nüchtern. Sie war sich dessen bewusst, dass sie selbst nicht anders gewesen war, als sie hierher gekommen war. Mit einem letzten Blick in die Tiefe, wandte sie sich ab, ohne sich darum zu scheren, das Fenster wieder milchig zu stellen. Sie sah ihn an. Er hatte sie angesprochen, sie war drauf eingegangen. Eigentlich war er einer der Typen, denen sie aus dem Weg ging: Erfolgreich, optimiert, über die Maßen selbstbewusst und hatte es sich auch nicht verkneifen können, sie als En anzusprechen. Ja, normal wäre sie nicht drauf eingegangen, doch die letzte Woche war anstrengend gewesen – bei einem Typen wie ihn würde sie sich zumindest nicht schlecht fühlen, ihn zu benutzen. Immerhin war er hübsch – wie die meisten, die hierher kamen. Durchaus muskulös, makellose Zähne und dunkelblondes, ordentliches Haar. Fraglos optimiert, doch was kümmerte es sie? Das traf auf die meisten ihrer nächtlichen Bekanntschaften zu. Es war der Nebeneffekt davon, dass sie diese Bekanntschaften im Shahara suchte, wo sie sich zumindest einigermaßen sicher fühlen konnte. „Was machst du eigentlich hier?“, fragte er und musterte sie. Sie zuckte mit den Schultern. „Nichts, was dich interessieren würde.“ Auch er erwiderte dies nur mit einen Schulterzucken. Ganz offenbar wollte er nur Smalltalk halten – nicht, dass er sich wirklich für sie interessierte. „Du bist schon länger hier, oder? In DER STADT, meine ich“, fuhr er nach einer kurzen Weile der Stille fort. Ivory verdrehte die Augen. Was auch immer seine Absicht war … Normalerweise redeten Typen wie er die ganze Zeit über sich selbst. „Viel zu lange“, erwiderte sie nüchtern. „Ich will nicht darüber sprechen“, erklärte sie dann. „Entsprechend rate ich dir, mit diesen Fragen aufzuhören, wenn du mich wirklich vögeln willst. Da draußen“ – sie nickte zur Tür – „gibt es auch noch andere.“ David lachte auf und sah sie dann mit einem amüsierten Grinsen an. „So direkt hat mir das noch keine gesagt“, meinte er dann und musterte sie. „Du gefällst mir.“ Abwertend sah sie ihn an. Wenn sie zu seinem Schritt schaute, was es offensichtlich, dass sie ihm gefiel. „Das ist mir ziemlich egal“, erwiderte sie. Mit einer Handbewegung setzte sie die Temperatur der Sauna um etwas herunter, ehe sie zu ihm hinüberging und sich seitlich auf seinen Schoß setzte. Sein Grinsen wurde breiter, als er seine Hand zu ihren Brüsten wandern ließ. Erst strich er nur sanft über sie, ehe er fester zupackte. Es war nah an der Grenze dazu, zu schmerzen, doch zumindest hielt er sich weit genug zurück. Ivory wandte sich ihm weiter zu. Wenn er nicht genug Raffinesse zeigte, dann brauchte sie sich auch nicht um solche bemühen. Immerhin hatte sie Männer wie ihn trotz dessen, dass sie ihnen aus den Weg ging, oft genug getroffen. Sie rückte sich etwas zurecht und hockte sich schließlich breitbeinig auf seinen Schoß. Ihr rechtes Bein kam damit mit dem aufgeheizten Holz in Kontakt, doch es war nicht genug, um sie zu verbrennen. David streckte sich ihr entgegen – offenbar um sie zu küssen, doch sie schob ihre Hand vor seine Lippen. „Keine Küsse“, erklärte sie kurz. Daraufhin lächelte er nur und deutete erneut ein Schulterzucken an. Er ließ nun seine linke Hand an ihrer Seite erst hinab laufen, so dass sie über ihre Seite, ihre Hüfte und schließlich ihre Oberschenkel, ehe er die Hand erneut zur Hüfte hinaufwandern ließ und sie schließlich am Hintern packte. Ihr fiel auf, dass er lieber mit seiner Rechten weiterhin an ihren Brüsten rumspielte, anstatt sich um andere Teile ihres Körpers oder auch nur ihren Schritt zu bemühen. Nun, egoistisch sein konnte sie auch. Sie ließ ihre eigenen Finger zwischen ihre Beine wandern, wo sie begann ihre Klitoris zu reiben. Ein durchaus hämisches Lächeln breitete sich auf ihren Lippen aus, als sie merkte, wie er sie beobachtete. Um ihren Punkt noch mehr zu betonen, ließ sie zwei ihrer linken Finger in ihre Vagina gleiten. Sein steifes Glied beachtete sie nicht, bis er schließlich von ihren Brüsten abließ und seine rechte selbst zwischen ihre Beine gleiten ließ. Sie zog ihre eigene Hand zurück, um Platz für seine zu machen, als er nun selbst zwei Finger in sie hineingleiten ließ und sie etwas bewegte. „Meinst du nicht“, begann er, „dass wir da besser etwas anderes reinstecken sollten?“ Ivory sah ihn an. Sie wusste, dass er so erregt war, dass er sich kaum beherrschen konnte, doch genoss es ihn zappeln zu lassen. „Ich weiß ja nicht“, erwiderte sie, auch wenn sie selbst kaum die Erregung in ihrer Stimme unterdrücken konnte. „Mir gefällt es so eigentlich ganz gut.“ „Komm“, erwiderte er und spreizte seine Finger in ihr ein wenig, so dass sie etwas zusammenzuckte. „Sei ein braves Mädchen.“ Sie ließ ihr Lächeln nicht verblassen, beugte sich aber zu ihm hinab, um ihm ins Ohr zu flüstern. „Ich wäre vorsichtig, an deiner Stelle, David. Dieses Mädchen weiß sich sehr wohl zu wehren.“ Sie stellte sicher, dass die Drohung in ihren Worten nicht zu überhören war, während sie seine Finger aus sich herauszog. Sie strich sein Glied entlang, nicht ohne für einen Moment ein wenig zu fest zuzudrücken, führte es jedoch dann in ihre Vagina, während sie ihre Hüfte senkte. David grinste. „So ist es brav.“ Sie sagte nichts, doch nahm sie sich vor, ihm das ganze so unangenehm wie möglich zu machen. Als sie das Shahara verließ war es kurz nach elf – etwas später, als normal, doch sie hatte nach ihrem kleinen Vergnügen mit David, der ihr, wie ihr später aufgefallen war, nicht einmal von seinem Beruf erzählt hatte. Etwas untypisch für seine „Art“, musste sie zugeben, da seinesgleichen normal gern mit ihren vielen kleinen und großen Erfolgen prahlten. Nun, er war auch so unsympathisch genug gewesen. Nach dem kleinen Intermezzo in der gemieteten Privatsauna, hatte sie ihn stehen lassen. Zuerst hatte sie es in Betracht gezogen, sich noch ein Zimmer mit ihm zu nehmen – denn sie hatte einigen Stress abzubauen – doch jemand, der sie aufforderte ein „braves Mädchen“ zu sein, war bei ihr unten durch. Selbst wenn es vielen schwer fiel, ihr Alter als En zu schätzen: Sie war mittlerweile 31 Jahre alt und sicher kein Mädchen mehr. Eine recht kleine Sporttasche mit ihrem Bademantel, ihrer eigenen Seife und zumindest einer Pistole über die Schulter geworfen, machte sie sich auf den Weg durch die geräumige Lobby des Shahara. Der Boden war hier mit geglätteten Sandstein ausgelegt, die dunkle Decke indirekt durch Lampen bestrahlt. Alles, inklusive der künstlichen Pflanzen an der Fensterfront, die der Rezeption und Kasse gegenüber lagen, sah edel und modern aus, wie auch das Innere. In dem Glas der Fenster selbst waren in Säulen die Aufzugschächte eingelassen. Neben der Rezeption war ein großer Holoprojektor, der einen der Nachrichtenkanäle sendete. Sie nahm am Rand ihres Bewusstseins wahr, dass über die andauernden Friedensverhandlungen und das Weihnachtsmassaker von vor zwei Jahren berichtet wurde. Über die andauernde Waffenruhe und jene, die sich nicht an sie hielten. So bitter es auch war, so war es doch die Mischung aus Hoffnung und Furcht, die DIE STADT seit den Sommermonaten erfüllte, die in ihrer jetzigen Branche für die meiste Arbeit sorgte. Es herrschte Chaos, mit dem weder die UF, noch die örtlichen Sicherheitsdienste klar kamen, da niemand zu wissen schien, wie man mit den neuen Umständen umgehen sollte. Rebellen, die nun am äußeren Rand der Stadt lebten, Flüchtlinge aus den äußeren Siedlungen und die Folgen des Erdbebens im vergangenen Sommer. All das half ihr, neue Aufträge zu bekommen – nicht selten Personenschutz, manchmal jedoch auch weit dreckigere Arbeit, die dafür gut zahlte – und sie versteckt zu halten, da die UF genug andere Sorgen hatten, zu viele, um nach ihr und den anderen Dienstverweigerern zu suchen. Natürlich war es dennoch ein Risiko weiterhin das Shahara aufzusuchen. Doch bisher hatte sie niemand angesprochen und sei es nur, weil sie für die anderen nur eine weitere En war. Es hatte gereicht, sich die Haare anders zu schneiden, statt der langen, glatten Frisur die Haare nun in einem recht kurz gehaltenen Undercut zu tragen. Zu gerne wäre sie in ihre Heimat zurückgekehrt, doch sie wusste, dass dies zu gefährlich war. Dort würde man nach ihr suchen und sie würde so ihre Eltern mit in Gefahr bringen. Wenn sie Glück hätte, würde man sie – wenn man sie fand – nur für den Rest ihres Lebens in eine Zelle stecken. Wenn sie Pech hatte, dann würde man sie einfach erschießen. Trotz Waffenruhe und Friedensverhandlungen waren sie noch immer im Krieg. Wenn die Verhandlungen ein Erfolg wären, könnte sie sich vielleicht nach Hause zurücktrauen. Doch was bliebe ihr dann von ihrem alten Leben? Es war schon vier, nein, sechs Jahre her, dass sie normal gelebt hatte. Sie konnte sich kaum noch daran erinnern. Ivory seufzte, als sie bemerkte, dass sie die eigene Reflektion in der Glaswand betrachtet hatte, und ging zu einem der Aufzüge hinüber. Die Aufzüge des Centix waren an der Außenseite des Komplexes angebracht. Lange Röhren aus Glas und Metall, die bis in den 68sten Stock reichten. Nichts für Menschen mit Höhenangst, doch Ivory zählte sich nicht zu diesen. Sie rief den Aufzug und wartete, während ihr Blick erneut auf DIE STADT hinter der Glaswand wanderte. 80 Millionen Menschen – vor kaum mehr als einem halben Jahrhundert, war das die Bevölkerung eines Landes gewesen. Es war kein Wunder, dass die Polizei, die UF und andere offiziellen Kräfte Probleme hatten, auch nur eine Übersicht, geschweige den die Kontrolle zu behalten. Mit einem „Pling“ kam schließlich der Aufzug an und Ivory stieg ein. Sie war allein, doch gerade als sie den Aufzug betreten hatte, hörte sie eilige Schritte hinter sich. Sie drehte sich um und sah David auf sie zurennen. Allerdings brauchte sie nur einen Moment zu lang, um dies zu realisieren. „Warte!“, rief er halblaut und hielt bereits eine Hand in die Aufzugtür. Er lachte. „Was ein Zufall.“ Ivory warf ihm einen kühlen Seitenblick zu. Das bezweifelte sie. Er hatte sie absichtlich abgepasst. Zumindest, dachte sie abwertend, war er jetzt angezogen. Das machte die Situation etwas angenehmer, wenngleich nicht weniger nervig. Es überraschte sie wenig, dass er einen langen, dunklen Mantel trug, wie sie hier gerade modisch waren. Außerdem hatte er eine schwarze Sporttasche bei sich – wahrscheinlich seine Sachen. „Nett, dich noch einmal zu sehen“, meinte er und stützte sich an dem Geländer ab, das hüfthoch an der gesamten Seitenwand der runden Aufzugkabine hing. Ivory zuckte nur mit den Schultern. Sie stützte sich selbst auf das Geländer und sah aus der Glaswand des Aufzugs, während dieser in die Tiefe fuhr. Eigentlich wollte sie mit dem Kerl nicht reden. „Schau mal, Ivory“, sagte er nun und trat näher an sie heran. „Falls ich dich irgendwie beleidigt habe, tut es mir leid. Hmm, was sagst du, Liebes?