Another You von Black-Starshine ================================================================================ Kapitel 1: Broken to reality ---------------------------- Broken to reality   "Liegt etwas in tausend Scherben vor uns zerbrochen auf der Erde, passen wir beim Einsammeln auf, uns nicht zu schneiden. Nicht der Schmerz schreckt uns ab, sondern die Erfahrung, wie lange es blutet." Damaris Wieser (*1977), deutsche Lyrikerin und Dichterin   Die Sonnenstrahlen schimmerten durch die dichte Wolkendecke hindurch und verwandelten das nachtschwarze Blau in ein strahlendes Violett, vermischt mit satten Rot- und Orangetönen, die immer mehr dominierten. Die gesamte Nacht hatte er nicht schlafen können. Stattdessen hatte er zum Fenster herausgesehen und darauf gewartet, dass die Nacht zum Tag würde. Bald würden sie landen und in New York ankommen. Bald würde er mit seiner Vergangenheit konfrontiert werden, welcher er seit Jahren aus dem Weg gegangen war. In seinem Magen kribbelte es vor Nervosität, seine Finger zitterten leicht. Er wusste nicht, ob das am erhöhten Kaffeekonsum oder an der Aufregung lag. Aber er hatte Angst vor den bevorstehenden Konfrontationen, die auf ihn zukamen. Angst, wieder in ein dunkles Loch zu versinken, aus dem er nicht herausfand. Bisher war er sich nicht einmal sicher, ob er überhaupt wieder das Licht sah, was sich in den Tiefen der Dunkelheit verbarg. Aber er wünschte es sich. Wünschte sich Antworten auf seine Fragen und Träume. Auch wenn er sich vor den Erklärungen fürchtete, er wollte einfach nur verstehen…   Doch er hatte aufgehört zu fragen…   Er hatte aufgegeben…   Denn sie hatte ihm keine Chance gegeben, auch nur eine Antwort zu bekommen.   Seine Haltung verkrampfte sich leicht, als er ein Rascheln neben sich verspürte. Verschlafen sahen ihn zwei dunkelbraune Augen an, die ihn verwirrt musterten. „Nii-san… Warum bist du wach… Es ist doch so früh…“, flüsterte die jüngere der Beiden und rieb sich mit den Handballen den Schlaf aus den Augen. „Dann schlaf weiter… Du musst nicht wegen mir wach bleiben, wenn du noch müde bist…“, flüsterte er mit einem fürsorglichen Lächeln und beobachtete seine kleine Schwester. Diese nickte nur müde und wand sich von ihm ab. Mit dem Kopf kuschelte sie sich an die Schulter ihres Banknachbarn und war nur nach wenigen Augenblicken wieder eingeschlafen. Das ließ zumindest ihr ruhiger Atem darauf schließen.   Der junge Mann lehnte sich wieder zurück und sah vor sich. Er war wirklich müde. Die letzten Wochen schlauchten ihn. Als Kabinettssekretär hatte man keinen leichten Beruf und trug viel Verantwortung. Es war ein Wunder, dass er überhaupt freibekommen hatte. Aber er hatte die letzten Wochen so viel gearbeitet, dass ihm ein erholsamer Urlaub einfach zustand. Davon mal abgesehen hasste er seinen Job. Er hatte sich das alles anders vorgestellt. Hatte sich sein Leben anders vorgestellt. Aber sein Leben war die reinste Katastrophe. Sein Herz schlug aufgeregt, als er darüber nachdachte, was er aus seinem Dasein gemacht hatte. Im Prinzip hatte er all seine Träume verloren, als sie gegangen war. Sie hatte ihm nicht nur seine gro0e Liebe entrissen. Sie hatte auch sein Herz, seine Träume und Hoffnungen mitgenommen.   „Darf’s noch etwas zu trinken sein?