Schwarzer Komet von Yosephia (Drachengesang und Sternentanz - Teil 1) ================================================================================ Kapitel 8: Der Morgen, an dem sie in die Zivilisation aufbrachen ---------------------------------------------------------------- 6 Wochen vor der Opferung Unter einer von Metallicanas Schwingen und mit dem Rauschen der See im Ohr und der Erschöpfung des Vortages in den Knochen hatte Juvia tief und fest geschlafen und sich wunderbar erholt. Am nächsten Morgen wurde sie jedoch noch vor den Anderen wach und kroch unter der Deckung des Drachenflügels hervor. Eines von Metallicanas Lidern hob sich und die geschlitzte Pupille schimmerte durch das halbdurchsichtige innere Lid hindurch und musterte Juvia einen Moment lang, ehe sich das äußere Lid wieder herab senkte. Die Blauhaarige ging am Strand der winzigen Insel entlang, die ihren Fortbestand einem ausgedehnten Riff verdankte, dass die Gewalt des Meeres milderte. Die Palmen wuchsen hier prächtig und boten den Lemuren und den bunten Vögeln ausreichend Nahrung. Über den beinahe weißen Sand krochen einige Krebse, die jedoch das Weite suchten, als sie der Menschenfrau gewahr wurden. Juvia mochte das idyllische Eiland, aber wie schon in der Vergangenheit bei vielen anderen würde es ihr auch dieses Mal nicht schwer fallen, wieder von hier aufzubrechen. Dieser kleine Flecken mitten im Meer konnte sie nicht halten. Sie nicht und Gajeel auch nicht. Sie waren ewige Wanderer, rast- und heimatlos. Dabei hatten sie einmal geglaubt, endlich eine Heimat gefunden zu haben… Auf der Nordseite der Insel konnte man den Kadaver des Leviathans sehen, der am Riff hängen geblieben war und immer noch teilweise aus dem Wasser heraus ragte. Ringschnabel- und Silbermöwen machten sich scharenweise darüber her und Juvia konnte die Rückenflossen von mindestens drei Walhaien ausmachen. Höchstwahrscheinlich tummelten sich auch einige kleinere Haie dazwischen, um etwas von dem reichlich vorhandenen Fleisch zu ergattern. Der Anblick des sanften Meeresriesen schmerzte Juvia in der Brust und sie fragte sich, ob Gajeel und Metallicana ihn nicht unter eigener Lebensgefahr hätten töten müssen, wenn es ihr nur irgendwie gelungen wäre, das Wesen zu beruhigen… Die große Hand auf ihrer Schulter ließ sie zusammen zucken und herumfahren. Vor ihr stand Gajeel mit grimmig-besorgter Miene. „Das war nicht deine Schuld, also denk’ nicht weiter darüber nach.“ „Aber wenn Juvia nur-“ „Du bist eine Magierin, Juvia, aber nicht allmächtig. Das sind nicht einmal Drachen oder ihre Reiter.“ Ein bitterer Zug trat in Gajeels Gesicht, den Juvia leider nur zu gut kannte. Behutsam legte sie ihre Hand auf seine, die immer noch auf ihrer Schulter ruhte. Minimal drückte er ihre Schulter – ein stummer Dank, denn Gajeel brachte es selten einmal fertig, seine Gefühle richtig in Worte zu fassen –, dann unterbrach er den Kontakt und drehte sich herum. „Lily und die Flügelechse warten bereits auf uns.“ Juvia warf einen letzten bedauernden Blick über ihre Schulter zum Leviathan hin, dann folgte sie ihrem Ziehbruder zurück zur anderen Seite der Insel, wo Metallicana mit ungeduldig schwenkendem Schwanz bereit stand, während Pantherlily das Wenige von ihren Habseligkeiten zu einem kleinen Bündel zusammenpackte, was nach dem Angriff des Leviathans an den Strand gespült worden und noch intakt gewesen war. „Habt ihr euch endlich entschieden, wo ich euch hinbringen soll?