Der Schwur des Wolfes von Kaname-chan ================================================================================ Kapitel 5: 5. Kapitel - Das Spiel beginnt... -------------------------------------------- Der Montag schlich nur zäh dahin. So als ob er gar nicht vergehen wollte. Mal abgesehen von diesem Gefühl, ging es mir blendend. Ich hatte weder etwas Schlechtes noch etwas außerordentlich Gutes geträumt. Es war eine Erinnerung an einen Tag mit meinem Vater gewesen, als ich vierzehn war. Wir waren gemeinsam bei Rosie gewesen und ich hatte einen riesigen Eisbecher für mich ganz allein gehabt. Er hatte mich die ganze Zeit glücklich dabei beobachtet, wie ich mit den Eiskugeln kämpfte. Am Ende hatte ich es bis zum letzten Rest ausgelöffelt. Während ich nun mit meinen Freundinnen die Mittagspause draußen verbrachte, spürte ich, wie ich beobachtet wurde. Es waren nicht die bösen Augen, wie schon einmal früher, sondern irgendjemand anderes. Ich wollte mich nicht nach demjenigen umsehen und vermied es in mir zusammen zu sinken. Doch das Unbehagen blieb noch die restlichen Stunden. Nach der achten Stunde ging ich mit Carly gemächlich zu ihrem Auto. Wir hatten es beide nicht sehr eilig und überlegten gerade, ob wir wieder zu Rosie gingen. Henry hatte Urlaub mit seiner Familie geplant und die Billardhalle für die nächsten zwei Wochen geschlossen, sodass ich nicht arbeiten gehen musste. Und Carlys Eltern schoben ein paar Überstunden, weil im Moment viel im Büro los war. Als sie mich dann jedoch anstupste und wisperte, dass uns ein Typ anstarrte, bewahrheiteten sich all meine Befürchtungen. „Den kenn ich gar nicht“, sagte sie, nachdem wir eingestiegen waren und sie den Motor startete. „Vielleicht ein neuer Schüler“, meinte ich und ließ meinen Blick kurz und unauffällig zu ihm wandern, während ich nach dem Sicherheitsgurt griff. Es war ein blasser, aber durchtrainierter Junge mit dunkelbraunem Haar und tiefschwarzen Augen. Ich erschauderte kurz, als er ein schiefes spöttisches Lächeln aufsetzte und sich dann abwandte. Er wirkte kalt und völlig emotionslos auf mich, obwohl ich nicht ein Wort mit ihm gewechselt hatte. Aus irgendeinem Grund kam er mir dennoch bekannt vor. So als hätte ich ihn schon einmal irgendwo gesehen. Doch es fiel mir nicht ein und Carly fuhr vom Parkplatz herunter, Richtung Stadt. Sie zuckte mit den Schultern. „Ja, vielleicht. Wenn du mich fragst, kriegen wir in letzter Zeit sehr viele neue Leute hier in die Stadt. Warum verirren die sich alle hierher?“ „Wir werden zu einer Touristenattraktion… Wahrscheinlich merken sie jetzt alle, dass wir ein sehr schönes kleines Städtchen sind.“ „Na klar.“ Wir beide lachten gleichzeitig. Nicht, weil wir Crystal Falls nicht für schön hielten, sondern weil wir eine Touristenattraktion werden könnten. Es war einfach unmöglich so etwas anzunehmen. Als sie eine kleine Parklücke genau gegenüber des George fand, stiegen wir, noch immer lachend, aus und suchten uns einen Tisch in der Sonne. Wir bestellten beide einen Eiskaffee und ich half ihr bei ihren Mathehausaufgaben. „Hastings ist der einzige Lehrer, der so kurz vor den Ferien noch Hausaufgaben aufgibt. Er ist furchtbar grausam, das sage ich dir. Jetzt nimmt er mich öfter dran, als je zuvor. So als würde er mir reindrücken wollen, dass du nicht mehr da bist um mir zu helfen.“ „Meinst du, dass er das tatsächlich mit Absicht tut?“ „Natürlich.“ „Tut mir leid.“ „Wieso entschuldigst du dich?“ „Weil ich freiwillig in den Leistungskurs gewechselt habe. Und du musst jetzt leiden.“ „Na, davon sterben tue ich nicht, aber er freut sich immer so doll, wenn ich eine Aufgabe mal wieder nicht lösen kann.“ Irgendwann rauchte Carly so sehr der Kopf, dass sie das Buch wütend zuschlug und wieder in der Tasche verstaute. Wie ein kleines bockiges Kind, dem man nicht erlaubte mit seinen Freunden spielen zu gehen, schob sie sich die Sonnenbrille auf die Nase und verschränkte die Arme vor der Brust. Ich lächelte sie an und lehnte mich dann in meinem Stuhl zurück. „Hast du Kontakt zu Sean?“, fragte ich sie dann und glaubte zu sehen, wie sie leicht rot wurde. „Wir haben gestern Abend nach der Versammlung miteinander geschrieben.“ „Erzählst du mir auch worüber?“ „Ach, dieses und jenes. Nur belangloses Zeug. Er sagte auch, dass es ihm leidtäte, dass er mir nicht bescheid gegeben hätte, dass sie bis Mittwoch nicht da sind.“ „Es ist anders, als sonst mit den Jungs, oder?“ Ich fragte sie absichtlich nicht, ob sie sich in ihn verliebt hatte. Carly war da etwas eigen und konzentrierte sich sehr darauf, ihren Ruf zu wahren. Sie schob ihr hellbraunes Haar nach hinten über die Schulter und blickte mich über die Sonnenbrille hinweg an. „Ich denke, er ist nicht nur ein Flirtkandidat.“ Für sie war das schon ein sehr großer Fortschritt. Es glich einem Geständnis, etwas, das sie mir zuvor noch nie gemacht hatte. „Ich würde mich sehr für dich freuen, wenn es klappt…“, seufzte ich und schloss die Augen, während ich mein Gesicht der Sonne zuwandte. Ein paar Stunden später setzte sie mich bei mir zu Hause ab und ich ging duschen. Während das lauwarme Wasser über meinen Körper floss, hielt ich mein Gesicht direkt unter den Strahl. Ich strich meine Haare mit den Händen zurück und ließ die Handflächen über meinen Ohren ruhen. Trotz des Wassers war mir eisig kalt und ich fühlte mich allein. Ich vermisste Taylor so schmerzlich, dass meine Knie zu zittern begannen und ich mich auf den Duschenboden setzen musste. Niemals hätte ich gedacht, dass ich so abhängig von ihm geworden war. Noch zwei Tage, dachte ich, das wirst du doch wohl schaffen. Zwei Nächte noch, hallte es in meinem Innern wider und Tränen vermischten sich mit dem Wasser, das unablässig auf mich niederprasselte. Ich wünschte mir nichts mehr, als mich in seine Arme zu kuscheln, seinen Duft einzuatmen und sein Herz nah bei mir schlagen zu hören. Wir waren durch mehrere Bundesstaaten voneinander getrennt und mir kam es sogar so vor, als wären es Kontinenten. Ich liebte ihn, brauchte ihn so sehr, wie keinen anderen Menschen zuvor. „Schatz? Lils, wo steckst du?“ Ich stand vorsichtig auf und stellte das Wasser kurz ab. „Ich bin im Badezimmer, duschen“, rief ich meinem Vater zu. „Ich bin früher nach Hause gekommen. Möchtest du was essen, dann fange ich schon an die Fische zu braten…“ „Ja, ich bin gleich soweit und komm dir helfen.“ „Keine Eile, ich schaff das schon!“ Während ich meine Haare wusch, roch ich schon ein wenig von dem Gebratenen und mein Magen begann zu knurren. Ich werde es schaffen, dachte ich, ich bin doch kein kleines Kind mehr. „Zwei Tage und Nächte“, betete ich mir vor. Vorher hatte ich schließlich auch ohne ihn überlebt und ein Ende war in Sicht. Ein Handtuch um den Körper geschlungen, ging ich in mein Zimmer und zog mir bequeme Sachen an. Dann sammelte ich die Wäsche zusammen, die ich waschen wollte und brachte sie in die Waschkammer, wo die Waschmaschine stand. Packte noch Sachen von meinem Vater dazu und stellte sie an. Nach dem Abendessen sah mein Vater eine Sportsendung, während ich die Wäsche aufhing. Wir sahen uns später zusammen einen alten Streifen im Fernsehen an und gingen dann ins Bett. Schweren Herzens schrieb ich Taylor eine SMS, dass er nicht anrufen sollte, weil ich schrecklich müde war und wahrscheinlich auf der Stelle einschlief. Ich wusste, dass ich kein Wort zustande bringen würde, wenn nicht sogar in Tränen ausbrach. Und das wollte ich ihn nicht hören lassen. Er musste ja nicht unbedingt merken, dass ich mit mir allein nichts anzufangen wusste. Beziehungsweise mit mir nichts anzufangen war, wenn er nicht hier war. Seine Antwort kam prompt und ich fühlte mich sogar noch schlechter als vorher. »Ist okay. Ich erzähl dir dann morgen Abend am Telefon, was hier so los war. Schlaf gut und träum was Schönes. Fühl dich umarmt, ich liebe dich auch!« Als ich meine Augen schloss, stellte ich mir vor, wie er seine Arme um mich schlang und mich leicht lächelnd anblickte. Es riss mein Herz fast entzwei, dass ich mich nicht mehr so genau an seinen Duft erinnern konnte. Irgendwann jedoch glitt ich in einen traumlosen Schlaf. Der Dienstag begann neblig und bereits im Radio sprachen sie von starken Regenfällen, die jedoch bis zur Mittagspause noch nicht einsetzten. Carly erzählte Kelly und mir gerade, welche Filme sie bereits herausgesucht hatte, als mich Mia anstieß und sagte: „Mich hat jemand nach dir gefragt.“ „Nach mir? Wer?“ „So ein blasser Junge. Ich glaube, er ist neu hier. Jedenfalls kam er mir nicht bekannt vor.“ Carly wechselte mit mir einen verschwörerischen Blick und fragte dann: „Was wollte er wissen?“ „Ob sie einen Freund hat. Ich hab natürlich gleich Ja gesagt und dann wollte er wissen, wo der denn wäre. Und warum er sie alleine ließ, wenn sie ihn doch so sehr bräuchte.“ Ein eisiger Schauer ließ mich erzittern, doch ich sah mich nicht nach dem Typen um und blickte stattdessen auf meine ineinander gefalteten Hände. „Was hast du ihm gesagt?“ Ich spürte die Blicke meiner Freundinnen auf mir ruhen und es dauerte eine Weile, ehe Mia wieder zu sprechen begann. „Ich sagte, dass er bald wieder da wäre, ihn der Rest aber nichts angehen würde. Dann bin ich gegangen.“ Ein kleines Lächeln huschte über meine Lippen, als ich sie ansah und wisperte: „Danke, Mia.“ „Dafür nicht.“ Sie hatte wunderbar reagiert, doch es ließ mich nicht los, woher der Kerl wusste, dass ich Taylor so sehr vermisste und brauchte. Sah man mir das denn so stark an? Wieder tauschte ich einen Blick mit Carly, die in meinen Augen zu lesen schien, welche Frage ich mir stellte und sie schüttelte leicht den Kopf. „Nur die, die dich sehr gut kennen.“ Sie nahm meine Hände in ihre und ich nickte ihr dankbar zu. Oder hatte er diese Frage etwa anders gemeint? Wollte er damit sagen, dass Taylor mich nicht in dieser Gefahr allein hier zurücklassen sollte? Wir widmeten uns wieder unserer Planung für den Freitag, woraufhin Mia und Elli fragten, ob sie mitkommen könnten. Selbstverständlich hatten wir nichts dagegen und beschlossen einen Mädels-Abend zu veranstalten. Also würden wir eine Schnulze angucken und dann bei einer von uns übernachten so wie wir es früher, als wir noch kleiner waren, öfter getan hatten. Im Biologieunterricht sahen wir wieder einen Lehrfilm. Heute kann ich nicht mehr sagen worüber, aber ich glaube, so wichtig war er auch nicht. Ich ließ mich mit Carly auf unsere Plätze sinken, der Stuhl neben mir blieb frei. Dort hatte Taylor in den letzten Wochen immer gesessen. Mein Blick streifte ihn kurz, dann sah ich unserem Lehrer dabei zu, wie er die Jalousien zuzog. Plötzlich setzte sich jemand neben mich und ich glaubte zu hören, wie Elli, Mia und Kelly, die am Tisch hinter uns saßen, die Luft anhielten. Jeder im Raum wusste, wessen Platz das sonst war, doch ich konnte schließlich niemandem verbieten sich dorthin zu setzen, wenn der Stuhl zurzeit leer war. Eine schreckliche Kälte erfasste meine ganze rechte Seite und ich blickte denjenigen an, der sich zur selben Zeit zu mir umwandte. Es war der blasse Junge, dessen Zähne im Halbdunkeln aufblitzten, als er mir ein kaltes Lächeln schenkte. Seine schwarzen Augen ruhten auf meinen Lippen und ich fühlte mich, als würde er mich mit dem Rücken an eine Wand drängen. Ein Eisklumpen breitete sich in meinem Magen aus, doch ich blickte ihn noch immer an. Ich wollte es nicht, aber irgendetwas hielt mich gefangen, da war etwas, dass mir bekannt vorkam und mich zwang seinem Blick stand zu halten. Um uns herum herrschten angeregte Gespräche, niemand achtete auf uns und dann klatschte unser Lehrer in die Hände und meinte: „Meine Damen und Herren, wenn Sie sich dann jetzt bitte auf den Film konzentrieren könnten. Augen nach vorn und Mund zu. Mr. McLeod, schalten Sie bitte das Licht aus.