Schwarzer Komet von Yosephia (Drachengesang und Sternentanz - Teil 1) ================================================================================ Kapitel 6: Der Abend, an dem sie ein besonderes Buch fand --------------------------------------------------------- 6 Jahre vor der Opferung Tief holte Levy Luft und presste die drei schweren Wälzer noch fester an ihre Brust, um ihren zitternden Händen eine Aufgabe zu geben. Bei den Sieben Künsten, sie war so schrecklich nervös! Seit fünfzehn Jahren träumte sie von diesem Tag und nun würde sie am liebsten davon laufen! Alle hier sahen so viel klüger aus, als sie sich fühlte. Sie gingen mit einer Selbstverständlichkeit einher, die Levy völlig abging. Fühlte keiner von ihnen die Ehrfurcht vor diesem riesigen Gebäude mit seiner kunstvollen Backsteinfassade, den beiden große Seiten Seitenflügeln, den zahlreichen Nebengebäuden, den Schiefer gedecktem Dach und dem himmelhoch aufragenden Glockenturm? Hatte keiner dieses Gefühl der Erdrückung von all der Pracht und Würde dieses heiligsten aller Orte in ganz Fiore – ach was, in der ganzen Welt?! Levy machte einen zaghaften Schritt nach vorn. Ihre Beine knickten beinahe ein. Vor ihren Augen flimmerte es. Der Turm wurde größer und größer und größer… Ein harter Stoß an ihrer Schulter riss Levy aus ihrer Trance. Sie stolperte nach vorn und die Bücher rutschten langsam aus ihren Armen. Hastig schloss Levy die Glieder fester darum und drückte die Knie durch, um wieder aufrecht zum Stehen zu kommen. Vorsichtig rückte sie die Bücher zurecht und wagte es schließlich, eine Hand davon weg zu nehmen, um sich eine verirrte blaue Haarsträhne hinters Ohr zu schieben, die sich aus dem orangefarbenen Haarband gelöst hatte. Sofort hing ihr die Strähne wieder ins Gesicht. Wider besseres Wissen versuchte sie noch einmal, die widerspenstige Strähne zu zähmen, doch dann musste sie rasch wieder nach den rutschenden Büchern greifen. Seufzend und auf sehr wabbeligen Beinen ging sie weiter, bis sie die durchgetretenen Stufen der berühmten Treppe der Sieben Künste erreichte. Sieben mal sieben Stufen, auf jedem Absatz mit Mosaiken versehen, die jeweils eine der sieben Künste thematisierten. Noch nie hatte Levy diese Stufen betreten oder auch nur vom Weiten gesehen, aber sie kannte die Themen der einzelnen Absätze dennoch ganz genau: Die Ökonomie – der Fluch und Segen der Menschheit, nährend und hungernd, gerecht und grausam, logisch und mysteriös. Die Politik – das Gehirn des Weltgeschehens, kalkulierend, intrigierend, tückisch, der Seiltanz auf dem Wollfaden. Die Naturwissenschaften – die großen Antwortenden und Fragenden, ewig forschend, irrend, revidierend. Die Kunst – der Traum vom Leben, das Leben im Traum, spiegelnd, verzerrend, verwirrend. Die Philologie – Zungen der Welten, Medium, Werkzeug, Kunstwerk, warm- und kaltherzig zugleich. Die Geschichte – Lehrerin, Sammlerin, Rück- und Vorausblickende, mächtig und machtlos. Und die Astronomie – die Unentwirrbare, die Magische, die Logische, die alles Bewegende und doch so Ferne. Offiziell wurden die Sieben Künste als gleichberechtigt behandelt, doch in ganz Fiore galt die Fakultät der Astronomie als die wertvollste und angesehenste, wenn auch gleichzeitig als die schwierigste und unzugänglichste. Als einzige der Sieben Künste beschäftigte sie sich mit der Magie, ihren Ursprüngen, Gesetzmäßigkeiten und Wirkungsweisen, aber gerade deshalb hatte sie oft den Charakter