“, grollte Metallicana. „Juvia ist immer noch der Meinung, dass wir die Kanaloa suchen und Admiral Cracy warnen sollten“, beeilte sich die Blauhaarige, ihren gestrigen Standpunkt noch mal zu vertreten. Keiner der anderen Drei war davon begeistert, was sie auch schon am Vorabend zum Ausdruck gebracht hatten. Metallicana missfiel die Aussicht, Tage lang über dem Meer zu fliegen auf der Suche nach dem kaiserlichen Schlachtschiff, das seiner Meinung nach ohnehin nichts ausrichten konnte gegen verrückt gewordene Leviathane. Pantherlily war skeptisch, ob man sie überhaupt ernst nehmen würde. Und Gajeel schließlich wollte grundsätzlich nichts mit einem Kaiserlichen Gesandten zu tun haben, ganz gleich welchen Ranges und wie angesehen er war. „Wir sollten die Sache zuerst näher erforschen und herausfinden, ob es noch mehr Angriffe gegeben hat“, schlug Pantherlily vor. „Dabei kriegen wir nur jede Menge Seemannsgarn zu hören“, schnaubte Gajeel. „Aber wenn ich das Meer gründlich überfliege, finde ich vielleicht weitere Leviathane, die auf Grund gelaufen sind.“ „Das würde Wochen oder sogar Monate dauern. Sollen wir solange Däumchen drehen?!“ „Ihr könntet einen Dracologen von Crocus-“ „Nein! Wir setzen keinen Fuß in Crocus hinein!“, fauchte Gajeel. Pantherlily verschränkte die Arme vor der Brust und obwohl er in seiner kleinen Form blieb, sah er aus wie ein Lehrer, der seinen Schüler musterte und überlegte, wie er ihn maßregeln konnte. „Wir könnten zuerst in einer der öffentlichen Bibliotheken nachforschen, ob es so ein Verhalten schon einmal bei Leviathanen gegeben hat“, ging Juvia dazwischen. „Juvia könnte das übernehmen und du könntest jagen gehen, damit wir unsere Reiseausrüstung wieder aufstocken können. Hargeon liegt nur drei Tagesreisen von uns entfernt, wenn Metallicana uns bringen kann. Und Pantherlily kann sich auf den Inseln umhören und Ausschau nach weiteren Levathanen halten..“ „Das ist eine gute Idee, Wassermädchen!“, lobte Metallicana zufrieden brummend, ehe er sich an Gajeel wandte. „Zieh’ nicht schon wieder so eine Fresse, Eisenhirn.“ „Ich ziehe keine Fresse!“, sprang der Schwarzhaarige natürlich sofort auf diese Provokation an. Juvia mischte sich in den Disput zwischen Drachen und Reiter nicht ein, der wieder einmal ohne irgendeinen tieferen Sinn entbrannte. Sie war sich nicht völlig sicher, aber sie hatte das Gefühl, dass Metallicana seinen Reiter extra provoziert hatte, damit dieser nicht so viel an ihre bevorstehende Reise dachte. Nur zu gut wusste Juvia, was ihren Ziehbruder von der Zivilisation fernhielt. Um genau zu sein, ging es ihr ähnlich. Zu viel war geschehen, um noch einfach so vertrauen zu können. Die einzigen Menschen, denen Juvia vorbehaltlos vertraute, waren Gajeel und… und früher einmal auch Totomaru, der sie verlassen hatte – oder sie ihn, wenn man es genau nehmen wollte. Seit diesem Vorfall gab es nur noch Gajeel und Juvia. Den Kontakt zu anderen Menschen mieden sie nach Möglichkeit. Ein Umstand, der sie schwermütig machte. Gajeel und sie waren schon sieben Jahre lang auf Reisen. Allmählich nagte es an Juvia, aber gleichzeitig hatte sie nie einen wirklich wichtigen Grund gefunden, Gajeel dazu zu überreden, irgendwo