Two sides of the same coin von Yamiku (Aftermath) ================================================================================ Kapitel 1: Aftermath -------------------- „Meine Mutter hat immer gesagt, man muss ein Pflaster abreißen, damit der Schmerz schneller vergeht.“ Die Erwähnung seiner Mutter brachte dem Älteren einen zweifelnden Blick der tiefblauen Augen seines Gegenübers ein. Er war sich offenbar darüber im Klaren, wie viel sie ihm bedeutete und noch immer bedeutet. Dass er sie niemals leichtfertig, wenn überhaupt erwähnte und dass er es nun, ihm gegenüber und in dieser prekären Situation tat, verschaffte ihm offenbar das Gehör, dass er sich erhofft hatte. Der Andere schwieg, den Blick noch immer auf ihn gerichtet, der sich tief in seine Seele zu bohren schien. Ihm war bewusst, dass er kein offenes Buch war. Dass Charles nicht bis auf den Grund seiner tiefschwarzen Seele blicken konnte. Immerhin konnte er keine Gedanken lesen, auch wenn dessen offenbar angeborene Empathie oft den Anschein erweckte. Dennoch fühlte er sich unter diesem durchdringenden Blick vollkommen entblößt. Als gäbe es keine Kleidung, die seine Haut bedeckte und was noch viel schlimmer war, keinen Nebel, der seine Geheimnisse unter sich begrub. Nackt im hellen Licht, vollkommen wehrlos dem anderen ausgeliefert. Kaum merklich musste er bei dem Gedanken daran schlucken und atmete tief durch. Das war einer der Gründe… Nein, es war der Hauptgrund, wenn nicht sogar der einzige, dafür, warum er ihm aus dem Weg gegangen war. Der Grund dafür, ihn von sich zu stoßen so weit wie nur irgend möglich. Diese Nacktheit, diese Verletzbarkeit. Sie war nur schwer zu ertragen. Jahrelang hatte er daran gearbeitet, sich von Emotionen loszusagen, die ihn vereinnahmten. Mauern hochzuziehen, die niemand erklimmen konnte und schaffte er es dennoch, auf der anderen Seite in einen tiefen Graben stürzte und sich das Genick brach. Jahrelang hatte es funktioniert. Wunderbar funktioniert und dann traf ihn dieses Licht. Dieser Mensch, der es, ohne dass er es anfangs bemerkte, geschafft hatte, diese Mauern zu umgehen. Durch sie hindurch zu schreiten, als wäre sie überhaupt nicht da und in etwas einzudringen, das niemand mehr zu Gesicht bekommen hatte, nachdem all diese tragischen Geschehnisse sein Leben gezeichnet hatten. Es war irritierend. In höchstem Maße und was noch viel schlimmer war, es alarmierte seinen Selbstschutz. Es vergingen einige Sekunden in denen er in diesem tiefen Blau versank, ehe er wieder die Stimme erhob. „Nun… ich denke, sie hat sich diesbezüglich geirrt.“ Skepsis traf ihn. Skepsis und tiefes Unverständnis. Als er einen Schritt auf den Kleineren zumachte, hob dieser abwehrend seine rechte Hand, sorgte dafür, dass er inne halten musste und erneut ansetzen wollte etwas zu sagen, bevor ihm sein Gegenüber in harschem Ton über den Mund fuhr. „Du vergleichst mich allen Ernstes mit einem Pflaster, Erik?“ Erneut öffnete der Ältere seinen Mund, was ihm einen entnervten Blick gefolgt von einem ebenso unbegeisterten Geräusch einbrachte, das über die Lippen des Dunkelhaarigen kam, als er den Kopf schüttelte und die Hand senkte. „Du hast mit mir gespielt, mich ausgenutzt und mit meiner Schwester geschlafen. Mit meiner kleinen Schwester, Erik. Verflucht nochmal!“ Geräuschvoll atmete er aus, bevor er laut begann zu lachen. Nicht das fröhliche Lachen, an dem Erik Gefallen gefunden hatte und das es aus irgendeinem Grund immer geschafft hatte, ihn selbst mit einem positiven Gefühl zu segnen, sondern eines, das ihm das Blut in den Adern gefrieren ließ und dafür sorgte, dass sich sein eigener Blick verfinsterte, seine Mimik so zeichnete, als hätte man ihm gerade ein Messer in den Rücken gejagt. „Du hast meine Freundlichkeit missbraucht, dich an meinem Körper bereichert und mich danach weggeworfen wie ein altes Paar Socken und dann besitzt du allen Ernstes die Dreistigkeit, hier aufzutauchen? Nach all den Wochen und Monaten in denen ich mir den Kopf darüber zerbrochen habe, warum das alles passiert ist. Warum ich es nicht habe kommen sehen. Warum ich so verdammt blind war. Warum du so ein gottverdammtes Arschloch bist.