“ Ich war ihm so dankbar, denn durch das Klatschen wandte sich der Junge kurz zu ihm um und ich fühlte mich freier. Einer meiner Mitschüler in der ersten Reihe stand auf und knipste den Schalter um. Mein Blick blieb starr auf den Bildschirm vor uns gerichtet, doch er drehte sich wieder zu mir um und beobachtete mich. Seine Augen wanderten über mein Gesicht, so als wolle er etwas Unausgesprochenes daraus lesen. Aus dem Augenwinkel sah ich das kalte Lächeln, das furchterregende Funkeln, das mir entgegenblitzte. Er tat nichts außer mich anzusehen, doch das führte dazu, dass sich blanke Panik in meinem ganzen Körper ausbreitete und es in meinen Fingerkuppen zu kribbeln begann. Ich ließ meine Hände unter dem Tisch verschwinden und betete zu Gott, dass diese Stunde bald vorbei wäre. Meine Lippen presste ich aufeinander, um nicht laut aufzuschreien. Eine kalte Hand schloss sich um mein Herz und ich konnte mich nicht rühren. Was, zur Hölle, war hier los? Und dann kam mir die rettende Idee. Taylor, wisperte ich innerlich. Er hatte mich schon immer beschützt und jetzt würde er es wieder tun. Ich schloss meine Augen und versuchte ruhig weiter zu atmen. In Gedanken formte ich sein Gesicht vor mir. Den schwarzen Schopf, seine Stirn und die kleine Narbe über seiner Augenbraue. Dann folgten seine braunen unergründlichen Augen, die mich freudig glitzernd betrachteten, seine Nase und die Wangen, die weichen Lippen, die ich so oft schon geküsst hatte und beinahe schmecken konnte. Das Kinn und ein Stück seines Halses. Ich hätte weitermachen und ihn mir vollkommen vorstellen können, doch sein Gesicht vertrieb die kalte Faust und den Klumpen in meinem Magen. Trieb alles Böse zurück, das mich in die Ecke drängte und dann spürte ich bitteren Zorn. Er schlug mir entgegen und kämpfte gegen den Taylor in meinen Gedanken an, versuchte die Vorstellung von ihm zu vernichten und mich zu sich zu ziehen. Doch ich öffnete meine Augen und hörte das beschützende Knurren in meinem Herzen, das die unbändige Wut vertrieb und mich warm und sicher umschloss. Der Junge wandte sich von mir ab, die Mundwinkel leicht verzogen und sah sich den Rest des Filmes an. Niemand, der um uns Sitzenden hatte mitbekommen, was passiert war, beziehungsweise überhaupt etwas geschehen war. Ich begann leicht zu lächeln und lauschte dem leisen Schnurren in meinem Herzen. Er war immer bei mir, das hatte ich die letzten zwei Tage vergessen, doch das würde mir nicht noch einmal passieren. Als der Film dann später zu Ende war und die Schulklingel ertönte, war der Junge neben mir der Erste, der sich erhob und aus dem Raum schoss. Zwei Schulstunden waren vergangen ohne das ich auch nur eine Minute des Filmes wahrgenommen hatte. Doch es bedeutete auch, dass die Schule aus war und das Wiedersehen mit Taylor näher rückte. Morgen würde ich ihn wieder haben und ihn in meine Arme schließen können. „Süße, kommst du dann?“ Carly stand bereits im Türrahmen und blickte mich mit hochgezogenen Augenbrauen an. „Oh, ja. Bin sofort da!“ Ich schnappte mir meine Tasche und folgte ihr zufrieden lächelnd. „Sag mal, ist bei dir alles in Ordnung? Du bist so anders…“ „Ja, mir geht es gut.“ Kurz hinter dem Schulausgang fiel Carly ein, dass sie noch ein Buch in ihrem Schließfach vergessen hatte, das sie zum Lernen brauchte. Ich wartete unter dem Vordach, weil es langsam zu regnen begann und verschränkte die Arme vor der Brust, um mich warm zu halten. Dummerweise trug ich, obwohl ich den Wetterbericht gehört hatte, nur ein T-Shirt und allmählich wurde es doch etwas kalt darin. Ich blickte durch die Scheibe der Tür, um nach Carly Ausschau zu halten, als ich hörte, wie sich jemand vor mich stellte. „Lilly, nicht wahr?“, meinte eine schneidende Stimme, die mich veranlasste mich umzudrehen. Es war der blasse Junge, der seine Gefühle gekonnt hinter seinem kalten Lächeln verbarg. Anscheinend hatte er sich wieder beruhigt und versuchte nun erneut mich zu beeinflussen. „Ich habe mich vorhin gar nicht vorgestellt.“ „Das musst du auch nicht.“ „Ach, du kennst meinen Namen schon?“ „Nein, ich möchte ihn nicht wissen. Und ich würde es sehr nett finden, wenn du mich nicht unbedingt in ein Gespräch verwickeln würdest.“ Ich blieb freundlich, obwohl ich mich an den kalten Zorn erinnerte und ihn am liebsten von mir gestoßen hätte. Aber wenn ich mal von der Größe und dem Körper ausging, würde mir das wohl kaum gelingen. Er war ein Stück kleiner als Taylor, aber genauso durchtrainiert. Sein braunes Haar war wild durcheinander gebracht, so als hätte er sich gerade gerauft. Wieder blickte ich in das Schulgebäude und rief still nach Carly, damit wir endlich von hier wegkamen. Aber ihr Schließfach war ein ganzes Stück vom Eingang entfernt und sie brauchte für den Weg länger als fünf Minuten. Außerdem hatten wir es nicht eilig und darum würde sie auch nicht durch die Gänge laufen. „Das ist wirklich schade. Wir würden uns sicher gut verstehen.“ „Da bin ich mir nicht so sicher.“ Um nicht in seine Augen blicken zu müssen, neigte ich mich an ihm vorbei und sah eine Gestalt im Regen stehen, nahe des sich langsam leerenden Parkplatzes. Ich kniff meine Augen zusammen und erkannte endlich, wer es war. „Das gibt es doch nicht…“, wisperte ich und begann zu lächeln. „Entschuldige mich“, meinte ich beiläufig und begann zu rennen. Je näher ich der Gestalt kam, umso schneller und lauter schlug mein Herz. Er musste es hören, da war ich mir ganz sicher, doch das brachte mich nur noch mehr zum Strahlen. Denn er war jetzt schließlich in der Lage es zu hören. Seine Maschine stand neben ihm und glitzerte unter all den Regentropfen. Das Gesicht hatte er mir nicht zugewandt und so konnte ich ihn vielleicht doch noch überraschen, was natürlich eine törichte Vorstellung war. Er trug eine blaue Jeans und ein schwarzes, an den Armen eng anliegendes, T-Shirt, das dadurch seine Muskeln noch besser betonte. Das schwarze Haar war völlig durchnässt, so wie auch seine Kleidung, doch das störte ihn nicht. Keine Ahnung, wie lange er schon so da stand und auf mich wartete. Die Arme hielt er locker vor der Brust verschränkt und sein Gesicht blickte ernst, doch dann wandte er seinen Kopf in meine Richtung und begann erleichtert zu lächeln. Meine Tasche rutschte von meinem Arm und ich ließ sie achtlos auf dem Gehsteig zurück. In dem Moment, in dem er gerade etwas sagen wollte, landete ich bereits in seinen offenen Armen und schmiegte mich an ihn. Wie hatte ich die Wärme vermisst, den Duft, der mich jetzt umfing, die Lippen, die mich küssten? Erst die Stirn, dann die Augenlider, die Wangen und endlich meine Lippen. Es war, als wäre es unser erster Kuss. Fordernd, sehnsüchtig, zärtlich, leidenschaftlich und dann seufzte er leise und presste seinen Mund an meinen Hals. Taylor schnupperte an meinem Haar, das nach Lavendel und frisch gefallenem Regen roch und hob mich, ohne Anstrengung, ein Stück höher, die Arme sicher und doch vorsichtig um meinen Oberkörper geschlungen. Wir konnten beide nicht reden und ich schob meine Hände in sein Haar, den Blick fest auf sein Gesicht gerichtet. Seine Augen glühten und ich glaubte eine Mischung aus Faszination und Erregung zu sehen. Ich hatte damals nicht gewusst, wie sehr ich ihn aus der Fassung brachte und wie stark er sich in diesem Moment konzentrieren musste, um nicht den Ärger der Öffentlichkeit herbei zu führen. Und selbst wenn ich das hätte, wäre es mir wohl egal gewesen. Sollten alle Anderen doch sagen und denken, was sie wollten. Ich liebte ihn, hatte ihn vermisst als wären es Jahre gewesen, die wir uns nicht gesehen hatten. Noch immer hielt er mich ein ganzes Stück über dem Boden und ich ließ meine Lippen mit seinen verschmelzen. Ganz sanft und behutsam, um ihm nicht noch mehr zuzusetzen. Doch es schien bereits jetzt mehr zu sein, als er ertragen konnte. Langsam ließ er mich zu Boden sinken und erst als meine Schuhsohlen den Asphalt unter mir berührten, spürte ich die weichen Knie und das Zittern meines Körpers. „Wieso hast du nichts gesagt? Ich meine, dass du heute schon…?!“ Es gelang mir nur zu flüstern. „Ich hab es nicht länger ohne dich ausgehalten und bin früher zurück“, wisperte er und strich mein nasses Haar zurück. „Du bist ohne deinen Vater und Sean hier?“ Er nickte nur und legte seine Handflächen auf meine Wangen. „Sie kommen morgen Abend auch an. Musst du heute arbeiten?“ Sehnsucht. Ich sah sie in seinen Augen und hörte sie in seiner Stimme. „Nein, Henry ist für zwei Wochen mit seiner Familie verreist. Außer diesem Freitag kann ich jeden Tag mit dir verbringen, wenn ich dir nicht lästig werde.“ Taylor schüttelte stetig den Kopf und seufzte: „Niemals würdest du mir lästig werden. Sag so was nie wieder.“ Ich lächelte ihn an und legte meine Hände auf seine Brust, um das Schlagen seines Herzens zu spüren. Es schlug schneller als gewöhnlich und ich hatte die leise Vermutung, dass er sogar noch viel mehr gelitten hatte, als ich. Und ich hielt das eigentlich kaum für möglich. „Ach Leute, nehmt euch bloß ein Zimmer“, kicherte Carly hinter uns und ich wandte mich leicht zu ihr um, ohne meine Hände von Taylor zu nehmen. Sie stand grinsend unter ihrem Schirm und klemmte sich das Buch, weswegen sie ins Gebäude gegangen war, fest unter ihren Arm. „Hey, Carly“, begrüßte er sie und lächelte, verlegen und freundlich. Eine zauberhafte Mischung, die sie seufzend die Augen verdrehen ließ. „Gehe ich recht in der Annahme, dass du mit ihm fahren wirst und ich dich dann morgen in der Schule sehe?“, fragte sie nun mich und ich biss mir entschuldigend auf die Unterlippe, während ich Taylor mit meinen Armen umschloss. „Das werte ich als Ja. Bis morgen, ihr beiden“, flötete sie und zog winkend von dannen. „Hast du Hunger?“ Er blinzelte mich verwirrt an, so als hätte er diese Frage nicht erwartet. „Ja,…ja, ein bisschen.“ „Dann mach ich dir was bei uns. Mein Vater war am Sonntag angeln und wir haben gestern nicht alles gegessen.“ „Fisch? Hatte ich lange nicht. Wenn es in Ordnung ist, dass ich sie esse…“ „Na klar, die reichen für uns beide. Und mein Vater sagte, ich solle sie aufessen.“ „Dann los.“ Er zog einen zweiten Helm aus dem Fach unter dem Sitz, setzte ihn mir auf und stülpte dann seinen über. Während er aufstieg und das Motorrad in eine aufrechte Position stellte - nicht ohne vorher noch einmal den Regen von meinem Sitz zu wischen -, holte ich meine Tasche, die noch immer auf dem Gehsteig lag. Als ich mich dann zu ihm setzte und mich nah an ihn presste, um einen besseren Halt zu haben, spürte ich, ganz kurz nur, wilden Zorn hinter mir auflodern. Ich ahnte, von wem er ausging und drehte mich deshalb nicht um. Für meinen Geschmack waren wir mit dem Motorrad viel zu schnell bei mir zu Hause. Ich hätte ewig so mit ihm auf der Maschine sitzen können, doch langsam wurde der Regen etwas penetrant und ich wollte nur noch in trockene Klamotten schlüpfen. „Du bist ein bisschen braun geworden“, bemerkte Taylor als ich in frischem T-Shirt und Jeans in der Küche stand und meine feuchten Haare hochsteckte, damit sie mir nicht im Gesicht klebten. „Wirklich?“ Ich freute mich riesig, dann wirkte ich nämlich endlich nicht mehr so käsig neben ihm. Er nickte nur. „Möchtest du vielleicht auch andere Sachen? Dann schmeiß ich deine schnell in den Trockner…“ „Ach was, so nass bin ich nicht.“ Ich verschwand kurz im Badezimmer meines Vaters und kehrte mit einem großen Badetuch zurück. Dann rubbelte ich seinen Kopf trocken, sowie die Arme und seinen Hals. „Ich möchte nur nicht, dass du dich erkältest.“ „Meine Körpertemperatur beträgt immer 40°. Gib mir noch ein paar Minuten und meine Klamotten sind von allein getrocknet.“ „Dann eben nicht“, meinte ich und warf ihm das Badetuch gegen die Brust. Er lachte leise, denn er wusste, dass ich nicht ernsthaft böse war. Ich kramte eine Pfanne hervor. „Was meinst du, wie viele schaffst du?“ „Ich hab noch nicht viel gegessen heute. Mach mal, ich esse, was man mir auf den Tisch stellt.“ „Gut. Bist du so lieb und füllst zwei Gläser mit Eistee? Der steht gleich rechts im Kühlschrank.“ Statt zu antworten, stand er auf, holte zwei Gläser aus dem Schrank und füllte sie mit dem kalten Getränk. Nachdem wir gegessen hatten - ich überließ ihm freiwillig mehr Fische - machten wir es uns auf der Couch gemütlich. Im Hintergrund dudelte leise irgendein Film, doch ich hatte nur Augen für Taylor. Mit angewinkelten Beinen saß ich da und beobachtete ihn. „Was ist?“, fragte er, nachdem er meinen Blick bemerkte. „Gar nichts. Ich bin nur froh, dass du hier bist.“ Er lächelte glücklich und verschränkte seine Finger mit meinen. Dann tauchten seine Augen tief in mein Innerstes und er sagte: „Ich auch.“ Mein Herz spielte wieder einmal verrückt und sein Lächeln wurde noch breiter. „Ach so“, wisperte er und wurde leicht rot. Etwas, dass ich bei ihm noch nie gesehen hatte. Er griff in seine Hosentasche und zog ein Tuch hervor. Es kam mir bekannt vor, doch ganz sicher war ich mir nicht. „Das habe ich mir geborgt, tut mir leid.“ Also war es tatsächlich meines. Ich nahm es ihm ab und blickte ihn fragend an. „Weswegen geborgt?“ „Ich habe etwas mit deinem Duft gebraucht. Und hab es mitgenommen, als ich dir die Karte da ließ.“ Mein Blick wurde weich, doch ich weinte nicht. Ich hatte in letzter Zeit schon viel zu oft geheult und nahm mir vor, ihn nicht mehr allzu oft daran teil haben zu lassen. „Ich wünschte, ich wäre so schlau gewesen, etwas von dir hier zu behalten…“ Taylor schien erleichtert und zog mich näher zu sich. „Jetzt bin ich ja wieder hier und gehe auch nicht so schnell wieder weg.“ „Das möchte ich dir auch geraten haben“, wisperte ich und küsste seinen Hals. Wir sahen den Film noch zu Ende, dann schalteten wir den Fernseher aus und ich bat ihn mir zu erzählen, wie es in Kentwood gewesen war. Er sprach von den Leuten, die sie langsam zu akzeptieren begannen, von dem Motel, das wirklich winzig und trostlos gewesen zu sein schien und von dem gestrigen Vormittag, den sie am Grab ihrer Mutter beziehungsweise Frau verbracht hatten. Taylor berichtete, wie er sich gefühlt hatte und, dass ihm das jedes Jahr wieder passierte, obwohl es nun schon neun Jahre her war. „Sie ist nicht einsam, weil sie bei ihren Eltern begraben wurde, aber der Ort allein schon ist so…so kalt und düster. Es gibt viele Friedhöfe bei denen man dieses Gefühl nicht hat, aber sie liegt dort und… Ich habe das Gefühl, dass sie dort nicht hingehört, auch wenn sie da beerdigt werden wollte.