länger zu bleiben. Nirgends, wo sie bisher gewesen waren, hätte sie sich niederlassen wollen… Während sie ihren Gedanken nachhing, nahm Juvia Pantherlily das Bündel ab. Nichts daraus war ihm bei seiner bevorstehenden Reise nützlich. Wenn er so lange unterwegs war, musste er unnötigen Ballast tunlichst vermeiden. Er hatte lediglich eine Feldflasche mit Wasser neben seinem Federschwert am Gürtel hängen. Proviant konnte er sich mit seinem Erfahrungsschatz problemlos unterwegs besorgen. „Wirst du uns auch wirklich wieder finden?“, fragte Juvia nicht ohne eine gewisse Angst. Der Exceed blickte lächelnd zu ihr auf. „Im Zweifelsfall fliege ich auf das größte Chaos zu.“ Die Wassermagierin kicherte erleichtert und hob den Exceed hoch, um ihn einmal fest an sich zu drücken. „Pass’ auf dich auf, Lily. Juvia wird dich vermissen.“ Pantherlily verzog ob dieser verniedlichenden Behandlung das Gesicht, protestierte jedoch nicht. Juvia beschloss, ihre Privilegien bei ihm nicht auszureizen, und setzte ihn wieder ab. „Pass’ auf Gajeel auf“, bat er ernst. „Vielleicht kannst du ihn doch noch zu einem Treffen mit den anderen Reitern überreden. Das würde ihm sicher gut tun. Und vielleicht können sie sogar helfen.“ „Juvia wird ihr Bestes geben“, versprach die Blauhaarige mit einem bekräftigenden Nicken. „Daran zweifle ich nicht.“ Stolz lächelnd ließ Pantherlily seine reinweißen Flügel erscheinen. Das riss Gajeels Aufmerksamkeit von der Diskussion mit Metallicana los. Der Eisenmagier kam mit grimmiger Miene herüber gestapft und klopfte dem Exceed auf den Kopf. „Guten Flug“, knurrte er. „Euch auch.“ Mit diesen Worten erhob sich Pantherlily in die Lüfte und schoss mit der Geschwindigkeit eines Pfeils in Richtung Süden davon. Selbst für einen Exceed war er ausgesprochen schnell, wohl das Zeugnis einer knochenharten Ausbildung während seiner Zeit in Extalia, über die er jedoch nie sprach. Juvia betrachtete Gajeel, welcher dem Exceed auch dann noch hinterher blickte, als dieser schon verschwunden war. Um die Lippen des Schwarzhaarigen lag wieder dieser bittere Zug von vorhin. Er war erst vor sieben Jahren entstanden, aber Gajeel trug ihn jetzt wie eine zweite Haut. „Können wir dann oder wollt ihr noch mit einem weißen Taschentuch hinterher winken?“, spöttelte Metallicana, aber in seiner Stimme schwang ein scharfer Klang mit, den Juvia als Besorgnis zu erkennen glaubte. „Von mir aus“, knurrte Gajeel ruppig und riss Juvia regelrecht das Bündel aus den Armen, damit sie hoch auf Metallicanas Rücken klettern konnte. Unbehaglich ließ sie sich in die Kuhle am Halsansatz gleiten. Sie mochte und vertraute Metallicana, aber das Fliegen war ganz und gar nicht ihr Ding. Wenn Pantherlily sie trug, war es genauso. Sie war eher ein Mensch des Wassers und der Erde. Hinter ihr sank Gajeel in die Kuhle. Er drückte ihr das Bündel wieder in die Arme und schlang dann einen Arm um ihre Taille. Obwohl sie nicht mit einem unruhigen oder gar gefährlichen Flug rechnete, war die Wassermagierin dankbar um diese schützende Geste. „Ich bringe euch in die Nähe von Hargeon, von dort aus kommt ihr ja wohl alleine weiter.