“ Die Stimme des dunkelhaarigen Mannes wurde immer lauter je länger er sprach. Er hatte die knappe Distanz zwischen sich und dem Eindringling seines Wohnhauses durch energische Schritte so sehr verkürzt, dass er ihn am Kragen packte und ihm quasi direkt ins Gesicht schrie, während er ihn etwas zu sich nach unten zog, um den Größenunterschied auszugleichen. „Du bist ein egoistisches, feiges, verlogenes Arsch, Erik! Du hast mich weggeworfen und fast die Beziehung zwischen mir und meiner Schwester zerstört.“ Charles war in Rage und schien noch einiges mehr loswerden zu wollen, jetzt wo er die Gelegenheit hatte, das vermeidliche Arsch persönlich zusammen falten zu können, was er, wenn man dem festen Griff des Stoffes in Eriks Rollkragenpullover Glauben schenken konnte, nicht nur verbal vorhatte. Seine Wut allerdings schien nicht groß genug zu sein, seine guten Manieren unter sich zu begraben, als die ältere Frau aus der Wohnung schräg gegenüber ihre Türe öffnete, um den Kopf hinaus in den Flur zu strecken und den beiden Herren einen entnervten Blick zuzuwerfen. Sie räusperte sich, um sicherzustellen, genügend Aufmerksamkeit zu erhaschen und erhob dann ihre Stimme, die laut genug durch den kargen Flur hallte, um dafür zu sorgen, dass Charles leicht zusammenzuckte. „Würde es ihnen etwas ausmachen ihre Gesprächslautstärke ein wenig zu verringern? Ich würde ungerne meine positive Meinung über Sie revidieren müssen, Herzchen!“ Reflexartig ließ der Angesprochene seine Hände von dem weichen Stoff sinken, trat etwas von seinem ungebetenen Gast zurück und verzog sichtlich die Lippen, bevor er der älteren Dame ein warmes Lächeln schenkte und leicht verlegen mit den Händen gestikulierte. „Entschuldigen Sie bitte, Mrs. Wallace. Ich wollte Sie wirklich nicht stören. Es wird sicher nicht wieder vorkommen.“ Nach einem verständnisvollen Nicken und einem prüfenden Blick auf den Unbekannten in ihrem Hausflur, verschloss sie ihre Türe und ließ die beiden anderen allein zurück. Kaum waren sie wieder unbeobachtete, schenkte der Lockenschopf seine ungeteilte Aufmerksamkeit dem Mann, der nicht nur sein Herz, sondern nun auch noch seinen Wohnraum okkupierte. Ohne ihm auch nur die geringste Chance auf Gegenwehr zu lassen, umfasste er mit festem Griff sein Handgelenk und zog ihn hinter sich her den Flur entlang und durch die Türe seiner Wohnung, die er hinter ihnen geräuschvoll ins Schloss fallen ließ, nachdem er Erik schwungvoll vor sich ins Wohnzimmer befördert hatte. Vermutlich hätte der Ältere zu jeder anderen Gelegenheit die Chance genutzt, das Chaos zu kommentieren, das er in den Räumlichkeiten vorfand, in die er so unsanft geschoben wurden war, konnte allerdings keinen großartigen Gedanken an den Bücher- und Zettelberg verschwenden, der sich auf Sofa und Wohnzimmertisch befand, spürte er doch zu deutlich den stechenden Blick des hiesigen Bewohners in seinem Nacken. Langsam drehte er sich um, darauf gefasst einer erneuten Hasstirade ausgesetzt zu werden, wurde allerdings von einem Bild begrüßt, das weitaus beunruhigender war. Charles schwieg, hatte die Hände zu Fäusten geballt und stand inmitten des kurzen Flures, den Blick auf ihn gerichtet, während Tränen in schmalen Rinnsalen über seine leicht geröteten Wangen nach unten liefen und sich an seinem Kinn sammelten, um tropfenweise von der Haut abzuperlen und mit kaum hörbarem Geräusch auf den Holzboden zu fallen. Erneut musste Erik schlucken, konnte diese