eines blinden Tastens. Levy musste gestehen, dass die Astronomie einen ganz besonderen Charme hatte, aber ihr Herz schlug für die Fakultäten der Geschichte und der Philologie mit all ihren Instituten zu Geographie, Ethnologie, Religion, Archäologie, Literatur, Rhetorik, Grammatik, Musik und dergleichen mehr. Das war ihre intellektuelle Heimat, dort fühlte sie sich geborgen. In ihrer Familie, die schon seit Generationen einen kleinen Flecken Land bestellte, verstand keiner Levys Begeisterung für all das, dennoch hatten ihre Eltern alles in Bewegung gesetzt, um Levy den Weg in die Universität zu ebnen. Sicherlich auch in der Hoffnung, dass ihr viertes von sieben Kindern dort eine Basis fand, die es vom Familienerbe unabhängig machte, aber Levy war ihnen dennoch unendlich dankbar dafür! Als sie endlich den Absatz mit ihrer Lieblingsfakultät betrat, machte ihr Herz einen Hüpfer, als sie die Insignien der Institute im Mosaik erkannte. Vergessen war die Nervosität. Levys Wangen waren vor Freude gerötet und sie lächelte versonnen vor sich hin, während sie die gesamte Länge des Absatzes abschritt. Beinahe kamen ihr die Tränen beim Anblick von Feder und Tintenfass, den Insignien des Handschriften-Instituts. Es kostete sie eine Menge Überwindung, endlich weiter zu gehen und die letzten sieben Stufen zum Absatz der Astronomie zu bewältigen. Hier waren Sternbilder abgebildet. Die Nördliche Krone, das Kreuz des Südens und ganz zentral: Das Sternbild des Drachen. Levy hatte schon gefühlt hundert Legenden darüber gelesen, von astronomischen Abhandlungen über die Deutung des Erscheinens des Drachens ganz zu schweigen. Am besten gefiel ihr die Legende, laut der dieses Sternbild nur zu sehen war, wenn die Drachen sich versammelten. Der Gedanke, dass sich irgendwo in Fiore vor einem Jahr die Drachen getroffen hatten, war aufregend! Damals hatte Levy die ganze Nacht draußen verbracht, das Sternbild des Drachen betrachtet und sich Träumereien von Drachen hingegeben. Endlich riss Levy sich auch von diesem Mosaik los und drehte sich um. Jetzt konnte sie den verwinkelten Park überblicken, der dem Universitätskomplex vorgelagert war und in welchem Studenten und Dozenten herum wuselten wie in einem Ameisenbau. Zwischen den Gewächshäusern zur Linken lugte das Laborgebäude aus bereits verdunkeltem Sandstein hervor, versehen mit riesigen Rundbogenfenstern, wohl um viel Licht in die Laboratorien zu kriegen. Zur Rechten lagen die Beete, Äcker und Plantagen. Musterbeispiele für das Aggrar- und auch für das Botanikinstitut. Die Erträge wurden für die nahe liegende Mensa verwendet, wie Levy gelesen hatte. Wenn Levy jedoch direkt geradeaus blickte, sah sie die großen und kleinen Dächer der Kaiser-Metropole Crocus – die größte Stadt von ganz Ishgar – und schließlich den Burgkomplex. In seinem Zentrum war der reinweiße und hoch aufragende Turm der Ewigkeit zu erkennen, um den sich mindestens genauso viele Legenden rankten wie um das Sternbild des Drachen. Seit der Thronbesteigung der Unsterblichen Kaiserin vor dreihundert Jahren war der Turm ein Symbol für Macht, Weisheit, Einigkeit und noch vielerlei mehr geworden. Am liebsten hatte Levy ihn als Symbol der Gleichberechtigung. Wäre sie zu Zeiten der Ständedünkel auf die Welt gekommen, hätte sie nie und nimmer hier studieren können. Wahrscheinlich wäre sie dann jetzt schon verheiratet und mindestens zweifache Mutter. Nicht dass Heirat und Familiengründung für sie keine