“ „Zu gütig, dass du uns nicht einfach über Hargeon abwirfst“, brummte Gajeel. „Bei dir überlege ich mir das vielleicht noch, Eisenhirn“, schnaubte der Drache amüsiert, dann stieß er sich vom Boden ab und schlug mit den gewaltigen Flügeln. Unwillkürlich presste Juvia das Bündel an sich. Ihr Magen rumorte. Sie war wirklich nicht für das Fliegen gemacht! Eine Woche vor der Opferung Drückende Stille lastete auf der kleinen Gruppe. Die Anspannung war regelrecht mit Händen zu greifen. Rogue ließ den Blick über das Schlachtfeld gleiten, um nicht zu Sting und Yukino blicken zu müssen, die zutiefst erschüttert waren. Der Schattenmagier konnte es ihnen nicht verübeln, standen sie doch vor dem, was neben der Weite der Stillen Wüste die einzige räumliche Konstante in ihrer Kindheit gewesen war. Diese massive, mit Obsidian geäderte Felsinsel war das Hauptquartier von Stings und Yukinos Volk. Hierher war damals die achtjährige Minerva geflohen in der bangen Hoffnung, hier Hilfe zu finden. Nicht umsonst wurde dieser Ort schlicht Zuflucht genannt. Jetzt lagen hier überall Basiliskenkadaver und zwei der vier Wächter – Felsenfinger aus reinem Obsidian, die vor der Zuflucht aus dem Sand ragten und früher allen herannahenden Basilisken Einhalt geboten hatten – waren von der Wucht der Angriffe regelrecht zerfetzt worden. Ein Räuspern riss Rogues Aufmerksamkeit auf den Nordeingang zur Zuflucht, wo Gran Doma, der Wüstenweise und somit der spirituelle Führer der Wüstennomaden, stand. Er war alt, wovon seine schlohweißen Haare, der brustlange, weiße Bart und die Altersflecken und Falten auf der Haut sprachen. Seine wettergegerbte Haut erinnerte an rissiges Leder, aber seine dunklen Augen sprühten vor Leben und Weisheit. Der Tamariskenholzstab in seiner Hand mit seinen unzähligen Würdenzeichen diente eher zur Unterstreichung seiner Autorität, denn trotz seines Alters war er hoch und gerade aufgerichtet, vom Scheitel bis zur Sohle ein unbezwingbarer Wüstennomade und Basilisken-Reiter. Nach Art des Wüstenvolks grüßte Rogue den Älteren und Höhergestellten, indem er sich die Hand an die Stirn legte, dann eine Verbeugung andeutete und dabei die Hand nach vorn streckte. Nachdem der Wüstenweise kurz über Rogues Handfläche gestrichen hatte, richtete dieser sich wieder auf und beobachtete, wie Sting und Yukino seinem Beispiel folgten. „Meister, wie viele-?“ Yukino blieb die Frage im Hals stecken. Wer könnte es ihr verdenken? Sie, Sting und Rogue waren auf Hisuis und Minervas Geheiß hin in den letzten drei Wochen mit Weißlogia und Skiadrum über die Stille Wüste gezogen, um nach weiteren Basiliskenrudeln zu suchen, wie sie es vor Wüstengrün erlebt hatten. Ausgerechnet hier eines zu finden, bei der Zuflucht, der als uneinnehmbar geltenden Stätte der Wüstennomaden, war ein Schock sondergleichen. „Dreißig Männer und Frauen haben ihren letzten Ritt angetreten“, erklärte Gran Doma ruhig und bedeutete ihnen, ihm zu folgen. „Aber ihr Opfer hat dreihundert Leben gerettet. Diese Basilisken waren nicht zahlreich genug, um unsere Verteidigung zu durchbrechen.“ Rogue war erleichtert. Der Angriff auf die Zuflucht mochte ein nie da gewesenes Ereignis darstellen, aber er war erfolglos geblieben. Die Zuflucht war nach wie vor ein sicherer Hort für die Wüstennomaden. Allerdings wirkten Sting und Yukino noch immer benommen. Das war verständlich, aber alles andere als hilfreich. Rogue schnaufte leise. Schade, dass Minerva nicht da war. Sie war eindeutig besser in diesen Dingen. Er trat hinter die Beiden, versetzte Yukino eine sanfte Kopfnuss und rammte Sting die Handkante in die Seite. „Reißt euch zusammen. Die Wüstennomaden sind hier immer noch in Sicherheit. Die haben euch immerhin ausgebildet!