Szene nur schwer verarbeiten und musste sich dazu zwingen nicht wegzusehen. Alles in ihm zog sich zusammen, sorgte für einen stumpfen, stechenden Schmerz in seiner Brust. Was hatte er bloß getan? Wie war es überhaupt möglich gewesen, dieses unschuldige, naive, immer fröhliche Wesen auf derartige Weise zu deformieren? Seine Lippen presste er zu einem schmalen Streifen aufeinander. Charles war wie Licht. Klares, warmes, alles durchdringendes Licht. Freundlich, verständnisvoll, hilfsbereit. Alles einnehmendes, reines Licht. Egal wie sehr die Welt um ihn herum auch in Dunkelheit versank, niemals erlosch es. Und nun… Nun schien es zu flackern. Angeschlagen, beschmutzt und er war daran schuld. Er und die Dunkelheit, die in ihm tobte. Die Dunkelheit, die ihn eingeholt, übermannt und dafür gesorgt hatte, dass er ihr ohne Gegenwehr verfallen war. Er hatte seine Finger ausgestreckt, sie in dem klaren Weiß gebadet und dunkle Fingerabdrücke zurückgelassen. „Es tut mir Leid, Charles…“ Begann er, nach endlos scheinenden Sekunden in denen keiner der beiden etwas gesagt hatte. „ Es… tut mir wirklich wahnsinnig Leid, was ich dir angetan habe.“ Wieder dieses unterdrückte Lachen, gefolgt von einem Kopfschütteln, das dafür sorgte, dass einige der Tränen einen weiteren Bogen flogen, bevor sie auf den Fußboden regneten. „So, es tut dir also Leid!?“ Der sarkastische Ton bohrte sich in das Gehör des Blondhaarigen, ließ ihn daran zweifeln, ob dieser Besuch die beste Idee gewesen war, die er hätte haben können. Vielleicht wäre es besser gewesen, den Anderen für alle Zeit in Ruhe zu lassen. Ihn seine Wunden lecken und sie heilen zu lassen ohne sie offenbar durch seine bloße Anwesenheit erneut aufzureißen. „Was genau tut dir Leid, Erik? Dass du mich bloßgestellt hast? Dass du mich gefickt hast oder vielleicht dass du Raven… “ Charles presste die Lippen aufeinander, gab ein verächtliches Schnauben von sich, wollte offenbar die Sache mit seiner Schwester nicht mit diesen vulgären Worten bedenken. „Es tut mir Leid, tut mir wirklich wahnsinnig Leid, dass ich auf deine Entschuldigung pfeife und was mir noch viel mehr Leid tut ist der Fakt, dass ich dir vertraut habe. Ich habe dir vertraut und du hast mich verraten und das schlimmste daran ist, dass ich dich nicht einmal hassen kann. Ich habe es versucht, habe so verdammt lange versucht dich zu hassen und obwohl du es mir nicht wirklich schwer gemacht hast, konnte ich es nicht. Obwohl mein Verstand dich verflucht für alles, was du mir angetan hast, hält mein gottverdammtes Herz noch immer an dem Gedanken fest, dass es irgendeinen Grund dafür geben muss. Irgendeinen Grund, dass du dich verhalten hast wie das Monster, von dem du so oft gesagt hast, dass du es bist, von dem ich nie geglaubt habe, dass es existiert…“ Für einen Moment stoppte der Dunkelhaarige, atmete tief durch und versuchte sich wieder zu fangen, schien er kurz davor zu sein, Erik erneut an die Gurgel zu gehen. „Ich hätte es besser wissen müssen. Vielleicht war ich einfach blind. Vielleicht hattest du Recht und ich bin zu naiv, sehe nur das Gute und versuche mich daran fest zu krallen.“ Sichtlich verzog der Größere die Lippen, betrachtete den aufgewühlten Mann vor sich und wollte in diesem Moment nur eines, ihn umarmen. Egal wie sehr die Stimme in seinem Kopf schrie, er solle verschwinden, ihn sein Leben leben lassen, er konnte nicht. Nein, er wollte nicht. Charles hatte Recht. Er war ein Egoist. Ein feiger Egoist. Vermutlich hatte der junge Mann mit mehr Recht, als es ihm Erik zugestehen wollte. Fakt war er hatte Mist gebaut. Riesengroßen Mist und zwar mit vollkommener Absicht. Trotz dieser Absicht allerdings hatten seine Aktionen etwas in ihm zerstört bei dem er sich überhaupt nicht bewusst war, dass es existierte. Das ganze Jahr über hatte er