Der wahnsinnige Schneemann von UrrSharrador (Ein Weihnachts-OS) ================================================================================ Der wahnsinnige Schneemann -------------------------- Es war einmal ein Schneemann, der stand auf einer verschneiten Wiese. Er trug immer seine Nase hoch, denn er war sehr eitel. Er war nämlich ein sehr schöner Schneemann, glänzend weiß und prächtig, und er strahlte in der Sonne wie ein Stern und im Mondlicht glühte er silberweiß, dass jeder ganz verzaubert wurde, der ihn ansah. Seine Augen waren so schwarz wie Kohle und glitzerten wie Edelsteine. Und er ragte über all den kleinen Blumen und Sträuchern auf, die vom Schnee zugedeckt waren, und war höher als all die eingefrorenen Maulwurfshügel auf der Wiese. Der Schneemann glaubte, dass es nirgendwo jemanden gab, der schöner und größer war als er. Ab und zu kamen Tiere bei ihm vorbei, die ihn voller Bewunderung ansahen und sagten: „Oh, bist du aber schön!“ Das machte den Schneemann nur noch eitler. Eines Tages wurde dem Schneemann langweilig. Er wollte nicht mehr nur auf der Wiese stehen und sich von allen bewundern lassen. Also zog er seine kalten Füße aus dem Schnee und machte sich auf die Reise. Bald schon kam er in ein fremdes Land. Es gefiel ihm gut, aber es war Sommer dort und er fürchtete, dass er schmelzen würde, wenn er nicht aufpasste. Also brachte er dem Land eine eisige Kälte, sodass auch dort Schnee fiel und er sich eher zuhause fühlen konnte. Dann baute sich der Schneemann ein Haus und stellte es auf einen Schlitten, damit er weiterhin durch das Land reisen konnte. Und überall, wo er hinfuhr, fielen dicke Schneeflocken vom Himmel. Der Schnee deckte die Erde zu und vergrub die Pflanzen und vereiste die Flüsse, und die Bäume wurden so von Frost bedeckt, dass kein Windhauch sie mehr bewegen konnte. Die Tiere flohen vor dem Schneemann, wie er so daherfuhr mit seinem Schlitten und seinem Haus …   „War das Haus ein Iglu?“   Ja, es war ein sehr kaltes Iglu. Aber der Schneemann fühlte sich wohl darin. Er fand es lustig, dass die Tiere vor ihm davonliefen, und machte sich einen Spaß daraus, sie zu jagen. Und wenn er eines einfing, grub er ein tiefes Loch in den Schnee, warf das Tier hinein und schüttete es wieder zu, sodass die Tiere bald genauso eingesperrt waren wie die Pflanzen. Manche Tiere sagten zu ihm, dass er ein gemeiner Schneemann wäre, aber das war ihm egal. Er war so eitel, dass er gar nicht auf sie hörte.   „Das ist aber wirklich gemein!“ „War der Schneemann nicht einsam?“   Nein, denn eines Tages spürte er etwas auf seiner Schulter kitzeln. Er mühte sich ab und versuchte, seinen klobigen, eisverkrusteten Kopf zu drehen, und als er es geschafft hatte, sah er dort auf seiner Schulter eine kleine Raupe sitzen.   „Ich habe auch schon mal eine Raupe gesehen! Die verpuppen sich und werden dann zu einem Schmetterling!“ „Pscht, sei still! Du ruinierst die Geschichte!“ „Mach ich gar nicht!“   Nicht streiten. Also, die Raupe saß da und der Schneemann wusste gar nicht, wie sie auf seine Schulter gekommen war. Es gefiel ihm gar nicht, dass jemand ihm so nahe war, denn er war ja eigentlich daran gewöhnt, alleine zu sein. Er versuchte sie abzuschütteln, aber … Habt ihr schon einmal gesehen, wie gut sich eine Raupe an einem Ast festhalten kann? Und diese Raupe war genauso, sie hielt sich eisern auf der Schulter des Schneemannes fest.   „Aber der Schneemann ist ja aus Schnee! War der Raupe denn nicht kalt?“   Eine gute Frage, Ken-chan. Natürlich bekam die Raupe ganz kalte Füße von dem Schnee. Aber das machte ihr nichts aus.   „Wird die Raupe später ein Schmetterling?“   Gedulde dich noch ein wenig. Also, wo war ich? Genau, das Land wurde immer kälter und es war ewig lang Winter, und die Tiere hatten Angst und befürchteten, dass nie wieder Frühling werden würde.   „Ich finde Winter toll! Man kann Rodeln und Eislaufen und eine Schneeballschlacht machen!“ „Und man kann Schneeburgen bauen!“   Das stimmt, aber beim Rodeln und Schneeburgbauen habt ihr ja warme Sachen an und eure Eltern machen euch hinterher einen heißen Tee, oder? Die Tiere hatten niemanden, der ihnen Tee machte, und sie hatten nur ihr Fell und keine warmen Häuser wie wir. Tiere und Pflanzen brauchen Wärme und Sonne, und deswegen wollten sie wieder Frühling haben. Aber der Frühling kam einfach nicht, und der Schneemann fuhr weiter durch die winterliche Landschaft und freute sich, weil alles so kalt war und er nicht schmelzen würde. Eines Tages begegnete er ein paar Kindern, die im Wald spielten. Sie hatten viel Spaß und lachten, und wo sie umhertanzten, da schmolz der Schnee unter ihren Füßen und es wurde Frühling. Die Knospen der Bäume begannen zu sprießen und Blumen begannen zu blühen, und die Luft war warm und duftete wunderbar. Die Tiere kamen zurück und spielten mit den Kindern, und alle hatten große Freude. Als der Schneemann das sah, wurde ihm ganz bange. Die Kinder schienen viel mehr Spaß zu haben als er selbst, obwohl er doch so groß und schön war. Aber es schien dem Schneemann zu gefährlich, einfach mitzuspielen, denn er hatte Angst, er könnte schmelzen. Also vergönnte er den Kindern das Spielen nicht und ließ es wieder schneien. Die Kinder waren zuerst erschrocken, aber dann sammelten sie Holz und machten ein Feuer, und sie zogen einfach noch wärmere Kleidung an und machten sich etwas zu essen, und das teilten sie dann auch mit den Tieren.   „Haben sie auch heißen Tee getrunken? Mama macht immer einen, der schmeckt ganz toll nach Kirschen!“   Ja, sie haben auch heißen Kirschtee mit den Tieren getrunken. Und sie erzählten sich Geschichten und wurden gute Freunde, und weil sie so viel Spaß hatten, begann der Schnee wieder zu schmelzen. Da wurde der Schneemann zornig. Er ließ es noch heftiger schneien, und zu dem Schnee kamen Hagelkörner, und sie deckten das Land meterhoch zu, und es wurde so kalt, dass jedes Feuer ausging und sogar der heiße Tee einfror.   „Was erzählst du den Kindern schon wieder für Geschichten?“ „Pschscht, nicht stören! Es ist grad so spannend!“   Setz dich ruhig zu uns. Vielleicht lernst du auch noch etwas davon. Also, der Winter hat noch viel mehr gewütet in dem Land, und dann kam noch ein fürchterlicher Sturm auf. Aber die Kinder ließen sich davon nicht vertreiben, sie buddelten sich trotzdem durch den Schnee und zogen ihre Mäntel enger, und sie waren immer noch frohen Mutes und fürchteten sich nicht. Und der Schneemann wurde immer ärgerlicher – warum hatten die Kinder keine Angst, wo er doch selbst eine solche Angst hatte, dass er schmelzen könnte? Und dann kam es schließlich, wie es kommen musste: Der Schneemann ließ den Sturm so sehr wehen, dass sein eigener Schlitten davon umgeworfen wurde und der Schneemann aus seinem Haus fiel. Und als er sich in dem Schnee aufsetzte, standen rings um ihn herum die Kinder und baten ihn, es wieder warm werden zu lassen, weil allen Tieren und Pflanzen so kalt war und das Land ein trostloser, trauriger Ort geworden war. Und dem Schneemann tat schließlich leid, dass er es so kalt hatte werden lassen. Und dann breitete sich zu den Füßen der Kinder endlich der Frühling aus, und die Sonne kam hervor und Blumen blühten wieder, und der Schneemann stellte zu seinem Entsetzen fest, dass er schmolz. Sein schöner, eisiger Panzer, der sein ganzer Stolz gewesen war, zerfloss in dem warmen Frühlingswind, und er meinte, jetzt wäre es aus mit ihm. Aber als aller Schnee von ihm geschmolzen war, betrachtete er sich in der Pfütze, die sich gebildet hatte, und erkannte, wie er eigentlich die ganze Zeit unter all dem Schnee ausgesehen hatte: Nicht so groß und auch nicht so strahlend weiß und perfekt, aber er war trotzdem ein ganz normales Kind, so wie die anderen. Dann bemerkte er wieder die Raupe, die auf seiner Schulter saß, aber sie hatte sich verändert. Sie war nämlich ein Kokon geworden, und weil sie sich nicht mehr regte, wurde der ehemalige Schneemann ganz traurig. Er glaubte nämlich, dass es ihr zu kalt geworden wäre und dass sie deswegen gestorben sei.   „Aber dann ist die Raupe wieder geschlüpft und sie war ein wunderschöner Schmetterling! So war es doch, oder? Und sie haben viel mit den Kindern gespielt und der Schneemann wünschte sich nie mehr den Winter zurück!“ „He, woher weißt du das?“ „Weil ich die Geschichte schon kenne! Die Geschichte hat ein Freund von dir geschrieben, stimmt‘s?“   Wir haben sie zusammen geschrieben. Aber du hast recht. Der ehemalige Schneemann und der Schmetterling blieben bei den Kindern, und sie hatten viel Spaß. Die Tiere konnten wieder aus den Höhlen herauskommen, und sie haben ihm schließlich alles verziehen und auch mitgespielt. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.   „Kommt ihr? Das Essen steht schon auf dem Tisch.“   Ich war gerade fertig. Ihr habt es gehört, Kinder. Auf ins Esszimmer.   „Omi, Omi! Opi hat uns gerade die Geschichte vom Schneemann erzählt!“ „Sie war sooo spannend!“ „Das ist toll, meine Schätzchen. Schnell, schnell, sonst essen die anderen eure Portion auch noch auf!“ „Na kommt, Kinder. Omi hat recht. Ihr wisst ja, was passiert, wenn Onkel Osamu hungrig wird.“   Geht schon mal vor, ich räume noch das Buch weg.   Als die aufgeregten Kinderstimmen aus dem Flur hallten, stellte er das Büchlein ins Regal zurück. „Du bist ja mittlerweile ein ganz schön professioneller Geschichtenerzähler geworden. Unsere Weihnachtsfeiern sind schon langsam berühmt für deine Märchenstunden“, sagte seine Frau. Ich habe nur festgestellt, dass Märchen wichtig sind. Vor allem, wenn sie einen wahren Kern haben. Kinder können mehr daraus lernen, als wir glauben. Zumindest hoffe ich das. Yolei drückte lächelnd seine Hand. „Na komm, mein kleiner Schneemann. Lassen wir die anderen nicht warten.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)