“ „Aua!“, jammerte Sting und rieb sich die Seite, aber sein Blick war wieder klar und auch Yukino wirkte, als hätte sie sich wieder erholt. „Kein Grund, gleich brutal zu werden“, brummte er. „Du willst gar nicht erleben, wenn ich brutal werde“, erwiderte Rogue rigoros. Doch gleich darauf nahm er das Gesicht seines Freundes in beide Hände und lehnte seine Stirn gegen Stings. „Wir finden schon noch heraus, was es mit all dem auf sich hat. Dafür musst auch du einen kühlen Kopf bewahren, so schwer dir das auch fallen mag.“ Sting versuchte zu schmollen, aber Rogue kniff ihm in die Wangen und Stings Lippen zuckten verräterisch. Zufrieden ließ Rogue von ihm ab, zauste dann Yukinos Haare und wandte sich schließlich wieder an Gran Doma, der ihm ein anerkennendes Lächeln schenkte, ehe er sich herum drehte. Sie setzten sich in Bewegung und durchschritten den kurzen Nordgang, um in den Inneren Kreis zu gelangen, wo geschäftigeres Treiben als sonst herrschte. Waffen wurden aus den Lagerhöhlen geholt und überprüft. Viele blickten hoffnungsvoll zu ihren Wüstenweisen und dessen Begleitern hinüber, aber Gran Doma ging unbeirrt weiter auf eine Spalte in der Westseite der Zuflucht zu, die in einen kurzen Tunnel mündete. Der Tunnel gabelte sich nach zehn Schritten. Von links war das Stöhnen und Wimmern Verwundeter zu hören, Grand Doma wandte sich jedoch nach rechts, wo sich seine eigene Wohnhöhle befand. Sie war großzügiger als die meisten anderen Höhlen. In die Wände waren mehrere Schlafnischen und auch mehrere Regale gemeißelt worden. In den Regalen lagen nur wenige Bücher, aber dafür umso mehr Papyrusrollen, sowie allerlei Figuren, Krüge, Körbe und eine beachtliche Sammlung an allen möglichen Tier- und Basiliskenknochen. Im Zentrum der Höhe befand sich ein munter prasselndes Kochfeuer in einem Steinkreis, um welchen mehrere Bastmatten ausgelegt waren, die zum gemütlichen Sitzen einluden. Vom Ruß geschwärzten Krug, der an einem Gestell über dem Feuer hing, stieg der süßliche Geruch von Datteltee auf. Auf Gran Domas Einladung hin ließen die drei jungen Leute sich auf den Bastmatten nieder. Sting saß so nahe bei Rogue, dass ihre Knie sich berührten. Beruhigend legte Rogue ihm eine Hand aufs Bein und wandte dann seine Aufmerksamkeit auf den Wüstenweisen, der sich am Krug bediente. „Habt Ihr eine Erklärung für das Verhalten der Basilisken, Meister?“ Gran Doma schüttelte offensichtlich unwillig den Kopf. „Ich habe die alten Schriften bereits studiert und sogar die Legendensammlungen durchgesehen, aber von solch einem Phänomen war nirgends je die Rede.“ „Das wird Minerva und Hisui nicht gefallen“, seufzte Yukino und strich sich die Haare immer noch glatt. „Mir gefällt es nicht“, murrte Sting und unter seiner Hand spürte Rogue das mühsam beherrschte Zittern seines Partners. „Wenn wir nicht wissen, womit genau wir es zu tun haben, wie sollen wir dann die Dörfer und Kleinstädte schützen? Die Basilisken-Reiter werden hier gebraucht und dürften ohnehin nicht zu weit verteilt werden und wir können auch nicht überall sein.