“ „Du meinst, ein anderer Ort würde besser zu ihr passen…“, half ich ihm und er nickte. „Sie gehört dorthin, wo viel Licht scheint, wo das Gras dunkelgrün ist und man auch mal die Vögel singen hört. Es gab keinen Tag, an dem sie nicht gelächelt oder gesungen hat.“ Ich konnte seine Gefühle nachvollziehen, auch wenn meine Mutter an einem besseren Ort beerdigt worden war, als seine. „Sie hat es so gewollt…“, wisperte ich und er blickte mich an. „Ja, das sage ich mir auch immer wieder und deshalb gehe ich auch jedes Jahr da hin und lächele für sie.“ Ich streichelte seine Wange und nickte kaum merklich. Er hauchte mir einen Kuss auf die Stirn und sagte dann: „Jetzt bist du dran. Was ist so passiert in den letzten zwei Tagen?“ „Nicht viel. Die Versammlung war kurz und Mr. Cooper hat nur von den Aktivitäten gesprochen, die in den Schulferien so angeboten werden. Der Montag war ruhig. Aber wir haben einen neuen Schüler.“ Taylor wurde aufmerksam. „Jemand Neues?“ „Mhm. Ein blasser Junge mit dunkelbraunen Haaren. Keine Ahnung, wie er heißt.“ „Sonst spricht doch die ganze Stadt von Neuankömmlingen“, begann er und grinste, weil er an zurückliegende Wochen dachte, „und da hast du nichts weiter von ihm gehört?“ „Da muss ich dich enttäuschen, ich war an keinen Orten, wo getratscht wird.“ Ich überlegte kurz, ob ich ihm vom Biologieunterricht erzählen sollte, doch eigentlich wollte ich nicht, dass er der Sache näher auf den Grund ging. Er war wieder hier und ich würde mich einfach von dem Typen fernhalten. „Und die Nächte?“ „Keine Albträume. Gestern Nacht habe ich nichts geträumt und vorgestern von irgendetwas, dass ich mit meinem Vater erlebt hatte, als ich vierzehn war.“ „Das klingt doch sehr vielversprechend.“ „Ja, sicher…“ Sein rechter Mundwinkel zuckte nach oben, weil er sich ein Lächeln verkniff. Er ahnte, was ich noch sagen wollte und weil ich es gesehen hatte, zog ich jetzt ihn auf. „Du kannst ja dann immer zu Hause bleiben… Möchtest du noch was trinken?“ Ich stand auf, schnappte mir die Gläser und verschwand in der Küche. Wie vom Blitz getroffen, zog sich Taylor an der Rückenlehne der Couch hoch und blickte mir nach. „Du meinst, ich soll nicht mehr…?“ „Wozu? Ich hab doch keine Albträume mehr. Und du könntest dir den Weg durch den dunklen Wald sparen. Davon haben wir also alle beide was.“ Er öffnete kurz den Mund, um mich umzustimmen, doch er schloss ihn wieder. Ihm schien nichts einzufallen und ich kehrte mit zwei vollen Gläsern zu ihm zurück. „Was ist?“, fragte ich und er blickte mich mit traurigen Augen an. „Ist das dein Ernst?“ Einen kleinen Moment lang ließ ich ihn noch zappeln, dann griff ich nach seinen Händen und verflocht meine Finger mit seinen. „Natürlich nicht. Das erste, was ich abends tun würde, wäre dich anzurufen, um dich zu bitten zu mir zu kommen.“ „Dann darf ich also heute Nacht bleiben?“ „Ich bestehe darauf.“ „Nun, ich kann dich unmöglich enttäuschen, nicht wahr?“ Sein Gesicht näherte sich meinem. „Das wäre schrecklich gemein von dir.“ Ich spürte bereits seinen Atem auf der Haut und die feinen Härchen in meinem Nacken stellten sich auf. „Dann ist es ja gut, dass ich ein guter Junge bin.“ „Durchaus“, wisperte ich und konnte nicht länger warten. Seine Lippen waren so wunderbar weich und sie schmeckten nach ihm. Wäre es möglich gewesen, ich hätte mich allein von seinen Küssen ernährt. Er war vorsichtig, so wie immer, damit er mir nicht wehtat, doch mit mir hatte er nicht gerechnet. Ich drückte ihn rücklings auf die Couch, schlang meine Arme um seinen Nacken und legte mich auf ihn. Es war so wundervoll, dass er wieder hier war, zurück bei mir. Mir fiel ein, dass ich ihn hierdurch vielleicht quälen würde, doch ich konnte nicht von ihm ablassen. Taylor schlang einen Arm um meine Taille, während er mit der anderen Hand die Spange aus meinem Haar löste und mit seinen Fingern hindurch fuhr. Ich spürte sein Herz, das heftig in seinem Brustkorb schlug und spürte auch meines, das ihm im selben Rhythmus antwortete. Meine Hände ruhten auf seinen Wangen und ich löste mich nur widerwillig von ihm, aber ich musste auf die Uhr blicken. Ich stützte mich mit den Händen auf der Couch ab, streckte meine Arme durch und sah auf zur Wand mit den Geweihen. Mitten drin hing eine Uhr, die bereits kurz vor halb Sechs anzeigte. „Mein Vater kommt gleich und ich denke nicht, dass er uns so sehen will.“ Unsere Atmung kam stoßweise und ich blickte zu Taylor hinunter. Seine Augen glänzten und er lächelte selig. Mein Haar hing über meiner linken Schulter und da ihn die Rückenlehne der Couch von der rechten Seite her ins Dunkel tauchte, war er unter mir völlig abgeschirmt. Sein Lächeln war entwaffnend und ich seufzte sehnsüchtig. Noch nie im Leben hatte ich mir mehr gewünscht, dass mein Vater länger arbeiten müsste. „Gib mir noch ein paar Sekunden“, flüsterte er und ich lachte. Jetzt war er es also, der jegliche Kontrolle über Arme und Beine verloren hatte. Eigenartigerweise fühlte ich mich dadurch etwas mächtiger als sonst. Schließlich bedeutete das, dass ich ihn genauso schwach machen konnte, wie er mich. Ich stemmte mich hoch, fuhr mir mit den Fingern behelfsmäßig durchs Haar und kuschelte mich dann wieder mit angewinkelten Beinen in die andere Ecke der Couch. Der Regen prasselte hart gegen die Fensterscheiben, doch Taylor setzte sich auf und meinte ernst: „Er ist da!“ Ich war schon wieder erstaunt, wie gut sein Gehör war. Durch den Krach hindurch hatte er den Motor des Autos und die zuschlagende Tür gehört. Er trank einen Schluck Eistee und ich stand auf, um meinem Vater die Tür zu öffnen, damit er nicht im Regen nach seinen Schlüsseln kramen musste. Als ich ihn zur Begrüßung anlächelte, sah ich seinen Blick, der dem Motorrad vor dem Grundstück galt und konnte förmlich spüren, wie seine Stimmung sich änderte. Es war einfach nicht zu glauben. Spürte er denn nicht, wie gut mir Taylor tat? Wie lieb und beschützend er mir gegenüber immer war? Doch dann dachte ich an den Traum mit unserer Hochzeit und atmete tief ein. Eines Tages würde er mich an Taylor weiterreichen und zufrieden mit meiner Wahl sein. Dann würde er wissen, dass ich bei einem Mann war, der mich mehr liebte als sein eigenes Leben. So musste es einfach sein. „Hallo, Schatz. Du hast Besuch?“ „Ja, Taylor ist früher zurückgekommen. Aber jetzt komm erst mal rein und zieh dir trockene Sachen an, sonst holst du dir noch eine Lungenentzündung.“ Er säuberte die Schuhe, die ein wenig mit Schlamm bedeckt waren, am Fußabtreter und schlüpfte dann durch die Tür. „Guten Tag, Dr. Connor“, sagte Taylor und stand zwischen Wohnzimmer und Küche. „Hallo“, antwortete mein Vater ihm, nickte kurz und wandte sich dann an mich. „Ich muss gleich noch einmal los. Weißt du, wo ich meine dicke Regenjacke habe?“ „Die ist oben in der Truhe in deinem Arbeitszimmer, ich hol sie dir. Wo willst du denn bei dem Wetter noch hin?“ „Murray hat einen riesigen Wolf im Wald gesehen und wir wollen jetzt noch mal unsere Strecke abgehen und gucken, ob noch mehr hinzu gekommen sind.“ „Haltet ihr das bei dem Regen für eine so gute Idee?“ Um meinen Worten noch mehr Ausdruck zu verleihen, peitschte eine mächtige Windböe gegen die Scheiben und ließ sie in den Rahmen klirren. Das würde sich noch zu einem heftigen Sturm entwickeln, da war ich mir sicher. Es gab viele morsche Bäume in den Wäldern rund um Crystal Falls und bei dem Wind war es nicht unwahrscheinlich, dass sie nachgaben und umstürzen würden. „Wir bleiben nicht lange…“, beruhigte er mich, doch ich machte mir trotzdem Sorgen. „Soll ich vielleicht mitkommen?“, fragte plötzlich Taylor und ich wandte mich mit ängstlich aufgerissenen Augen zu ihm um. „Das ist wirklich sehr nett von dir, aber mir wäre es lieber, wenn du auf meine Tochter Acht gibst“, meinte mein Vater, ehe ich ihm zuvorkommen konnte. Er schien es nur sehr ungern zu sagen, doch er meinte es ernst, das hörte ich. „Ja, Sir.“ „Holst du mir dann bitte die Regenjacke, Lils? Dann zieh ich solange trockene Sachen an.“ Mein Vater wartete auf keine Antwort und war bereits auf dem Weg in sein Schlafzimmer. Ich ging nach oben und spürte plötzlich einen heftigen Luftzug, der mir unter meiner Tür entgegen blies. Was hatte denn das zu bedeuten? Ehe ich ins Arbeitszimmer meines Vaters ging, öffnete ich die Tür zum Schlafzimmer und erstarrte. Hatte ich das Fenster vorhin vergessen zu schließen? Es musste so gewesen sein, denn es stand sperrangelweit offen, Regen und Wind vermischten sich zu eisiger Nässe und ich kämpfte mich voran. Als ich es endlich schaffte es zu verriegeln, blickte ich nach draußen und glaubte einen schwarzen Schatten in der Hecke verschwinden zu sehen. „Schatz? Ist sie nicht dort?“, rief mein Vater zu mir hinauf und ich erschrak. „Doch, ich bin gleich da!“ Ich schüttelte den Kopf, es musste Einbildung gewesen sein, und ging dann die Regenjacke holen. Als ich sie ihm reichte und er sich bereit machte wieder nach draußen zu gehen, umarmte ich ihn kurz und meinte: „Sei vorsichtig, Dad!“ „Natürlich. Wir sind nicht lange weg.“ Er drückte mir einen Kuss auf die Stirn und nickte Taylor zu, der nah hinter mir stand und mich mit seiner Körperwärme beruhigen wollte. Doch aus irgendeinem Grund half es mir dieses Mal nicht.   Regen und Wind ließen endlich wieder nach, doch ich tigerte noch immer von Fenster zu Fenster, um nach meinem Vater Ausschau zu halten. Es war bereits Neun Uhr, doch noch immer keine Spur von ihm. Wir hatten die Nachrichten ganz leise angestellt, um von umgestürzten Bäumen und verletzten Menschen sofort benachrichtigt werden zu können. Taylor beobachtete mich, doch ich sah, wenn ich ihm gelegentlich einen Blick zuwarf, dass er sich konzentrierte, um jedes noch so kleine Geräusch von draußen wahrzunehmen. „Er kommt bestimmt gleich…“, sagte er leise und ich schrak zusammen. Solange hatten wir kein Wort miteinander gewechselt, dass es jetzt umso merkwürdiger war, seine Stimme zu hören. „Ich weiß… Aber er war bei solchem Wetter noch nie solange weg. Wenn ihnen nun doch…“ „Scht“, beruhigte er mich und schlang seine Arme von hinten um meinen Bauch. „Und wenn ich mir dann auch noch vorstelle, dass du beinahe mitgegangen wärst…“ Ich begann zu zittern und presste meinen Rücken fester an ihn. „Um mich musst du nun wahrlich keine Angst haben. Ich kann schneller reagieren, als ein Mensch.“ „Dieser schwarze Wolf ist aber da draußen…mit meinem Vater. Und er hat dich schon mal verletzt, das habe ich nicht vergessen.“ Er antwortete nicht, stattdessen umarmte er mich fester und küsste mich aufs Haar. Schon öfter hatte ich das Gefühl, dass er mir absichtlich nicht sagte, was genau und vor allen Dingen wie und wo es geschehen war. Mir war klar, dass er kein draufgängerischer Kämpfer war und nicht unüberlegt gehandelt hatte. Schließlich war er damals auf der Lichtung auch völlig ruhig geblieben. Doch es musste etwas passiert sein, wovon er nicht gern sprach. Etwas, dass er vor mir lieber geheim hielt. Ich schloss langsam die Augen und flüsterte: „Du wirst es mir nicht erzählen, oder?“ Taylor wusste sofort, wovon ich sprach. „Zumindest nicht heute“, antwortete er ebenso leise und ich spürte, wie er sich langsam aufrichtete. „Okay.“ Als ich meine Augen wieder öffnete, konnte ich ein paar Scheinwerfer auf unser Haus zukommen sehen. Ich beugte mich leicht vor und stütze mich mit beiden Händen an der Spüle ab. Mein Herz sprang wild auf und ab vor Freude, als das Auto in die Auffahrt fuhr und mein Vater, die Kapuze seines Regenmantels tief ins Gesicht gezogen, auf unser Haus zulief. „Gott sei Dank“, seufzte ich und lief zur Tür, um sie ihm wieder zu öffnen. Erst ein paar Sekunden später realisierte ich, dass Taylor mir nicht folgte und wie gebannt aus dem Küchenfenster starrte. „Meine Güte, ist das ein Mistwetter“, fluchte mein Vater und schüttelte sich kräftig, ehe er den Flur betrat. „Ist auch wirklich keinem etwas passiert?“, fragte ich und untersuchte sein Gesicht, um jede noch so kleine Lüge gleich zu enttarnen. „Nein, alles bestens. Wir sind ein paar Mal im Schlamm weggerutscht, aber wir haben keine Wölfe mehr gesehen.“ Ich atmete erleichtert auf und half ihm aus der Jacke. Taylor tauchte hinter uns auf und beugte sich zu seinen Schuhen herunter. „Ich mache mich jetzt auf den Weg. Der Regen ist ja nicht mehr so schlimm…“ „Soll ich dich vielleicht fahren, Junge? Dein Motorrad kriegen wir locker auf die Ladefläche“, meinte mein Vater und ich lächelte in mich hinein. Anscheinend fand er sich endlich damit ab, dass Taylor so gut wie zur Familie gehörte. „Danke für das Angebot, aber so lang ist der Weg ja nicht. Und ich denke, Sie sollten lieber bei Lilly bleiben.“ Er bedachte mich mit einem Zwinkern, aber ich kam mir vor wie ein kleines Kind, das man nicht alleine lassen konnte. „Na gut, wie du möchtest.“ „Ruf an, wenn du zu Hause bist, ja?“, fragte ich und er lächelte mich warm an. „Natürlich! Wir sehen uns dann“, flüsterte er und hauchte mir einen Kuss auf die Stirn. Wir beide wussten, dass er damit nicht erst morgen meinte. „Guten Abend, Sir.“ „Fahr vorsichtig, Taylor, die Wege im Wald sind nicht zu unterschätzen.