Option wären – sie liebte Kinder und war ganz vernarrt in ihre drei Neffen –, aber sie war noch nicht bereit dafür und war darum dankbar für den gesellschaftlichen Wandel seit der Thronbesteigung der Unsterblichen Kaiserin. Heutzutage standen jedem beinahe alle Türen offen. Sicher, ein Großteil der Fürstentümer Fiores war immer noch genau das. Freie Städte wie Cait Shelter, Malba und Borwatt waren selten. Doch die Macht der Fürsten wurde von ihren Untertanen legitimiert. Das hatte der Thronwechsel in Sabertooth vor zwei Jahren erst wieder bewiesen. Die Bewohner des Fürstentums und die freien Wüstennomaden hatten sich hinter Minerva Orland gestellt. Dass es dennoch zu einer blutigen Schlacht gekommen war, war dem Fürstregenten Jiemma zur Last zu legen, der seinen unrechtmäßigen Anspruch auf den Thron mit Gewalt hatte durchsetzen wollen. Levy hatte die Berichte über diese Vorgänge sehr aufmerksam verfolgt. Levy drehte sich wieder dem Hauptportal der Universität zu, ein riesiger Bogen, durch den eine Kutsche passen würde. In den Kantstein des Bogens war das Wappen der Universität eingraviert und mit Farbe nachgemalt worden: In schwarzem Feld eine stilisierte silberne Frau mit spitz zulaufenden Schmetterlingsflügeln, um sie herum sieben Sterne verteilt. Andächtig durchschritt Levy den Bogen. Nach zwanzig Schritten erreichte sie den Innenhof. Ein riesiges Areal, das an allen Seiten durch weitere Seitenflügel abgegrenzt wurde. Genau wie außen schlossen sich auch innen zahlreiche Anbauten an die Hauptgebäude an, sodass die quadratische Struktur durchbrochen wurde. Im Areal selbst gab es ein großes Theater zur Rechten, sowie den Bibliothekskomplex zur Linken. Ansonsten verteilten sich hier an geschlängelten Wegen zwischen Bäumen, Büschen und Teichen mehrere Freiluftklassenzimmer, sowie lauter kleine Lauben mit Tischgruppen, wo die Studenten lernen und diskutieren konnten. Es war ein überwältigendes Durcheinander, aber eines, in dem doch jeder zu wissen schien, wo er hingehörte. Levy wandte sich nach links und hielt sich nahe beim Hauptgebäude, anstatt sich daran zu versuchen, durch den Irrgarten aus Wegen und Trampelpfaden hindurch querfeldein zur Bibliothek zu gelangen. Sie hatte sich bisher nicht in Crocus verlaufen und ihr Ehrgeiz gebot ihr, dass das in der Universität so blieb. Insbesondere an ihrem ersten Tag, an dem nur zwei Dinge anstanden: Sie musste sich bei Professorin Belno melden, der Direktorin der Universitätsbibliothek und damit ihre Chefin für die nächsten sechs Jahre, und sie musste zur Empfangsrede für die Studienanfänger. Letzteres mochte keine ausdrückliche Pflichtveranstaltung sein, aber es war vielleicht Levys einzige Chance, jemals in ihrem Leben die Unsterbliche Kaiserin zu sehen. Auf ihrem Weg sammelten sich immer mehr Menschen. Studenten in Zivilkleidung – einige in feine Seide und in Damast gekleidet, andere in schlichtes Leinen oder Wolle –, Dozenten in schwarzen Talaren, Doktoren in schwarzen Talaren mit Purpurstreifen und Professoren in purpurnen Talaren. In schwarzen Uniformen mischten sich noch Universitätsangestellte darunter und immer wieder waren auch Männer und Frauen in der weiß-blauen Alltagsuniform der Kaiserlichen Armee zu sehen, auf ihren linken Brüsten und auf ihren Rücken das Emblem ihrer jeweiligen Abteilung, die wohl von ihrem Recht Gebrauch machten, Vorlesungen zu besuchen. Wieder gerieten Levys Bücher ins Rutschen und die Blauhaarige versuchte, aus