“ „Bisher haben sich die Basilisken nur über kleine Ansiedlungen hergemacht“, gab Rogue zu bedenken. „Vielleicht wäre eine Evakuierung nach Jadestadt und Sabertooth vorerst das Beste. Die Mauern dort bestehen aus Obsidian und sind dick und hoch.“ „Das scheint nach unserem derzeitigen Wissensstand das Sinnvollste zu sein“, stimmte Gran Doma zu. Sting knurrte unwillig. „Ich hätte lieber einen eindeutigen Kampf.“ Rogue verkniff es sich, zu zugeben, dass es ihm genauso erging. Als sie vor acht Jahren gegen den Usurpator Jiemma gekämpft hatten, hatten sie genau gewusst, wer ihr Gegner war und wie er vorging. Dieses Mal hatten sie es mit etwas oder jemandem zu tun, den sie nicht verstanden. Basilisken, die in Rudeln angriffen. Basilisken, die sich von Obsidian nicht fernhalten ließen. Welche Macht konnte sie so weit treiben? Rogue zermaterte sich seit drei Wochen den Kopf deswegen. „Meister Gran Doma.“ Ein junger Mann, der gerade erst seine Reiterinitiation erhalten haben konnte, betrat die Höhle. Für einen Moment huschte sein Blick ungeniert über Sting, der dies jedoch zu Rogues Erleichterung gar nicht realisierte. Obwohl er nicht an Stings Treue zweifelte, fühlte Rogue sich nicht wohl, wenn die jungen Männer und Frauen des Wüstenvolks diesem oft sehr eindeutige Angebote machten – oft sogar in Rogues Beisein. Bei ihnen galt das als unverwerflich, sie waren in Liebesangelegenheiten sehr freizügig und offen. Einer der wenigen Punkte bei den Wüstennomaden, mit denen Rogue einfach nicht zurecht kommen konnte. Als der Wüstenweise sich räusperte, wandte der junge Reiter sich wieder ihm zu. „Wir haben einen fremden Leichnam gefunden. Ein Grünländer. Er hatte keine Rebmesser bei sich, sondern Lanzen mit Widerharken.“ Sting zischte leise und Yukino erschauderte. Rogue hatte das Basilisken-Reiten nie erlernt, aber Sting hatte ihm vieles darüber erzählt, daher konnte der Schwarzhaarige die Reaktionen seiner Freunde nachvollziehen. Rebmesser waren so gefertigt, dass sie keine Schäden bei einem gerittenen Basilisken hinterließen. Im Kampf gegen Menschen, eigneten sie sich daher nur als Schlagwaffe – wenn auch als äußerst effektive. Wüstennomaden respektierten die Sandschlangen, ja, verehrten sie sogar, und versuchten nach Möglichkeit immer zu vermeiden, diese zu verletzen. Eine Lanze mit Widerharken war eine wirkungsvolle, aber sehr grausame Variante, einen Basilisken zu reiten. Dabei wurde von vorneherein in Kauf genommen, dass die Sandschlange einen irreparablen und massiven Nervenschaden davon trug, der zu Blindheit oder Schlimmerem führte. „Außerdem hatte er das hier bei sich“, fügte der Junge hinzu und reichte dem Wüstenweisen eine Wappenbrosche. Sting, Rogue und Yukino beugten sich vor. Auf dem silbernen Grund der Brosche war ein schwarzer Riese abgebildet, durch dessen erhobene Hände ein ebenfalls schwarzer Komet herabstieg. „Ich bin mit der Heraldik der Grünländer nicht vertraut. Erkennt ihr dieses Wappen?“, fragte Gran Doma. „Ich habe keinen Schimmer von Wappen“, erklärte Sting mit einem Schulterzucken. Als Rogue und Yukino ihn ansahen, hob er verteidigend die Arme. „Guckt nicht so! Ich bin Minervas Rechte Klaue, nicht ihr Herold oder ihr Meister der Bücher.