“, klang die freundlich fragende Stimme der Flugbegleiterin an sein Ohr. Der Braunhaarige hob den Kopf und nickte: „Einen Kaffee, bitte…“, entgegnete er. Die Dame nickte und schenkte ihm besagtes Getränk ein, bevor sie mit ihrem Servicewagen weiterrollte. Er nahm einen großzügigen Schluck und verzog das Gesicht. Wenn das mal nicht nach hinten losging. „Du solltest dringend über deinen Kaffeekonsum nachdenken. Ist ja nicht mehr normal…“ Die mahnende Stimme kam von rechts. Der rothaarige Izumi saß, vom Gang getrennt, neben ihm und war gerade dabei seinen Computer hochzufahren. Neben ihn schlummerte sein bester Freund und schnarchte leise vor sich her. Der Angesprochene hob bei seinen Worten nur die Augenbrauen. „Wenn du deinen Computerkonsum einschränkst, können wir über den Konsum meines Kaffees sprechen…“, erklärte der Ältere und wand den Blick wieder zu seinem Kaffee. „Du siehst aus, als würdest du ihn gleich wieder zurück in den Becher spucken…“, kam es amüsiert von Koushiro, der das Passwort in seinen Laptop eintippte, „außerdem ist das mein Job.“ „Du kennst schon den Unterschied zwischen Urlaub und Arbeiten, oder?“, fragte sein Gegenüber argwöhnisch. „Meine Arbeit ist gleich mein Hobby. Also lass mich die Präsentation beenden“, schnaubte der Izumi. Taichi rollte die Augen. Wie konnte man nur so versessen auf die Arbeit sein?   „Ich finde es übrigens toll, dass du mitkommst. Endlich bekommen wir mal wieder die Gelegenheit, mit der ganzen Gruppe wegzufahren und wieder Zeit mit allen zu verbringen…“, kam es mit einem Lächeln auf den Lippen des Izumis. Taichi murrte nur etwas und sah einige Gänge zurück. Zwei Reihen entfernt saßen Sora, Miyako und Ken in einer Sitzreihe. Daneben hatten es sich Daisuke, Ken und Mira gemütlich gemacht. Sein Blick blieb an ihrer kleinen Schwester hängen. Er biss sich auf die Unterlippe. Taichi wusste noch gar nicht, ob er dazu bereit war. Aber es ging um seinen besten Freund. Den er selbst die letzten Jahre nur am Jahrestag der Digiritter gesehen hatte. Sie jedoch nicht. Sie kam zu keinem der Treffen. Immer wieder hatte er erneut gehofft, in ihre haselnussbraunen Augen sehen zu dürfen. Immer wieder bekam er die enttäuschende Antwort, sie sei verhindert.   „Natürlich komme ich mit… Yamato ist mein bester Freund. Als ob ich mir seinen Geburtstag entgehen lassen würde… Das wird mit Sicherheit eine Mörderparty! Und ich hab‘ viel zu lange nicht mehr richtig gefeiert!“, meinte der Yagami und verschränkte seine Arme hinter dem Kopf. Koushiro konnte nur lächeln, wobei sich seine Miene nach nur kurzer Zeit in eine Ernste wandelte. „Sie wird wahrscheinlich auch da sein…“, flüsterte der Informatiker. Taichi verzog einen Moment das Gesicht. „Ich weiß…“ „Wirst du mit ihr reden?“, fragte der Rothaarige. Der Angesprochene verzog erneut das Gesicht. Seine Hand ballte sich zur Faust. „Selbst, wenn ich es versuche, sie würde mich ja doch wieder nur abblocken“, meinte der Yagami traurig. Koushiro seufze. Noch immer glaubte er nicht daran, dass Mimi ohne Grund gegangen war. Er kannte seine beste Freundin und Taichi die Frau, die er heiraten wollte. „Du weißt, dass sie das nicht getan hat, weil sie dich verletzen wollte…oder?“ „Du fragst mich das jedes Mal. Ich habe ihr Gesicht gesehen…“, Taichi biss die Zähne aufeinander. Diesen Blick würde er nie vergessen. Von Kummer und Schmerz zerfressen. Völlig aufgelöst. Ihre Augen wirkten leer und verletzt. Er wurde wütend, wenn er daran dachte. Seine Trauer über ihren Verlust vergaß er, als sie aus seinem Leben verschwand. Natürlich kannte er die Tachikawa. Er war sich sicher, dass er genau wie sie für ihn, die Liebe ihres Lebens war. Aber er hatte nie eine Antwort bekommen. Nur Schweigen, was sich schwer auf sein Gemüt gelegt hatte. Sie wollte nicht reden und er konnte sie nicht zwingen. Ihm waren die Hände gebunden. Warum sollte sie mit ihm sprechen wollen? Die ganzen Jahre hatte sie es schließlich auch vehement vermieden. „Du darfst ihr einfach keine Fluchtmöglichkeit geben…“, meinte der Rothaarige. Taichi sah ihn verwirrt an. „Oder willst du ewig mit der Ungewissheit leben?