dem dichten Menschenstrom heraus in eine ruhige Nische zu kommen, um die Kontrolle über die Schriftstücke zurück zu erlangen. Doch sie konnte sich kaum gegen die vielen Leute durchsetzen und wurde immer wieder angerempelt. Ein Stoß in ihrem Rücken, als ein junger Student an ihr vorbei hastete, brachte sie endgültig aus dem Gleichgewicht. Sie stolperte nach vorn, die Bücher fielen zu Boden und verschwanden im Getümmel der unzähligen Füße. Levy kamen beinahe die Tränen. Für diese Bücher hatten ihre Geschwister zusammen gelegt, um ihr einige lang gehegte Wünsche zu erfüllen. Für die Blauhaarige waren diese Werke schon allein aus ideellen Gründen unbezahlbar! Die junge Frau ging in die Knie und warf sich schützend über das erste Buch. Wie eine Mutter ihren Säugling presste sie es an ihre Brust und sah sich verzweifelt nach den anderen beiden um. Um sie herum beschwerten sich einige Studenten, aber Levy krabbelte weiter, bis sie auch das zweite Buch wieder an sich drücken konnte. Doch das dritte – das ihr liebste überhaupt von einer der genialsten Autorinnen, die jemals auf Erden gewandelt waren – blieb verschollen. Und dann lichtete sich die Menge um sie herum und jemand hielt ihr das kostbare Buch vor die Nase. Verdattert blickte Levy von ihrer knienden Position auf zu einer jungen Frau in ihrem Alter mit brustlangen, blonden Haaren und großen, braunen Augen in einem herzförmigen Gesicht. Ihr Körper ließ keine Wünsche offen: Üppige, frauliche Rundungen, die dennoch im Einklang mit den schlanken, sehnigen Gliedern standen. Sie trug ein feines, aber einfaches Wams und zweckdienlich-elegante Lederhosen und hohe Stiefel. Der Gürtel wies eine leere Schlaufe auf, deren rissiges Leder von häufiger Benutzung kündete. Die Schlaufe für ein Schwert? Das Tragen von Waffen war auf dem gesamten Universitätskomplex strengstens untersagt. Sogar die Soldaten mussten sich daran halten, gleichgültig wie hoch ihr Rang war, und ihre Waffen bei einem der vier Portale abgeben. Zur Linken und zur Rechten der Blonden standen zwei Männer, die allein durch ihre Haltung den Studentenstrom zu teilen verstanden, beide ähnlich gekleidet wie die Frau. Der eine hatte stoppelige, rot-weiße Haare und stark gebräunte Haut, der andere hatte eine kupferfarbene Haarpracht, die an eine Löwenmähne erinnerte, und ein Gesicht, von dem Levy wusste, dass ihm alle ihre drei Schwestern und sogar ihre Mutter verfallen würden. Levy richtete ihre Aufmerksamkeit jedoch lieber auf das Buch in den Händen der Frau. Stammelnd vor Dankbarkeit nahm sie es entgegen und presste es wieder fest gegen ihre Brust. Die Blonde lächelte und Levy meinte, in den sanften, braunen Augen Verständnis heraus zu lesen. „Die Lieder der Geister von Maria Heartfilia. Eine echte Rarität. Die meisten greifen für das Thema lieber zu den knapperen Werken der letzten dreißig Jahre“, urteilte die Frau. Levys Miene und Stimmung hellten sich noch mehr auf. „Du hast es auch gelesen?“ „Sicher.“ Ein schiefes Grinsen huschte über die sinnlichen Lippen. „Zuhause gehörte es zur Pflichtlektüre.“ Seltsamerweise grinsten die beiden Männer, aber Levy war so begeistert, dass sie sich nichts weiter dabei dachte. Sie hielt der Frau die Hand hin. „Ich bin Levy McGarden.