“ Sie reichten einander die Hand zum Abschied und dann sahen mein Vater und ich ihm nach, bis er mit dem Motorrad aus unserer Sicht verschwunden war. „Guter Junge“, meinte mein Vater und drückte mir einen Gute-Nacht-Kuss auf die Wange. „Dad?“ Er wandte sich zu mir um, als ich die Tür geschlossen hatte. „Ja?“ „Danke!“ „Ich habe nie an deiner Wahl gezweifelt, Schatz.“ Und ich sah, dass es die reine Wahrheit war. Nicht mal eine halbe Stunde später, hielt ich Taylor bereits wieder in den Armen, während mein Vater seelenruhig unten in seinem Bett schlief. Mein Kopf ruhte auf seiner Brust und ich schlang einen Arm um seinen Bauch. Taylor indessen streichelte meinen Oberarm und blickte an die Zimmerdecke. „Er meinte vorhin, dass er nie an meiner Wahl gezweifelt hätte“, sagte ich und lauschte seinem Herzschlag. „Tatsächlich?“ Normalerweise hätte er sich darüber wie verrückt gefreut, doch jetzt schien er mit den Gedanken ganz woanders zu sein. Überall, nur nicht hier. „Ist vorhin irgendwas passiert?“ „Ich bin mir nicht ganz sicher.“ „Was meinst du damit?“ „Ich glaube, ich hab vorhin was gesehen, aber…“ „Du bist dir nicht sicher“, beendete ich seinen Satz, „und was hast du gesehen?“ „Einen Jungen. Er stand auf der gegenüberliegenden Straßenseite.“ Ich setzte mich im Bett auf und mein Blick huschte zum Fenster hinüber. Was ich dort zu sehen beziehungsweise nicht zu sehen hoffte, weiß ich heute nicht mehr, aber mein Herz krampfte sich zusammen. „War er blass und hatte dunkelbraune, wirre Haare?“, fragte ich leise und spürte Taylors Körperwärme näher kommen, als er sich ebenfalls aufsetzte. „Ja. Wer ist das?“ „Der Neue.“ Und dann fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Alles war so offensichtlich gewesen und je mehr ich darüber nachdachte, umso klarer wurde es. „Oh Gott, ich bin so blöd“, ich schlug meine Hände vors Gesicht. „Lilly, was ist denn?“ Er schlang einen Arm um meine Schulter und ich wandte meinen Kopf zu ihm um. Unsere Augen waren nur Millimeter voneinander entfernt. „Er ist der schwarze Wolf.“ Diese fünf Worte kamen nur hauchzart über meine Lippen, doch Taylor hatte es gehört, als hätte ich es herausgeschrien. „Bist du dir sicher?“ „Überleg doch mal. Niemand weiß etwas über ihn, weil er nicht so hergekommen ist, wie ihr. Er war einfach da, wie aus dem Nichts. Und er taucht genau dann in der Schule auf, als ihr nicht in Crystal Falls seid. Und dann der Zorn während des Unterrichts, natürlich…“ „Was für Zorn? Lilly?“ Es war zu spät, um es ihm jetzt zu verheimlichen. Ich wusste, dass er nicht eher Ruhe geben würde, ehe ich ihm alles erzählt hatte. Und so setzte ich mich im Schneidersitz vor ihn und atmete tief durch. „Es ist was passiert…heute.“ „Was hat er getan?“ Taylor klang kühl und ich sah die unbändige Wut in seinen Augen, die er dem Wolf gern höchstpersönlich um die Ohren geschlagen hätte. „Er hat mir nicht wehgetan, er hat mich nicht mal berührt…“ „Aber?“ „Wir haben im Biologieunterricht wieder einen Film gesehen. Der Stuhl neben mir war frei und…ich meine, ich kann niemandem verbieten sich dorthin zu setzen,…er hat da Platz genommen. Er hat mich einfach nur angesehen, mich beobachtet mit diesen schwarzen Augen und ich...ich konnte einfach nicht wegsehen. Irgendetwas hat mich angezogen.“ Es war furchtbar ihm das zu gestehen, wo er doch der Einzige für mich war, der mich magisch anzog. Taylor unterbrach mich nicht, doch ich sah noch immer die Raserei in seinen Augen. Die traurige Wahrheit umfing mich: Sobald ich zu Ende erzählt hatte, würde er aus dem Fenster springen und den Wolf aufsuchen. „Ich fühlte mich kalt, leblos. Da war ein riesiger Eisklumpen in meinem Magen und eine Hand griff nach meinem Herzen. Und dann fiel mir ein, dass du mich schon so oft beschützt hattest, dass ich mir sicher war, dass es auch dieses Mal so sein würde. Ich schloss meine Augen und stellte dich mir vor. Und mit jedem weiteren Detail deines Gesichtes, wurde mir wärmer und ich vertrieb ihn. Das machte ihn wütend und er versuchte mit seinem Zorn, dein Gesicht aus meinen Gedanken zu vertreiben. Es gelang ihm nicht. Dann wandte er sich einfach von mir ab und verschwand als Erster aus dem Raum, als es zum Stundenende klingelte.“ Er sah mich an und senkte dann seinen Blick, so als könne er die Vorstellung nicht ertragen, dass mir so etwas passiert war. „Ich hätte hier bleiben müssen.“ „Sei nicht albern.“ „Ich hätte dich beschützen müssen.“ „Das hast du doch. Und du weißt genauso gut wie ich, dass du es dir niemals verziehen hättest, wenn du nicht zu deiner Mutter gegangen wärst.“ Ich hörte, wie er mit den Zähnen knirschte, dann sprang er auf und wandte sich dem Fenster zu. „Taylor“, begann ich und streckte einen Arm nach ihm aus, doch er war bereits zu weit entfernt, um seine Hand zu berühren. Aber er verharrte in seiner Bewegung und wartete. „Bitte, bleib hier.“ „Ich muss ihn suchen…“ „Und dann? Was willst du tun?“ „Keine Ahnung, aber mir wird schon was einfallen. Ich lasse nicht zu, dass er dich so angreift und dann ungeschoren davon kommt.“ „Und was ist, wenn er es genau darauf anlegt? Was, wenn er dich von hier weglocken will, um dann…?“ Ich konnte es nicht aussprechen, doch er ahnte, worauf ich hinaus wollte. Er presste Handflächen und Stirn gegen die Scheibe, schloss seine Augen und versuchte seine Atmung unter Kontrolle zu kriegen. Meine Gewissensbisse nagten erbarmungslos an mir. Jede Nacht war er hier geblieben, um mich zu beschützen, hatte auf seinen Schlaf verzichtet, damit ich nichts Böses träumte. Und jetzt nutzte ich seine Schwäche für mich aus, um ihn bei mir zu behalten. Aber ich tat es ja nicht nur für mich. Ich wollte nicht, dass er noch einmal verletzt wurde, wollte nicht, dass seine Familie ihn verlor, weil er so wütend war und deshalb vielleicht eine Dummheit beging. Dennoch musste ich mir eingestehen, dass ich es hauptsächlich aus egoistischen Gründen tat. Oh ja, ich wollte nicht, dass er ging, weil ich ihn sonst verlor. Mir war klar, dass er stark war und den schwarzen Wolf vielleicht auch erledigen konnte, doch was, wenn es nicht so endete? Was, wenn er starb? Mein Arm sank auf das Laken und ich versuchte die Tränen zurückzudrängen, die sich ihren Weg ins Freie bahnten. Er sollte nicht bleiben, weil er mich daran hindern wollte, zu weinen. Sondern, weil ihm klar wurde, dass ihn eine unüberlegte Handlung das Leben kosten konnte. Es vergingen fünf Minuten, die mir wie eine Ewigkeit erschienen. Er hatte seine Position nicht verändert und ich sprach nicht auf ihn ein. Es musste seine Entscheidung bleiben. Eine Entscheidung, die ich ihm nicht abnehmen durfte, so gern ich es auch wollte. Taylor stieß sich langsam vom Fenster ab, drehte sich um und lehnte sich an den Rahmen. Ruhig und konzentriert blickten seine Augen mich durch das Zimmer hinweg an. Ich wollte die Frage nicht stellen, aus Angst eine Antwort zu erhalten, die mir weh tun würde, auch wenn er es nicht mit Absicht tat. „Du hast Recht“, sagte er und ich hielt die Luft an. „Hab ich das?“ „Es ist klüger, wenn ich das morgen mit meinem Vater und Sean bespreche. Wir machen einen Plan und haben gemeinsam eine größere Chance ihn zu überlisten.“ Ich versuchte in seinem Gesicht zu erkennen, ob das wirklich das war, was er darüber dachte. Doch ich fand nichts, was auf eine Lüge schloss. „Dein Vater ist also einverstanden mit mir, ja?“ Für ihn war das Thema damit beendet. Ein kleines Lächeln umspielte meine Lippen. „Er sagte, du wärst ein guter Junge.“ „Oh… Dann kennt er mich wirklich noch nicht gut genug.“ Während ich meine Finger betrachtete, trat er näher zu mir ans Bett, legte seine Hände an meine Wangen und zog mein Gesicht zu seinem hinauf. Ich stand auf meinen Knien und war einer Ohnmacht nahe, als er mich küsste. Anders als sonst. Er war natürlich vorsichtig wie immer, doch da lagen Gefühle in seinem Kuss, die ich so noch nicht kannte. Eine solch tiefe Zuneigung, die weit über Liebe hinausreichte, Zärtlichkeit und Verlangen… Und dann begrub er mich unter sich und ich spürte, wie er jeden einzelnen Vorsatz verfluchte und weit hinter sich ließ. Seine Arme umschlossen mich, pressten mich an sich und ließen mich nicht mehr gehen. „Ich nehme an“, begann ich und schnappte kräftig nach Luft, „das bedeutet, dass du hier bleibst.“ „Wo sollte ich sonst auch hin?“ „Wie reizend von dir. Weil du nicht weißt, wo du sonst hin kannst, bist du also hier?!“ Er lachte lautlos und brachte mich mit einem weiteren Kuss zum Schweigen. „Wer sind Sie und was haben Sie mit Taylor Wood gemacht?“, wisperte ich und hielt sein Gesicht mit meinen Händen umschlossen, um ihn ein paar Sekunden von meinen Lippen fernzuhalten. Ich brauchte ein paar Momente, um zu Atem zu kommen. Und dann erkannte ich, was geschehen war. Er hatte durch den Zorn so viel überschüssige Energie in sich aufgestaut, dass er sie schließlich irgendwo loswerden musste. Mir kam ein leiser Verdacht, worauf das hinauslaufen würde, doch ich war mir nicht sicher, ob ich dafür schon bereit war. Und ob ich es ihm auch so sagen können würde. Doch er blickte mir tief in die Augen und sah, was mir durch den Kopf ging. „Wir haben alle Zeit der Welt“, hauchte er und küsste meine Nasenspitze. „Da bist du ja wieder…“ Meine Arme schlangen sich um seinen Nacken und ich betete zu Gott, dass dieser Moment nie verging.   Ein Sonnenstrahl traf meine Augen und an jedem anderen Morgen hätte ich mich noch einmal umgedreht und genüsslich weiter geschlafen, doch nicht so heute. Eine tiefe Zufriedenheit durchfuhr meinen Körper, vom Scheitel bis zu den Zehenspitzen. Nichts hätte diesen Moment zerstören können, da war ich mir sicher. Ich öffnete die Augen einen Spalt breit und blickte zu Taylor hinauf. Er schlief noch, einen Arm über den Augen, damit ihn die Sonne nicht weckte, den anderen unter meinem Nacken. Ein kleiner Wirbel hatte sich auf der linken Seite seines Kopfes gebildet und die Lippen waren ganz leicht geöffnet. Seinen Teil der Decke hatte er weggetreten, doch wen wunderte das? 40° Körpertemperatur und ich würde auch nicht angezogen unter einer Bettdecke liegen wollen. Ich beobachtete eine Weile seinen Brustkorb, wie er sich langsam hob und senkte und blickte ihm dann wieder ins Gesicht. Ein Mundwinkel zuckte kurz nach oben, dann schloss er die Lippen, schluckte und öffnete sie wieder leicht. Alles in allem ein Bild für die Götter. Mein Wecker zeigte erst kurz nach Vier Uhr morgens an. Noch genug Zeit, ihn zu betrachten und seine Nähe zu genießen. Manchmal glaubte ich, dass das einfach nur ein Traum sein konnte. Er war zu perfekt. Klug, witzig, gut aussehend, ein wahrer Gentleman und wir hatten uns noch nie gestritten. Allein die kleinen Momente mit Taylor reichten mir vollkommen, um glücklich zu sein. Ich liebte ihn abgöttisch und hätte ihn für nichts in der Welt eintauschen wollen. Er streckte sich leicht, nahm seinen Arm von den Augen und legte ihn über meine Taille, während er sich gleichzeitig zu mir drehte. Noch immer schlief er tief und fest. Hätte er jetzt die Lider geöffnet, hätten wir uns direkt in die Augen gesehen. Ich kuschelte mich näher an ihn und atmete seinen Duft tief ein. Es war eine Mischung aus Wald, ein wenig Lavendel, den er von mir übernommen hatte und etwas…es war schwer zu beschreiben, aber es roch animalisch. Nicht wie ein Hund riecht oder überhaupt ein Tier, eben einfach wild. Typisch Taylor. Und es kam noch ein Hauch Aftershave hinzu. Ich schloss meine Augen, doch an Schlaf war nicht mehr zu denken. Um ehrlich zu sein brauchte ich, seitdem er bei mir war auch nur noch halb so viel davon. Früher, vor ihm, hätte ich einen ganzen Tag durchschlafen können, ohne auch nur einmal meine Augen zu öffnen. Meine Stirn lehnte an seiner und ich lauschte seinem leisen Atem. Nächste Woche begannen endlich die lang ersehnten Sommerferien. Dann konnte ich den ganzen Tag mit ihm verbringen. Vielleicht würde ich auch bald meinen Vater überreden können, dass ich wieder zu den Woods fahren durfte. Meinetwegen sollte er mich fahren oder einer der drei Männer mich abholen. Es war mir egal, solange ich nur mal wieder zu Besuch durfte. Ich vermisste die Blödeleien mit Sean, die wunderbaren Gespräche mit Kenneth, das Gefühl in einem anderen Haus noch sicherer zu sein, als in diesem hier. Taylor seufzte leise und ich kontrollierte, ob er einen schlechten Traum hatte. Er lächelte leicht und ich sank erleichtert noch etwas tiefer ins Kissen. Das stete Ticken der Uhr, sein Atem auf meiner Haut und das Gefühl seines Körpers an meinem war einfach so beruhigend, dass ich doch noch kurz eindöste. Erst als seine Lippen ganz sachte meine berührten, wachte ich wieder auf. Es war kurz nach halb Sechs. „Guten Morgen!“ „Hey“, antwortete er und lächelte mich an, „ich bin einfach eingeschlafen…“ „Ich weiß. Und wie war es?“ „Dein Bett ist herrlich bequem.“ „Vielen Dank“, lachte ich. Er wickelte sich eine meiner Haarsträhnen um den Finger und ließ sie dann wieder locker davon herunter fallen. „Ich liebe dein Haar“, murmelte er und vergrub sein Gesicht darin. „Das ist es also, was dich bei mir hält…“ „Ja, nur das. Was hast du denn gedacht?