“ Mit einem Schnauben drehte sie sich zu ihm um. „Nenn' mich nicht 'Liebes'“, erwiderte sie. „Ich kenne Typen, wie dich“, fuhr sie dann fort und sah ihm trotzig in die Augen. „Ihr …“ Sie stoppte, als der Aufzug im 25sten Stockwerk anhielt und zwei Frauen einstiegen. Er lächelte und rückte etwas näher, während sie wiederum von ihm fortrückte. Letzten Endes hatte sie sich diese Nacht etwas anders vorgestellt. Wollte er sich nur unbedingt damit brüsten eine En gefickt zu haben? Doch letzten Endes hatte er das schon – also was wollte er? Rache dafür, dass sie es ihm vorher versaut hatte? Wahrscheinlich glaubte er, sie beherrschen zu müssen. Diese Art von Kerl hatte sie auch schon kennen gelernt. Meist waren sie frustriert, wenn sie es nicht schafften. Doch bei ihr schafften sie es nicht. Es hatte Nächte gegeben, wo es genau das gewesen war, was sie gebraucht hatte – diese Nacht jedoch war ihr eigentlich nach einfachen hirnlosen, aber harmlosen Sex gewesen. So viel dazu. Abschätzig musterte sie ihn von der Seite, während die beiden Frauen sich unterhielten, als seien sie beide gar nicht da. Sie stiegen im Erdgeschoss raus. „Soll ich dich nach Hause bringen, Ivory?“, fragte David und nickte ihr zu, als die beiden fort gegangen waren. Mit einem herablassenden Lächeln sah sie ihn an. „Aber, aber“, meinte sie. „Vielen dank für das Angebot. Aber ich bin ein großes Mädchen. Ich komm allein nach Hause.“ Sie schnaubte. „Sag es doch, wie es ist: Du willst ficken. Wir kennen beide mindestens zwei bessere Hotels innerhalb der nächsten zwei Blocks, oder?“ Er lachte. „Ich hätte es wissen müssen. Du bist wirklich so direkt.“ „Hast du heute schon einmal festgestellt, oder?“, erwiderte sie. „Also, was ist? Aber nenn' mich noch einmal 'Mädchen' und du hast ein paar gebrochene Rippen.“ Noch immer lachte er. „Verstanden.“ Er ging zu ihr hinüber und legte einen Arm um ihre Schulter. „Welches der beiden Hotels nehmen wir?“ „Das Mahal“, erwiderte Ivory nach kurzem Überlegen und lenkte ihn bereits in die Richtung des Hotels, das nur zwei Gebäude vom Centix entfernt war. Dankbarerweise war dieser Bereich DER STADT auch heute noch gut gesichert. Die Straße war sauber, sicher. Es kamen relativ wenige Fahrzeuge vorbei, wenngleich noch immer einige Menschen sich hier ihre Zeit vertrieben. Einige der Reichen lebten hier, viel mehr noch kamen hierher, um sich zu entspannen oder sich zu amüsieren. Das Mahal war eins der besten Hotels DER STADT und meistens das, in dem Geschäftsreisende übernachteten, wenn sie in DIE STADT kamen, doch es war auch das Hotel in das Ivory mit ihren nächtlichen Bekanntschaften ging. Es war teuer, wenn sie einmal selbst zahlte, aber dafür sicher und sauber. Mit verschränkten Armen sah sie zu, wie David an der Rezeption ein Zimmer besorgte und direkt bezahlte. Nun, zumindest das musste sie ihm nicht extra sagen. Ein Teil von ihr war immer noch nicht allzu begeistert davon – sie hatte sich die Nacht wirklich anders vorgestellt, doch dann wiederum … Sie wollte Sex, sie wollte sich abreagieren, er war sehr willig und zugegebener Maßen wollte sie ihm nun auch eine Lektion erteilen, auch wenn sie fürchtete, dass diese keinen dauerhaften Eindruck hinterlassen würde. „Machst du so etwas häufiger?“, fragte er, als sie im Aufzug des Hotels standen, der weit weniger modern gehalten war, als der Aufzug des Centix. „Keine Fragen“, erwiderte sie. „Hatten wir uns darauf nicht schon geeinigt?“ Wieder ein unverbindliches Lächeln, gekoppelt mit einem angedeuteten Schulterzucken. „Was ist mit dir?“, meinte sie dann. „Schleppst du öfter Mädchen ab oder hast du … spezielle Vorlieben?“ Damit waren En gemeint und sie war sich recht sicher, dass er dies auch verstand. „Sagen wir es einmal so“, erwiderte er, während sein Lächeln sich zu einem Grinsen weitete. „Ich habe durchaus einen … besonderen Geschmack.“ Er zwinkerte ihr zu, was wohl schelmisch wirken sollte, sie jedoch nur die Augen verdrehen ließ. „Was auch immer …“ Zumindest musste sie ihm lassen, dass er eins der besseren Zimmer gemietet hatte. Keine Suite, doch zumindest ein recht geräumiges Zimmer mit hellem Teppichboden und edlem Flair – was im Mahal nicht gerade billig war. An der Wand des Zimmers stand ein relativ großes Bett mit verziertem, dunklen Metallrahmen. Sie legte ihre Sporttasche neben dem Bett ab, während David die Tür hinter sich schloss. Für eine Weile war es seltsam – wie so oft. Schließlich zog Ivory die Jacke aus, warf sie über einen Sessel, ehe sie begann, ihre Bluse auszuziehen. Eigentlich war sie sich noch immer nicht sicher, ob sie mit ihm schlafen wollte. Noch immer grinste David, doch auch er legte seinen Mantel ab und begann das Hemd, das er drunter trug, aufzuknöpfen. „Und?“, fragte Ivory, um das Spiel umzudrehen. „Du scheinst gut zu verdienen?“ „Sagen wir es so“, erwiderte er, „ich habe einen sehr lukrativen Tag.“ Sie zog eine Augenbraue hoch. Das klang beinahe so, als ob er einer ähnlichen Profession folgte, wie sie es mittlerweile tat. Auftragskiller oder einfach nur Söldner? Nun, sie wollte nicht über ihren eigenen Job reden. „Darf ich?“, fragte er und griff auf ihren Rücken, um ihren BH zu öffnen. Ivory zuckte mit den Schultern, ließ es aber zu. Ihr BH fiel zu Boden, als David ihre Hände zu seiner Hose führte. Er hatte sein Hemd nicht ausgezogen, trug es nun aber offen. „Wärst du so freundlich?“ Er sah sie auffordernd an. Für einen Moment zögerte sie, dann aber öffnete sie seinen Gürtel und seine Hose, ließ sie zu Boden rutschen. „Weißt du, was ich mag?“, fragte er lächelnd. „Einen guten Blowjob.“ „Dafür wirst du dir jemand anderen suchen müssen“, erwiderte Ivory. „Hast du es schon mal probiert?“ Sie warf ihm einen weiteren, abschätzigen Blick zu. „Ja. Mit Leuten, die ich mag. Mit Kerlen, wie dir möchte ich nur selbst meinen Spaß haben.“ „Autsch“, kommentierte er, lachte aber. Mit einem leichten Schubs schubste er sie auf das Bett und kniete sich über sie. Er öffnete ihre Hose und ließ seine Hand hineinwandern. „Vielleicht kann ich es ja ändern?“ „Glaube ich kaum“, erwiderte sie. Sie ahnte worauf er hinaus wollte. „Aber versuch es.“ Er lächelte und zog ihr die Hose aus. Während sie weiter auf das breite Bett drauf rückte, ließ er seine Hände die Innenseiten ihrer Oberschenkel hinaufwandern, ehe er mit einer Hand sie im Schritt zu reiben begann. Ivory seufzte leise. Zugegebener Maßen gefiel ihr das. „Braver Junge“, kommentierte sie zynisch, als er begann sie zu lecken. Er ließ zwei Finger in sie hinein gleiten. Wer hätte gedacht, dass David sich auch so zeigen konnte. Sie stöhnte. „So ist es gut.“ Ein weiteres Stöhnen kam über ihre Lippen, als sie merkte, wie sich langsam jene angenehme Spannung in ihr anbaute. „Noch ein bisschen.“ Er bewegte Finger und Zunge schneller. Noch einmal stöhnte Ivory und konnte sich nicht beherrschen, sich ein wenig zu winden. Er hielt sie mit einer Hand an der Hüfte fest. Seine Finger gruben sich in die Haut an ihrer Hüfte, als sie sich mehr und mehr anspannte. „Gut“, flüsterte sie, ehe sie noch einmal stöhnte. Dann entlud sich die Spannung und sie ließ ein erneutes, lautes Stöhnen hören. „Wie war das, als ein Ausgleich?“, fragte er, während sie atemlos auf dem Bett lag. „Nicht schlecht“, erwiderte sie und sah ihn an. „So gefällst du mir viel besser.“ „Wie soll ich das verstehen?“ Nun war er es, der eine Augenbraue hob. „Versteh es, wie du willst“, entgegnete Ivory lächelnd. Er musterte sie, während seine Hand über ihren Körper zu ihren Brüsten wanderte. „Bin jetzt endlich ich dran?“ Sie drehte sich halb auf die Seite. Immerhin hatte sie nun ihren Spaß gehabt, hatte ihm vorher schon seine Sache versaut. „Nun, das kommt drauf an. Ich werde dir noch immer keinen blasen.“ „Zu schade“ Er lächelte. „Nun, ich habe noch ein paar andere Ideen.“ Er setzte sich auf und rutschte zum Rand des Bettes. Sie hörte ihn in seiner Tasche kramen, ehe sie etwas klimpern, dann zog er ein paar Handschellen hervor. „Was meinst du?“, fragte er auffordernd. Sie zögerte. Etwas in ihr warnte sie davor, zuzustimmen. Es war keine gute Idee so etwas mit One Night Stands zu probieren, gerade wenn sie bei diesen ohnehin kein gutes Gefühl hatte. „Ich bin kein großer Fan von Fesselspielen“, meinte sie vorsichtig. „Jetzt komm schon“ David sah sie auffordernd an. „Schau, es sich keine echten. Es ist nur Spielzeug. Hier. Notfallöffnung.“ Er zeigte ihr den kleinen Hebel an jeder der zwei Teile der Handschellen. „Komm schon, Liebes. Bitte.“ Dabei bemühte er sich liebevoll auszusehen, was ihm nur halb gelang. Ivory biss sich auf die Unterlippe. Egal was er sagte: Sie mochte es nicht. „In Ordnung. Aber versuch irgendwelche Dummheiten und …“ Sie brach ab, sah ihn jedoch warnend an. Dann fiel ihr noch etwas anderes ein, als sie auf den verzierten Rahmen des Bettes sah. „Und ich lasse mich nicht ans Bett fesseln.“ Immerhin hatte sie bereits die unangenehme Erfahrung gemacht, dass es schwerer war, von Fesseln los zu kommen, wenn diese Fesseln einen an irgendwelche Möbel ketteten. „In Ordnung“, erwiderte er. „Dreh dich um.“ Noch immer misstrauisch warf sie ihm einen Blick zu. „Sieh mich nicht so an. Nur ein wenig Spaß.“ Schließlich nickte sie. Es war nicht so, als könnte sie damit nicht auch Spaß haben – selbst wenn sie es bevorzugte, diejenige zu sein, die andere fesselte. Doch selbst wenn sie es zugelassen hatte, sich selbst fesseln zu lassen, so war es mit Kerlen oder Damen gewesen, die ihr sympathischer gewesen waren. Letzten Endes jedoch war sie sich sicher, dass sie sich selbst so gegen ihn würde wehren können, würde er etwas versuchen. Aber am Ende war es nur ein Kink. Sie drehte sich auf den Bauch und ließ es zu, dass er ihre Hände hinter dem Rücken zusammenband. Tatsächlich fühlten sich die Handschellen eher billig an und so, als könnte man sie mit der richtigen Technik notfalls auch mit Gewalt lösen. „So gefällst du mir“, flüsterte er und gab ihr einen leichten Klaps auf den Hintern. „Übertreib es nicht“, zischte sie. „Natürlich nicht, Liebes.“ Er massierte ihre Pobacken ein wenig, ehe er ihr einen weiteren Klaps gab. „Hintern hoch.“ Wenngleich etwas mürrisch machte sie, was er wollte und drückte ihre Hüfte hoch, bis sie effektiv kniete – davon abgesehen, dass sie noch immer vornübergebeugt war. Weiter massierte David mit einer Hand ihren Hintern, beugte sich dann selbst vor um ihr noch einmal an die Brüste zu fassen. Dann konnte Ivory Rascheln hören, ohne Frage, als er seine Unterhose auszog. „Dir scheint es ja doch zu gefallen“, meinte er neckend und strich ihre Schamlippen entlang, die fraglos noch immer feucht waren. „Komm zur Sache“, murrte sie nur. Er lachte leise. „Du bist ein Dickschädel. Das gefällt mir. Aber ganz wie du willst.