Erwachen von VZerochanV (Die Welt nach dem Ende) ================================================================================ Kapitel 6: Aufbruch ------------------- Der nächste Morgen war angebrochen und hatte Mina und Aaron in aller Frühe begrüßt. Es war nicht einmal sechs Uhr, als sich die beiden von den Siedlungsbewohnern verabschiedeten. Während Aaron sich lediglich für die Gastfreundschaft bedankte, fiel der Abschied für Mina wesentlich länger aus. Ihre Mutter wollte sie gar nicht gehen lassen. Mehrfach hörte Aaron die Sätze „Bitte geh nicht“ und „Du bist noch nicht alt genug“. Umso mehr bewunderte er Mina, dass sie standhaft blieb. Sie hatte ihrer Mutter versprochen, sie zu besuchen, doch jetzt musste sie ihren eigenen Weg gehen.   „Bist du dir sicher, dass du sie allein lassen willst?“ Sie hatten gerade erst die Siedlung verlassen, als Aaron Mina diese Frage stellte. „Jetzt kannst du noch umkehren. Im Gegensatz zu mir hast du hier eine Familie. Hätte mich meine Schwester gebeten zu bleiben, dann wäre ich vermutlich geblieben.“ „Du hast eine Schwester?“, war das Erste, was Mina aus seinen Informationen herausfilterte, und gleichzeitig das Unwichtigste. „Ja, eine kleine...“ Dennoch traf 'hast' nicht ganz zu. Mittlerweile war sie höchstwahrscheinlich nicht mehr am Leben, egal ob sie dem Krieg zum Opfer gefallen oder an Altersschwäche gestorben war. Fakt war, dass er sie nie wieder sehen würde. Der Gedanke klang so irreal. Für ihn fühlte es sich an, als hätte er sie erst gestern das letzte Mal gesehen. Und nun musste er akzeptieren, dass sie tot war. Seine kleine Schwester hatte die Welt eher verlassen als er. Diese Erkenntnis schmerzte weit mehr als der Blick auf die Leichen im Labor. Doch jetzt wusste er den Schmerz zu unterdrücken. „Deine Mutter.“, räusperte er sich. Mina hatte ihm immer noch nicht geantwortet. Entweder sie wollte nicht oder das Thema war ihr nicht wichtig genug, um darüber zu reden. „Meine Mutter wird das schon schaffen.“, meinte sie gelassen und übernahm die Führung. Sie lief direkt vor Aaron, bis sie ihren Abstand auf fünf Meter vergrößert hatte und sich plötzlich zu ihm drehte. Folglich lief sie nun rückwärts. „Ich liebe meine Mutter. Und ich weiß, dass sie das auch tut. Genau deshalb bin ich mir sicher, dass es in Ordnung ist, sie jetzt zu verlassen. Denn unser Band wird sicherstellen, dass ich mein Versprechen halte und wiederkommen werde! Das wissen wir beide.“ Mit anderen Worten: Sie baute auf das gegenseitige Vertrauen zwischen ihnen. Die Bände zwischen Familienmitgliedern waren wahrlich ein atemberaubendes Phänomen. Selbst nach den schrecklichsten Ereignissen hielt man zusammen und suchte nach einer gemeinsamen Lösung. Das Ergebnis war dabei egal. Allein der Zusammenhalt schaffte neuen Mut und Hoffnung. Diese Überlegungen hinterließen auf Aarons Lippen ein sanftes Lächeln, das ihm selbst zwar nicht auffiel, dafür aber Mina keineswegs verborgen blieb. „Du scheinst dich ja doch auf die Reise zu freuen, obwohl du heute früh fast das Handtuch geworfen hättest!“, stellte Mina erfreut fest, doch sie wusste nicht, dass sein Lächeln einen ganz anderen Grund hatte. Stattdessen musste sie ihn wieder an das erinnern, was er bis eben noch erfolgreich verdrängt hatte. Schlagartig verfinsterte sich sein Gesicht. „Ich freue mich ganz sicher nicht! Oder sag mir, wie man sich freuen kann, wenn einem ein Schwert in die Hand gedrückt wird mit den Worten 'Du wirst es gebrauchen können'?