“ Er küsste meinen Hals, dann das Schlüsselbein, verschränkte seine Finger mit den meinen und senkte dann seine Lippen auf den Handrücken. „Ich bin furchtbar, nicht?“, fragte er, doch ich konnte nicht gleich antworten. Einige Augenblicke später forschte ich nach: „Inwiefern?“ „Weil ich den ganzen Tag hier mit dir liegen und dich alle paar Sekunden küssen könnte.“ „Und in welcher Hinsicht sollte das noch gleich furchtbar sein?“ Taylor lachte lautlos und widmete sich wieder meinem Hals. Als er an meinem Kinn angelangt war und ganz langsam weiter bis zu meinen  Lippen wanderte, stockte mir der Atem. Kurz bevor er sie berührte, hauchte er: „Ich liebe dich!“   17. Juli „Ich liebe dich!“ Diese drei Worte hat heute der tollste und großartigste Junge der Welt zu mir gesagt. Ich habe nicht geglaubt, jemals so viel für einen anderen Menschen empfinden zu können. Deshalb war es nur verständlich, dass ich ihm sagte, dass ich ihn auch liebe. Im Traum sehe ich ihn ganz oft. Wir werden eine glückliche Ehe führen, ein Kind bekommen, ein Haus kaufen und uns jeden Tag mehr lieben. Jedes Mädchen wünscht sich so ein Leben und ich werde ein solches führen. Ich hoffe wirklich, ich bekomme eine Tochter - wie ich schon mal im Traum sah. Ich werde sie verwöhnen, mit ihr all den Mädchenkram machen, den meine Freundinnen für albern hielten als wir kleiner waren. Ich werde sie unglaublich lieben und mit ihr tolle Gespräche führen. Wir werden wie Freundinnen sein. Und ich glaube, wir werden ganz tolle Eltern sein. Da bin ich mir sogar sehr sicher. Wir werden ein unschlagbares Team abgeben. Ich freue mich schon jetzt auf jeden Moment, den ich mit ihm teilen werde. ‚Ich liebe dich und ich werde es bis an mein Lebensende tun. Wenn nicht sogar darüber hinaus. Danke, dass du an meiner Seite bist und mich bei jeder meiner verrückten Ideen unterstützt und nicht auslachst. Es ist nicht immer leicht mit mir, das weiß ich. Umso dankbarer bin ich dafür, dass du in mein Leben getreten bist und es so viel bunter machst.‘   Der Freitag kam schneller, als ich zunächst erwartet hatte. Ich war, wie ich jetzt wusste, durchaus in der Lage einen Abend ohne Taylor zu verbringen, aber es würde merkwürdig werden abends ohne ihn im Bett zu liegen. In einem anderen Haus. Wir, also meine Freundinnen und ich, hatten uns auf den Film ‚Sieben Leben‘ mit Will Smith geeinigt, den sie in einem alten Kino wiederholten. Da Crystal Falls nur ein kleines, das Crystal - ich weiß, sehr einfallsreich -, besaß, fuhren wir direkt nach der Schule nach Iron River. Vorher aßen wir in einem kleinen Restaurant zu Mittag und machten dann einen Stadtbummel. Während die Mädels von einem Geschäft zum Nächsten hetzten, dachte ich über die letzten Tage nach. Nachdem Taylor und ich nämlich am Mittwoch zusammen zur Schule gefahren waren, tauchte der Neue nicht mehr auf. Was mich in meiner Theorie nur noch mehr bestärkte. Er hatte wahrscheinlich nicht vor mich zu bedrängen, wenn Taylor in der Nähe war. Und es war ihm natürlich nicht entgangen, dass ich diesen am Dienstag stürmisch begrüßt hatte. Sean und Kenneth hatten Taylor ebenfalls gesagt, dass er nicht überstürzt handeln solle, weil er so wütend auf ihn war. Obwohl ihm sein Bruder noch so einige Dinge genannt hatte, die man mit dem Kerl hätte anstellen können. Er war ebenfalls wenig begeistert darüber, wie nah er Carly und mir gekommen war. Die beiden texteten übrigens zurzeit mehr als oft. Ich hoffte so sehr, dass sie eines Tages das süße Pärchen aus meinem Traum werden würden und wartete täglich darauf, dass mir Carly die gute Nachricht verkündete, doch in dieser Woche war es noch nicht geschehen. Taylor gab es nicht zu, doch er war wachsamer als je zuvor. Wenn ich ihm irgendwo allein im Flur begegnete, sah er sich erst beunruhigt um, ob mir der Wolf nicht doch in Menschengestalt gefolgt war, ehe er mich an sich zog und mich küsste. Die Lehrer hatten genauso wenig Lust gehabt in der Schule zu sitzen wie wir, schließlich war herrliches Wetter und die Sommerferien greifbar nah gewesen. Viele hatten ihren Unterricht nach draußen verlegt oder Schüler Filme mitbringen lassen. Alle, außer Hastings, der seine Schüler bis zur letzten Sekunde gequält hatte. Nun, aber wir hatten es alle überlebt und Farrahs Artikel waren nicht weiter als bis zur Folge 1 gekommen. Anscheinend hatte es am Ende niemand mehr ernst genommen, oder sie fürchteten sich mehr vor der Rache Taylors, da war ich mir nicht so sicher. Es ging jedoch das Gerücht um, dass die Lehrer ihr Verhalten und diesen Artikel mehr als gerügt hatten. Jedenfalls ließ sie sowohl Carly, als auch Taylor und mich zufrieden und das ließ die Sommerferien noch wundervoller beginnen. „Da müssen wir rein“, jauchzte Mia und stieß mich leicht in die Seite. Erst jetzt bemerkte ich, dass wir stehen geblieben waren und Carly mir einen merkwürdigen Gesichtsausdruck offenbarte. Sie sah belustigt und gequält zur selben Zeit aus. Ich wandte mich dem Schaufenster zu und erstarrte. Es war ein Brautmodengeschäft und die Kleider darin waren natürlich wunderschön, aber in meiner Kehle bildete sich ein dicker Kloß. Während ich noch überlegte, ob es mir gelang einfach weiterzugehen und die Mädels damit dazu zu bringen mir zu folgen, waren bereits Mia und Elli Arm in Arm im Geschäft verschwunden. Kelly schien unschlüssig und Carly stellte sich neben mich. „Wollen wir?“ Sie legte es nicht darauf an einen Fuß hinein zu setzen, aber ich sah in ihren Augen, dass sie mir folgen würde, würde ich es tun. „Ich weiß nicht…“ „Gerade du, solltest es doch wissen. Oder nicht?“ Es war nicht böse gemeint, das wusste ich. „Man soll sein Glück bekanntlich nicht herausfordern…“, murmelte ich, erntete zwei erstickte Laute und dann sahen mich die beiden verbliebenen Freundinnen mit leicht hochgezogenen Augenbrauen an. „Wie bitte?“, japste Carly und Kelly fügte hinzu: „Habt ihr schon beschlossen zu…?“ „Um Gottes Willen, seht mich nicht so an. Einen Antrag hat er mir nicht gemacht, aber wir haben darüber geredet. Obwohl das so auch nicht direkt stimmt.“ „Was denn nun, Süße?“ Ich seufzte lautstark. „Ich hatte einen Traum in dem wir geheiratet haben und hab ihm davon erzählt. Er hat nicht panisch reagiert und meinte, dass wir heiraten würden.“ „Uuhh…“, quietschte Kelly und griff nach meinen Händen, „den Jungen musst du dir warm halten. …Lillian Wood,… klingt gut.“ Ich lächelte zaghaft und sagte nicht, wie oft ich mir schon vorgestellt hatte, eines Tages so genannt zu werden. „Dann sollten wir uns doch schon mal umsehen, hm?“ Beide sahen mich an, doch ich zögerte. „Wisst ihr, das mit Taylor und mir ist viel zu perfekt. Manchmal hab ich Angst, dass das Ganze einfach platzt wie eine Seifenblase und ich… Was, wenn ich reingehe und mich reinsteigere und dann…alles vorbei ist? Wenn er mir morgen sagt, dass er gemerkt hat, dass es mit uns beiden nicht mehr funktioniert?!“ Allein der Gedanke daran war furchtbar, doch Carly schlug mir leicht gegen den Arm und blickte mich dann belehrend an. „Hast du überhaupt eine Ahnung, wie er dich immer ansieht? Er verschlingt dich mit Blicken. Manchmal habe ich das Gefühl, er beginnt erst dann wahrhaft zu leben, wenn du auftauchst. In Mathe mit Hastings ist er kaum zu gebrauchen und er ist der Erste, der aus dem Raum stürmt, um dich wieder zu sehen. Und zu guter Letzt seid ihr in den Pausen kaum voneinander loszukriegen. Du solltest die Letzte sein, die sich darüber Gedanken macht, dass sie nicht heiraten wird, Süße.“ Ich hatte mir niemals zuvor vorgestellt, wie wir für die anderen aussehen mussten. Mein Herz schlug kräftig und das Blut rauschte durch meine Adern. „Wir haben noch drei Stunden, ehe der Film anfängt…“, hauchte Kelly, wir drei grinsten uns an und verschwanden dann ebenfalls im Laden.   Am Ende wusste ich nicht mehr, wie viele Kleider wir alle anprobiert hatten, aber keine von uns hatte auch nur ernsthaft in Erwägung gezogen eines zu kaufen. Die zwei weiblichen Angestellten waren etwas enttäuscht, aber sie ließen es sich nicht all zu sehr anmerken. Während wir das Kino verließen, jede noch einen Rest Popcorn in der Tüte, sprachen wir über den tollen Film. Und ich merkte, dass sie mir alle wahnsinnig gefehlt hatten. So ein Abend nur mit den Mädels war Entspannung pur und ich nahm mir vor, das zu wiederholen. Wir setzten uns in Carlys Wagen und fuhren zu Kelly nach Hause, wo wir uns gemütlich in unsere Schlafanzüge kuscheln und den ganzen Abend weiterquatschen wollten. Es war schon ziemlich dunkel, als wir an dem alten Haus am Rande Crystal Falls‘ ankamen und erst jetzt fiel mir auf, wie still es geworden war. Man hörte weder Grillen noch eine Eule. Merkwürdig in einer Gegend, die von Wäldern umringt war. Kurz vor der Tür fiel mir ein, dass ich meine Tasche auf dem Beifahrersitz liegen gelassen hatte. Ich war so darauf konzentriert gewesen, meine Sachen aus dem Kofferraum nicht zu vergessen, dass ich die dabei außer Acht gelassen hatte. „Carly, ich brauche noch mal die Schlüssel. Meine Tasche liegt noch drin…“, rief ich und fing die Autoschlüssel, die sie mir vom anderen Ende des Flures zuwarf. „Du Schussel“, schallt sie mich lächelnd und Kelly sagte, dass sie Kaffee aufsetzen würde und ich mich beeilen solle. Das musste sie mir nicht zwei Mal sagen. Ich lief vorsichtig, denn es wurde langsam feucht auf dem Rasen, zum Auto zurück und öffnete die Beifahrertür, als ich plötzlich die Eiseskälte spürte. Und ich wusste, dass das nicht die normalen Temperaturen waren, die die Nacht mit sich brachte. Das Knurren, das dann folgte, brachte meine Knie zum Zittern und ließ mir die Härchen im Nacken zu Berge stehen. ‚Nicht jetzt, nicht hier…‘, flehte ich still und umfasste meine Tasche fester, um wenn nötig damit um mich zu schlagen. So als wolle er mir klar machen, dass das wohl kaum funktionieren würde, knurrte er noch einmal, tiefer und bedrohlicher. Wieder hörte ich ihn klar, so wie auch schon damals, als ich das erste Mal mit ihm gesprochen hatte. „Du bist schon wieder allein und schon wieder ist es dunkel, kleine Lilly. Das sollte nicht zur Gewohnheit werden, was würde sonst dein Schoßhündchen dazu sagen?“ „Halt den Mund!“, zischte ich. „Na, na. Wer wird denn gleich so zickig sein? Ich will mich doch nur ein wenig mit dir unterhalten…“ „Das habe ich schon mit dir in Menschengestalt nicht gewollt, warum also sollte ich das jetzt tun?“ Ich wollte, dass er es zugab. Das er mir gestand, dass er der blasse Junge in unserer Schule war. Wollte kurz den Moment der Überraschung in seinen Augen sehen, weil er nicht damit gerechnet hatte, dass ich es wusste. Doch da war nichts zu sehen. „Ich? Menschengestalt?“, fragte er verachtend. „Was, zur Hölle, sollte mich dazu bewegen, eine so niedere Kreatur zu werden? …Ich bin mächtig genug, um dich zu zwingen, mit mir zu gehen. Und ich müsste dafür nicht mal meine Fähigkeiten einsetzen. Ich mache dir als Wolf bereits Angst genug…“ Ich antwortete nicht und für ihn schien das auch nicht nötig. „Hast du es dir endlich überlegt?“ „Was?“ „Mein Angebot ist immer noch gültig. Du würdest die Königin unter den Wölfen sein. Nur ein kleiner Biss und du wärst frei.“ Vor meinen Augen sah ich Bilder aufflackern. Ein weißer geschmeidiger Wolf streifte durch die Wälder. Sprang mühelos über umgestürzte Bäume. „Niemals!“ Die Bilder erstarben und der Schwarze vor mir fletschte bedrohlich die Zähne. „Ein vergeudetes Talent, nichts weiter bist du. Und dein, ach so geliebter Winsler verleugnet dein Leuchten. Du könntest so groß sein und er…?“ Mir war schleierhaft, worüber er da sprach, aber er beleidigte Taylor und das ging mir gehörig gegen den Strich. „Hör zu, Taylor, ist wundervoll. Und nennst du ihn noch einmal so, dann…“ „Was dann? Willst du mich mit deinem kleinen Täschchen windelweich prügeln?“ Er lachte heiser. Wir beide wussten, dass es nur einen Hieb seiner Pranke benötigte, um mich auf der Stelle zu töten. „Dachte ich es mir doch… Du solltest dein Mundwerk zügeln, meine Liebe. Sonst kommt es dich eines Tages teuer zu stehen. Stell dich mit mir gut und du wirst länger leben als dein kleiner Freund…“ Das war zu viel. Ich machte zwei Schritte auf ihn zu, konnte bereits seinen heißen Atem durch meine Kleidung hindurch spüren und wich trotzdem nicht zurück. Ehe ich wusste, was ich tat, hatte ich ihm bereits meine Tasche über das Maul gehauen und er winselte kurz auf, weil ich die empfindliche Nase getroffen hatte. „Das hättest du nicht tun sollen…“, zischte er und riss sein Maul weit auf. Dann spürte ich nur noch, wie ich von den Füßen gerissen wurde, als er seine Zähne in mein Hosenbein wetzte und mich ein Stück mit sich Richtung Wald zog. Ich schrie vor Schreck auf und bemerkte dann, dass er nicht in mein Fleisch gebissen hatte. Er zog mich lediglich an der Jeans quer über den Rasen. Dann endlich konnte ich reagieren. Ich trat mit dem anderen Bein nach ihm und verfehlte ihn, weil ich keine freie Sicht hatte. Noch einmal versuchte ich seine Nase zu treffen, denn die schien am anfälligsten zu sein. Wir waren bereits am Waldrand angelangt, als ich hörte wie die Tür zum Haus aufgezogen wurde und die Mädchen nach mir riefen. Ich bekam einen dicken abgebrochenen Ast zu fassen und warf ihn nach ihm. Wieder hörte ich, wie er heiser lachte, doch so einfach gab ich mich nicht geschlagen. Als er mich an einem Baum vorbeischleifte, umfasste ich mit beiden Händen den Stamm. Krallte mich daran fest und hinderte ihn so daran, mich tiefer in den Wald zu ziehen. Ein Plan musste her. Würde ich jetzt schreien, würden die Mädchen zwar auf mich aufmerksam werden, doch so einer Gefahr konnte ich sie nicht aussetzen. Meine Augen suchten den Waldboden um mich herum ab, hielten nach etwas Brauchbarem Ausschau. Doch in der Dunkelheit war nichts zu erkennen, was weiter als eine handbreit von mir entfernt lag. „Du hattest die Wahl“, sagte er und funkelte mich zornig an. „Aber ich werde deinem Hündchen bescheid geben, wo dein Körper liegt, versprochen.