“ „Vielleicht solltest du dich auch mal in Mysdroys Unterricht setzen“, neckte Yukino und Rogues Lippen zuckten, als sein Freund vor Entsetzen erschauderte. Sting kam mit dem Exceed von Sabertooth einfach nicht auf einen grünen Zweig. Das wusste jeder. Mysdroy war sehr sittenstreng und hatte wenig für Stings lockere Art übrig. Minerva vermied es daher nach Möglichkeit, die Beiden zur gleichen Besprechung dazu zu holen. „Kennt ihr das Wappen denn?“, fragte Sting mit einer Schmollmiene. „Es ist kein Fürstenwappen, da bin ich mir sicher“, erklärte Rogue wieder ernst. „Es ist ein Sektenwappen“, sagte Yukino schaudernd. „Während meiner letzten Reise bin ich in Malba in eine Kundgebung der Sekte Avatar gestolpert. Alle Anhänger – die Gläubigen, wie sie sich selbst nennen – haben dieses Wappen getragen.“ „Und was will diese Sekte?“, fragte Gran Doma konzentriert. Yukino verzog das Gesicht. „Avatar ist eine ziemlich fanatische Sekte. Sie wettern auf alles und jeden, der auch nur ansatzweise mit Magie zu tun hat.“ Sorge zeichnete sich in dem Blick ab, dem sie Sting und Rogue zuwarf, und einmal mehr war Rogue für die Umstände dankbar, die ihm Yukino als Freundin zugewandt hatten. Sie war wie eine Schwester für ihn. Es gab nichts, was er nicht für sie tun würde. „Das ergibt keinen Sinn“, brummte Sting und verschränkte die Arme vor der Brust. „Warum greifen die Dörfer wie Wüstengrün oder die Zuflucht an? Da gibt es nicht eine Unze Magie. Nicht einmal einen Exceed. Geschweige denn Magier oder Drachen. Und müssten sie streng genommen nicht auch ein Problem mit Basilisken haben?“ „Das sind berechtigte Einwände“, gab Gran Doma bedächtig zu. „Aber wer kann schon sagen, was in den Köpfen dieser Menschen vor sich geht? Ihr solltet diese Brosche mit zur Wüstenlöwin nehmen, damit sie entscheiden kann, was zu tun ist. Gewiss wird sie dieser Spur nachgehen wollen.“ Zustimmend nickte Rogue und nahm die Wappenbrosche an sich, um sie in einer Gürteltasche zu verstauen. Dann wiederholte er die Grußgeste gegenüber Gran Doma. „Habt Dank für Eure Zeit und Euren Rat, Meister. Wir werden Kontakt zu Euch halten.“ „Und wir zu euch“, erwiderte der Wüstenweise, während er über Rogues dargebotene Hand strich. Dann wandte er sich an Sting und Yukino, um sich auch von ihnen zu verabschieden. „Nehmt euch an Rogue ein Beispiel und bleibt besonnen.“ Die Beiden sahen erst einander, dann Rogue an, dann verzogen sich Stings Lippen zu einem Grinsen, während Yukino ihr eigenes hinter einer Hand verbarg. „Streber“, lautete das Urteil. Rogue verdrehte die Augen und verließ vor den Beiden die Privathöhle von Gran Doma. Auf dem Weg durch die Zuflucht achtete Rogue genau auf die Menschen um ihn herum. In den Mienen erkannte er Angst und Verwirrung, aber zuallererst Trotz. Diese Männer und Frauen lebten schon seit vielen Generationen mit der Gefahr durch die Basilisken. Ein neues Manöver war bei weitem nicht genug, um sie einzuschüchtern. Rogue hoffte inständig, dass der Schutz durch die Zuflucht und durch die unverbrüchliche Gemeinschaft dieses Volkes weiterhin bestehen würde. Kurz vor dem Eingang, wo Rogue die Anwesenheit seines Drachen spüren konnte, begegneten sie einer hochgewachsenen Frau mit langen, blonden Haaren und in den typischen Pluderhosen und einer eng anliegenden Tunika der Wüstennomaden, die wenige Sommer älter als Sting und Rogue war. Sting und Yukino begrüßten sie mit einem Handschlag. „Mummy, sind Aki und Toraan auch hier?