sich den Kopf darüber zerbrochen, was schief gelaufen war. Warum ihn nicht befriedigt hatte, die Dunkelheit über sich triumphieren zu lassen. Warum er keinen Gefallen mehr an den belanglosen Bettgeschichten gefunden hatte, die folgten, um sich selbst abzulenken oder vielleicht um sich selbst etwas zu beweisen. Das Einzige, was sie ihm klargemacht haben war, dass er sich nach dieser Person verzehrte, die sein Innerstes so sehr eingenommen hatte. Je bewusster ihm diese Tatsache geworden war, desto weniger hatte er sich im Stande gefunden, mit einem anderen das Bett zu teilen, was so weit ging, dass er am Ende im wahrsten Sinne des Wortes nichts mehr zu Stande gebracht hatte. Dieses Versteckspiel musste aufhören. Auch wenn er sich keine Illusion machte, dass sein Gegenüber ihm jemals verzeihen, ihn jemals wieder in sein Leben lassen würde. „Charles, ich…“ „Was willst du hier?“ Blinzelnd betrachteten die grau blauen Augen das funkelnde Saphirblau. „Du bist wohl kaum hier aufgekreuzt, um mir eine Anekdote über Verbandzeug zu erzählen. Also, warum bist du hier, Erik?“ Tief atmete der Angesprochene durch. Er hatte immer Gefallen an einem Schlagabtausch mit ihm gefunden, doch eher auf eine spielerische, intellektuelle Weise und nicht auf eine, die seine persönlichen Emotionen involvierte. Zumindest nicht, wenn es positive betraf. Aus diesem Grund viel es ihm auch nicht wirklich leicht, die richtigen Worte zu finden. Er wusste nicht einmal mehr, wie genau er sich vorgestellt hatte, dass dieses Gespräch weiter verlaufen würde, nachdem er diesen Pflaster ‚Vergleich‘ aufgestellt hatte. Tatsächlich war er nur auf selbigen gekommen, weil ihm die Worte seiner Mutter in den Ohren geklungen hatten, als er stundenlang auf seinem Bett gelegen und die Decke angestarrt hatte, nachdem er einen weiteren unglücklichen Versuch unternommen hatte, sich körperlich über den Verlust dieses Mannes hinweg zu trösten. ‘Pflaster muss man schnell abreißen, mein Schatz, damit der Schmerz nicht von Dauer ist. ‘ Hatte seine Mutter gesagt, als er mit Tränen in den Augen vor ihr gestanden hatte, nachdem sie ihm besagten Gegenstand von einer Wunde an seinem Ellbogen gerissen hatte. Sie hatte ein verständnisvolles Lächeln im Gesicht, als sie seinen Arm umfasst und sich vorgebeugt hatte, um leicht über die verletzte Stelle zu pusten. Es hatte Sinn für ihn gemacht, denn der Schmerz hatte nach wenigen Sekunden nachgelassen. Was ihm damals allerdings nicht hatte klar sein können, war der Fakt, dass man bei dieser Aktion nicht nur den Kleber, sondern ebenfalls etwas von der Haut mit abreißen konnte, was zu einer weiteren Wunde führte. Einer Wunde, die schmerzte, nur schwer verheilte und eine Narbe zurücklassen würde. Immer hatte er sein Leben nach diesem Pflaster ‚Prinzip‘ gelebt. Die Reißleine gezogen, bevor es für ihn Ernst werden, ihn ernsthaft verletzten konnte. So lange bis dieser dunkelhaarige Mann diese Weisheit Lügen gestraft hatte. „Du hattest und hast noch immer Recht, Charles.“ Fing er an, was ihm einen noch zweifelnderen Blick einbrachte, als bereits kurze Zeit zuvor. Er ließ allerdings nicht zu, dass man ihm ein weiteres Mal ins Wort fallen konnte und redete nach einem kurzen Moment, den er dafür nutze Luft zu holen, einfach weiter. „Ich war feige. Zu feige mir einzugestehen, was für eine Wirkung du auf mich hast. Ich war schon immer ein egoistisches Arsch, das sich genommen hat, was er wollte und gegangen ist, wenn er es bekommen hat. Ich wurde so oft in meinem Leben als gefühlloses Monster beschimpft, dass ich es gar nicht mehr zählen kann und ich fand es gut. Habe mich daran gewöhnt, es angenommen und damit gespielt. Ein Monster kann tun und lassen, was es will. Kann zerstören, ohne jemandem Rechenschaft zu schulden, weil es ein Monster ist.