“ Mit einem leichten Seufzen bemerkte sie, wie er in sie eindrang. Zumindest war sein Glied groß und kam an die richtigen Stellen. Dann begann er sich zu bewegen. Erst langsam, rasch jedoch immer schneller werdend, während er es nun war, der stöhnte. Mit der rechten Hand stützte er sich auf Ivorys Hüfte ab, mit der Linken zerrte er ihre Arme in die Höhe, weiter und weiter, bis ihre Schultern schmerzten. „Lass das“, rief sie, während er erneut stöhnte. Sie versuchte ihre Hände loszureißen, hatte aber ob des Winkels kaum die Möglichkeit viel Kraft aufzubringen. Er ließ sie nicht los und war kräftiger, als sie es gedacht hätte. Sie richtete sich etwas auf, um den Winkel ihrer Arme angenehmer zu machen, dankbar für ihre kräftige Muskulatur. Doch selbst diese half ihr wenig, da er weiter in sie vorstieß und es ihr damit schwer machte, das Gleichgewicht zu halten. Wieder stöhnte David, dieses Mal lauter als zuvor. Dann spürte Ivory, wie er etwas in sich zusammensackte. Sie nutzte diesen Moment der Schwäche, um sich loszureißen, und versuchte etwas von ihm wegzurücken. „Hey, hey“, meinte er atemlos und griff sie an der Hüfte, um sie zu sich zurück zu zerren. „Lass mich los, Arschloch!“, rief sie und versuchte nach ihm zu treten. David hielt ihre Beine fest. „Vorsicht, Kleine.“ Er lachte. „Du tust mir noch weh.“ „Das ist der Plan“, knurrte sie. Hastig versuchte sie, die Sicherung der Handschellen zu lösen, was jedoch weit schwerer war, als es vorher ausgesehen hatte. „Lass mich los!“ Er drückte seine eigenen Knie zusammen, um ihre Beine festzuhalten, und beugte sich vor, um ihren Oberkörper auf das Bett zu drücken. „Du bist ein Dickkopf, eh? Macht das ganze noch interessanter.“ „Was willst du?“, fragte sie und versuchte ihren Kopf weit genug zu drehen, um ihn ansehen zu können. Er griff nach ihren Haaren, um so ihren Kopf festzuhalten, und fasste sie so fest, dass es wehtat. „Ich habe dir doch gesagt, ich habe einen lukrativen Tag.“ Er strich ihren Nacken entlang, während er sich auf ihrem Kopf abstützte. „Die Narben sind etwas schade, aber dagegen kann man etwas machen.“ Damit beugte er sich noch weiter hinunter. „Aber mit einer En … 30 Grand, vielleicht 50.“ Ivory spürte etwas kühles im Nacken. Ihr war mittlerweile klar, in was für ein Problem sie sich gebracht hatte. Auf einmal machte vieles Sinn. Weshalb er nicht über seinen Job gesprochen hatte, warum er nicht locker gelassen hatte. Kein Söldner, ein Snatcher. Jemand, der Leute entführte und verkaufte. Snatcher waren einer der Gründe gewesen, warum sie ins Shahara ging. Normalerweise trieben sich Snatcher in den ärmeren Gegenden DER STADT herum, wo es weniger Sicherheit gab und man verschwundene Leute nicht so schnell vermisste. Dann wiederum waren En eher in gehobenen Gegenden zu finden und auch sie war oft vor Snatchern gewarnt worden – denn En gaben gute Preise unter Menschenhändlern, da sie zum einen als Versuchsobjekte, zum anderen aber auch in der Sexindustrie beliebt waren. Wenn er sie ausschaltete, würde sie sich bald in einer wesentlich beschisseneren Situation wiederfinden. „Du weißt, dass man nach mir suchen wird“, zischte sie, während sie vorsichtig weiter versuchte, die Handschellen zu lösen. Sie musste Zeit gewinnen. Wahrscheinlich hatte er irgendwo ein Toxin vorbereitet, um sie auszuschalten, und wenn er es die ganze Zeit auf sie abgesehen hatte, sogar eins, das auf En abgestimmt war. „Da wäre ich mir nicht so sicher“, erwiderte er. „Ich habe dich in den letzten paar Monaten im Shahara beobachtet. Du warst immer allein dort, selbst wenn du oft nicht allein gegangen bist.“ Er hielt sie noch fester, als sie versuchte, sich loszuwinden. „Wenn ich mir dich so ansehe, würde ich sagen, du bist Söldnerin? Die Narben, die Muskulatur …“ „Das geht dich nichts an, Arschloch“, flüsterte sie. Zugegebener Maßen hatte sie Angst. Sie hatte eine Pistole in ihrer Tasche, doch bevor sie ihre Hände gelöst hatte, kam sich nicht daran. Selbst wenn er optimiert war, da war sie sich sicher, war sie doch stärker als er – nur hatte er in dieser Situation die Oberhand. Vielleicht gab es bei den Handschellen einen Trick? Ivory hatte zuvor gesehen, dass er sie einfach geöffnet hatte – einfacher, als es ihr jetzt schien, und soweit schaffte sie es, nicht panisch zu werden. „Es war zumindest eine angenehmere Variante“, meinte er. „Vielleicht werde ich selbst noch ein wenig Spaß mit dir haben.“ Sie spürte, wie etwas Spitzes gegen ihren Nacken drückte. Verflucht! Sie spannte ihren Körper an, als der Verschluss zumindest von der linken Handschelle nachgab. Offenbar war der Trick gewesen, gleichzeitig gegen einen kleinen Hebel zu drücken. Gerade als sie ihre Hand losbekam, spürte sie ein Stechen im Nacken. Nun doch leicht panisch versetzte sie David den Ellbogen in die Seite, was ihn genug überraschte, damit sie sich etwas losreißen konnte. Noch immer war sie unter ihm, doch war er für den Moment zu verwirrt, um zu reagieren. Sie warf sich herum und nutzte die Energie, um ihm mit dem Ellbogen gegen das Kinn zu treffen, was ihn zur Seite warf. Dann bekam sie ihre Beine etwas frei. Nun erkannte sie auch, wo er die Injektion versteckt hatte, als sie sah, dass er die Kuppe seines linken kleinen Fingers aufgeklappt hatte. Eine Cybergliedmaße. Ivory war schwindelig – wahrscheinlich ein Effekt des Toxins. Sie konnte nur hoffen, dass es sie nicht ohnmächtig werden ließ. „Du bleibst hier, Hure“, rief er, nun aufgebracht, und versuchte nach ihr zu greifen. Dabei vergaß er jedoch seine eigene Feststellung: Sie war Söldnerin und hatte zudem zwei Jahre Einsatz und weitere zwei Jahre Training mit den UF hinter sich. Instinktiv griff sie nach seinen Händen und lenkte sie um – darauf bedacht nicht in Berührung mit der noch immer offenen Nadel zu kommen. Sie versuchte seine Hand so umzuleiten, dass er sich selbst stach, doch er war kräftig genug, um dies abzuwehren. Mit etwas Schwung, schaffte sie es etwas weiter von ihm fort zu rücken und dabei ihre Beine halbwegs zu befreien. Nun rächte sich seine Methode, sie festzuhalten, als sie das rechte Knie, während sie die Beine unter ihm hervor zog, nach oben schnellen ließ. Er stöhnte auf und krümmte sich für einen Moment, was ihr genug Zeit gab, um zum Rand des Bettes zu kommen. Sie rollte sich auf den Boden und bekam ihre Tasche zu greifen. Während sie auf die Beine kam und einige Schritte rückwärts stolperte, öffnete sie die Sporttasche. David war jedoch erneut direkt hinter ihr, warf sich gegen sie, um sie zum Fall zu bringen. Zwar schaffte sie es irgendwie, das Gleichgewicht zu halten, doch änderte es nichts, dass er erneut bei ihr war und ihr nun an die Kehle griff. Dies war selbst nicht ihre größte Sorge – gegen solche Angriffe hatte sie sich mehr als einmal verteidigen müssen. Problematischer war viel eher, dass er die linke Hand nutzte und sie erneut ein Stechen spürten. Nur den Bruchteil einer Sekunde später hatte sie jedoch ihre Waffe in der Hand. Mit einem Fuß versetzte sie ihm einen gezielten Tritt gegen die Kniescheibe, ehe sie ihr Knie in seiner Magengegend versenkte. Er ging zu Boden und die Nadel rutschte aus ihr heraus. „Du verfluchte …“, begann er, doch seine Worte gingen in einen Schrei über, als sie abdrückte und eine Kugel sich durch seinen Oberschenkel bohrte. „Du …“ Noch einmal versuchte er nach ihr zu greifen, doch mit einem Tritt gegen sein Schlüsselbein, warf sie ihn nach hinten. Ohne dass sie es beabsichtigt hätte, schlug sein Kopf gegen die Kante des Bettrahmens. Als er auf dem Boden aufkam, blieb er still liegen. Ivory atmete auf. Sie sah, wie das Blut aus seinem Bein und auf den hellen Teppich des Hotelzimmers strömen. Er blutete auch aus dem Kopf. Eine Platzwunde? Es war ihr egal. Ihr Kopf schwirrte. Das Gift. Ein Betäubungsmittel. Ihr war übel. „Arschloch …“, murmelte sie, als sie merkte, wie ihre Beine unter ihr nachgaben. Sie konnte jetzt nicht ohnmächtig werden. Sie musste hier weg. Selbst wenn er verbluten würde – und danach sah es aus. Jemand musste etwas gehört haben. Man konnte sie nicht hier mit seiner Leiche finden. Sie blinzelte, als das Bild vor ihren Augen verschwamm, und versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen. Das Gegenmittel. Sie brauchte das Gegenmittel! Wenn er professionell war, würde er ein Gegenmittel dabei haben. Da ihre Beine sie nicht länger trugen, krabbelte sie zu seiner ohnehin schon offenen Tasche hinüber und kippte sie aus. Da. Ein normaler Injektor, nur leer. Sie merkte, wie ihr zunehmend schwarz vor Augen wurde. Sie durfte nicht ohnmächtig werden. An diesen Gedanken klammerte sie sich, während sie seine Sachen weiter durchwühlte. Da war eine bräunliche Flasche. Da eine andere. Sie sah beide an. Gleich groß. Beides Medikamentenflaschen. Großartig. Ihr Blick war zu verschwommen, um die Aufschriften zu lesen. Doch sie wusste, dass sie keine Zeit mehr hatte. Eine von beiden musste das Gegenmittel sein. Sie nahm die, die ihr als erstes in die Finger gefallen war und klemmte sie mit zittrigen Händen in den Injektor ein. Irgendwie schaffte sie es, den Injektor in ihren eigenen Oberschenkel zu rammen. Dann lehnte sie sich an das Bett und wartete, während in ihrem schwindenden Bewusstsein sich der Gedanke formte, dass sie sich eventuell auch eine Überdosis des Betäubungsmittels gespritzt hatte – vielleicht genug um sich selbst zu töten. So saß sie da. Sie wusste nicht für wie lang. Sie konnte nicht einmal sagen, ob sie zwischendurch ohnmächtig geworden war. Doch irgendwann kamen ihre Sinne langsam wieder. Schwer atmend warf sie David einen Blick zu. Das Blut tropfte nur noch schwerfällig aus der Wunde an seinem Bein. Wahrscheinlich war er tot. Ivory musste hier weg. Noch immer zittrig setzte sie sich auf, schaffte es es jedoch irgendwie auf die Beine zu kommen. Sie bemerkte, dass die Handschellen noch immer an ihrer rechten Hand hingen, doch fehlte ihr im Moment die Feinmotorik, um daran etwas zu machen. Ungeschickt zog sie sich wieder an, sicherte ihre Waffe und wollte schon das Zimmer verlassen, als ihr ein Gedanke kam. Sie kehrte zu seinen Sachen zurück und durchsuchte sie erneut. Da war, was sie suchte: Ein Bitstick. Ivory steckte ihn ein. Er würde ihn ohnehin nicht mehr brauchen. Dann verließ sie mit noch immer zittrigem Schritt das Hotel. [DIE STADT – 2088] ------------------ Manchmal war es schon erstaunlich, wie ruhig es im Shahara sein konnte. Das fiel Ivory auf, während sie an der Bar saß