“ Und dann brach ein dunkler Schatten zwischen den Bäumen hervor und stieß sich mit aller Kraft gegen die Flanke des schwarzen Wolfes. Als der zurückgeschleudert wurde, waren seine Zähne noch immer in der Jeans verhakt und er zog mich fast mit sich. Dann folgte das Geräusch reißenden Stoffes und ich fühlte, wie mein Bein wieder frei bewegbar war. „Lauf zurück! Schnell!“, hörte ich Taylor klar in meinem Herzen. Meine Hüfte schmerzte, doch ich rappelte mich auf. Hinter mir waren Kampfgeräusche, dann ein lautes Jaulen zu hören. Doch ich sah mich nicht um, ich durfte es nicht. Ich war fast aus dem Wald heraus, als ich von hinten niedergedrückt wurde und wieder die tiefe Stimme hörte: „Es wird ganz schnell gehen!“ Die scharfen Krallen pressten mich noch weiter in den leicht feuchten Waldboden und der heiße Atem kam näher, ich fühlte ihn bereits im Nacken. Es war ein Reflex und töricht von mir zu glauben, dass es etwas half, doch ich stemmte mich hoch. Meine Finger gruben sich in die Erde und ich sammelte alle möglichen Kräfte in mir zusammen. „Ich habe Nein gesagt“, meinte ich zwischen zusammengebissenen Zähnen und fühlte plötzlich die Anwesenheit des anderen Wolfes. Das Gesicht halb in der Erde versunken, blickte ich ihn an. Das hellbraune Fell war mit Moos und kleinen Stöckchen übersät, er atmete schwer und lag, ebenso wie ich, tief ins Erdreich gedrückt, da. Seine Augen beobachteten mich und ich erkannte, wie sehr er sich wünschte, mir zu helfen, doch er konnte sich nicht rühren. Ich wusste nicht, was ihm fehlte, konnte meinen Kopf nicht weit genug drehen, doch alles schrie in mir auf. Er durfte nicht verletzt sein. Der heiße Atem war so nah an meiner Haut, dass ich bereits ein paar Tropfen Speichel darauf fühlen konnte. Ekel und Grauen ließen mich erbeben. Sollte es so etwa enden? Konnte das schon alles gewesen sein? Mein stilles Flehen zu Gott, man solle Taylor verschonen und Sean und Kenneth schicken, blieb ungehört. Tief im Innern hatte ich gewusst, dass sie nicht kommen würden. Taylor hatte wahrscheinlich seine gewöhnliche Runde gemacht, meinen Schrei gehört und die beiden nicht benachrichtigen können. Es wäre schließlich eine Vorwarnung für den schwarzen Wolf gewesen. Seine Augen begannen zu glitzern und ich wusste, dass er sich schwere Vorwürfe machte. Er fühlte sich verantwortlich für das, was gleich geschehen würde und gab sich selbst die Schuld daran, was ich alles hatte durchmachen müssen. Und dann erinnerte ich mich an unsere Abmachung. Ich wusste nicht, ob es ihm helfen würde, doch das war die einzige Chance, die mir noch blieb. Wieder stemmte ich mich mit aller Kraft hoch und sagte: „Ich habe keine Angst!“ Es war nur ein Flüstern, obwohl ich es laut hatte sagen wollen, doch er hatte es dennoch gehört. Und er wusste, wie ernst es mir war. Während ich sah, wie er verstand und die Augen erschrocken aufriss, hörte ich den Wolf über mir knurren: „Was?“ Irgendetwas geschah mit Taylor. Seine Muskeln und Sehnen spannten sich an, er bäumte sich zu voller Größe auf und stieß die Luft hart aus seiner Lunge. Dann heulte er laut auf und ich hörte den Ruf von allen Bäumen widerhallen. „Unsere Familie ist in Gefahr“, rief er seinen Bruder und seinen Vater und ein behagliches Gefühl ergriff mein Herz. Der schwarze Wolf über mir fuhr mit seinen Krallen über meinen Rücken und ein gedämpftes Stöhnen entrang sich meiner Kehle. Er zerriss so den Pullover und hinterließ auch kleine rote Kratzer auf meiner Haut. Sie waren nicht tief, doch er wusste, dass das Taylor wütend machen würde und lachte triumphierend, als dieser mit seinen Pfoten im Waldboden scharte, bereit zum Sprung. Zwei weitere Wölfe erschienen hinter ihm und der Mond brach durch das Blätterdach der Bäume. Zum ersten Mal sah ich die ganze Familie Wood in Wolfsgestalt. Seans Fell, ich konnte sie ganz einfach an ihren Augen unterscheiden, war ein dunkles Braun mit ebensolch schwarzen Linien durchzogen wie Taylors. Kenneth hingegen war ein stattlicher grauer Wolf mit einem strahlend weißen Brustlatz. Sie bedurften keiner Absprachen, Kommandos oder Zeichen. Alle drei wussten, was zu tun war. Während sich Sean und Kenneth auf den Wolf über mir stürzten und ihm nachjagten als er floh, weil er sich sicher war, dass er sich gegen alle drei nicht behaupten können würde, verwandelte sich Taylor in seine Menschengestalt zurück. Er half mir, mich aufzusetzen und besah sich dann meinen Rücken und mein Bein. Wir sprachen nicht ein Wort und ich wusste auch nicht, was ich hätte sagen sollen. In seinen Augen erkannte ich schließlich, was er dachte. Er war nicht weiter verletzt, das hatte ich überprüft, also was sollte es? „Geh schon“, wisperte ich und legte eine Hand auf seine Schulter. Seine Hände zuckten kurz, dann hatte er sich wieder unter Kontrolle. „Was meinst du?“ „Du willst ihm nach. Also, los!“ Sein Kopf neigte sich leicht zur Seite und ich seufzte. „Meine Güte, Sean und Kenneth sind auch da. Du wirst nicht alleine kämpfen, das weiß ich, also lauf schon.“ „Nein“, antwortete er sanft aber bestimmt und hob mich auf seine Arme, „ich bringe dich jetzt zu den Mädchen.“ Erst jetzt fiel mir auf, dass sie noch immer nach mir riefen. Dann hörten wir die entfernten Sirenen und ein paar Autotüren wurden auf- und zugeschlagen. Ich lehnte meinen Kopf an seine Brust, denn ich konnte ihm nicht länger in die Augen sehen. Noch immer machte er sich Vorwürfe und es brach mir fast das Herz. Morgen, dachte ich, werde ich ihnen Dreien alles erzählen. Es würde das Beste sein, sie mit den Dingen zu konfrontieren, die er mir erzählt hatte. Das Angebot; was er über mich sagte. Taylor würde wahrscheinlich wütend sein, aber das war mir lieber, als diese Selbstzerfleischung. Als er mit mir aus dem Wald trat, brach das Chaos erst so richtig los. Die Mädchen weinten vor Erleichterung und Angst. Mein Vater und seine Freunde des Jagdvereins hechteten, nachdem Taylor erzählt hatte, dass es ein schwarzer Wolf gewesen war, in den Wald. Bewaffnet mit Gewehren, Netzen und anderen Dingen. Es war ihnen egal, ob sie ihn lebend oder tot fingen. Ein paar Polizisten folgten ihnen. Nachbarn umringten uns, doch ich war plötzlich einfach nur müde und hatte nicht die Kraft meine Augen noch länger aufzuhalten. Ich bemerkte nicht, wie ich noch in Taylors Armen ins Land der Träume glitt und fast den ganzen Samstag verschlief. Als ich schließlich die Augen öffnete, erkannte ich mein Zimmer. Man hatte mich also gleich noch am gestrigen Abend hergebracht. Oder war es schon länger her? Der Wecker auf meinem Nachttisch zeigte 16 Uhr an und ich rieb mir die Augen. Ich versuchte mich aufzusetzen, was beim ersten Versuch noch scheiterte. Meine Hüfte tat weh an der Seite, wo der Wolf an meinem Bein gezogen hatte. Es war, als hätte ich einen schlimmen Muskelkater. Die roten Spuren auf meinem Rücken waren immer noch zu sehen und brannten leicht unter der Kleidung. Nachdem ich geduscht und mich umgezogen hatte, ging ich langsam und vorsichtig die Treppen ins Wohnzimmer hinunter. Bei uns sah es aus, wie in einer Polizeischaltzentrale. Einige Männer aus dem Jagdverein liefen zwischen Küche und Wohnzimmer hin und her, Walkie-Talkies knisterten und gelegentlich ertönten Stimmen leise daraus hervor. Mein Vater saß auf der alten Couch, reinigte seine Waffe und unterhielt sich mit jemandem, der im Sessel neben ihm Platz genommen hatte. Ich hatte Hunger, brauchte dringend einen Kaffee und wollte mit Taylor sprechen. Niemand schien mich zu bemerken und so humpelte ich in Richtung Küche davon. Jemand hatte glücklicherweise frischen Kaffee aufgebrüht und im Kühlschrank fand ich noch einen Rest Gurkensalat. Während ich mir eine Tasse füllte und eine Gabel aus dem Besteckkasten fischte, drang wieder eine Stimme aus einem der Walkie-Talkies. Ich ließ mich auf einen der Stühle am Tresen sinken und blickte aus dem Fenster. Der Himmel war herrlich blau, ein paar Wolken waren zu sehen, doch die ganze Stadt schien auf den Beinen zu sein. Ich sah Mrs. Dalloway mit ihrem kleinen dicken Mann aufgeregt im Vorgarten herumrennen. Sie schienen sich über irgendetwas tierisch aufzuregen, dann schickte ein Polizist sie ins Haus. Mir verging der Appetit und ich klammerte mich an meine heiße Tasse, nachdem ich den Salat von mir geschoben hatte. „Sie ist nicht oben“, sagte plötzlich jemand und ich blickte auf. „Was soll das heißen? Wo sollte sie sonst sein?“, fragte mein Vater und legte seine Waffe beiseite. „In der Küche“, rief ich und beide Männer wandten sich gleichzeitig zu mir um. Mein Herz schlug schneller als ich sah, dass es sich auch um Taylor handelte. Als er es hörte, lächelte er ganz kurz. „Wie bist du…?“ „Dad, man nennt es Treppe. Die kann man rauf und runter gehen. Solltest du auch mal ausprobieren, ist ganz lustig!“ Er verdrehte die Augen, schien jedoch erleichtert, dass ich nicht spurlos verschwunden war. Taylor kam auf mich zu und küsste meine Stirn. „Wieso hast du nicht gesagt, dass du wach bist?“ „Es sahen alle so beschäftigt aus und ehe ich keinen Kaffee hatte, wollte ich niemanden begrüßen. Aber dich habe ich nicht gesehen, sonst hätte ich es mir vielleicht anders überlegt.“ Er schob mir den Teller mit Gurkensalat wieder hin und nickte in meine Richtung. Iss was, hieß es, doch ich schüttelte den Kopf. „Was ist hier überhaupt los?“, fragte ich jetzt und blickte meinen Vater an. „Wir suchen den Wolf!“ „Habt ihr ihn nicht…?“ Mein Blick huschte zu Taylor, doch der schaute aus dem Fenster, absichtlich wie mir schien. „Gestern Nacht haben wir ihn nicht mehr gekriegt. Wir sind zwar in verschiedenen Gruppen Streife gegangen, aber keine Spur von ihm. Aber wir kriegen ihn schon, verlass dich drauf.“ Ich nippte an meinem Kaffee und mein Vater wandte sich zu dem knisternden Walkie-Talkie um. Er würde nicht eher ruhen, ehe sie ihn hatten, das war mir klar. Mein Vater würde ihn nicht ungeschoren davon kommen lassen für das, was er getan hatte. Im Moment war mir das allerdings egal. Ich stupste Taylor in die Seite, sagte jedoch nichts. Dann blickte er mich an. Bekümmert, schuldig und irgendetwas war da noch, doch ich erkannte es einfach nicht. „Hör auf damit“, wisperte ich. „Womit?“ „Dir diese Schuldgefühle einzureden. Wäre ich nicht so dumm gewesen, im Dunkeln allein zum Auto zurückzugehen, um meine Tasche zu holen, wäre auch nichts passiert.“ Er schüttelte leicht den Kopf hin und her, blickte dann wieder nach draußen. „Hätte er es gestern nicht getan, hätte er einen anderen Zeitpunkt dafür gefunden.“ „Selbst wenn, bist du daran nicht schuld.“ „Ich habe dich da mit reingezogen.“ Ich war es leid und stöhnte auf. „Ich hasse es, wenn du das tust… Du sagst immer, dass du mich ‚da mit reingezogen‘ hast, aber vielleicht überlegst du dir mal das Warum. Ich liebe dich, Taylor, und damit das nicht passiert wäre, was nun mal gestern geschehen ist, hätten wir uns nicht begegnen dürfen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass du das willst. Außer natürlich, du hast es dir anders überlegt.“ Taylor sah mich erschrocken an, ich rutschte vom Stuhl herunter und humpelte zur Treppe. Es brauchte nur ein paar Schritte und er holte mich ein. „Du weißt, dass ich das nicht bereue.“ „Dann hör, verdammt noch mal, auf dich für alles schuldig zu fühlen, was mir passiert. Du kannst nicht immer da sein, das ist unmöglich. Und ich…ich habe es gestern ein wenig herausgefordert.“ Er zog eine Augenbraue hoch. Niemand achtete auf uns, hörte uns geschweige denn zu. Dann winkte ich ab und meinte: „Vergiss es. Meinst du, wir könnten uns irgendwo mit Sean und deinem Vater treffen?“ „Ja, bestimmt. Aber wieso?“ „Nun, ich denke, ich sollte endlich mal mit meiner Geschichte herausrücken.“   Mein Vater hatte zunächst protestiert, doch nach einigen sehr guten Argumenten und einem Versprechen von Taylor, dass wir uns immer im gut verriegelten Haus aufhalten würden, ließ er uns zu den Woods fahren. Ich freute mich wahnsinnig auf die beiden, da ich sie lange, mal abgesehen vom gestrigen Abend, nicht gesehen hatte. Und ich freute mich auf das Haus. Zuerst wollten Taylor und ich uns mit ihnen in der Stadt treffen, aber dort hätten wir uns niemals völlig frei und ungezwungen unterhalten können. Und gleich würde es um spezielle Details gehen, die ich nicht länger verschweigen durfte. Wir saßen in seinem schwarzen Ford und seine rechte Hand lag sanft auf meinem Knie. „Gibst du mir einen Tipp?