“ Mit einer fließenden Bewegung strich er sich einige der Haarsträhnen nach hinten, die ihm etwas die Sicht versperrten, bevor er die Hand wieder locker neben seinem Oberschenkel ruhen ließ. „Am Anfang habe ich geglaubt, dass du einfach nur ein naiver Trottel bist, der versucht sein idealisches Weltbild an mir zu beweisen, indem er die Bestätigung erhält, dass auch jemand, der so verkorkst ist wie ich, im Grunde ein guter Mensch ist.“ „Ich muss mich nicht in meiner eigenen Wohnung von dir beleidigen lassen.“ Fiel ihm Charles dann letztendlich doch noch ins Wort, bevor er die Arme vor seiner Brust verschränkte. „Wenn du nichts weiter zu sagen hast, geh!“ Diese Worte sorgten dann doch dafür, dass Erik das geringe bisschen Selbstbeherrschung, das ihm noch inne wohnte, verlor und er entschlossenen Schrittes auf den Anderen zuging, um knapp vor ihm stehen zu bleiben, seine Oberarme zu umfassen und ihn nach hinten gegen die Wand zu drücken. „Wenn du wirklich wissen willst, was ich zu sagen habe, dann lass mich ausreden!“ „Was ist, wenn es mich nicht interessiert?“ Entgegnete der kleinere schnippisch, der seinen Hinterkopf gegen die Wand gelehnt hatte und ihn nun prüfend betrachtete. „Wenn es dich nicht interessiert, warum hast du mich dann überhaupt in deiner Wohnung gelassen? Warum hast du mich gefragt, warum ich hier bin?“ Seine Stimme klang rau und gereizt als die Worte über seine Lippen kamen. „Du bist einfach vor meiner Tür aufgekreuzt und hast dafür gesorgt, dass ich meine Beherrschung verliere und dadurch obendrein noch meine Nachbarin aufwecke mit der ich immer ein gutes Verhältnis hatte.“ „Ich bin nicht derjenige, der im Hausflur geschrien hat.“ „Nein, du bist derjenige, der mich dazu gebracht hat. Also ist es deine Schuld.“ „Du kannst sicher verkraften, dass deine Nachbarin mitbekommen hat, dass du ein Mensch bist und nicht nur ein Roboter mit Manieren.“ „Höflichkeit macht mich nicht zu einem emotionslosen Roboter, du Arsch.“ Ein provokantes Lächeln zeichnete sich auf den Lippen des Blondhaarigen ab. „Oh, das war jetzt aber nicht sehr höflich, Charles.“ „Fick dich Erik!“ Das ‚Ich würde lieber dich ficken‘ konnte er sich wirklich nur mit Mühe verkneifen, wollte er nicht, dass diese Situation noch weiter eskalierte. Dafür war er nicht hergekommen. „Charles… “ Versuchte er stattdessen in ruhigerem Ton, woraufhin er nur ein Augenrollen kassierte. Davon unbeeindruckt versuchte er seine anfängliche Erklärung weiter auszuführen. „Es war falsch, was ich dir angetan habe. Es war falsch, was ich Raven angetan habe, nur um dich zu verletzen. Ich konnte nicht mehr klar denken. Egal, was du über mich erfahren hast, du hast mich nicht verurteilt. Im Gegenteil, du hast mich mit offenen Armen empfangen und an etwas geglaubt, von dem ich selbst nicht wusste, dass es noch existiert.“ Immerhin sorgten diese Worte dafür, dass sich der Körper seines Gegenübers etwas entspannte, auch, wenn sein Blick noch immer die Wut widerspiegelte, die in seinem Inneren tobte. Seufzend ließ er von ihm ab, trat einen Schritt zurück, um nicht weiter seinen persönlichen Raum einzunehmen. „Du bist in einen Bereich vorgedrungen, den ich niemandem mehr erlaubt habe zu betreten, seitdem meine Mutter gestorben ist. Ohne, dass ich es selbst gemerkt habe, hast du ihn betreten und besetzt und das obwohl ich immer alles dafür getan habe, jeden davon fern zu halten. Es hat mich eine gefühlte Ewigkeit gekostet, den Schmerz zu überwinden, den ihr Tod verursacht hatte und ich habe mir geschworen niemanden jemals wieder so nah an mich heran kommen zu lassen, um zu vermeiden, noch einmal dermaßen zusammen zu brechen.