und auf ihr Getränk sah, sich ausnahmsweise wünschend, es würde Alkohol beinhalten. Zwar hörte man leise Gespräche, Rascheln und das Rücken von Stühlen – und natürlich auch das Plätschern von Wasser. Dennoch: Es waren so viele Menschen hier, dass man glauben sollte, dass es lauter wäre. Ivory nippte etwas an ihrem Getränk. Wie jedes Jahr war ein wenig möglichst neutraler weihnachtlicher Schmuck an der Bar angebracht. Dieses Jahr waren es weiße Kunst-Tannenzweige mit wenigen Verzierungen, sowie ein ganzer weißer Plastikbaum mit einer Lichterkette an einem Ende der Bar. Sie wünschte sich so sehr daheim zu sein. Bei ihrer Mutter. Doch noch immer konnte sie nicht zurück. Wahrscheinlich würde sie nie nach Hause zurückkehren können. Es war einfach zu gefährlich. Wahrscheinlich dachte ihre Mutter ohnehin, sie wäre tot. So lange hatte sie nicht mehr mit jemanden aus ihrer Heimat geredet. Seit sie die UF verlassen hatte und nun … Sie machte sich Vorwürfe, auch wenn sie wusste, dass sie nichts hätte anders machen können. Sie hatte ihre Eltern beschützt, indem sie nicht zurückgekehrt war. Wieder nippte sie an dem nichtalkoholischen Cocktail, der vor allem süß schmeckte, nach Beeren. Vielleicht sollte sie es für heute sein lassen und in eine Bar gehen. Ihr war danach, sich zu betrinken. Sie seufzte, leerte ihr Glas und sah sich um. Sie achtete nie zu sehr auf die Leute in ihrer Umgebung – jedenfalls nicht in dem Sinne, dass sie sich wirklich dafür interessierte, was sie taten. Natürlich war sie vorsichtig, vor allem nach ihrem Zusammenstoß mit David vor zwei Jahren, doch war sie sich relativ sicher, dass mitten im Shahara sie niemand angreifen würde. David war ihre eigene Schuld gewesen. Sie war unvorsichtig gewesen, hatte sich von ihm um den Finger wickeln lassen. Es hatte dafür gesorgt, dass sie vorsichtiger geworden war, mit wem sie ihre Nächte verbrachte – was jedoch nicht bedeutete, dass sie diese Angewohnheit abgelegt hatte. Die meisten Leute hier kümmerten sich genau so wenig um sie, wie sie sich um sie. Wie immer gab es ein paar die starrten, zumeist die, die nicht so oft hierher kamen und an den Anblick von En nicht gewöhnt waren. Mit einem weiteren Seufzen nahm sie ihre Sachen aus einem Regal und ging zur Dusche, um sich noch einmal ordentlich zu waschen. Ihr Haar war noch kürzer, als vor zwei Jahren. Es war nicht nur in ihrem „Job“ praktischer, sondern hatte auch den angenehmen Nebeneffekt, dass niemand es zu leicht greifen konnte. Manchmal dachte sie darüber nach, ihre Narben nachträglich behandeln zu lassen. Mittlerweile waren es zu viele. Zwei Jahre im Krieg und vier Jahre als Söldnerin hatten ihre Spuren hinterlassen – und sie war noch glücklich gewesen, da sie immerhin keine Gliedmaßen verloren hatte. Dennoch: Die Narben waren auffällig, selbst wenn wenig Leute darauf zu achten schienen – jedenfalls in DER STADT, wo so viele Narben von Krieg und Kriminalität davon getragen hatten. Doch würde sie jemals von hier fortgehen … Manchmal dachte sie daran aufzuhören. Doch was blieb ihr anderes zu tun, so lang sie nicht nach Hause zurückkehren konnte? Und wenn sie ehrlich mit sich selbst war, wusste sie auch, dass sie niemals Chemikerin werden würde. Manchmal, wenn sie hier war, beneidete sie die anderen Menschen, auch wenn sie wusste, dass es nicht komplett fair war. Viele von ihnen hatten ebenso wenig eine Wahl gehabt – vielleicht noch weniger als sie, die sie immerhin gewählt hatte, den Dienst bei den UF nach zwei Jahren zu verweigern. Dennoch: Sie war hier, ohne es für sich entschieden zu haben. Ivory schloss die Augen und lenkte ihre Gedanken wieder auf die Gegenwart. Sie stand unter der Dusche und war eigentlich dabei ihre Haare kurz zu waschen. Manchmal hatte sie das Gefühl, dass es schlimmer wurde. Sie wurde nachdenklicher und sie mochte es nicht. Sie wollte diese Gedanken nicht haben. Mit Mühe konzentrierte sie sich darauf, sich sehr bewusst zu waschen. Die Duschen waren einzelne Kabinen, voneinander mit milchigem Glas abgegrenzt, durch das weiches, gelbes Licht leuchtete. Auch die Kacheln, die Boden und Wand bedeckten waren weiß oder blass gelb und so beleuchtet, dass es edel wirkte. Als sie das Wasser abstellte, holte sie tief Luft, ehe sie die kleine Kabine verließ. Draußen waren Sitzplätze vor Spiegeln mit Föhnen, die in eine Art Theke vor den Spiegeln eingelassen waren, doch Ivory brauchte sich nicht zu föhnen – immerhin waren die Winter in DER STADT noch immer mild und die kurzen Haare trockneten schnell. So trocknete sie sich nur ab, band sich ihr Handtuch um die Brust, ehe sie sich noch einmal im Spiegel betrachtete. Sie war noch immer kaum gealtert. Die größte Veränderungen an ihr, gegenüber der Zeit vor sechs Jahren, als sie in DIE STADT gekommen war, waren ihre Haare und die Narben auf ihrer Haut. Das und ihre Augen, die stumpfer wirkten als damals. Doch daran erinnerte sie sich kaum. Eine halbe Stunde später fand sie sich in einem Plex drei Blöcke vom Centix entfernt wieder. Hier gab es eine recht gut besuchte Bar – natürlich, wie alles im Viertel, vorrangig von den erfolgreichen Bewohnern DER STADT besucht – in der sie sich auch vorher schon das ein oder andere Mal betrunken hatte. Das Velvet war, wie das Shahara, modern und edel eingerichtet. Es war im 32sten Stockwerk gelegen. Der Boden war mit schwarzen Glasfliesen belegt, in die kleine Lichter eingelassen waren. Die Decke war aufwändig verziert, mit versteckt eingelassenen violetten Lampen. Auch an den Wänden waren hinter Metalldekoration verborgene violette und blaue Neonröhren angebracht. Sie hatte Whiskey bestellt, auch wenn dieser hier zu teuer war, um sich damit zu betrinken – nicht das sie es nicht hätte dennoch tun können. Allerdings hatte sie beschlossen, dass es zu schade wäre, den Whiskey zu trinken, wenn sie schon angetrunken war. Sie saß am Rand der L-förmigen Bartheke, direkt neben dem Fenster, so dass sie noch immer hinaus sehen konnte. Unten war ein kleiner Park, der auch um diese Zeit noch von Lampen erleuchtet war. Wie sehr wünschte sie sich, noch einmal mit ihrem Vater reden zu können. Ob er geglaubt hatte, dass sie tot war? Ivory hasste den Gedanken daran. Sie hatte es doch nicht gewollt. Sie hatte nichts davon gewollt. Sie seufzte und leerte den Whiskey, ehe sie sich einen Cocktail bestellte. Während sie trank wanderten ihre Augen durch die Bar. An den Tischen hier saßen die meisten Leuten in Paaren oder kleinen Gruppen. Sie fragte sich, wie viele der Paare nur Freunde waren, wer datete, wer nur ein kurzzeitiges Interesse hatte und wer andere Ziele verfolgte. Vielleicht trafen sich einige beruflich hier. Über die anderen Menschen nachzudenken lenkte sie, zumindest für einen Moment, von ihren eigenen Problemen ab. Natürlich waren einige andere – vor allem von denen, die an der Theke saßen, offenkundig alleine hier. Sie sah zumindest zwei die ähnlich miserabel aussahen, wie sie sich fühlte. Für eine Weile rührte sie mit dem Strohhalm in den bläulich leuchtenden Cocktail, ehe sie ihn relativ zügig austrank. Einer der Nachteile einer recht hohen Toleranz gegen Toxine, wie sie für En typisch war, war, dass sie auch länger brauchte, betrunken zu werden. Jemand setzte sich auf den Stuhl neben sie. Sie sah auf. Immerhin war es unüblich sich in einer nur halb gefüllten Bar neben jemanden zu setzen, sofern man diesen jemand nicht kannte oder flirten wollte. Tatsächlich stellte der jemand einen weiteren Cocktail vor sie. „Du siehst aus, als wolltest du dich betrinken“, meinte die Frau, die nun neben ihr saß. Ivory warf ihr einen Blick zu, eine Augenbraue hochgezogen. „Das trifft sich gut“, fuhr die Frau fort. „Ist nämlich auch mein Plan.“ Sie klang frustriert, als würde sie unterdrückte Wut in sich tragen. „Du bist allein?“, fragte Ivory. „Du auch, oder?“ Die Frau zog nun selbst die Augenbraue hoch und lächelte. Sie hatte blasse Haut und schwarze, leicht gelockte Haare. Ihre Augen waren mandelförmig, doch etwas anderes war wirklich auffällig an ihnen: Sie waren gelb – beinahe golden. Nicht dasselbe helle Grün-gelb, wie es für En typisch war, sondern ein echtes Gelbgold. Eine Mutantin? Hier? Fraglos, es gab nun „Frieden“ – zumindest offiziell – doch die meisten Menschen mieden Mutanten weiterhin. Der Krieg war einfach nicht lang genug her. „Ja, und?“, erwiderte die Frau und hob ihr Glas. Anstatt mit dem Strohhalm zu trinken, trank sie direkt aus dem Glas. Als Ivory, die zugegebener Maßen noch immer überrascht war, sie nur ansah, seufzte die Frau und wirkte etwas genervt. „Willst du nicht trinken?“, fragte sie. „Ich …“ Ivory zögerte für einen Moment. „Wer bist du?“ „Mein Name Hozuka“, sagte die Frau, wobei sie den Namen Hos-ka aussprach. Dann seufzte sie noch einmal, dieses mal eher bedaueunnötiger Weisernd. „Tut mir leid, dass ich dich einfach so überfalle.“ Sie lachte trocken. „Aber es ist deprimierend sich allein zu betrinken.“ Zögerlich nahm Ivory den Cocktail und trank einen Schluck. Er schmeckte nach Beeren irgendeiner Art. Aus den Augenwinkeln beobachtete sie die junge Frau weiter. Sie trug eine dunkle, kurzärmlige Bluse, die allerdings keinerlei Ausschnitt hatte, dafür allerdings das Tattoo eines von Blitzen umzuckten Drachens in Violett am Arm der Frau wunderbar zur Geltung brachte. Das Tattoo und auch ihre abgetragene Jeans, ließen sie hier etwas herausstechen, da die meisten anderen Besucher, wie auch Ivory, die selbst eine langärmlige weiße Bluse trug, etwas gewählter gekleidet waren. „Wieso bist du allein?“, fragte Ivory schließlich. „Weil die meisten Leute ziemlich misstrauisch sind“, grummelte Hozuka. Für einen Moment zögerte Ivory, weiter an ihrem Drink nippend. „Du bist ein Mutant?“ Sie senkte ihre Stimme dabei – immerhin musste es nicht jeder hören. „Ja“, erwiderte die junge Frau. Ihr Blick wurde etwas herausfordernd. „Und?“ Ivory zuckte mit den Schultern. „Nichts.“ Sie leerte das Glas und seufzte, da sie bisher zu wenig vom Alkohol spürte. „Du bist eine En“, stellte Hozuka dann fest. Ein weiteres Schulterzucken von Ivory. „Ja.“ „Dann ist die eigentliche Frage doch eher, warum du allein hier bist.“ Nun war es an Ivory zu seufzen. „Weil ich niemanden für diese Nacht gefunden habe. Und wie du richtig erkannt hast: Ich will mich betrinken.“ Vielleicht klang sie bitterer, als sie es beabsichtigt hatte, doch wenn sie an den Brief, den sie am Morgen erhalten hatte, war es nicht unberechtigt. „Außerdem“, fügte sie dann nach einer kurzen Pause hinzu, „hasse ich Leute, die sich nur dafür interessieren, dass ich eine En bin.“ Hozuka sah sie an und nickte dann, ehe sie die Hand hob, um dem Barkeep eine weitere Bestellung zu signalisieren. „Ich weiß, was du meinst“, murmelte sie. Es wurden zwei weitere Cocktails gebracht und sie schob einen zu Ivory hinüber. „Prost.