“ „Lieber nicht“, antwortete ich traurig lächelnd und schob meine Hand über seine. „So schlimm, ja?“ „Ich weiß nicht, es ist schwer einzuschätzen wie ihr, vor allem aber du, darauf reagiert.“ „Oje…“ Er bog vorsichtig in den Waldweg ein und ich hörte, wie die Verriegelung herunterklickte. „Wir wollen doch kein Risiko eingehen…“, murmelte er, sah mich jedoch nicht an. Kurz darauf hielten wir vor dem Haus, das Garagentor öffnete sich automatisch und er fuhr hinein. Erst nachdem das Tor wieder fest geschlossen war, hob er die Sicherung auf und wir stiegen aus dem Auto. Während ich langsam die kleine kurze Treppe in die Wohnräume hinaufhumpelte, stütze er mich ganz sachte von hinten und nahm mir dann die dünne Jacke ab. Sean und Kenneth lächelten mich freundlich an und dennoch… Ich hatte das Gefühl, dass sie distanzierter waren, als sonst. Mich umfing die behagliche Wärme und ich schob diesen Gedanken beiseite. Taylor führte mich zur Couch, wo bereits Tassen mit dampfendem Kaffee standen und setzte sich neben mich, während die beiden anderen auf den Sesseln Platz nahmen. „Taylor meinte, dass du uns etwas erzählen möchtest?“, begann Kenneth ruhig und seine dunkelgrünen Augen tasteten mein Gesicht ab. Das hatte sich mein Freund also bei ihm abgeschaut, jetzt wurde mir einiges klar. „Nun, ich denke, wir sollten es beichten nennen.“ Ich hörte, wie der Junge neben mir seufzte und sich in die Kissen zurücksinken ließ. Sein Bruder tat ihm Letzteres gleich. „Du hast unsere volle Aufmerksamkeit“, meinte er und in dem Moment war ich mir nicht mehr so sicher, ob ich die auch wollte. Vielleicht hätte ich es doch nur Kenneth unter vier Augen erzählen sollen. Doch jetzt gab es kein Zurück mehr, ich musste es endlich loswerden. „Ich weiß nicht genau, wo ich anfangen soll…“ „Wie wäre es mit dem Anfang?“ Das belustigte Lächeln Seans erstarb, als sein Vater ihn kurz ansah. Ich wandte mein Gesicht halb zu Taylor um und fragte: „Was hast du mitbekommen, als du gestern dazu kamst?“ Zunächst schien er die Frage nicht ganz zu verstehen, doch dann nickte er, als hätte er es die ganze Zeit geahnt und würde nun seine schlimmsten Befürchtungen bewahrheitet sehen. „Als ich ankam hatte er dich…bereits zum Waldrand gezerrt und dann meinte er, dass du die Wahl gehabt hättest.“ Er verschwieg den Rest, doch den musste er auch nicht erzählen. Direkt und gerade heraus schien mir die beste Lösung. Ständig herum zu drucksen würde keinem von uns helfen. „Diese Wahl bestand darin, mich zwischen einem Leben als Mensch oder einem als Wolf zu entscheiden.“ „Was?“ Alle drei blickten mich gleichzeitig überrascht und verwirrt an. „Wie nannte er es? Ein Biss und ich wäre frei. Er ist der Meinung, dass er mich in einen Wolf verwandeln könnte. Zuerst würde es wehtun, aber dann würde ich mich wundervoll fühlen.“ „Ich dachte, so etwas würde nicht gehen, Dad!“ „Das dachte ich auch, Taylor. Ich habe alle möglichen Bücher gelesen, jede Nachforschung betrieben, die möglich ist. Es kann nicht…“ „Vielleicht gibt es verschiedene Arten zu einem Wolf zu werden. Bei euch ist es erblich bedingt und er ist eventuell durch einen Biss dazu geworden.“ „Ich habe nichts Vergleichbares gesehen oder gehört… Aber es ist natürlich nicht auszuschließen.“ „Wieso sollten wir ihm das glauben?“, warf nun Taylor ein, „Er ist wahrlich keine zuverlässige Quelle, oder?“ „Sicher, aber wir sollten uns auch fragen, warum er sich das ausdenken sollte.“ „Um Lilly Angst zu machen?“ „Ich hoffe genauso wenig wie du, dass es durch einen Biss möglich ist, mein Sohn, und ich hatte ebensolche Angst um Lilly, aber wir dürfen das nicht außer Acht lassen. Nur weil er sonst nicht der gute Wolf ist, heißt das nicht, dass er auch jetzt lügt.“ Sean beugte sich leicht nach vorn und blickte mir direkt in die Augen. „Wie oft hat er dir dieses Angebot schon gemacht?“ Die Luft wurde gefährlich dünn und ich spürte alle ihre Blicke auf mir ruhen. Weil ich nicht gleich antwortete, berührte Taylor meine Schulter. „Ich bin ihm jetzt insgesamt drei Mal begegnet. Die Lichtung mitgezählt.“ Seine Hand sank herunter und ich fühlte mich fürchterlich. „Außerdem hat er…“ „Oh Mann…“ „…er hat mich immer mal wieder gerufen.“ „Wann war das zweite Mal?“, fragte Sean unbeeindruckt und sah mich noch immer an. „An dem Abend, als Carly und Kelly mich in der Billardhalle besucht haben und Carly bei mir übernachtet hat. Sie wusste ja nicht, was im Wald war und hat das Auto bei uns stehen gelassen. Wir sind zu Fuß nach Hause und bei diesem leeren Grundstück hat er angefangen zu knurren. Ich hab Carly vorgeschickt, um meinen Vater mit seiner Waffe zu holen. Während ich ihn hingehalten habe, hat er mir das Angebot gemacht und…“ „Und was?“ Taylor war jetzt wieder ruhiger und drehte mich zu sich herum. „Er sagte, dass ich direkt vor deiner Nase leuchten würde und du keine Ahnung davon hättest, wie viel wirklich in mir steckt. Er meinte, dass ich Macht besitzen würde. Ich habe nie verstanden, was das sollte…“ „Ich habe von Anfang an gesagt, dass es andere anlocken würde“, fluchte er und erhob sich rasend schnell von der Couch. Er tigerte im Wohnzimmer auf und ab. Sein Vater blickte ihm nach und seufzte. „Ich habe dir gesagt, dass wir es ihr erzählen werden, wenn sie es will. Vielleicht ist jetzt der beste Augenblick dafür.“ „Denkst du, ja?“ Es schien ihm nicht wirklich zu gefallen. „Ihr wisst schon, dass ich noch hier sitze und alles hören kann?“ „Du weißt, dass wir nicht einfach…“ „Sicher, weiß ich das. Aber wie ich bereits sagte, sie hat ein Recht darauf.“ Sie ignorierten mich völlig. Ich hätte mit Dingen um mich schmeißen, mit Plakaten und Neonschildern winken können, sie hätten mich trotzdem nicht angesehen. Während ich mich zurücklehnen wollte, bahnte sich plötzlich ein stechender Schmerz durch meinen Körper und ich zog scharf die Luft ein. Mein Blut rauschte und ich hatte das Gefühl, dass es noch in meinen Adern zu kochen begann. Doch ich schwitzte nicht, sondern fror. Meine Hände waren wieder eiskalt und mein angeschlagenes Bein pochte wie verrückt. Und dann rief er mich. So laut und klar, wie ich es nie zuvor wahrgenommen hatte: „Du weißt, dass du es willst. Komm schon, kleine Lilly. Ich zeige dir eine Welt von der du schon immer geträumt hast.“ Es klang, als stünde er bereits direkt neben mir. Ich wusste, dass es falsch war. Wusste, dass ich im sicheren Haus, bei Taylor bleiben sollte und dennoch erhob ich mich und ging auf die Tür zu, hinter der sich der Wintergarten befand. Die Woods stritten sich noch immer. Meine Hand legte sich fast über den Türgriff, als ich endlich einen klaren Gedanken fassen konnte und sie wieder zurück zog. Ich hob beide Arme an, sodass ich dastand als wolle ich mich vor der Tür ergeben und wisperte: „Kann mich bitte jemand festhalten? Bitte!“ Taylor tauchte neben mir auf und schlang beide Arme um meine Taille. „Was ist passiert?“ „Ich weiß es nicht“, antwortete ich und lehnte mich an ihn, die Augen auf den Wald gerichtet, der einige Meter hinter den Scheiben lag. Er küsste kurz mein Haar und führte mich zurück zur Couch. „Ich glaube, er spielt mit mir. Hat er so viel Macht? Ich meine, dass er mich rufen kann ohne, dass ihr es alle mitbekommt? Ohne, dass ihr ihn hört, seht oder riecht?“ Taylor distanzierte sich wieder von mir. Was hieß wieder? Seit dem gestrigen Abend hatte ich das Gefühl als stünde schon immer eine eiserne meterhohe Wand zwischen uns. Er war lieb, sanft und beschützerisch, doch es stimmte etwas an seinem ganzen Verhalten nicht. Da schien etwas in ihm zu sein, dass ihn mehr und mehr von mir wegtrieb und ich wünschte so sehr, dass ich das hätte ändern können. Denn gerade jetzt brauchte ich ihn mehr denn je. Ich fühlte die Kälte in meinem Herzen und wollte sie bekämpfen, doch… Taylor blickte mich an und meine Schuldgefühle verschlimmerten sich nur noch mehr. „Kann mich bitte jemand nach Hause fahren?“ Ich hatte mich bereits erhoben und griff nach meiner Jacke am Garderobenhaken, als Sean mich am Handgelenk festhielt. „Warte!“ Sie alle lauschten Geräuschen, die ich als Normal-Mensch nicht wahrnahm. Mir stockte der Atem, als wieder mein Blut zu kochen begann und mein Bein schmerzte. Und dieses Mal war es zehnmal schlimmer, als zuvor. Wo hatte dieser eine Wolf nur diese ganze Macht her? Oder war es gar nicht nur noch Einer? Vor meinen Augen flackerten wieder Bilder auf. Ein weißer Wolf mit einem kleinen Braunen. Sie streiften durch die Wälder und dann sah ich durch die Augen des größeren Tieres. Ich erkannte das Haus und das Auto, das davor stand. Bemerkte den Mann, der ganz allein am Küchenfenster stand und in die Nacht hinaus sah. Fühlte den bohrenden Schmerz, der das Herz des weißen Wolfes durchdrang. Unsagbare Trauer, Verlust, Angst, Schuld. Sie alle trafen sich direkt in der Mitte und ließen mich in die Knie sinken. Der kleine braune Begleiter sprang fröhlich auf das Haus zu, keine Spur von Zurückhaltung oder ähnlichen Gefühlen, die das Herz des Weißen erschüttert hatten. Ich beneidete den Kleinen und weinte leise. Er kannte so etwas wie Verlust und Schmerz nicht. Zumindest nicht so gut, dass er sich darüber Sorgen zu machen schien. Aus irgendeinem Grund hielt ich nach einem weiteren braunen Wolf Ausschau, dessen Fell mit schwarzen Linien durchzogen war. Doch mein Herz setzte für ein paar Schläge aus und mir war sofort bewusst, dass ich ihn vergeblich suchen würde. Und dann fühlte ich die warmen schützenden Hände, die mich an den Schultern packten und zurückzogen. Zurück in die Welt, in der noch alles richtig und gut erschien. „Was hast du gesehen?“, fragte Kenneth und die Frage erschreckte mich. Mehr noch als die Tatsache, wie wütend sie aussahen. Sie alle blickten mich an, doch niemand fragte, ob alles in Ordnung sei. Ob ich okay war und was geschehen wäre. In ihren Augen erkannte ich es - sie wussten was los war. Das schien das große Geheimnis zu sein, um das es vorhin gegangen war. „Nichts“, wisperte ich und blickte sie trotzig an, „Ich habe gar nichts gesehen.“ „Das ist doch nicht dein Ernst… Du solltest mal dein Gesicht sehen“, widersprach Sean und ich schüttelte den Kopf. „Es war gar nichts. Ich möchte jetzt nach Hause. Mein Dad wird sich schon Sorgen machen. Ich hatte ihm versprochen nicht allzu lange weg zu bleiben.“ Es sah aus, als seien sie gekränkt, zumindest Sean und Kenneth. Taylor war…ich wusste nicht, wie ich es beschreiben sollte. Nicht verängstigt oder enttäuscht, nicht verletzt oder besorgt. Da war nicht eine einzige Emotion. Ich blickte seinen Bruder an und fragte: „Wärst du so lieb?“ Sean sah mich direkt an, dann Taylor. Der nickte langsam und blickte kühl aus dem Fenster. „Komm, wir gehen durch die Garage.“   Mein Handy klingelte bereits das zehnte Mal an diesem Abend, doch ich saß noch immer regungslos am Fenster und blickte auf den Mond, der mein Zimmer in silbernes Licht tauchte. Zwischendurch erklang auch der Ton für eine eingehende SMS. Es mussten bereits 7 neue sein. Ich wollte ja schon irgendwie rangehen, ihm sagen, dass es mir gut ging, aber ich war wütend und vielleicht war auch mein Stolz etwas angekratzt. Alles war immer so wunderbar zwischen uns gewesen und jetzt entfernte er sich immer mehr von mir. Und ich konnte ihn durch nichts daran hindern. Wahrscheinlich war das auch das Problem. Es war alles zu perfekt gewesen und ich hatte mich, obwohl ich mir geschworen hatte es nicht zu tun, viel zu sehr hinein gesteigert. Hatte alles kaputt gemacht, weil ich ihn so sehr liebte, ihn so sehr brauchte. Die Mauern, die er um sich herum errichtet hatte, waren am Ende doch stärker als ich. Ich hatte sie einreißen, ihn hervorlocken wollen. Und hatte ihn stattdessen nur noch mehr in seine eigene Welt gedrängt. Alles rächt sich eines Tages und dies war nun meine Strafe dafür, dass ich ihn hatte ändern wollen. Obwohl das so eigentlich auch nicht stimmte. Ich stand auf und schaltete das Handy ganz aus. Die Stille, die mich umfing, erinnerte mich an den gestrigen Abend. Fast konnte ich wieder den Atem hören, die Zähne fast spüren, wie sie sich in mein Hosenbein wetzten. Ich drehte mich erschrocken um, als es am Fenster polterte und ich eine dunkle Gestalt auf dem Sims sitzen sah. Traurige dunkelbraune Augen funkelten im Mondlicht, als die silberne Sichel wieder hinter einer schwarzen Wolke auftauchte. Mit vor der Brust verschränkten Armen stellte ich mich an das geschlossene Fenster und blickte ihn an. „Bitte, lass mich rein. Wir müssen dringend reden.“ „Ich wüsste nicht worüber.“ Ich biss mir leicht auf die Unterlippe, weil ich es kaum noch aushielt ihn so nah bei mir zu haben und ihn dennoch nicht berühren zu können. Dann fiel mir ein, dass er wusste, was diese Geste bedeutete und presste die Lippen aufeinander. „Ich kann auch gern durch die Haustür rein. Glaub mir, ich habe kein Problem damit unten zu klingeln.