Straßenecken-Tête-à-Tête von Puppenspieler ================================================================================ Kapitel 6: Spontaner Richtungswechsel ------------------------------------- „Was.“   Kageyamas Blick war stoisch und entschlossen, emotionslos, kalt. Nicht einmal mehr herausragend aggressiv. Es war der Blick, den er fürs Volleyballspielen reservierte, wenn er völlig in seinem Element war und den Thron des einsamen Königs bestieg. Eine hochmütige Selbstverständlichkeit, die zu sagen schien ich weiß es besser, also knie nieder und gehorche mir. Kei war wütend. Angewidert. Er hätte kotzen können von Kageyamas Arroganz. Aber mehr noch als Wut und Ekel verspürte er einen so tiefen Unglauben, dass sein Gesicht ihn vermutlich schon als Entsetzen übersetzte.   „Du bist eine Schwäche“, wiederholte Kageyama, ruhig, eisig. Du bist nutzlos. Ich werde dir nicht zuspielen. Ich spiele nur denen zu, die zum Sieg verhelfen, und das wirst du nicht tun. Du wirst uns runterziehen. In den Worten lagen so viele Anschuldigungen, Vorwürfe und Beleidigungen, dass Kei nicht einmal wusste, wo er anfangen sollte, sich aufzuregen. Seit er Volleyball spielte, hatte niemand solche Worte zu ihm gesagt. Seit er Volleyball spielte, war er, ohne viel Arbeit da hineinstecken zu müssen, bewundert worden – seine Größe ließ ihn automatisch bessere Voraussetzungen haben als so viele der anderen Spieler, sein Verstand gab ihm einen zusätzlichen Vorteil, und weil er in gewissem Maße Talent besaß, hatte er sich nie herausragend anstrengen müssen, um eine Leistung zu erbringen, die höher war als die der anderen. Objektiv wusste Kei, dass er besser sein könnte, wenn er wöllte. Er könnte härter trainieren, er könnte sich mehr reinhängen, aber – es war nur ein Club. Warum sollte er? Was hatte er davon, sich um etwas zu bemühen, das ihm maximal einen netten Vermerk auf dem Zeugnis einbrachte? Kei hat sich sehr für seinen Club engagiert. Wie in der Grundschule. So ein Schwachsinn. Nach der High School war es vorbei mit dem Volleyball – er war kein Idiot, der ewig lange einem unerfüllbaren Traum nachrannte.   Er war nicht Akiteru.   Objektiv wusste er auch, dass er trotzdem weit davon entfernt war, schlecht zu sein. Gerade gemessen an Karasunos Standard war er einer der stärkeren Spieler, selbst wenn seine Annahmen nicht gut waren, selbst wenn sein Block unenthusiastisch war; er war besser als die Zweitklässler, das bewies alleine schon, dass er ohne Anstrengung einen Platz in der Startaufstellung bekommen hatte. Er war besser als Yamaguchi, der, obwohl er sich so intensiv reinhängte, trotzdem immer auf der Bank sitzen bleiben würde. Ihn nicht einzusetzen, bedeutete, entweder auf Narita zurückzugreifen, der kleiner war als Kei, eine weit geringere Reichweite hatte, und bei aller Erfahrung nicht halb so nützlich war, oder auf Yamaguchi, der eine noch viel schlechtere Wahl wäre – vor allem, wenn sie darauf setzten, ihn für Notfall-Aufschläge nutzen zu können. Kurzum: Kageyamas Verhalten war gerade unglaublich idiotisch. Die Tatsache, dass Kageyama völlig überzeugt von seinen Worten zu sein schien, auch ganz ohne jede Bitterkeit ihrer zerrütteten Beziehung, machte es nur noch idiotischer – und schlimmer, denn auch wenn Kei das niemals zugeben würde, er wusste, dass Kageyama keinen schlechten Kopf hatte, wenn es um Volleyball ging. Woher auch immer es kam, er glaubte wirklich, dass Kei das Team runterziehen würde. Dass er eine Schwachstelle war. Ein Klotz am Bein. Langsam, betont ruhig reckte Kei das Kinn vor, bis er deutlich auf Kageyama hinabsehen konnte. Die blauen Augen des Anderen glühten im Schein der Straßenlaterne, ohne irgendeine Gefühlsregung zu zeigen, die über strenge Ablehnung hinausging.   „Euer Majestät. Ihr ändert eure Meinung verblüffend schnell. Heute noch wolltet Ihr unbedingt, dass ich mitspiele.“ Kei lächelte. Kageyamas stoisch ruhiger Blick verzog sich zu einer hasserfüllten Grimasse, die Augen zu schmalen Schlitzen verengt und die Mundwinkel weit nach unten gezogen. Keis Lächeln wurde breiter. Kageyama schwieg. „Nun… was auch immer Euer Majestät sagt. Ihr solltet das wohl vielmehr dem Captain verklickern als mir. Ich bin mir sicher, Sawamura-San wird begeistert sein.“ „Es ist nötig“, gab Kageyama frostig zurück. Er hob das Kinn, stolz und selbstüberzeugt, und die hasserfüllte Fratze wandelte sich wieder in etwas weit ruhigeres, entschlosseneres.   „Es ist völlig unmöglich, dass du gegen Oikawa-San spielen kannst.“   Kei fragte sich, warum. Kei fragte sich ernsthaft, woher Kageyama den Glauben nahm, er könne die Situation so perfekt einschätzen. Auf der anderen Seite wollte er es gar nicht wissen. Er brauchte keine Kageyama-Kritik. (Er brauchte gar nichts von Kageyama.) Und ehrlich? Warum sollte es ihn eigentlich stören? Er war nicht scharf darauf, zu spielen. Gegen Datekou mochten sie mit Glück und Ausdauer noch gesiegt haben, aber Seijoh waren ein ganz anderes Kaliber, von dem Kei fest überzeugt war, dass sie nicht zu schlagen waren. Er wusste, dass Oikawa ein unglaublich guter Spieler war, er wusste, dass Seijoh ein starkes Team waren und vermutlich die einzigen in ganz Miyagi, die auch nur eine Chance hatten, gegen Shiratorizawa zu gewinnen. Er deutete eine Verbeugung an, die vor Hohn und Spott nur so troff. Selbst Kageyama konnte es nicht übersehen – und er übersah es auch nicht, das war eindeutig in seinem Gesicht geschrieben.   „Ihr entschuldigt, Euer Hoheit, aber ich werde es mir sparen, Euren Untergang mit anzusehen. Ich möchte nicht wegen Ruhestörung aus der Halle fliegen, weil ich zu laut lache.“   Kageyama sah aus, als hätte man ihm ins Gesicht geschlagen. Kei lächelte in grimmiger Befriedigung, als der Schwarzhaarige sich ruckartig abwandte und wegmarschierte. Sein Abgang wurde von Hinatas Gebrüll untermalt, und als Kei schließlich auch zur Gruppe aufschloss, hörte er gerade noch, wie Kageyama sich an Sawamura wandte, weil er dringend mit ihm reden musste. Es war nicht schwer, zu erraten, worüber er reden musste. Sawamuras Blick ging sofort in Keis Richtung. Sugawara folgte. Während Sawamura eher skeptisch und unzufrieden aussah, dass sich da neue Probleme ankündigten, sah Sugawara ehrlich besorgt aus. Das ganze Drama war so greifbar, dass es unmöglich war, dass selbst solche intelligenzarmen Menschen wie Hinata es übersahen, doch ehe es zu ersten unnötigen Einmischungen kommen konnte, hatte Ennoshita Nishinoya an der Schulter gepackt, die andere Hand drückte Tanaka von der Gruppe weg. „Kommt, wir gehen schon mal vor. Müsst ihr nicht noch Hausaufgaben machen?“ Die Ablenkung reichte, damit die Zweitklässler geradezu die Beine in die Hand nahmen und flüchteten. Kei sah ihnen kurz mit einem Anflug von Genugtuung hinterher, während Nishinoyas Jammern über Hausaufgaben und schlechte Testergebnisse noch durch die Luft waberte. Dem Beispiel folgend verabschiedete sich auch Azumane, der es schaffte, Hinata wegzulotsen. Der kleine Idiot folgte ihm mit strahlenden Augen und dem Enthusiasmus eines kleinen Hündchens, dem man zu viele Leckerchen versprochen hatte.   „Yamaguchi, komm.