“ Und erst als die Blonde ihren Händedruck erwiderte, fiel Levy das Wappen auf der silbernen Gürtelschnalle auf. Eine kniende, betende Frau unter einem Stern. „Oh…“ 4 Wochen vor der Opferung Crocus war eine Stadt, die nicht schlief. In Levys Heimatdorf war das Leben mit dem Schwinden des Tageslichts einfach erlahmt, aber in der Stadt der Unsterblichen Kaiserin war nachts beinahe genauso viel los wie tagsüber. Daran hatte Levy sich lange Zeit nicht gewöhnen können und Wochen lang unter akutem Schlafmangel gelitten. Mittlerweile konnte sie von sich selbst behaupten, selbst dann wie ein Stein schlafen zu können, wenn direkt neben ihr eine Studentenfeier stieg, aber das hieß nicht, dass sie die Stille der nächtlichen Universitätsbibliothek nicht zu würdigen wusste. Für Levy McGarden, Magistra der Universität und Doktorandin der Philologischen Fakultät, gab es keinen schöneren Ort als die riesige Halle mit den begehbaren Regalen, den Lesezimmern, den Themennischen, den Lernpulten, den Registertischen und den Vitrinen mit den Seltenheiten. All die Winkel und Gassen, die Dunkelkammern, die Archivschränke, die Münzsammlungen, die Heraldischen Teppiche, die Fresken zwischen den Regalen, die Mosaike auf dem Fußboden, die altertümlichen Instrumente in den Vitrinen… Und überall hingen Licht-Lacrima – die einzige zumutbare Methode, um in dem riesigen Gebäude für genügend Licht zu sorgen, ohne dass die kostbaren Werke gefährdet wurden. Das Entzünden von Feuer war hier strengstens untersagt und Fenster waren beim Bau bereits ausgeplant worden. Für eine für die Bücher zuträgliche Belüftung war ein kompliziertes Rohrkonstrukt im Deckengewölbe entworfen worden, das sich in den letzten zweihundert Jahren bewährt hatte. Das hier war Levys Heimat. Hier kannte sie jeden Pfad, jedes Regal, jede Kammer, jedes Register. „Levy, ich bin fertig für heute.“ Die Blauhaarige blickte von ihrer Lektüre zu einer gleichaltrigen Frau mit violetten, schulterlangen Haaren auf, die sich den schwarzen Talar einer Magistra über den linken Arm gelegt hatte. „Wie spät ist es?“, fragte Levy verwirrt und sah sich um. Alle Licht-Lacrima außer denen in ihren und Ennos Laternen waren gelöscht worden. Es war gespenstisch still. „Es hat vor vielleicht fünf Minuten zur elften Stunde geschlagen, hast du das nicht gehört?“ Es klang mehr nach einer Feststellung als nach einer Frage und Levy errötete verlegen. Grinsend legte Enno den gewaltigen Schlüsselbund neben Levys Buch. In den Kreisen der Bibliotheksmitarbeiter wurde er zuweilen als Heiligtum der Welt bezeichnet, denn er enthielt alle Schlüssel zu allen Kammern, Vitrinen und Zugangstüren der Bibliothek. Es gab nur einen einzigen weiteren Schlüsselbund dieser Art und den gab Professorin Belno nie aus der Hand, wie es auch vor ihr kein Bibliotheksdirektor je getan hatte. Auch dieses Exemplar hier durfte nur an von Belno höchst persönlich ausersehene Mitarbeiter weiter gegeben werden. Levy und Enno genossen Beide dieses seltene Privileg. Enno hob das Buch an, um den Titel auf dem Deckel lesen zu können. „Kompendium der Zukünfte. Gesammelte Prophezeiungen Fiores“, las sie vor und suchte Levys Blick. „Wolltest du deine Doktorarbeit nicht über die Geburtshymnen der Geister schreiben?“ „Das will ich auch weiterhin, aber ich bin auf einen Querverweis gestoßen und wollte dem nachgehen und dann…“ „Und dann bist du vom Hundertsten ins Tausendste gekommen. Schon klar“, gluckste Enno und richtete sich wieder auf. „Übertreib’ es nur nicht… Die Türen und Kammern habe ich alle abgeschlossen und die Vitrinen und Register überprüft. Du musst nur noch das Hauptportal schließen.“ „Danke und schlaf’ gut.