“, fragte er direkt weiter. Der Yagami verzog sein Gesicht einmal mehr. „Ich möchte es verstehen… Aber sie damit nicht bedrängen. Wenn sie nicht reden möchte, kann ich sie nicht dazu zwingen…“, erklärte er. Denn er wollte nie wieder diesen verletzten Ausdruck in ihrem Gesicht sehen. Nie wieder…   Nicht nur ihn plagte die Angst und Ungewissheit. Auch Sora lag die gesamte Nacht wach und sah aus dem Fenster. In ihren Kopfhörer klang die Musik der Teenage Wolves, einer Band, die schon lang nicht mehr existierte. Doch dem Klang seiner Stimme war sie verfallen. Genau wie ihm. All die Jahre hatte sie es nicht geschafft, über ihn hinweg zu kommen. Die Takenouchi hatte sich in die Arbeit gestürzt und versucht, sich von ihren Gedanken abzulenken. Doch in den Nächten lag sie wach und war gefangen in ihren Erinnerungen. Sie schloss die Augen.   „Du willst was?“, schockiert sah Sora in die blauen Augen ihres Freundes. Dieser wirkte traurig, verunsichert und verbissen. „Du willst nach Amerika gehen?“, definierte sie ihre Frage deutlicher. „Sora…bitte… Ich hab ein Stipendium bekommen. Eine einmalige Chance, mich in meiner Musik weiter zu entwickeln. Die Julliard ist die beste Institution, die es dafür gibt!“, versuchte er sich zu erklären. „A-Aber… Aber… Das verstehe ich ja, aber…“, verzweifelt sah sie den Älteren an. „Aber…Aber was wird dann aus uns?“, fragte sie. In ihren rotbraunen Augen sammelten sich Tränen. Sie ahnte bereits, was er sagen würde, doch sie wollte es nicht hören. Schmerz breitete sich in ihrem Körper aus und erreichte ihr Herz. Es schlug aufgeregt gegen ihre Brust. Ihr Kummer überwog und die junge Frau drohte, an dem Schmerz zu ersticken. Sie ahnte, welche Antwort er ihr geben würde. Auch in seinem Gesicht zeichnete sich der Kummer ab. „Ich musste mich entscheiden… und ich…ich habe mich für meinen Traum entschieden…“, erklärte er und sah zu Boden. Auch sein Körper fühlte sich schwer wie Blei an. „Das ist eine einmalige Gelegenheit… Ich möchte diese Chance ergreifen… Es tut mir so leid, Sora…“, erklärte er und hob den Kopf. Seine Augen weiteten sich, als er ihr ins Gesicht sah. Ein Lächeln lag auf ihren Lippen, während die Tränen über ihre Wangen liefen. Es zerriss ihm förmlich das Herz, das sah sie an seinen Augen. „Ich habe damit gerechnet, dass du dich irgendwann für die Musik und gegen mich entscheiden würdest…“, erklärte sie mit einem traurigen Lächeln. „Ich möchte, dass du glücklich bist, Yamato-kun…“, hauchte sie seinen Namen. Seine Augen wurden bei jedem ihrer Wörter größer. Die junge Frau hob ihre Arme und streckte sie zu ihrem Nacken. Die kleine Kette, die sie um den Hals trug, löste sich und landete auf ihrer Handfläche. „Ist das dein Ernst?“, fragte der Ishida atemlos. Die Angesprochene nickte. „Sayonara…“, flüsterte sie und drückte ihm das Schmuckstück in seine Hand.   Als sie ihre Augen wieder öffnete, erstreckte sich die Freiheitsstatur in ihrer ganzen Pracht vor ihren Augen. Beeindruckt sah sie aus dem Fenster, als auch ein Kreischen neben ihrem Ohr erklang. „Whoahhh! Die Freiheitstatur. Oh mein Gott. New York ist viel größer, als ich es mir vorgestellt habe!