“ Bei dem Gedanken an seiner Mutter, spannte er deutlich seine Kiefermuskeln an und musste den Blick abwenden, um zu vermeiden, die Wut über ihr Ableben noch einmal aufflammen zu lassen. „Ich bitte dich nicht darum, mir zu verzeihen. Ich weiß, dass es zu viel verlangt wäre, nach allem, was ich getan habe. Ich bin nichts weiter als ein Monster, das seine Klauen in dich gehauen und dich beschmutzt hat. Nichts weiter als ein feiges Monster…“ Mit jedem weiteren Wort, das er von sich gab, schien ihn der Krampfgeist immer mehr zu verlassen, bis er nur noch resignierend seufzte. „Es ist besser, wenn ich jetzt gehe.“ Und mit diesen Worten machte er einen weiteren Schritt Weg von Charles und hin zur Türe, deren Klinke er gerade mit den Fingerspitzen berührt hatte, als sein freies Handgelenk erneut umfasst wurde. „Du bist kein Monster.“ Drang die weiche Stimme des Lockenschopfes an sein Ohr, deren unverhoffte Wärme ihn ohne Vorwarnung einhüllte und dafür sorgte, dass er die Finger sinken ließ. „Ich weiß… ich wusste schon immer, dass du keines bist, auch wenn du gerne eines wärst. Ich habe vermutet, dass es eine Art Schutzmechanismus ist und war froh, dass du mich dahinter hast blicken lassen, aber…“ Charles schluckte hörbar. „Erik, dass ich mir denken kann, warum Menschen Dinge tun, dass ich weiß, was sie womöglich empfinden, heißt nicht, dass ich beeinflussen kann, was sie denken oder tun… auch, wenn ich es manchmal gerne würde.“ Langsam drehte sich Erik um, blickte auf die Hand, die ihn noch immer festhielt und in die Augen, die ihn mit traurigem Blick musterten. „Es tut mir wirklich…“ Seine Worte wurden von zwei Fingern gestoppt, die sich auf seine Lippen legten. „Du hast mich von dir gestoßen, um dich selbst zu schützen und was hat dir das gebracht!? Du hast andere verletzt und dich selbst. Das zeigt eindeutig, dass du kein emotionsloses Monster bist. Ein Idiot, aber kein Monster.“ Ein schmales Lächeln zeichnete sich auf Charles Lippen ab, als er die Finger senkte und geräuschvoll ausatmete. „Was soll das heißen!?“ Es war nicht mehr als ein Flüstern, dass über Eriks Lippen drang. Er hatte seine Augenbrauen etwas zusammengezogen und betrachtete den Kleineren vollkommen perplex. Weder wusste er, was er davon halten sollte, dass er aufgehalten wurde, noch von dem, was ihm gesagt wurde und versuchte nun die Einzelteile des Puzzles so gut es ging zusammenzusetzen, was ihm allerdings nicht wirklich gelang. „Du hast mir nie gesagt, was ich für dich bin. Ich meine… ich hab es mir anhand deines Verhaltens denken können… Zumindest bevor….“ Charles Finger, die noch immer um das Handgelenk des Anderen gelegt waren, begannen zu zittern, als er den Blick senkte und sie ausdruckslos betrachtete. Seine Augen füllten sich erneut mit Tränen, die er recht erfolglos versuchte wegzublinzeln. Es vergingen einige Sekunden in denen keiner der beiden ein Wort verlor, bis er den Griff löste, sich kurz mit der nun freien Hand über das Gesicht wischte und dann wieder den Kopf in den Nacken legte, um den Größeren ansehen zu können. „Du hast mich wahnsinnig verletzt. Vermutlich wäre es besser, dich zu hassen, dir niemals zu verzeihen, aber wie ich bereits erwähnt habe, ich kann es nicht. Ich habe mich selbst dafür verflucht, dass ich unfähig dazu bin, aber ich könnte dich niemals hassen, Erik. Was ich wirklich hasse, ist ein Leben ohne dich.“ Merklich verzog Erik die Lippen, atmete tief durch und versuchte sich zusammenzureißen als sich das Bild vor seinen Augen zusammenfügte. Er wurde nicht der Wohnung verwiesen, was er verdient hätte. Nicht mehr angeschrien, was er ebenfalls verdient hätte. Nein, ihm wurde nicht nur verziehen, sondern eine weitere Chance geschenkt. Eine weitere Chance an der Seite dieses wundervollen, warmherzigen Mannes zu sein und das war etwas, das er überhaupt nicht verdient hatte. Ob dieser Realisation verlor er den Kampf mit dem letzten bisschen Beherrschung, das er noch aufrechterhalten hatte, brach zusammen, sodass