“ „Du auch, wenn du so etwas überhaupt mal machst“, erwiderte Enno noch immer grinsend und winkte, ehe sie Levys Lesepult verließ. Ihre Schritte hallten von den Wänden wieder. Levy wartete, bis sie verklungen waren, ehe sie sich wieder dem Abschnitt zuwandte, den sie vor Ennos Auftauchen studiert hatte. Laut dem Einleitungstext war diese Prophezeiung vierhundert Jahre alt und der Ursprung äußerst nebulös. Es hatte zu jener Zeit wohl eine verheerende Seuche in der Gegend des heutigen Malba gegeben, der beinahe alle Einwohner der Stadt zum Opfer gefallen waren. Die wenigen Überlebenden waren schwer traumatisiert und nicht in der Lage gewesen, richtig zu erzählen, was ihnen widerfahren war. Kurz darauf waren sie allesamt heftigen Fieberanfällen erlegen. Aber im Fieberwahn hatten sie alle dasselbe gesammelt und ein junger Priester hatte ihre Worte schließlich aufgezeichnet: Der Tod ist in den Himmel gestiegen und harrt dort zwischen den Sternen aus. Ohne Odem und Macht, ein Hauch seiner Selbst und doch in ewiger Verbundenheit zu seinesgleichen. Wenn er jedoch Odem und Macht zurückerlangt, wird er über uns kommen und uns aller Sünden entblößen. Odem und Macht sollen ungenannt, unerkannt, ungescholten bleiben, denn nur so hat der Schutz Bestand vor der Gewalt des Schwarzen Kometen! Von Religionswissenschaftlern, Psychologen und sogar von Astronomen wurde diese Prophezeiung als Auswuchs eines posttraumatischen Stresssyndroms bezeichnet. Im Allgemeinen gingen die Historiker davon aus, dass das Massensterben in Malba tatsächlich mit einer Seuche zu tun hatte, deren Ursprung medimagische Experimente gewesen waren. Im Volksglauben hatte diese Prophezeiung jedoch Wurzeln geschlagen und Ethnologen hatten mindestens zwei Dutzend Lesarten in Gruselgeschichten, Liedern, Lehrsprüchen und Sektenbekenntnissen identifizieren können. Levy überflog die Liste, aber mit ihren Gedanken hing sie noch an den Worten der Prophezeiung. Sie wusste wirklich nicht, wieso, aber etwas beunruhigte sie zutiefst… Ihr Blick blieb am letzten Punkt der Liste hängen: Avatar, die Gilde des Wahren Weges, magiefeindliche Sekte, seit dem Jahr 257 durch öffentliche Schmähschriften und –reden bekannt. Berufen sich in standardisierten Ritualen auf den Schwarzen Kometen. Bekannte Stützpunkte in Malba und einigen kleineren Städten im Umfeld. Als ungefährlich eingestuft. Wahrscheinlich war es gar nicht weiter verwunderlich, dass diese kleine Sekte sich in Malba angesiedelt hatte, aber Levy wurde dennoch aus irgendeinem Grund schwummrig zumute. Wurde unter den Sünden etwa Magie verstanden? Levy musste an ihre Freunde Gray und Lyon denken, die jetzt wahrscheinlich schon de Spaltengletscher überquert hatten. Waren die Beiden auch durch solch eine Prophezeiung bedroht? Levys Blick glitt zum Ende der Doppelseite, wo sich Quellen und weiterführende Literaturangaben befanden. Darunter war auch ein Protokoll des Priesters über die Überlebenden aufgeführt worden. Die Magistra stand auf und ging zum Register der ethnologischen Abteilung hinüber. Sorgfältig durchblätterte sie die ordentlich beschriebenen Karten. Doch die Kartei für das Protokoll konnte sie nicht finden. Also räumte sie ihren Platz auf, stellte das dicke Buch zurück ins Regal, schnappte sich Schlüssel und Laterne und ging in den vorderen Bereich der Bibliothek. Im Ausleihregister fand sie das Protokoll auch nicht. Erst im Inventurregister fand sie einen Vermerk. Fünf Exemplare