“, kriech die Brillenträgerin begeistert und weckte damit auch alle anderen Gäste an Bord. Sora lächelte nur schwach, als sie dem Blick nach draußen folgte. Ja. Es war eine ganz andere Welt da draußen. Hier lebten sie nun. Yamato und ihre beste Freundin. Sie seufze leise. Mimi hatte sie seit Jahren nicht mehr gesprochen. Wie sie die Jüngere doch vermisste. Es war zuvor nicht die Aufregung gewesen, die Mimi belastete. Nein… Es war so viel mehr und Sora hatte nichts bemerkt. Sie schämte sich für ihre Unachtsamkeit. Und nur ein Jahr nach dem Verschwinden ihrer besten Freundin, riss Amerika auch noch ihr Herz in zwei. Dieses Land, dieser Ort. Zwei der wichtigsten Menschen ihres Lebens hatte sie an diese Welt verloren und sie war sich noch nicht sicher, ob sie sie hier wiederfinden würde.   ~♫~♪~~♫~♪~~♫~♪~   Die Schülerschaft tummelte sich auf dem Pausenhof und in den Schulgängen der Julliard, einer Schule für heranwachsende Musiker, Schauspieler und Tänzer. Hier bekam nur die Creme de la Creme einen Platz und Engagement sowie Fleiß standen im Vordergrund. Eilig lief die junge Frau durch die Gänge, beachtete kaum, was um sie herum geschah und betrat die Klavierabteilung der Schule. Dort angekommen suchte sie sich einen Raum. Hier befanden sich acht verschiedene Räume, die alle mit einem Klavier bestückt waren. Die Wände waren bestückt mit schalldichten Glas, damit die Pianisten in Ruhe ihre Stücke proben konnten. Mimi fand glücklicherweise noch einen Raum mit einem freien Instrument und ließ sich an dem Piano seufzend nieder. Sie deponierte ihr Notenheft auf den dafür vorgesehenen Notenständer und platzierte ihren Fuß auf die Pedale. Dann wartete sie schweigend und schloss die Augen. Sie legte ihre Finger auf die Tasten, ließ sie jedoch nicht klingen. Stattdessen ließ sie die musikalische Umgebung auf sich wirken. Diese Stille war himmlisch.   Doch sie fand ein jähes Ende, als die Türe aufflog und eine junge Frau mit braunen, dichten Haar vor der Tachikawa stand. Sie trug eine kurze Hose, ein lockeres Top und Chucks, wie einen Violinenkoffer auf den Rücken. Mimi selbst verdrehte nur die Augen. Unglaublich, dass diese Frau eine der Besten Musiker dieser Schule war.   „Du bist zu spät…“, murmelte Mimi. „Und?“ Gemütlich holte die Italienerin ihre Violine aus dem Koffer und positionierte sich. „Du bist doch auch erst gekommen…“, merkte sie an. Mimi zuckte mit den Schultern. „Können wir anfangen?“, fragte sie knapp und mit unterkühlter Stimme. „Ich bin mir noch immer nicht sicher, ob diese Variante den Lehrern gefallen wird…“, murmelte die Jüngere. „Du kannst sie ja gerne ändern, wenn du möchtest…“, erwiderte Mimi trocken. Sie hatten im Zuge ihres Seminars die Aufgabe erhalten, Beethovens 10. Sinfonie auszuarbeiten. Ihm war es nie gelungen, dieses Musikstück zu beenden, bevor er gestorben war. Also hatte man es zu der Aufgabe der Studenten gemacht, das Lied in einer eigenen Auslegung auszuarbeiten und zu gestalten. Da Fransesca nicht die Beste darin war, Notenstücke niederzuschreiben, hatte Mimi das für die Jüngere übernommen. „Ich habe ja gar nichts gesagt…“, murmelte die Violinistin. Die Tachikawa schmunzelte nur.   