“ Es war noch nicht allzu spät und von unten hörte ich die Geräusche der Sportsendung, die mein Vater noch schaute. In seinen glühenden Augen erkannte ich, dass er keine Scherze machte. Aber ich war noch immer etwas angeschlagen von all den Vorkommnissen und legte es auf einen Streit mit Taylor an. „Tu das! Mal sehen, was mein Vater davon hält. Wir sehen uns dann ja gleich“, antwortete ich trotzig und zog die Vorhänge mit einem Ruck zu. Dann war kein Geräusch mehr zu hören und ich setzte mich auf mein Bett, den Blick auf die Zimmertür gerichtet. Es verging kaum eine Minute, dann ertönte die Klingel der Haustür und mein Vater polterte grummelnd über den Flur. „Verdammt, wer ist denn das noch?“, hörte ich ihn brummen und schon riss er knarrend die Tür auf. Die Männer hatten ihre Suchaktion auf Eis legen müssen, weil der Wolf spurlos verschwunden war. Sie hatten vor, ab morgen vermehrt Kontrollgänge durch die Wälder zu machen. „Taylor? Was treibst du denn jetzt hier? Seid ihr verabredet? Ich denke nicht, dass sie mit ihrem Bein noch irgendwo hin sollte.“ Taylor antwortete ihm so leise und ruhig, dass ich nicht verstand, was er sagte. Dann rief mich mein Vater runter. Allein schon aus Trotz humpelte ich die Stufen ganz langsam herunter und blieb dann auf der Letzten stehen, den Blick fest auf meinen Vater gerichtet. „Taylor würde gern mit dir reden…“ „Tatsächlich? Will er das?“ „Lilly, bitte!“, flehte Taylor. Mein Vater blickte zwischen uns hin und her und las aus unseren Gesichtern wohl mehr, als unsere Worte verrieten. Obwohl bereits diese Bände sprachen. „Kein Spaziergang Richtung Wald, bleibt am besten auf der Veranda, wo ich euch im Blick habe. Und nicht mehr so lange, Lils“, meinte er nur und knipste das Außenlicht über der Haustür an. Dann, ohne ein weiteres Wort zu verschwenden, schlurfte er ins Wohnzimmer und machte es sich wieder auf dem Sofa bequem. Ich schlüpfte in meine Sneakers und nahm die Fleecejacke vom Haken, denn es war ziemlich kühl geworden. Und ich hatte so eine Ahnung, dass mich Taylor heute nicht wärmen würde. Wir nahmen nebeneinander auf der kleinen Hollywood-Schaukel Platz, die sich auf der Veranda befand. Diese wiederum reichte über die ganze Frontseite des Hauses und war von einem hölzernen Zaun eingerahmt, den meine Eltern damals nach unserem Einzug gemeinsam neu gezimmert und gestrichen hatten. Ich erinnerte mich daran, dass ich währenddessen mit Kreide unsere Einfahrt verschönert hatte. Ich war damals sechs und verstand noch nicht viel von zusammen passenden Farben, aber ich war stolz auf das Ergebnis gewesen. Wir schwiegen eine ganze Weile und ich verschränkte die Arme vor der Brust, um mich noch mehr zu wärmen. „Es tut mir leid“, wisperte er und ich blickte traurig zu ihm auf. „Was tut dir leid?“ „Einfach Alles. Ich habe den Fehler begangen meine Gefühle über die Sicherheit deines Lebens zu stellen. Das ist unentschuldbar, aber ich wollte, dass du weißt, dass es mir leid tut. Wenn ich könnte, würde ich den gestrigen Abend ungeschehen machen, aber…“ „Du hast überhaupt nichts von dem begriffen, was ich dir heute gesagt habe.“ Ich war nicht wütend, sondern einfach nur fassungslos. Denn ich ahnte, nein, ich wusste genau, was er mir gerade sagen wollte. „Und ob. Lilly“, begann er, doch ich schüttelte seine Hand von meinem Arm ab und sprang auf, als stünde ich in Brand. Ich achtete nicht auf die Schmerzen in meinem Bein. „Taylor, ich will das alles nicht hören. Verstehst du denn nicht, dass ich nur nicht möchte, dass du dich für alles verantwortlich fühlst, was mir passiert? Du kannst nicht immer da sein. Das ist nun mal unmöglich. Und für die letzten Ereignisse bin hauptsächlich ich verantwortlich.“ „Und unmöglich sollte es nicht sein. Ich habe es dir geschworen und gleich beim ersten Mal versagt. Du verdienst etwas Besseres, ein normales Leben mit einem Ehemann, Kindern und Enkelkindern. Das ist etwas, dass du mit mir nicht haben kannst. Lilly, es ist nicht so, dass ich dich nicht liebe, denn das tue ich, wahnsinnig. Und ich bereue nicht einen Moment mit dir, aber eine Zukunft mit mir würde dir nur schaden.“ „Waren meine Träume wahr?“ „Die Albträume hat dir wahrscheinlich der schwarze Wolf geschickt, aber alle anderen…“ Er nickte nur. „Dann weiß ich genau, welche Zukunft mich mit dir erwarten würde und exakt diese möchte ich. Ich möchte dich an meiner Seite haben, wenn ich vor den Traualtar schreite, wenn ich diesen süßen Fratz in meinen Armen halte, wenn unser Sohn heiratet oder Kinder bekommt. Ich möchte mit dir alt und faltig auf einer Veranda sitzen und gemeinsam unsere letzten Tage genießen. Du bist das Beste, das mir je passiert ist, also…“ Taylor stand auf und sah mich emotionslos an. „Unser beider Abmachung ist für dich hinfällig. Wir werden dafür sorgen, dass Er verschwindet und dann…“ „…dann zieht ihr weg?“ „Vielleicht, ich bin mir nicht sicher. Obwohl ich das meinem Vater nicht antun möchte. Dieser Umzug war für ihn schwer genug. Wahrscheinlich werde ich alleine gehen, es ist besser so. Leb wohl, Lilly.“ Er stand nah vor mir und berührte ein letztes Mal mein Haar, ließ eine Strähne zwischen seinen Fingern hindurch fließen. Kurz bevor er mir einen Kuss auf die Stirn hauchen konnte, wich ich zurück. Die Fassungslosigkeit war dem unbändigen Zorn und der Angst gewichen. „Schön, dann hat Er ja jetzt, was Er wollte“, begann ich und öffnete die Tür. Ich wandte mich zu dem erschrocken dreinblickenden Taylor um und starrte ihn wutentbrannt an. „Er sagte, du seiest das Einzige, das noch zwischen uns steht. Dann sagen wir es ihm wohl besser: FREIE FAHRT FÜR DICH.“ Ich war so wütend, dass mir die abstrusesten Dinge durch den Kopf gingen. Und die geschriene Aufforderung an den schwarzen Wolf schien mir die schlimmste Folter für Taylor zu sein. Zunächst hatte ich überlegt, in mein Auto zu steigen und direkt in den Wald zu fahren, aber so lebensmüde war ich nicht und so verletzend ebenfalls nicht. So schlug ich die Tür mit voller Wucht zu und lief, in Tränen aufgelöst, nach oben in mein Zimmer. Die Vorhänge waren noch immer zugezogen und nun schloss ich mich ein. Gleich drei Männer riefen nach mir, doch ich wollte nicht einem der Rufe folgen und schrie nur laut auf, um all den Schmerz los zu werden. Ich verkroch mich zwei Tage lang in meinem Zimmer. Weder aß ich etwas noch schlief ich. Ich lag wach unter der Decke, hatte mich dort zusammengerollt und hoffte, dass das alles nur ein furchtbarer Albtraum war, den mir der schwarze Wolf wieder vorgaukelte. Doch auch jetzt, am Dienstagmorgen, lag noch immer kein Taylor neben mir und wachte über mich. Er war einfach so gegangen und hatte mich mir selbst überlassen. Die Sonnenstrahlen brachen durch die Vorhänge, ich stöhnte auf, es würde ein wundervoller Tag werden. Meine Stimmung war miserabel, aber ich dachte an meine Freundinnen, denen ich mich so gerne anvertraut hätte. Sie würden doch sicher für mich da sein, ebenso wie es andersherum wäre, oder? Also erhob ich mich langsam, ging ausgiebig duschen und betrachtete dann mein Gesicht im leicht beschlagenen Spiegel. Die Augen waren blutrot, die Pupillen trübe und überhaupt sah mich da ein aschfahles Mädchen an, das ich so gar nicht kannte. Reiß dich zusammen, schalt ich mich selbst und dachte daran, dass ich vorher auch ohne ihn gelebt hatte. Dann würde ich es auch jetzt können… Wenn ich ihn nur nicht so sehr vermissen würde. Ich sehnte mich so sehr nach ihm, konnte fast sein After Shave riechen, seine Arme um meinem Oberkörper spüren. Doch als ich die Augen öffnete, war er nicht da. Mit jeder weiteren Sekunde wurde mir klar, dass ich niemals ohne ihn würde leben können. Mein Leben war so viel wunderbarer gewesen, als er bei mir war. Wieso sollte ich mich jetzt mit weniger zufrieden geben? Ich zog mich an, ging in die Küche hinunter und brühte Kaffee auf. Als mein Vater zu mir stieß, blickte er mich erst besorgt an und als ich abwinkte, dass wir das Thema nicht besprechen müssten, nickte er verständnisvoll. Ich hatte ihm Brötchen aufgebacken, den Tisch gedeckt und zwei Tassen mit Kaffee gefüllt. „Willst du gar nichts essen?“ Ich schüttelte nur den Kopf und blickte dann wieder aus dem Küchenfenster, die Tasse fest in den Händen, an die Theke gelehnt, weil ich nicht bei ihm sitzen konnte. Ich wollte seine Blicke nicht, ich hätte sie nicht ertragen. „Soll ich Carly anrufen, damit sie vorbeikommt? Wir könnten mal wieder grillen…“ Er erhielt ein Schulterzucken zur Antwort. „Dann gehe ich einkaufen, du ruhst dich noch ein bisschen aus und ich rufe schnell Carly an. Vielleicht auch Kelly, Elli und Mia?“ Ich zuckte wieder mit den Schultern. „Na ja, wir fangen langsam an. Du hast Recht.“ Er verschwand im Flur und nur wenige Augenblicke später hörte ich ihn bereits mit Carlys Vater plaudern. Der schien gegen einen Barbecue-Abend auch nichts einzuwenden zu haben und so beschlossen sie, dass die Eltern und die beiden Töchter gemeinsam bei uns zu Hause grillen würden. Carly würde er gleich losschicken, damit ‚die Mädels Zeit zum quatschen hätten‘. Ihr Vater hatte sich schon immer für einen Teenager-Versteher gehalten. Früher hatten wir uns darüber immer köstlich amüsiert, aber jetzt war mir auch die Lust dazu vergangen. Alles schien irgendwie trister zu sein als vorher. Ich würde eine gute Goth abgeben. Um ehrlich zu sein, erschien mir die Farbe Schwarz immer sympathischer. Es war niemand gestorben, das wusste ich, doch ich wollte nichts Buntes tragen. Und ich hätte auch gern meinen Vater zu einem anderen Hemd überredet, aber der musste ja nicht unter meiner Trennung mit Taylor leiden. So ließ ich ihn also mit dem rot-blau karierten Hemd und den blauen Jeans von dannen ziehen. Nachdem ich den Tisch abgeräumt hatte, klingelte es an der Haustür und ich schlurfte langsam hin. Meine beste Freundin stand mit verwundertem Gesicht vor mir. „Hey, Süße. Ich hab mir schon Sorgen gemacht, als ich zwei Tage lang nichts von dir gehört habe. Was ist denn passiert?“ Als ich meine Stimme endlich wieder benutzte, fühlte es sich fremd und falsch an, doch sie musste es erfahren. „Er hat die Seifenblase platzen lassen“, antwortete ich und fand mich nach der letzten Silbe bereits in ihren Armen wieder. Ich hatte die letzten zwei Tage nichts anderes getan, als zu weinen, aber jetzt brach es wieder aus mir hervor und sie wiegte mich sanft. „Lass uns reingehen. Mrs. Dalloway macht schon wieder lange Ohren. Komm, Süße! Und dann erzählst du mir, was der Dummkopf angestellt hat.“ Wir saßen alle zusammen beim Abendbrot, um genau zu sein im Garten beim Grill. Ich hatte Carly nicht viel erzählt, denn dafür hätte sie die ganze Wahrheit erfahren müssen. Und auch wenn ich verletzt war, so war ich es doch noch immer Kenneth schuldig dies für mich zu behalten. Egal, ob sein Sohn sich von mir getrennt hatte oder nicht. Mein Vater war hellauf begeistert, dass er mal wieder ein paar andere Gäste als seine Kumpels da hatte. Und ich denke auch, dass es ihn freute, dass Taylor nicht mehr auftauchen würde. Obwohl es schien, als hätte er sich am Ende doch gut mit ihm verstanden. Meine Gedanken waren bei der geträumten Hochzeit, unserem kleinen Sohn, dem Glück, das ich verspürt hatte als er vor dem Altar meine Hände in seine genommen hatte. Ich stocherte eine Weile in meinem Essen herum, dann schob ich den Teller weit von mir. Mir war der Appetit vergangen. Eines Tages, hatte mein Vater gesagt, würde der Schmerz vergehen, doch da war ich mir nicht so sicher. Wenn ich in dieser Hinsicht mehr nach ihm schlug, würde ich das einige Jahre nicht mehr vergessen. Aber das wollte ich ja auch nicht. Zumindest nicht die wundervollen Momente, Gespräche und Tage mit ihm. Wie er mich beschützt, mich angesehen hatte, wie er so tat meine Haarsträhnen ordnen zu wollen, nur um sie berühren zu können. Ich spielte mit dem Gedanken ihn anzurufen, nur um einen Augenblick lang seine Stimme zu hören. Mit unterdrückter Nummer anrufen und nur zuhören. Er müsste nie erfahren, dass ich es war. Während ich meinen Plan näher durchdachte, klingelte plötzlich Carlys Handy. „Oh, entschuldigt bitte“, erklärte sie schnell und verschwand im Haus, das Mobiltelefon am Ohr. Es dauerte nicht lang, da kam sie leicht lächelnd wieder zu uns heraus. „Wer war denn das, Schatz?“, fragte ihr Vater und lugte über seine Brille. „Kelly. Sie hat gefragt, ob Lilly und ich morgen nicht Lust haben an den Strand zu fahren. Vielleicht machen wir dort auch ein Lagerfeuer und campen in der Nähe.“ „Das klingt gut, Lils“, ermunterte mich mein Vater und fuchtelte fröhlich mit der Grillzange umher. „Du musst ein bisschen rauskommen. Ein Tag mit deinen Freunden wird dir gut tun.“ Alles, was mir fehlte oder gut tun würde, ist Taylor, dachte ich, doch ich widersprach nicht und nickte stattdessen nur. Gute Miene machen zum bösen Spiel. „Dann ist das beschlossene Sache. Ich hol dich morgen gegen Fünf hier ab, dann fahren wir gemeinsam hin, ja Süße?“ Wieder nickte ich nur. Wieso noch die Stimme benutzen, wenn sie sowieso am Ende taten, was sie für mich für richtig hielten? Und wenn ich Carlys Augen sah, wäre Widerstand sowieso zwecklos gewesen. Sie hatte etwas vor, das spürte ich, doch ich ahnte nicht im Geringsten, das jetzt erst alles begann… Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)