“ Eineinhalb Stunden war Ivory noch immer nicht mehr als angetrunken, aber zumindest hatte es Hozuka geschafft, sie erfolgreich von ihren Problemen und den Gedanken, die sie verfolgten, abzulenken. Sie waren raus gegangen, saßen auf einer Bank in dem kleinen Park, den man vom Velvet aus hatte sehen können. Obwohl es Nacht war, waren die Bäume durch in den Boden eingelassene Lampen erleuchtet. Hozuka hatte sich eine Zigarette angesteckt. „Du rauchst?“, fragte Ivory unnötigerweise. „Ab und an“, erwiderte die junge Frau und blies eine Rauchfahne in die Luft. Ivory sagte nichts dazu. Sie sah zum Himmel hinauf, an dem nur die Reflektionen der Stadtlichter als ein gelblicher Nebel zu sehen war – Sterne konnte man hier nicht erkennen. „Als was arbeitest du?“ „Hmm?“ Hozuka sah sie verwirrt an. Für einen Moment zögerte Ivory. „Es ist nicht böse gemeint. Es ist nur … Ich habe bisher in diesen Gegenden keine Mutanten gesehen …“ Sie senkte die Stimme für diese letzten Worten, schämte sich beinahe dafür, so zu fragen. Eine kurze Weile schwieg Hozuka. „Du hast Recht. Ich habe … Glück? Meine Mutation ist nützlich, könnte man so sagen.“ Sie lächelte und zeigte die Hand, in der sie die Zigarette hielt. Zwischen Daumen und Zeigefinger bildete sich ein Spannungsbogen. „Ich kann Elektrizität kontrollieren.“ Der Spannungsbogen verschwand und Hozuka seufzte. „Und ich habe einen gewisses … Verständnis, könnte man sagen, für elektrische Geräte. Ich arbeite für Dynamics, in der Entwicklung.“ Ivory schürzte die Lippen, nickte aber. „Ich verstehe.“ Noch zu gut erinnerte sie sich an das Massaker vier Jahre zuvor. Ob Hozuka damals auch in einem der Lager außerhalb DER STADT gewesen war? Sie wagte nicht danach zu fragen. „Tut mir leid, dass ich gefragt habe.“ „Schon gut.“ Hozuka schüttelte den Kopf. „Du bist nicht die Erste …“ Sie zog an der Zigarette und blies den Rauch in die Nachtluft. „Und du? Was machst du hier? Als En?“ Etwas Neid klang aus ihrer Stimme heraus. Ivory zögerte. Immerhin konnte sie die Wahrheit nicht sagen. „Security Contractor“, erwiderte sie. „Huh“, meinte die andere Frau und zog erneut an der Zigarette. „Ich bin … überrascht. Ich meine, ihr En … Für euch gibt so viele Möglichkeiten.“ Bevor sie sich zurück halten konnte, machte Ivory ein abwertendes Geräusch. „Sicher.“ Hozuka zog eine Augenbraue hoch und sah sie fragend an, doch Ivory schüttelte nur den Kopf. „Ich will darüber nicht reden“, murmelte sie und merkte, dass ihre Stimme wieder verbittert klang. Eine kurze Stille senkte sich zwischen sie, ehe Hozuka zögernd ihre linke Hand über die Ivorys schob, während sie mit der anderen die Zigarette ausdrückte. „Es tut mir leid“, sagte sie dann. „Ich weiß nichts davon, was dir passiert ist. Es ist halt einfach nur furchtbar, wie die Leute einen ansehen, wie sie reden.“ Ivory lachte bitter. „Das ist als En nicht anders. Die Blicke mögen unterschiedlich sein, was sie sagen auch. Aber es ändert nichts am starren und reden …“ Sie senkte die Stimme. „Mehr noch. Man sieht es uns von weitem an, was wir sind. Selbst wenn ich mir die Haare färben und Kontaktlinsen tragen würde, würde meine Haut mich verraten.“ Erneute Stille. „Tut mir leid“, murmelte Hozuka dann. Auch Ivory antwortete nicht sofort, seufzte schließlich jedoch. „Schon gut.“ Sie lächelte, auch wenn ihr nicht wirklich danach zu mute war. Noch immer lag Hozukas Hand auf der ihren und nun schloss die Mutantin ihre Finger ein wenig mehr um die ihren. Sie schwiegen, während Ivory zu den Baumkronen hinaufsah. In der Stille hörte sie die hier entfernt wirkenden Geräusche DER STADT. Fahrzeuge, weit entfernte Gespräche und Musik, die dumpf aus einer nahe gelegenen Diskothek zu ihnen drang. Eigentlich hatte sie sich betrinken wollen, aber jetzt saßen sie hier und sie fühlte sich nicht besonders betrunken. Sie hatte dergleichen eigentlich nicht geplant, doch nun da sie hier zusammen saßen, spürte sie die Angst davor später wieder allein zu sein. Ein Teil von ihr wollte weiter mit Hozuka reden – wollte darüber reden, was sie bedrückte, wenngleich sie so etwas normalerweise vermied. Doch wenn sie ehrlich mit sich war, war sie einsam an diesem Abend. Mehr noch als irgendwann in den letzten Jahren fühlte sie sich einsam. Sie drehte ihre eigene Hand, um Hozukas greifen zu können und für einen Moment sahen sie sich an. Zu ihrer Überraschung war es Hozuka, die die Initiative ergriff, sich vorbeugte und sie küsste. Ohne darüber nachzudenken erwiderte Ivory den Kuss, auch wenn ein Teil von ihr nicht wusste, ob es richtig war. Hozuka war ein Mutant und auch nach vier Jahren hatte Ivory noch immer Albträume von dem Massaker, dass die UF damals im Mutantenlager angerichtet hatten. Außerdem musste sie zugegeben, dass die junge Frau ihr sympathisch war – sie wollte sie nicht verletzen. Sie wollte auch selbst nicht verletzt werden. „Und jetzt?“, fragte Hozuka, als sich ihre Lippen voneinander lösten. Ivory zögerte für einen Moment, während ihre Sehnsucht nach Nähe mit ihrer Vorsicht rang. „Wir könnten in ein Hotel gehen“, sagte sie dann leise. Auch Hozuka zögerte für einen Moment, lächelte dann aber. „Wieso nicht?“ Seit dem Vorfall vor zwei Jahren hatte Ivory das Mahal gemieden. Zu groß sah sie die Gefahr, dass jemand sie erkannte, nachdem man fraglos die Leiche Davids damals irgendwann gefunden hatte. Stattdessen war sie nun mit Hozuka in einem nahe gelegenen Hotel, das einfach nur The Royal hieß und in den oberen zehn Stockwerken eines Plex zu finden war. Sie hatten ein besseres Zimmer, wenngleich keine Suite genommen. Dennoch hatte das Zimmer ein großes und bequemes Bett, dessen hölzerner Rahmen edel verziert war. Vor allem aber war das Zimmer zudem mit einem recht geräumigen Badezimmer ausgestattet, dessen Badewanne eine Whirlpool Funktion hatte, wie Hozuka mit Begeisterung festgestellt hatte. Nun lagen sie beide auf dem Bett, eine der recht dünnen Decken über sich gezogen. Spätestens in der Badewanne war ihr auch klar geworden, dass auch Hozuka so etwas nicht zum ersten Mal machte – etwas, das sie in gewisserweise beruhigt hatte. Sie war verspielt gewesen, aber auch aufreizend. Jetzt aber hatte Ivory ihr den Rücken zugedreht, während sie auf der Seite lag und zum Fenster, dessen Glas abgedunkelt war, hinübersaß. Hozuka strich mit einem Finger über ihre Seite und Ivory ließ es zu. Sie schloss die Augen um die Berührung für einen Moment zu genießen. Für eine Weile ihre Einsamkeit vergessen, für eine Weile die Wärme eines anderen Menschen spüren. Für eine Weile ließ Hozuka ihre Hand auf ihrer Hüfte liegen, ehe sie mit den Fingern Ivorys Seite wieder hinauf strich. Dann jedoch ließ ein leichter elektrischer Schlag sie zusammenzucken. Es war kein schmerzhafter Schlag, erschreckte sie jedoch genug, als dass sie sich herumdrehte. „Hey“, flüsterte sie und sah Hozuka fragend an. Diese lächelte nur. „Ich wollte sicher gehen, dass du nicht eingeschlafen bist.“ „Nein, nein“, erwiderte Ivory und musterte sie. Ihr Tattoo breitete sich von ihrem Arm bis zu ihrem Schlüsselbein und auf ihre Schulter aus, wo es in ein kunstvolles Muster überging und schließlich nach außen verblasse. Ebenso waren ihre Brustwarzen gepierct. Auch sie musterte Ivory und legte schließlich eine Hand auf ihre Seite. „Und?“, meinte sie lächelnd. „Schon müde?“ Sie schenkte ihr einen vielsagenden Blick. Ivory seufzte leise und rückte etwas näher. „Nicht unbedingt“, flüsterte sie. „Was schwebt dir vor?“ „Ich denke“, erwiderte Hozuka, „das weißt du sehr genau.“ Sie strich zu Ivorys Hüfte und dann zu ihren Brüsten hinauf. Ivory lächelte sie matt an. „Ich denke schon.“ Für einen Moment hielt Hozuka inne und sah ihr in die Augen. Dann streckte sie sich, um sie zu küssen. Mit ihrer Hand begann sie Ivorys Brust zu massieren, ging dann dazu über ihre Brustwarze etwas zu zwirbeln. „Weißt du“, flüsterte sie dann. „Meine …“ Sie zögerte und schien nach dem richtigen Wort zu suchen. „Meine Kräfte können auch … angenehme Nebeneffekte haben.“ Ivory zögerte. Sie war sich recht sicher verstanden zu haben, was sie meinte, aber dennoch wusste sie nicht ganz, wie sie darauf reagieren sollte. Während sie noch schwieg, kniff Hozuka leicht in ihre Brustwarzen und sah sie mit einem leicht herausfordernden Blick an. „Na, was sagst du?“ Nun lächelte Ivory. „Okay.“ Sie merkte ein leichtes, jedoch angenehmes Kribbeln auf ihrer Haut, als Hozuka erneut begann ihre Brust leicht zu massieren. Sie strich deutlich geübt über Ivorys Haut, berührte erneut leicht ihre Brustwarzen und strich dann über ihren Bauch und schließlich hinab zu ihrem Schritt. Es war ein merkwürdiges Gefühl. Es war nicht so, als hätte Ivory es noch nie mit Reizstrom versucht, doch war es seltsam die Finger der anderen so deutlich dabei zu spüren. Sie zuckte zusammen, als Hozukas Finger leicht in sie eindrangen, noch immer leicht vor Elektrizität kribbelnd. „Und?“, flüsterte Hozuka, während sie ihre Finger leicht bewegte. „Wie gefällt dir das?“ Sie lächelte, aber ihr Blick schien noch immer etwas herausfordernd zu sein. Ivory ließ ein Seufzen hören. Sie war sich nicht ganz sicher, ob sie das Gefühl mochte. Es war nicht schlecht, vielleicht sogar angenehm, doch ganz konnte sie den Gedanken daran, wie schnell es schmerzhaft oder gar gefährlich werden konnte nicht vertreiben. „Ich weiß nicht“, erwiderte sie schließlich. Daraufhin zog Hozuka ihre Hand etwas zurück und strich stattdessen die Innenseite von Ivorys Schenkeln entlang. „Hast du Angst?“, fragte sie. Ivory sah ihr in die goldenen Augen. „Ich habe hier schon einige unschöne Dinge erlebt.“ „Wem sagst du das?“, fragte Hozuka seufzend. „Meinst du mir geht es besser?“ Mit einem angedeuteten Kopfschütteln drehte Ivory sich auf den Rücken. „Nein. Glaube ich nicht. Es ist nur …“ „Es gibt einigen Abschaum in DER STADT?“, beendete Hozuka den Satz für sie und zog ihre Hand zurück. „Wem sagst du das?“ Beinahe hätte Ivory gelacht über den empörten Blick, den die andere ihr nun schenkte. „Nun, eigentlich hast du es gesagt.“ „Stimmt.