Die Tachikawa selbst schloss die Augen und wartete auf den Beginn ihrer Partnerin. Als die ersten Klänge der Violine erklangen, trat sie dem mit ihrem Klavierspiel bei und agierte im Hintergrund. Dabei orientierte sie sich an der Geschwindigkeit von Francesca und passte ihr eigenes Spiel dem an. Der Tachikawa fiel es nicht schwer, sich die Noten zu verinnerlichen und blickte kaum auf das Notenblatt. Obwohl auch Francesca eine ausgezeichnete Musikerin war, hatte sie jedoch Probleme, die Noten auch in einen melodischen Klang zu bringen. Alles in Allem klang ihr Violinspiel noch sehr holprig. Das bemerkte auch Mimi und sie öffnete die Augen. Dabei bewegten sich ihre Finger wie von allein über die Tasten. Augenblicklich fragte sich die Tachikawa, ob sie nicht einen zu schweren Takt ausgewählt hatte. Daher stoppte sie auch nach einer gewissen Zeit, als sie merkte, dass Francesca dem ganzen nicht mehr nachkam. Diese atmete schwer und sah stur geradeaus. Das Notenblatt fixierend, biss sie stur die Zähne aufeinander. „Vielleicht sollten wir eine Pause machen…“, flüsterte Mimi und war drauf und dran, das Klavier zu schließen. Schnell wand sich ihr Gegenüber zu ihr um. „Nein! Ich schaffe das!“ „Hast du überhaupt geübt? Ich habe das Gefühl, du bist seit dem letzten Mal viel schlechter geworden…“, fragte Mimi unbeteiligt und legte dabei den Kopf schief. Francesca wurde wütend, sie sah wieder zu dem Notenblatt. „Warum müssen deine Lieder immer so melancholisch sein?“, fragte die Violinistin schnaubend. „Meine Lieder sind nicht melancholisch…“ Doch, das waren sie. Das wusste auch Mimi. Sie wusste, wie sie ihre Lieder schrieb und wie sie diese einstimmte. Aber Notenblätter bestanden nur aus Papier. Jeder Musiker interpretierte in jedes Stück etwas Anderes hinein. Daher konnten sich auch die Auslegungen unterschieden. Selbst wenn es dieselben Noten waren, Takt und Rhythmus gestaltete der Darsteller. Trotzdem war die Tachikawa positiv darüber überrascht, dass die Giancomelli direkt die Grundstimmung des Werkes bemerkte.   „Du hast ein wirklich gutes Ohr für Musik. Aber ich habe nur die Noten geschrieben. Das Leben hauchst du dem Musikstück ein. Da ist es vollkommen unwichtig, was der Autor vermitteln möchte“, erklärte Mimi ruhig. Ein Schnauben erwiderte ihre Aussage. Wieder positionierte sich Francesca und sah herausfordernd zu Mimi. „Ich werde mir wegen deiner Inkompetenz sicher keine schlechte Note reindrücken lassen. Also lass uns weitermachen!“, sagte sie und grinste die Japanerin an. Mimi nickte unbeeindruckt und öffnete das Klavier wieder. Mit den ersten Klängen der Violine stimmte auch sie der Musik mit ein. Wieder schloss sie die Augen und erkannte, dass Francesca das Lied in seinem Grundton umgestaltete. Leicht schmunzelte die junge Frau. Manchmal benötigte es nur die richtigen Worte, um das Talent aus den Menschen heraus zu kitzeln.   Die Klänge ihres Übens hallten noch mehrere Stunden aus dem Raum, als sie beschlossen, für heute Schluss zu machen. Mimi war beeindruckt von dem Sprung, den Francesca gemacht hatte. Noch hatten sie Zeit, die Komposition zu einem kleinen Meisterwerk zu machen, doch bereits jetzt, hatte es Francesca geschafft, dem Werk eine neue emotionale Note zu geben. Die Tachikawa packte ihr Notenheft zusammen und verstaute alles in ihrer Tasche, während ihre Partnerin es ihr gleichtat. Die beiden waren keine Freundinnen und hatten sich die Konstellation nicht ausgesucht, aber musikalisch verhielten sie sich professionell. Mit knappen Worten verabschiedete sich die temperamentvolle Italienerin von Mimi und stürmte aus dem Proberaum. Mimi selbst blieb noch einen Moment am Klavier stehen und musterte die Tasten. Sie liebte es, Klavier zu spielen. Die Musik war zu ihrem einzigen Lebensinhalt geworden. Deshalb wurde sie an der Schule von vielen jüngeren Semestern bewundert. Doch es interessierte die junge Frau nicht, was andere von ihr oder ihrer Musik hielten. Ihr war es lieber, sich zurückzuziehen und sich einfach nur ihrer Leidenschaft zu widmen. Mehr hatte sie auch nicht vom Leben. Deshalb war es zu kostbar, als es schweifen zu lassen.   