“ Er erinnerte sich nun wieder genau. Das Schwert in seiner rechten Hand, das er mit zittrigen Fingern festhielt, war die Ursache seiner schlechten Laune. Kurz nachdem Mina ihn geweckt hatte, wurde ihm die Botschaft übermittelt, dass der Älteste ein Geschenk für ihn habe. Anfangs noch neugierig, wandelte sich sein Gemüt sogleich, als der Gegenstand, alias Schwert, ihm überreicht wurde. Das war kein Geschenk - das war sein Eintrittsticket ins Grab. „Dieses Teil“ Voller Wut hielt er das Schwert mit der Spitze nach oben vor Minas Gesicht. „bedeutet nichts als Unheil, Verderben und Tod!“ „Selbst wenn es dich beschützt?“, erwiderte Mina naiv. Mit der linken Fingerkuppe ihres Zeigefingers drückte sie auf die Schwertspitze. Ein kleiner Tropfen Blut fiel nach unten und vereinte sich mit dem trockenen Boden, der etwas Feuchtigkeit sehr gut vertragen konnte. Aaron schüttelte den Kopf. „Ja, selbst dann. Ich finde, es ist gar nicht nötig, sich mit so was beschützen zu müssen, würden andere auch auf derlei Waffen verzichten!“ Minas Blick wurde schärfer. Zuvor hatte sie ihre Umgebung nur flüchtig wahrgenommen und mehrere Sinneseindrücke gleichzeitig eingefangen, doch jetzt konzentrierte sie sich einzig und allein auf Aaron. „Du musst es nicht nutzen, schließlich bin ich auch noch an deiner Seite. Und im Gegensatz zu dir werde ich meine Axt nicht verrosten lassen. Doch sag mir: Wo ist der Unterschied, wenn ich Leben nehme und nicht du? Es ändert nichts. Du würdest lediglich dein Gewissen beruhigen mit einer Lüge. 'Es hätte auch anders enden können. Ich habe nichts getan.' Das klingt gut. Aber... klingt es auch gut, wenn uns eine Horde Wildschweine überrascht oder uns Banditen umzingeln? Ich würde kämpfen, das steht außer Frage. Und genauso würde ich statt deines Schwertes dich beschützen. Aber manchmal ist das eigene Schwert schneller als das eines anderen und genau diese Sekunde Unterschied kann zwischen Leben und Tod entscheiden.“ Aaron hatte ihr genau zugehört. Mitten ihm Gehen hatten sie angehalten und schwiegen sich nun an. Ihre Argumente waren richtig, denn Aaron hatte sie nicht zum ersten Mal gehört. Jedoch wollte er sie nicht verstehen. Es war falsch, Leben zu nehmen. Beim Jagen hatte es einen Zweck. Hingegen war Kämpfen sinnlos. Würde man es vermeiden, könnten beide Parteien weiterleben. „Es gibt kein Gut und Böse auf der Welt, Aaron.“, unterbrach Mina plötzlich das Schweigen. „Du solltest das doch am besten wissen als jemand, der in der Kriegszeit gelebt hat. Dagegen ist heute das Paradies. Wie viele Menschen mussten damals ihr Leben lassen für nichts? Wie konntest du wohl diese Zeit überleben? Bestimmt, weil es auch da jemanden gab, der dich beschützt hatte und dir die Bürde des Tötens abnahm. Meinst du also nicht, dass jetzt eine gute Gelegenheit wäre, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen?“ Noch immer wollten keine Worte Aarons Mund verlassen. 'Die Dinge selbst in die Hand zu nehmen'. Wie ironisch dieser Teilsatz sich doch anfühlte, wenn er an seine rechte Hand hinabblickte. Das hatte er doch schon längst in dem Moment, als er das Schwert entgegengenommen hatte. Sein Mund verkrampfte sich zu einem verzweifelten Lächeln. Es fühlte sich falsch an, diese Entscheidung gefällt zu haben. Das Gespräch mit Mina war ein letzter Versuch des Widerstands gewesen, der nun ebenfalls missglückt war. Er würde das Schwert nicht abgeben. Das Zittern in seiner Hand war keine Angst. Es war Aufregung, die von Sekunde zu Sekunde stärker wurde. „Trotzdem möchte ich niemanden töten.“, stellte Aaron nochmals klar. „Ich weiß.“, entgegnete Mina. „Ich doch auch nicht.“ Gemeinsam setzten sie ihren Weg fort und entschieden sich dafür, das Thema erst einmal ruhen zu lassen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)