“ Hozukas Miene hellte sich wieder etwas auf. Sie stützte ihren Kopf auf ihren linken Arm auf und beobachtete Ivory, wie sie es sehr wohl aus den Augenwinkeln sah. Dann leckte sie mit verschmitztem Blick ihre Finger ab, ehe sie über Ivorys Wange strich. Ein kurzes Zögern, dann beugte sie sich vor und küsste sie. Wenngleich noch immer unsicher, erwiderte Ivory den Kuss, auch wenn sie eigentlich wusste, dass es ein Fehler war. Breitbeinig setzte Hozuka sich schließlich auf sie, nur um sich erneut hinabzubeugen und sie zu küssen, während ihre Hände ihre Seiten entlang wanderten und schließlich auf ihren Brüsten ruhen blieben. Dann küsste sie Ivory auf die Wange und ließ ihre Lippen ihren Hals hinunter wandern. Ivory selbst legte ihre Hände auf Hozukas Schultern, ehe sie begann ihren Rücken hinunter zu streichen. Während Hozuka begann ihre Brüste zu küssen, strich Ivory die Hüfte der anderen entlang und über ihre Oberschenkel. Ein leises Keuchen entrann ihrer Kehle, als Hozuka seicht in ihre Brustwarze biss. Ivory strich die Innenseite Hozukas Oberschenkeln hinauf. Vorsichtig begann sie schließlich ihre Schamlippen zu streichen. Sie konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen, als Hozuka stöhnte. Langsam begann Ivory die Klitoris der anderen zu reiben, bis Hozuka erneut stöhnte. Die goldenen Augen sahen sie an und sie konnte ein Glimmen in ihnen erkennen, als Hozuka sie anlächelte. Es schien, als würde sie etwas sagen wollen, doch Ivory strich mit ihrer freien linken Hand über ihre Brüste und begann mit dem Piercing zu spielen. Sie bewegte die Finger weiter, bis Hozuka erneut stöhnte. Die Mutantin ließ von ihren Brüsten ab und stützte sich auf dem Bett ab. Ivory ließ ihre linke Hand auf den Rücken der anderen wandern. Ein leichtes Zittern lief durch den Körper Hozukas, während sie erneut ein Stöhnen hören ließ. Mit einem Lächeln hielt Ivory schließlich inne, was ihr einen amüsierten, jedoch gespielt empörten Blick einbrachte. „Mach weiter“, keuchte sie. „Soll ich?“, fragte Ivory leise. Hozuka seufzte leise. „Ja, bitte“, flüsterte sie in ihr Ohr. Mit einem Lächeln strich Ivory ihren Rücken hinunter, begann aber schließlich, ihre Finger weiter zu bewegen. Sie genoss es, die andere stöhnen und keuchen zu hören, bis sie sie schließlich merkte, wie sich Hozukas Unterleib zusammenzog, während sie ein erneutes Stöhnen hören ließ. Ivory zog ihre Hand zurück, ehe Hozuka sich mit einem leisen Lachen auf sie fallen ließ. „Du gefällst mir“, flüsterte sie und bettete ihren Kopf zwischen Ivorys Brüste. Darauf erwiderte Ivory nichts, sondern legte beide Hände auf die Schultern der andere, während diese sich zu entspannen schien. Ihr Atem wurde langsamer, entspannter, während ihre Augen geschlossen waren. Manchmal bereute Ivory, dass sie in den vergangenen Jahren kaum eine bedeutungsvolle Beziehung gehabt hatte. Als sie in DIE STADT gekommen war, hatte sie einige Zeit mit Thomas verbracht, doch es hatte nicht auf Dauer funktioniert. Die Dinge, die sie im Krieg gesehen hatte, waren einfach zu viel gewesen. Sie hatte nicht darüber reden können, dürfen, und es war irgendwann zu viel gewesen, dass unausgesprochen geblieben war. Er war nicht der einzige gewesen, doch irgendwann war sie dazu übergegangen, nur einzelne Nächte mit anderen zu verbringen. Es war einfacher. Sie musste weniger Rücksicht nehmen, sie musste nicht ihre Zeit nach einer anderen Person ausrichten. Doch manchmal, wie in dieser Nacht, wünschte sie sich nur jemanden, mit dem sie reden konnte. Jemand, dessen Wärme sie spüren könnte – für mehr als eine Nacht. „Hmm?“ Hozuka richtete sich auf und sah sie an. Aus ihren Gedanken gerissen, zog Ivory eine Augenbraue hoch. „Was?“ „Du denkst über irgendetwas nach“, erwiderte Hozuka. „Ich nehme an, dasselbe, was dich schon vorher bedrückt hat?“ Matt lächelte Ivory. „Bist du auch ein Telepath?“, versuchte sie zu scherzen. „Nein“, meinte Hozuka und sah sie mit einem sanften Ausdruck an. „Ich kenne einfach nur … Menschen.“ Sie zögerte, bevor sie das letzte Wort sagte. Ivory verstand zu gut warum. Sie erwiderte jedoch nichts. Vorsichtig stützte Hozuka sie an, um sie genauer anzusehen. Mit einer Hand strich sie über ihre Wange. „Was bedrückt dich?“ Noch immer wich Ivory ihren Blick auszuweichen. „Ich denke, dass du reden solltest“, meinte Hozuka weiter. Sie schien ernsthaft besorgt zu sein. Für einen Augenblick schloss Ivory ihre Augen, sah die andere dann aber an. Sie wusste nicht, was sie ihr erzählen sollte. Letzten Endes konnte sie ihr nichts erzählen, oder? Ein Gedanke kam ihr und sie wusste, dass es nicht richtig war. „Weißt du, als ich hierher gekommen war … Ich bin damals von den UF eingezogen worden. Um gegen die Rebellen zu kämpfen. Damals … Bei dem Massaker … Ich war dabei. Ich habe einige von euch getötet.“ Hozuka schwieg für eine Weile, sah sie aber weiterhin mit einem besorgten Blick an. „Wolltest du es?“ Ivory schwieg. „Antworte mir“, forderte Hozuka sie auf. „Wieso?“, fragte Ivory. Die Mutantin sah sie an. „Weil ich es wissen will … Ich will es hören.“ Noch immer zögerte Ivory, da ihr klar war, dass sie ohnehin schon durchschaut worden war. „Nein“, seufzte sie schließlich. „Ich hatte nicht einmal hierher gewollt. Ich hatte … Ich hatte keine große Wahl.“ „Ich weiß“, erwiderte Hozuka. „Ich habe davon gehört, dass En …“ Sie brach ab. „Nicht alle“, antwortete Ivory. „Nur … manche, wenn der Eingriff …“ Wieder seufzte sie. „Na ja, bezahlt wurde.“ „Warum bist du nicht nach Hause zurückgegangen?“ Erneut schwieg sie für einige Sekunden. „Ich bin von den UF abgehauen … Nach dem Massaker.“ Wieso erzählte sie ihr das? Wenn Hozuka wollte, konnte sie sie ausliefern, denn noch immer wurden Deserteure gesucht. „Oh“, war die einzige Antwort, die sie erst einmal bekam. Hozuka holte tief Luft und ließ sich dann neben sie gleiten, kuschelte sich jedoch an ihre Schulter an und strich über ihren Bauch, ehe sie ihre Hand zwischen Ivorys Brüsten ruhen ließ. „Ist es das, was dich bedrückt?“ Vorsichtig legte Ivory einen Arm um sie und sah sie für einen Moment an, ehe ihr Blick zu dem Fenster hinüber wanderte, dessen Glas halb abgedunkelt war. Dennoch konnte sie die Lichter des gegenüberliegenden Plex hindurch schimmern sehen. „Nein“, antwortete sie schließlich leise. Wenn sie ohnehin schon angefangen hatte zu reden. „Es ist … Ich habe heute die Nachricht bekommen, dass mein Vater vor einer Woche gestorben ist.“ Sie holte tief Luft. Nur schwer hielt sie ihre Stimme davon ab zu zittern. „Ich habe mit ihm nicht mehr gesprochen, seit ich die UF verlassen habe.“ Für einen Moment schwieg sie. „Meine Eltern durften nicht wissen, wo ich war. Ich wollte sie nicht in Gefahr bringen. Und jetzt wünschte ich, dass ich nur noch einmal hätte mit ihm sprechen können …“ Hozuka antwortete nicht sofort, sondern seufzte leise. „Ich verstehe …“ Sie zog die Decke etwas höher. „Du könntest zumindest mit deiner Mutter Kontakt aufnehmen, oder? Ich bin mir sicher … Nun, dass sie froh wäre, zu erfahren, dass du noch lebst …“ Darauf schüttelte Ivory nur den Kopf. „Ich kann nicht“, flüsterte sie. „Ich will sie nicht in Gefahr bringen. Und ich … Ich wüsste nicht, was ich ihr sagen sollte.“ Sie merkte, dass ihre Augen brannten, doch sie beherrschte sich. „Es ist zu spät.“ Schweigen. Für eine Weile war das einzige, was sie hörte, Hozukas Atem, bis sie wieder sprach. „Weißt du“, meinte die Mutantin leise, „mein Vater … Er wollte mich ausliefern, als ich dreizehn war. Ich bin weggelaufen und am Ende bei den Rebellen gelandet. Ich habe nicht mit gekämpft, aber sie haben mich beschützt …“ Sie lächelte bitter. „Ich habe mit meinen Eltern nicht mehr gesprochen, seit der Krieg begonnen hat. Sie haben mich verraten.“ Ein tiefes Seufzen. „Ich beneide dich beinahe. Immerhin hattest du ein gutes Verhältnis zu deinen Eltern, als du sie das letzte Mal gesehen hast.“ Noch immer sah Ivory aus dem Fenster. „Ja“, flüsterte sie dann und erinnerte sich an ihren Vater. Sie vermisste ihn. Was hätte sie nicht dafür gegeben, noch einmal mit ihm zu sprechen … Ihre ganze Kindheit lang war er für sie da gewesen. Sie war immer ein „Papa-Kind“ gewesen. Und jetzt würde sie ihn nie wieder sehen. „Ich denke schon …“ Am Ende konnte sie doch nicht verhindern, das eine einzelne Träne über ihre Wange rann. [DIE STADT – 2090] ------------------ Es regnete, als Ivory am Fuß des Centix stand. Ein letzter Schimmer des Tageslichts drang durch die Wolken und fiel auf DIE STADT, doch sie wusste, dass es schon sehr bald dunkel werden würde – nun, zumindest soweit wie es in DER STADT überhaupt dunkel wurde. Sie seufzte. In den letzten acht Jahren hatte sie sich so oft gewünscht, DIE STADT verlassen zu können, doch nun, da es soweit war, war das Gefühl seltsam. Sie wusste nicht, was in ihrer Zukunft lag, und sie war unsicher. Eigentlich war sie sich nicht sicher, warum sie noch einmal hierher gekommen war, doch es waren noch knapp drei Stunden, bis ihr Zug ging. Sie würde DIE STADT mit dem Zug verlassen, aber nach guten hundert Kilometern, wenn sie über die Landesgrenze war, würde sie den Flieger Richtung Nordosten nehmen. Sie würde nicht nach Scandia zurückkehren, aber zumindest in den Norden kommen. Auch wenn sie sich nach dem Kleinstadtleben zurücksehnte, würde es erst einmal nicht in Frage kommen. Es war leichter in einer Großstadt unterzutauchen und ebenso war es leichter dort an Arbeit zu kommen. Sie würde Arbeit brauchen, nicht nur, um sich selbst zu ernähren. Mit einem tiefen Atemzug sah sie sich noch einmal um. Es war seltsam, doch zumindest kam es ihr so vor, als hätte sie hier mehr Zeit verbracht, als in einer ihrer Wohnungen – sie war mehrfach umgezogen in den letzten paar Jahren. Sie war hier nicht „glücklicher“ gewesen, als irgendwo sonst in DER STADT, aber zumindest weniger einsam. Vielleicht war es nicht das richtige oder das beste für sie gewesen, sich mit kurzweiligen Bekanntschaften über die Einsamkeit hinweg zu trösten, doch es war ihr die meiste Zeit als das einfachste erschienen. Selbst jetzt konnte sie nicht wissen, wie es ihr in ihrer neuen Heimat ergehen würde. Sie konnte nicht einmal sicher sein, dass sie dort ankam. Vielleicht wurde sie auch vorher von den UF aufgegriffen, doch sie hoffte, dass sie ihre Reise gut genug geplant hatte und die falschen Identitäten, die sie benutzen würde, gut genug waren. Was blieb ihr auch anderes übrig? Sie konnte einfach nicht mehr hier bleiben! Auch in der neuen Stadt würde sie kein vollkommen geregeltes Leben führen können. Jedenfalls erst einmal nicht. In ein, zwei Jahren … Vielleicht … Auch wenn sie sich nicht sicher war, ob sie wirklich je ein geregeltes Leben würde führen können. Es war einfach zu lange her – sie hatte zu viel Zeit als Kriminelle gelebt. Doch bald würde sie nicht mehr allein sein. Unbewusst fuhr sie sich mit der Hand über den Bauch. Mit einem Blick zum Centix hinauf, drehte sie sich um und ging zur nächsten Straße. Mit ihrem Comm rief sie ein Taxi. Sie wäre gern noch einmal ins Shahara gegangen – auch weil sie den Luxus trotz allem genoss. Doch in den letzten Wochen hatte ihr Kreislauf immer wieder versagt, weshalb sie hatte verzichten müssen. So gab es hier nicht