Seufzend trat sie aus dem Proberaum und verließ die Klavierabteilung. In der Mensa angekommen lauschte sie bereits den Tuscheleien. Viele sprachen schlecht über sie oder bewunderten sie insgeheim. Mimi war das schon gewohnt. Mit Erfolg kam auch der Neid. Vor allem, da sie niemanden an sich heranließ. Das gab viel Raum für Interpretationen und Spekulationen. Erstaunlich, was sich Menschen alles zusammenreimten, wenn sie jemanden nicht kannten. Durch ihre zurückgezogene Art hielt man sie für arrogant und eingebildet. Wer sie nicht kannte, malte sich eben sein eigenes Bild. Das war damals schon so und das würde sich bis heute nicht ändern. Es war jedoch sehr amüsant. Auch früher hatte man sie für arrogant und selbstverliebt gehalten, sprich egoistisch. Heute war das ähnlich. Und das, obwohl sie eine charakterliche Wendung von 180 Grad vollzogen hatte. Aber wenn man über jemanden sprechen wollte, dann fand man einen Grund. Und wenn es eines gab, was sich bei Mimi nicht verändert hatte, dann war es die Tatsache, dass es sie nicht kümmerte, was andere von ihr dachten.   So schwieg sie einfach zu den flüsternden Worten, kaufte sich ihr Getränk und verließ die Mensa wieder. Über den Hof hinweg, schritt sie zu einem kleinen Park, der Stück vom Lincoln Center entfernt war. Glücklicherweise war es noch recht kalt und somit nur wenige Leute unterwegs. Das sonst so klare Wasser des Teiches, hatte sich in eine milchig wirkende Eisplatte gewandelt. Der Frost ummantelte die übriggebliebenen Pflanzenreste und verliehen dem Ort etwas Magisches. Die Tachikawa liebte es, egal zu welcher Jahreszeit, sich hier aufzuhalten. Hier war man meist nicht den Blicken und Worten anderer ausgesetzt. Aus diesem Grund konnte sie sich auf eine der verschneiten Bänke setzen und die Ruhe um sich herum genießen. Ihr Blick ging gen Himmel, während sie darüber nachdachte, was ihr noch bevorstand. Bald würden die Abschlussprüfungen anstehen und sie würde die Schule verlassen. Mimi wusste ehrlich gestanden noch gar nicht wohin mit sie danach sollte. Die Bühnen der Welt wollte sie nicht erobern, aber Musik wollte sie trotzdem weitermachen. Es bestand die Chance, einen Dozentenplatz zu bekommen oder Musikunterricht zu geben. Dabei war es einst ihr Traum gewesen, zu singen und die Menschen mit ihrer Musik zu berühren. Jetzt klangen ihre Stücke nur noch wie ein melancholisches Desaster. Sie war exzellent und talentiert, doch die Variation der Gefühle blieb in ihren Werken aus. Wie sagte Miss Mbeki so schön? ‚Die Musik ist der Spiegel des eigenen Seelenlebens.‘ Somit schien es also Zappen duster im Inneren der Tachikawa zu sein.   Aus ihrer Tasche holte sie ihr Notenheft heraus und besah sich die letzten Stücke. Sie hatten alle eine traurige, düsterte Atmosphäre. Es war, als seien ihre Stücke der schwarzen Romantik entsprungen. Seit wann hatte sie nicht mehr gelacht…? Nicht mehr geweint? Es war der Tag ihres Abfluges, als sie alles herausgelassen hatte, sich in das Oberteil ihres Bruders gekrallt und allen Lebewohl gesagt hatte. Es war der Tag, an dem sie Lebewohl zu sich selbst gesagt hatte.   Denn die alte Mimi gab es nicht mehr.   Übrig war nur ein Wrack, zerbrochen an der Wirklichkeit… Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)