hatte es vor zehn Jahren noch gegeben. Bei der Inventur vor neun Jahren waren sie alle nicht mehr da gewesen. Eine Nachbestellung sei nicht möglich gewesen. Verwirrt runzelte Levy die Stirn. Gewiss kam es trotz strengster Kontrolle manchmal vor, dass Bücher verschwanden. Das ließ sich bei so einer großen Sammlung und bei so vielen täglichen Besuchern nicht vermeiden. Aber es war undenkbar, dass alle fünf Exemplare eines wenig genutzten Buches gleichzeitig verschwanden. Als die Tür schwungvoll geöffnet wurde, zuckte Levy erschrocken zusammen und klappte das riesige Registerbuch zu. In der Tür stand eine hochgewachsene Frau in einem purpurnen Talar mit hagerem, strengem Gesicht und hellbraunen, grau durchwirkten Haaren, die zu einem buschigen Zopf am Hinterkopf zusammen gefasst waren. Sogar die Gesichtsfalten wirkten streng. „M-meisterin Belno, Ihr seid noch wach?“, stammelte Levy, die sich aus irgendeinem Grund ertappt fühlte. Sie wuchtete das schwere Buch zurück ins richtige Regal und ergriff dann ihre Laterne und den Schlüsselbund. „Ich wollte gerade Schluss machen.“ Belno verengte die Augen. „Du bist eine schlechte Lügnerin, Levy McGarden.“ „Uhm…“ Die Blauhaarige suchte nach den richtigen Worten. Sie fühlte sich auf einmal wieder wie zu Beginn ihres Studiums. „Du hättest die ganze Nacht hier verbracht“, tadelte Belno. „Mir ist klar, dass du sehr ehrgeizig bist, was deine Doktorarbeit betrifft, aber du solltest auch mal dein Leben außerhalb der Universität pflegen.“ Das waren starke Worte von einer Frau mit drei Doktortiteln, einer Professur, einer Direktion, unzähligen Publikationen und einem winzigen Häuschen, das so nahe am Campus lag, wie es nur möglich war. Doch Levy hätte nie gewagt, das anzumerken. „Was ist mit deinen Freunden?“ „Die sind alle auf Heimatbesuch“, erklärte Levy und konnte ihre Wehmut dabei nicht ganz verbergen. Seit Lucy und die Anderen Crocus verlassen hatten, fühlte Levy sich oft entsetzlich einsam. Sie vermisste die langen Gespräche mit ihrer besten Freundin, die zuweilen beinahe abenteuerlichen Unternehmungen und vor allem die Geselligkeit. Um sich davon abzulenken, hatte sie sich mit Feuereifer in die Recherchen für ihre Doktorarbeit gestürzt. In einer unmissverständlichen Geste trat Belno beiseite und hielt die Tür weiter auf. „Vielleicht solltest du auch mal darüber nachdenken, Levy McGarden.“ „Hm… vielleicht…“ Die junge Magistra ging an ihrer Vorgesetzten vorbei. Im Regal neben dem Büro stellte sie die Laterne ab und löschte sie, dann verließ sie das Gebäude. Hinter ihr schloss Belno ab und sie gingen schweigend nebeneinander her durch den Park. Dank des Mondlichts brauchten sie keine Laternen. Im Eingangsbogen wurde ihnen der Weg dann von Fackeln mit Feuer-Lacrima erhellt. Am Fuße der Treppe der Sieben Künste wandte Belno sich schließlich nach links. „Schlaf’ gut, Levy McGarden.“ „Ihr auch, Meisterin Belno.“ Levy war schon mehrere Schritte dem Hauptweg gefolgt, als die Bibliotheksleiterin ihr noch hinterher rief: „Und mach’ Urlaub. Ich kann es nicht gebrauchen, dass du zusammen brichst.“ So herzlos die Worte auch klangen, Levy begriff doch, dass aufrichtige Sorge dahinter steckte. Deshalb fühlte sie sich wegen des Plans, der bei Belnos Vorschlag in ihrem Hinterkopf heran gereift war, beinahe schuldig. Sie würde Urlaub machen, ja, aber sie würde nicht zu ihrer Familie reisen, sondern nach Malba…! Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)