mehr viel zu machen. Sie sah auf das Comm, darauf wartend, dass das Taxi kam. Ein erneutes Seufzen. Ihre Sachen waren bereits vorweg geschickt worden, in ihre neue Wohnung. Sie hatte Leute bezahlt, diese bereits für sie einzurichten, so dass sie sich um nichts würde kümmern müssen, wenn sie in zehn, vielleicht zwölf Stunden dort ankam. Sie hatte im Moment nichts weiter dabei, als ihre Kleidung und die Sachen, die sie in ihrer Handtasche hatte. Noch immer hatte sie eine Pistole dabei – ohne fühlte sie sich nicht mehr sicher. Zu oft hatten Leute sie versucht auszurauben, umzubringen (und sei es nur um ihr eigenes Leben oder das ihrer Auftragsgeber zu verteidigen) und ihr Treffen mit David vor vier Jahren jagte ihr auch heute manchmal noch einen Schauer über den Rücken. Ein dunkler Elektrowagen mit einem leuchtenden Taxi-Schild auf dem Dach, während auch ihr Comm die Ankunft ihres Wagens mit einem Klingeln verkündete. Die Hintertür öffnete sich nach oben und mit einem kurzen Zögern stieg sie ein. Ganz traute sie auch Taxifahrern nicht. Noch weniger jedoch hatte sie Lust auf die U-Bahn, in der auch Kopfgeldjäger und anderer Abschaum unterwegs war. Niemand, der es sich leisten konnte, verwendete die öffentlichen Verkehrsmittel außerhalb der besseren Viertel und zum Bahnhof musste sie durch vier andere Viertel DER STADT durchfahren. „Wo soll es hingehen“, fragte der Fahrer und sah sie durch den Rückspiegel an. Er hatte dunklere Haut und einen kurzen, schwarzen Stoppelbart, so wie auch kurzes, krauses Haar. Er schien etwas kräftiger gebaut zu sein und leicht übergewichtig. Wie in DER STADT üblich, waren sein Platz und der Beifahrersitz von den anderen Plätzen des Fahrzeugs durch eine dicke Plasglasscheibe getrennt. „Fernbahnhof“, sagte sie nur. „In Ordnung“, erwiderte er und startete den Elektromotor. Es war für eine ganze Weile üblich in DER STADT gewesen, dass Taxis nur noch auf Autopilot fuhren, da es – zumindest in der Theorie – für die Unternehmen billiger war, als auch noch einen Fahrer zu bezahlen. Das war, bevor einige Leute darauf gekommen waren, wie sich die Autopiloten hacken ließen. Oft waren Taxis dann einfach verschwunden, waren wahrscheinlich in einer Garage in ihre Einzelteile zerlegt und als solche verkauft worden. Manchmal waren auch Fahrzeuge samt Insassen verschwunden, sei es, weil Snatcher aus einem oder anderen Grund Interesse an den Insassen hatten, oder, weil jemand dafür bezahlt hatte, dass diese Insasse verschwand. So oder so hatten viele Leute das Vertrauen in die Autopiloten verloren, nun einmal davon abgesehen, dass es für die Unternehmen teurer gewesen war, regelmäßig neue Taxis zu beschaffen und Wiedergutmachungen an etwaige Familien etwaig verschwundener Leute zu zahlen. So war nach etwa fünf Jahren auf Autopilot nach und nach jedes Unternehmen wieder zu menschlichen Fahrern zurückgekehrt. Diese waren, um etwaige Leute davon abzuhalten, die Taxientführung auf eine eher Lowtech Variante zu probieren, meist grundlegend kämpferisch ausgebildet und bis an die Zähne bewaffnet. Außerdem hatten die meisten Taxis eine Methode, die Passagierkabinen mit Betäubungsgas zu fluten. Gedankenverloren sah Ivory aus dem Fenster, während sich das Taxi durch den zähen Verkehr DER STADT bewegte. Es war diesen Dezember erstaunlich kalt geworden, wenngleich die Temperaturen noch immer um die zehn Grad verharrten. Dennoch sah sie viele Bewohner, die sich etwaige Bürgersteige, Überführungen oder Glastunnel entlang drängelten, in Mänteln und ungewohnt fester Kleidung. Auch sie selbst trug einen weißen Ledermantel, dunkle Lederstiefel und eine relativ feste, schwarze Hose. Doch während es den anderen wohl eher um Schutz vor dem ungewöhnlich kühlen und feuchten Wetter ging, trug sie den Mantel vorrangig aus einem anderen Grund. Umsonst, wie es schien. Sie fuhren vielleicht viertel Stunde und standen nun seit mindestens fünf Minuten in einem Stau vor einem Tunnel, als der Fahrer – der Bestätigung auf ihrem Comm nach war sein Name Pajil – erneut die Stimme erhob. „Sie sind schwanger?“, fragte er. Ivory schreckte aus ihren Gedanken auf. „Was?“ „Entschuldigen Sie, wenn ich zu dreist bin“, erwiderte er. „Es ist nur die Art, wie sie sich halten …“ Kurz zögerte Ivory. Sie hatte sich bemüht den Bauch durch den eher weiten Mantel zu verstecken. Vorrangig jedoch aus Paranoia vor etwaig zwielichtigen Gestalten. „Ja“, erwiderte sie kurz angebunden. „Sie haben Recht.“ Der Mann warf ihr kurz ein Lächeln über den Rückspiegel zu, ehe sich das Taxi für vielleicht zwei Meter voran bewegte, ehe es – wie alle anderen Fahrzeuge auch – erneut zum Stehen kam. „Entschuldigen Sie bitte wirklich, wenn ich Ihnen zu nahe getreten bin“, meinte er. Seufzend schüttelte sie den Kopf. Es war seltsam diese Unterhaltung zu führen, während seine Stimme vorrangig über die Sprechanlage des Fahrzeugs kam. „Schon in Ordnung. Ich dachte nur, ich hätte es besser verborgen.“ „Ach, wissen Sie“, meinte er, „ich weiß einfach, wonach ich schauen muss. Ich habe drei Kinder mit meiner Frau, müssen Sie wissen.“ „Ah“, murmelte Ivory, da sie nicht wirklich wusste, was sie sonst erwidern sollte. Sie kannte niemanden, der Kinder hatte – jedenfalls niemanden, von dem sie es wusste. Nun, sie hatte auch jetzt noch kaum dauerhafte Bekanntschaften in DER STADT. Doch selbst bei ihren nächtlichen Bekanntschaften hatte sie normaler Weise – sofern sie es hatte sagen können – versucht Leute zu umgehen, die in einer Beziehung oder gar einer Beziehung mit Kindern waren. Sie hatte allerdings auch nie nachgefragt. Wieder bewegte sich der Verkehr ein wenig. „Ist es Ihr erstes Kind?“, fragte der Fahrer. „Ja“, erwiderte sie und strich noch immer halb in Gedanken über ihren Bauch. Manchmal konnte sie das Kind schon spüren, auch wenn sie erst im fünften Monat war. Beinahe rechnete sie mit einer Frage zu ihrem Status als En, da sie solche in den vergangenen Wochen, wann immer es jemand gemerkt hatte, schon mehrfach gehört hatte. Doch sie irrte sich. „Dann sind Sie jetzt auf den Weg zu ihrer Familie?“, spekulierte Mr. Pajil stattdessen. Ivory zwang sich zu einem Lächeln. „Ja.“ Sie würde die Wahrheit sicher keinem Fremden erzählen. Die Wahrheit war, dass sie das Kind auf keinen Fall in DER STADT zur Welt bringen wollte. Als sie sich dafür entschieden hatte, das Kind auszutragen, hatte sie gewusst, dass sie nicht hier bleiben konnte. Das Kind war zum Teil En und sie wusste bereits von den Ärzten, dass es ein Mädchen sein würde. „Der Vater kommt nach?“, fragte der Fahrer weiter. „Nein.“ Sie schüttelte den Kopf. „Ich … Glaube nicht, dass er wirklich Interesse an dem Kind hat.“ Natürlich war auch das gelogen – wenn nur halb. Die Wahrheit war, dass sie nicht mit Sicherheit sagen konnte, wer der Vater war. An die meisten Männer, mit denen sie nur eine Nacht verbracht hatte, verschwendete sie keinen zweiten Gedanken, wohl wissend, dass es andersrum nicht anders sein würde. Allerhöchstens würden sie später damit prahlen eine En gefickt zu haben – was ihnen etwaige Kollegen oder Kumpel vielleicht, vielleicht auch nicht glauben würden. Sie konnte nicht einmal sicher sagen, wie es passiert war. Sie nahm Hormone zur Verhütung und benutzte meistens zumindest Kondome. Allerdings wusste sie auch, dass keine Methode zu hundert Prozent Sicherheit geben konnte. Vielleicht hatte man irgendwann einfach „Pech“. „Oh“, meinte der Fahrer. „Das tut mir Leid.“ Endlich bewegte sich der Verkehr wieder etwas mehr. Vielleicht hatten sie die Engstelle, wie auch immer sie entstanden war, durchquert. „Das muss es nicht“, erwiderte Ivory mit einem Schulterzucken und sah auf ihr Comm. Sie hatte noch mehr als genug Zeit. „Ich habe es nie erwartet.“ Für einen Moment schwieg der Fahrer, während er das Taxi auf eine andere Fahrbahn lenkte. „Nun, es steht mir natürlich nicht zu darüber zu urteilen. Aber Kinder können anstrengend sein, wissen Sie? Nicht allein damit zu sein … Ich meine, es würde dadurch sicher leichter.“ Erneut zuckte Ivory mit den Schultern. „Wer sagt, dass ich alleine bin?“ „Oh“, war erneut die Antwort. „Entschuldigen Sie …“ Es war klar, dass er sich schwer tat mit der Vorstellung, dass ein Kind von jemand anderen als Mutter und Vater großgezogen wurde. Dagegen kam Ivory diese Vorstellung beinahe seltsam vor. Sicher, wo sie hergekommen war, war es meistens ebenso gewesen. Nun, nicht immer Mutter und Vater. Vater und Vater, Mutter und Mutter, Alleinerziehende und manchmal auch etwas andere Zusammenstellungen. Dennoch hatten sich gerade in den Kleinstädten einige Leute schwer getan, mit manchen Modellen. Vor allem, wenn das Kind auf „natürlichem Wege“ entstanden war. Doch da diese Menschen auch oft über En die Nase gerümpft hatten – gerade weil sie doch „unnatürlich“ waren – hatte Ivory sich nie groß für diese Menschen interessiert. Ihr Vater hatte ihr immer gesagt, sie solle nicht darauf hören, und das hatte sie dann auch getan. Hier in DER STADT, aber auch anderen Metropolen, wo die moderne Technik so verbreitet und zugänglich war, wo Menschen aus verschiedenen Kulturen zusammenkamen und sich eine komplett eigene Gesellschaftskultur gebildet hatte, war es jedoch anders. Gerade in den von moderner Technik geprägten Vierteln waren alte Vorstellungen von Moral und Ethik schon lange vergessen. Wenn genetische Veränderungen zum Alltag gehörten, in einigen Kreisen sogar über Klontechnik geredet wurde, En und mittlerweile auch Mutanten fast täglich zu sehen waren, dachten viele Leute nicht mehr über die alten Konstrukte nach. Doch natürlich gab es selbst hier Menschen, die lieber alte Traditionen und Ansichten pflegten und vielleicht stand es ihr einfach nicht zu darüber zu urteilen. Sie musste nicht auf sie hören. Einzig jene, die meinten, aufgrund dieser Ansichten Mutanten, En oder sogar Opt zu überfallen und gar zu töten … Leider gab es immer wieder solche Fälle, von denen man hörte. Wenn solche Leute in Folge dessen von einem ihrer Opfer umgebracht wurden, dann hatten sie es – wenn man Ivory fragte – verdient. Der Fahrer sprach für eine ganze Weile nicht mehr, während sich der Verkehr nun etwas flüssiger bewegte. Sie fuhren durch eine der Häuserschluchten einer der ärmeren Viertel, das sich von den besseren Vierteln vorrangig dadurch unterschied, dass es dreckiger war und die Hochhäuser näher beieinander standen. Natürlich war auch der Baustil etwas anderes, denn während sich die Plexe wie das Centix durchaus unterschieden und mit Glasfassaden und ähnlichem verziert waren, sahen die Häuser hier beinahe identisch aus. Betonklötze mit dreißig oder mehr Stockwerken, zu erkennen an den Reihen um Reihen verdreckter Fenster, die sich oft nicht öffnen ließen. Wohnungen hier waren billig, aber entsprechend billig waren die Häuser auch gebaut. Zumindest waren sie stabil genug, dass man sie als sicher bezeichnen konnte. Von dem was Ivory über die Armengegenden in anderen Städten gehört hatte, war es mehr, als man über einige andere sagen konnte. Sie seufzte und holte erneut ihr Comm raus. Sie hatte eine neue Nachricht von Hozuka. Ihre Augen flogen über den Text, ehe sie das Comm mit einem Lächeln und einem Seufzen wieder in ihre Manteltasche steckte. „Wo geht es denn nachher genau hin?