“, wollte Yukino wissen. Die Blonde schüttelte den Kopf. „Die Beiden sind wieder einmal auf einem Trip. Ich weiß nicht, wo sie momentan auf der Suche sind. Vielleicht wieder bei der Golemschlucht. Sie haben immer noch nicht aufgegeben.“ „Würde ich an ihrer Stelle auch nicht“, erklärte Sting mit einem Schulterzucken. Rogues Blick glitt zu Yukino hinüber. Sie konnte Toraans verzweifelte Suche wahrscheinlich am besten verstehen, hatte eine ebensolche sie doch schon zu drei ausgedehnten Reisen quer durch Fiore getrieben. Sie mochte nun Säbel und Feder der Jadefürstin sein, aber Rogue wusste genau, dass sie ihre Suche immer noch nicht aufgegeben hatte. Behutsam legte er eine Hand auf ihre Schulter und drückte diese sanft. Überrascht blickte die Weißhaarige auf. Eine Träne rann über ihre linke Wange, doch sie schenkte Rogue ein warmes Lächeln und legte ihre Hand auf seine. „Es ist die freie Entscheidung der Beiden. Dieses Recht will ich ihnen nicht absprechen“, erklärte Mummy ernst. „Aber dass sie ausgerechnet jetzt nur zu zweit unterwegs sind, macht mir Sorgen.“ „Keine Bange, wenn jemand auf sich selbst aufpassen kann, dann die Beiden“, beschwichtigte Sting voller Vertrauen. „Sie sind noch halbe Kinder.“ „Das waren wir auch, als wir Sabertooth zurück erobert haben.“ Mummy wollte noch etwas sagen, doch Yukino trat einen Schritt vor und ergriff die Hände der Älteren. „Hab’ Vertrauen in die Beiden. Sie wissen, wo ihre Heimat ist, gerade deshalb haben sie auch die Stärke, weiter zu suchen.“ Rogue fing Stings Blick auf. Sein Partner grinste stolz. Rogue lächelte. Sie verabschiedeten sich von Mummy und verließen die Zuflucht. Direkt vor dem Eingang warteten bereits Weißlogia und Skiadrum. „Also zurück nach Sabertooth“, stellte Sting seufzend fest. Yukino strebte auf Weißlogia zu und kletterte leichtfüßig auf dessen Rücken. Schon wollte Rogue ihrem Beispiel bei Skiadrum folgen, als sein Partner ihn zurück zog und die Arme um ihn schlang. Reflexartig erwiderte Rogue die Umarmung und legte den Kopf schräg, als Stings Lippen die seine suchten. Der Kuss war lang und leidenschaftlich und vollkommen hemmungslos. Rogues Gedanken wurden ganz schwammig. Nur vage war er dankbar für den Umstand, dass Lector und Frosch sich davon hatten überzeugen lassen, bei Minerva zu bleiben. Der Kuss lief so zärtlich aus, dass Rogue mit aller Macht gegen ein Zittern seiner Knie ankämpfen musste. Als er Stings Stirn an seiner spürte, öffnete er die Augen wieder – er hatte gar nicht bemerkt, wann er sie geschlossen hatte. In den blauen Augen seines Partners erkannte er eine Sanftheit, bei der ihm ein wohliger Schauder über den Rücken lief. „Ich habe den Blick des Kleinen übrigens sehr wohl bemerkt“, flüsterte Sting mit verräterisch heiserer Stimme. Er hauchte Rogue einen weiteren Kuss auf die Lippen. „Aber er hat mich nicht interessiert. Das wird er nie.“ Schon wollte Sting sich lösen, um endlich aufzubrechen, aber jetzt war es Rogue, der ihn zurückhielt. „Gut“, stieß er krächzend hervor und gab Sting einen weiteren hemmungslosen Kuss. Die Belustigung seines Drachen und das ungeduldige Brummen von Weißlogia ignorierte er für diesen Moment genauso wie seine Sorge in Bezug auf die Probleme in der Stillen Wüste. Für diese paar Minuten drehte sich sein ganzes Denken und Handeln einfach nur um seinen Partner… Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)