er auf den Knien, die Handinnenflächen auf sein Gesicht gepresst, vor Charles zum Stillstand kam. Er hatte keine Möglichkeit mehr, die Tränen zurück zu halten, die sich langsam, stetig den Weg an die Oberfläche bahnten und nun, da sie hervorgetreten waren, nicht mehr zu versiegen schienen. ______________________________________________________________ Ungläubig verfolgte Charles den Zusammenbruch seines Gesprächspartners, heftete seinen Blick an das Häufchen Elend, das dort vor ihm auf dem Boden kauerte. Es war ihm klar, dass Erik wohl kaum damit gerechnet hatte, dass er so reagieren würde. Um ehrlich zu sein, hatte Charles selbst nicht damit gerechnet. Viel wahrscheinlicher wäre gewesen, dem Anderen mitten ins Gesicht zu schlagen, als er ohne Vorwarnung an seiner Haustüre aufgetaucht war und ihn zur Hölle zu schicken für all das Leid, was er über ihn gebracht hatte. Tatsache war allerdings ebenfalls, dass Erik ohne Frage sehr talentiert darin war, sich selbiges Leid ebenfalls zuzufügen. Vermutlich aufgrund dessen, dass er dachte, er hätte nichts Besseres im Leben verdient als Einsamkeit und Leid. Das war so unfassbar falsch. Aus so vielen Gründen falsch, dass er sie gar nicht alle greifen konnte. Niemand hatte verdient zu leiden. Niemand, vollkommen gleich, was er getan hatte oder nicht, hatte verdient verstoßen zu werde, bereute er seine Taten. Wenn er eines in seinem Leben gelernt hatte, dann war es, dass es unfassbar viel Leid auf dieser Welt gab. So vieles davon unverschuldet und sorgten diverse Individuen selbst dafür, dann lag es meist daran, dass ihnen zuvor bereits etwas Schreckliches widerfahren war. Ein ewiger Kreislauf des Unglücks. Er wollte kein Teil davon sein. Er verdiente etwas Besseres. Erik verdiente etwas Besseres. Ohne es überhaupt selbst zu realisieren, hatte er seine rechte Hand gehoben, ließ die Fingerspitzen sachte über die weichen, blonden Haare streichen, bevor er sich selbst auf die Knie sinken ließ. Seine Hände legte er an die Seiten von Eriks Gesicht, halb über seine Finger, die es noch immer leicht zitternd bedeckten. „Es gibt nicht nur Licht und Schatten auf der Welt, Erik. Ich bin nicht das unantastbare Licht, für das du mich hältst und du bist nicht der Schatten aus dem du nicht ausbrechen kannst. Da ist so viel mehr. Du bist so viel mehr, als das.“ Zögernd ließ der Ältere seine Hände sinken, ließ es zu, dass Charles mit leichtem Druck dafür sorgte, dass er den Kopf anhob und ihn ansah. Er bedachte ihn mit einem Blick, der vermuten ließ, dass er ihn für verrückt hielt all das zu tun und zu sagen. Als wäre es nicht sein Job, ihn in diesem Zustand aufzubauen, den er selbst verschuldet hatte. Vermutlich hatte er ihn verdient. Sicher hatte er ihn verdient als Ergebnis aus Ursache und Wirkung, doch Charles war einfach müde. Er war müde all der Tränen, der Fragen, der Wut, des Leidens und der Sehnsucht. Nach dieser auslaugenden Zeitspanne, die an seinem Körper und seinem Geist gezehrt hatte, war nun der Punkt erreicht, an dem es genug war. Es war Zeit das Ruder herum zu reißen. Für Erik und für sich selbst. Mit einem weichen Lächeln auf den Lippen, ließ er die Finger sanft über die mit Tränen benetzte Haut wandern bevor er sich nach wenigen Sekunden dazu zwang, sie ruhig zu halten. „Versteh mich nicht falsch, ich schenke dir keine Absolution. Ich bin kein Heiliger. Ich bin ebenso ein Egoist, wie du es bist und ich bin es leid, wegen etwas zu trauern, das in der Vergangenheit passiert ist und etwas nachzutrauern, das hätte sein können. Du bist hier und ich glaube dir, dass du es bereust, also…“ Er musste sich leicht räuspern, die Worte ordnen, bevor er sie aussprechen konnte, war dieses Gespräch nichts, worauf er sich hatte einstellen können, was für ein größeres Chaos in seinem Kopf sorgte. „ich