“, fragte der Taxifahrer schließlich, während sie vor einer Ampel standen. „Nach Norden“, erwiderte Ivory, sich wohl dessen bewusst, dass es keine genaue Aussage war. Doch noch immer war sie paranoid bezüglich der UF und wollte vor allem vermeiden, dass sie herausfanden, wo sie war. Sicher, einfacher wäre es gewesen, wäre sie nach Süden gegangen, wo die UF nach wie vor wenig Einfluss hatten, aber gab es im Süden auch keine Metropolen, die mit denen im Norden vergleichbar waren, und damit für jemanden wie sie auch wenig Arbeit. Erschwerend kam hinzu, dass in vielen der südlichen Länder die medizinische Versorgung mit jener im Norden nicht vergleichbar sein. Sie sorgte sich so schon genug über die Geburt, dass sie sich darüber nicht auch noch Gedanken machen wollte. „Weit nach Norden? Oder bleiben Sie in der Nähe?“, wollte Mr. Pajil wissen. „Weit genug, als dass die Winter kälter sind“, erwiderte sie mit einem matten Lächeln, ehe sie wesentlich leiser hinzufügte: „Aber daran bin ich gewöhnt …“ Sie glaubte nicht, dass er es gehört hatte. „Dann hoffe ich, dass sie warme Kleidung eingepackt haben“, scherzte er halbherzig. Ivory zuckte mit den Schultern. „Es gibt genug Zuhause.“ Immerhin blieb sie bei der Geschichte, dass sie zu ihrer Familie fuhr. Wie sehr sie sich doch wünschte, dass es die Wahrheit wäre … „Oh, natürlich …“ Wieder verstummte er. In der Ferne kam der Bahnhof in Sicht. Nun, noch nicht das Gebäude selbst, sehr wohl aber die mit Glas umschlossenen Magnetgleise, die auf Stelzen aus der Stadt herausführten. „Nun, es sieht aus, als wären wir gleich da“, meinte der Fahrer. Ivory erwiderte nichts. Natürlich dauerte es doch noch eine Weile, bis sie tatsächlich in das Parkhaus neben dem Bahnhof erreichten. „Ich wünsche Ihnen eine gute Weiterreise“, meinte Mr. Pajil. „Und natürlich dass alles gut geht, für Sie und Ihr Kind.“ „Danke“, erwiderte Ivory und rief das AR Feld auf um zu bezahlen. „Vielleicht findet sich ja doch noch jemand“, sagte er, als sie die Tür öffnete, woraufhin sie nur mit den Schultern zuckte. „Vielleicht.“ Sie stieg aus und sah zu, wie das Taxi fortfuhr, ehe sie sich durch die unterste Ebene des Parkhauses auf den Weg zu den Aufzügen machte, die sie auf die Ebene des Bahnhofs bringen würden. Sie hatte noch immer etwas mehr als eine Stunde, bis ihr Zug fahren würde. Das hieß noch etwa eine dreiviertel Stunde, bis sie durch die Sicherheitskontrolle musste. Genug Zeit um noch etwas zu essen. Erneut strich sie gedankenverloren über ihren Bauch, während sie auf den Aufzug wartete. In der letzten Zeit hatte sie mehr Hunger – aber die Ärzte hatten ihr gesagt, dass dies ein gutes Zeichen war. Der Aufzug kam und keine fünf Minuten später, saß sie in einem der zumindest etwas besseren Imbisse des Bahnhof, wo sie ein wenig Reis mit Fleisch aß, während sie einen süßen Sodadrink trank. Ihr war danach gewesen und das Essen war angenehm scharf. Ihr Comm lag auf den Tisch, während sie eben noch eine Nachricht von Hozuka beantwortet hatte. Zumindest konnte man sich im Fernbahnhof halbwegs sicher fühlen, da dieser aus Angst vor terroristischen Attentaten immer stark gesichert war. Allein seit sie hier saß hatte sie zwei Sicherheitsleute vorbeilaufen sehen. Die Identitäten eines jeden, der das Gebäude betrat, würden gescannt werden, auch wenn man sich mithilfe gefälschter Dokumente fraglos hineinschleichen konnte. Zumindest hatte noch niemand versucht sie festzunehmen. Sie aß in Ruhe und hatte die Plastikschüssel beinahe geleert, als sie eine vertraute Stimme hörte. „Doch noch geschafft …“ Mit einem Seufzen ließ sich Hozuka auf den metallenen Hocker neben ihr fallen. Der Tisch an den Ivory saß war ebenfalls aus irgendeinem billigen Metall, wie in vielen dieser Imbisse üblich. Der Laden war viel zu hell ausgeleuchtet – wahrscheinlich, um über etwaige Unsauberkeiten hinweg zu täuschen. Das Menü wurde nur im AR angezeigt, wie es bei vielen Imbissen üblich war, und die Warenausgabe war automatisiert. Es war erstaunlich leer – jedenfalls für die Zeit, da bald einige Nachtbusse fahren würden – doch zumindest hieß es weniger unwillkommene Blicke. „Tut mir leid für die Verspätung“, meinte Hozuka. Ihr Tattoo hatte sich, wenn man so wollte, in den letzten zwei Jahren nur noch weiter ausgebreitet und war mittlerweile sogar an ihrem Nacken zu sehen, da sie die Haare am Hinterkopf eher kurz trug, sich jedoch noch genug Haare vorne gelassen hatten, als dass sie diese als zwei Strähnen hinter ihre Ohren streichen konnte. Wieder zuckte Ivory nur mit den Schultern. „Nicht schlimm.“ Hozuka trug erneut schwarz. Eine Lederjacke, die sich an an ihren Körper anschmiegte und ihre Taille sehr gut betonte.„Hoffe ich ja“, erwiderte sie mit einem müden Lächeln und gähnte. „Riecht gut“, kommentierte sie dann und schnupperte. „Ich glaube ich hole mir auch noch etwas. Ich verhungere …“ Für einen Moment zögerte. „So viel Zeit ist noch, oder?“ Ivory sah auf das Comm. „In zwanzig Minuten sollte ich zum Gleis.“ „Also reicht es noch“, schloss Hozuka. „Soll ich dir noch was mitbringen?“ „Gerne“, erwiderte Ivory. „Danke.“ Mit einem matten Lächeln sah sie zu, wie Hozuka wieder aufsprang und zur Ausgabe ging. Es war die längste Beziehung irgendeiner Art, die sie gehabt hatte, seit sie in DIE STADT gekommen war. Wenngleich sie sich nicht als Paar sahen. Doch zumindest wusste Hozuka, wer sie war, und mittlerweile auch, was sie tat. Sie war an ihrer Seite geblieben und das war etwas, das Ivory mehr als alles andere schätzte. Sie war nicht mehr allein. Und bald … Sie legte eine Hand auf ihren Bauch, der in den letzten Wochen schon deutlich runder geworden war. „Hier“, meinte Hozuka, als sie nach vielleicht zwei Minuten mit einem Tablett zurückkam. „Danke“, sagte Ivory noch einmal und nahm sich eine der Plastikschalen. „Und? War es auf der Arbeit wirklich so schlimm?“ „Schlimm genug“, grummelte Hozuka. „Dieser Martin kann seine Klappe einfach nicht halten.“ Sie bezog sich auf einen Kollegen an ihrer Firma, der eine deutliche Meinung zu Mutanten hatte. Wie so viele andere auch … „Na ja, noch sechs Wochen …“ Sie zuckte mit den Schultern. „Ich würde ihm nur so gern einmal …“ Sie ballte eine Faust, sprach aber nicht weiter. „Ich weiß, ich weiß“, meinte Ivory und legte ihr kurz eine Hand auf die Schulter. „Denk nicht zu viel drüber nach.“ Hozuka verdrehte die Augen. „Ich kann für nichts garantieren.“ So ging es noch für eine Weile, während sie aßen. Das Essen war sicher nicht „gut“, aber zumindest würzig genug, um andere offensichtliche Probleme hinweg zu täuschen. Zugegebener Maßen war Ivory froh, dass Hozuka es noch geschafft hatte. Es wäre seltsam gewesen, sie nicht mehr gesehen zu haben … Doch die Zeit verging nun schnell und sie wusste, dass sie den Zug nicht verpassen durfte. „Wir sollten“, meinte sie mit Blick auf ihr Comm. Hozuka seufzte. „Ich weiß.“ Für einen Moment sah sie Ivory mit einem seltsamen an, stand dann aber auf. „Dann lass uns gehen.“ Dank der erhöhten Sicherheit war es Standard, dass Reisende sich vor Antritt der Reise einer Sicherheitskontrolle unterziehen mussten, was je nachdem ein paar Minuten bis eine Viertelstunde dauern konnte. Die Kontrolle fand am Zugang zum Hub statt – der Halle, von der aus die Treppen zu den eigentlichen Gleisen führten. Hier gab es mehrere nebeneinander gelegene Schleusen aus Plasglas, durch die jeder Reisende musste. Daten wurden überprüft, das Handgepäck ebenfalls durchleuchtet. Nicht, dass es als wirklich schwer galt, etwaige Waffen oder Sprengstoffe hindurch zu schmuggeln – zumal einfache Handfeuerwaffen mit entsprechenden Lizenzen erlaubt waren. „Dann …“, murmelte Hozuka, als sie sich in die recht kurze Schlange vor der Kontrolle einreihten. „Du musst nicht mit durch kommen“, meinte Ivory. „Es sind eh nur noch fünfzehn Minuten.“ „Ich weiß“, seufzte Hozuka. „Dann … Ja …“ Die Schlange bewegte sich etwas weiter nach vorne. „Wir sehen uns in sechs Wochen“, sagte Hozuka schließlich. „Sieh zu, dass du … Dass ihr in einem Stück ankommt.“ Sie warf einen kurzen Blick zu Ivorys Bauch. „Sieh zu, dass du in sechs Wochen noch lebst“, erwiderte Ivory sanft und küsste sie auf die Stirn. „Was soll mir schon passieren?“, meinte Hozuka, während sich die Schlange erneut etwas weiter bewegte. „Es gibt noch immer genug Verrückte hier“, flüsterte Ivory. „Und ich will dich noch einmal sehen.“ „Ich passe schon auf mich auf“, erwiderte die andere und streckte sich kurz, um Ivory auf die Wange zu küssen. „Mach nur keine Dummheiten“, flüsterte sie dann in ihre Ohren. „Sicher …“ Die letzte Person vor Ivory ging durch die Absperrung, wo ein Sicherheitsbeamter ihn noch einmal eindringlich musterte. „Wir sehen uns in sechs Wochen“, meinte sie dann. Hozuka nickte und griff noch einmal nach ihrer Hand, um sie zu drücken. „Ja.“ Sie seufzte. „Bis dahin.“ Dann machte sie einen Schritt zurück, während Ivory ihre Handtasche auf das Förderband nehmen der Schleuse legte und selbst in die Schleuse trat. Noch einmal drehte sie sich um und hob die Hand, während auch Hozuka winkte, ehe sie sich dem Sicherheitsbeamten zuwandte. Etwas nervös war sie schon, ob die falsche Identität ausreichen würde. „Sie haben eine Waffe?“, fragte der dunkelhäutige Mann. „Ja“, erwiderte sie. „Selbstverteidigung. Ich habe alle nötigen Lizenzen.“ Der Mann schwieg für einen Moment, ohne Frage um ihre Daten im AR durchzuschauen. „Ich verstehe.“ Er nickte. „Es scheint alles in Ordnung zu sein.“ Die zweite Schleusentür öffnete sich. „ich wünsche ihnen eine gute Reise.“ Er ließ sie aus der Schleuse austreten. „Vielen Dank“, erwiderte sie und versuchte ihre Erleichterung zu verbergen. Hinter der Schleuse nahm sie ihre Handtasche vom Förderband. Noch einmal drehte sie sich zu, um Hozuka einen letzten Blick zuzuwerfen, ehe sie sich auf den Weg zu ihrem Gleis machte. Es war nicht lang. Bald würde Hozuka nachkommen. Wenn alles gut ging. Wer konnte das schon wissen? Doch sie hatte die Stadt für acht Jahre überlebt. Was sollte nun schon noch passieren? Es konnte – so dachte sie sich – nur besser werden. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)