will, dass du mir versprichst, dass du mir das nie wieder antust…“ Als er merkte, dass Erik sofort etwas darauf erwidern wollte, ließ er Zeige- und Mittelfinger erneut über dessen Wange zu seinen Lippen wandern und verschloss diese, woraufhin ihm ein leises Murren entgegenschlug, dass er mit einem matten Lächeln abtat. „Außerdem will ich, dass du mir versprichst, dass du mit mir redest über das, was in dir vorgeht. Damit meine ich nicht, dass du mir jedes klitzekleine Detail deiner Existenz offenlegen musst, sondern, dass du mir sagst, wenn dich etwas beschäftigt. Denn ich kann nicht in deinen Kopf blicken, Erik. Ich will, dass du ehrlich zu mir bist und vor allem will ich, dass du damit aufhörst, dich permanent selbst zu bestrafen. Ich will, dass du dir erlaubst glücklich zu sein. Wenn du das kannst, wenn du glaubst, dass ich dir Momente schenken kann, in denen du glücklich bist, dann bin ich dazu bereit, es noch einmal zu versuchen.“ Er ließ seine Finger von dem Gesicht des anderen nach unten wandern, wie eine Aufforderung dazu, dass er nun etwas sagen sollte, doch es waren keine Worte, die seinen Mund verließen. Eher ein kaum hörbares, unterdrücktes Schluchzen, als sich weitere Tränen ihren Weg bahnten, was dafür sorgte, dass Charles Blick durch seine eigenen ebenfalls etwas verschleiert wurde. Diese ganze Situation war so unwirklich. Niemals hatte er den anderen Mann in diesem Ausmaße weinen sehen, war sich nicht einmal darüber im Klaren, dass er dazu fähig war. Ihn zu sehen, als er über seine Kindheit geredet hatte, über seine Mutter, das hatte ihm damals schon das Herz gebrochen, obwohl sich die Masse an Tränen im Vergleich wirklich in Grenzen gehalten hatte. Das gerade sorgte dafür, dass sich ein Kloß in seinem Hals bildete und er das unbändige Bedürfnis hatte, ihn zu schützen. Nicht unbedingt vor der Außenwelt, sondern vor sich selbst. Er war im Begriff die Hände zu heben und sein Gegenüber an sich zu ziehen, als dieser ihm zuvorkam und er sich wenig später in einer festen Umarmung wieder fand, die Stirn des anderen in seine Halsbeuge gelegt. Charles war sich darüber im Klaren, dass sein hellblaues Hemd, das aktuell seinen Oberkörper bekleidete, deutliche Spuren von dieser Belagerung tragen würde, aber in diesem Moment war es ihm vollkommen egal. „Alles…“ Erklang die Stimme des Blondhaarigen, die von dem Stoff etwas gedämpft wurde, der wohl nur wenige Millimeter von seinem Mund entfernt war. Offenbar registrierte er, dass dies nicht die optimalste Position war, um etwas zu sagen, weswegen er deutlich spürbar schluckte, und den Kopf anhob, um, die Hände auf die Schultern des Kleineren zu stützen und ihm direkt in die Augen zu blicken. Charles konnte den warmen Atem spüren, der ihm gegen die Lippen schlug, rührte sich allerdings kein Stück, als er den Blick unbeirrt erwiderte. „… Ich verspreche dir, alles dafür zu tun, was ich kann.“ Diese Worte sorgten dafür, dass sich ein erneutes Lächeln auf den vollen Lippen ausbreitete, das bis zu den Augen des Kleineren vordrang. „Das ist alles, worum ich bitten kann.“ Kurz darauf fand er sich in einer noch engeren Umarmung wieder, die er nur zu gerne erwiderte. Es war vollkommen egal, dass sein Hemd inzwischen durchnässt war von Eriks und von seinen eigenen Tränen. Egal, dass sie beide mittlerweile vermutlich mehr als desaströs aussahen und dass der kalte Holzboden mit jeder Sekunde, die sie auf ihm verbrachten immer unbequemer wurde. Tatsächlich waren Eriks Worte alles, was er sich zu hören gewünscht hatte. Niemand konnte versprechen, dass es funktionieren würde oder sagen, für wie lange, aber es bestand immer Hoffnung. Und in diesem Moment war sich Charles vollkommen sicher, dass diese Hoffnung nicht vergebens sein würde. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)