“ Yamaguchi kam. Yamaguchi fragte, was passiert sei. Kei antwortete nicht, und das schien Antwort genug zu sein, dass Yamaguchi neben ihm schnell wieder in Schweigen verfiel. Er starrte unglücklich auf den Boden vor seinen Füßen, immer mal wieder einen Blick in Keis Richtung werfend. Er setzte noch ein paar Mal zum Sprechen an, doch schließlich gab er endgültig auf. An der üblichen Ecke blieben sie schließlich zum Abschied stehen. „Bis morgen, Tsukki.“ Es klang fast wie eine Frage. Wäre Kei nicht so angepisst, er wäre beeindruckt davon, wie gut Yamaguchi die ganze Situation begriffen hatte, ohne dass er ihm auch nur ein Wort gesagt hatte. Er schnaubte. Sparte sich jede Antwort und ließ Yamaguchi einfach stehen.   Er hatte ihm nichts zu erklären.     „Kei, musst du nicht langsam los?“ Er blickte von seinem Frühstück auf, desinteressiert und unwillig. Seine Mutter blickte ihn interessiert und lächelnd an. Hatte sie sich die letzten Tage noch Sorgen gemacht, weil Kei nach der Schule sofort heimgekommen war, so war davon jetzt nichts mehr übrig. Sie schien wirklich zu glauben, er sei über seine Phase hinweg. „Mh. Ja, ich geh gleich.“ Wohin auch immer. Aber Kei hatte keine Lust, seiner Mutter einen Grund zu geben, unnötiges Theater zu machen. Er stieß mit einem missgelaunten Seufzen die Luft aus und er hob sich von seinem Platz; der Appetit war ihm vergangen. Einmal draußen wusste er allerdings auch nicht unbedingt, wohin mit sich. Sicherlich nicht zur städtischen Sporthalle in Sendai. Irgendwohin, wo er Ruhe hatte. Musik hören. In der Gegend waren genug Grünflächen, wo man sich einfach niederlassen und abschalten konnte.   Nur das Abschalten wollte nicht funktionieren.   „Du bist eine Schwäche.“   Kageyama war ein Genie. Natürlich hatte er andere Maßstäbe. Kei sollte es nicht wundern. Kei wunderte es auch nicht, dass das ganze Team seinen Einschätzungen zweifelsohne folgen würde und niemand außer Yamaguchi ernsthaft hinterfragen würde, wieso er nicht spielte. Was ihn ernsthaft wütend machte und nicht los ließ, war die blanke Tatsache, dass er es hasste, zu verlieren. Als inkompetent dazustehen. Es war erbärmlich.   Es war erbärmlich, dass er keine Möglichkeit hatte, Kageyamas Einschätzung zu revidieren. Er wollte diesem widerlichen Idioten die selbstüberzeugte Arroganz aus dem Gesicht wischen. Er hasste Menschen, die ihn nicht für voll nahmen.     Es war eine Impulsentscheidung.   Kei wusste, dass sie dumm war, noch ehe er sie ausgeführt hatte, aber er befand, es wäre noch dümmer, einfach stehen zu lassen, was Kageyama für sich selbst und das ganze Team beschlossen hatte. (Kei war kein Teamspieler. Er brauchte kein Team. Es war ihm grundlegend egal, wenn man von seinem verletzten Stolz absah und der Tatsache, dass Kageyama der allerletzte Mensch auf Erden war, dem er jemals irgendetwas durchgehen lassen wollte.)   Trotzdem stand er jetzt hier und ein junger Mann mit einem freundlichen Lächeln und leichtem Bartschatten bat ihn, zu warten. Kei hakte die Finger ineinander, während er zusah, wie der andere wieder in der Sporthalle verschwand. Er hörte Stimmen durcheinander rufen, war sich sicher, in dem Wirrwarr irgendwo seinen Nachnamen zu hören. Kurze Zeit später stand er da. Hochgewachsen, aber kleiner als Kei, das gleiche Gesicht, nur viel freundlicher, das gleiche helle Haar. Keine Brille. Ein Blick, als würde er gerade einen Geist sehen, völlig ungläubig, verständnislos, und dahinter – hoffnungsvoll. Kei hatte das dringende Bedürfnis, einfach wieder abzudrehen. „Kei…? Was machst du hier? Mama hat gesagt, du hast heute ein Spiel–“ – „Ich muss mit dir reden.“   Es dauerte keine zwei Minuten, bis Akiteru sich bei seinem Team abgemeldet und die Hallenschuhe gegen Straßentreter eingetauscht hatte. Er führte Kei ein Stück von der Sporthalle weg, bis sie eine Bank erreichten, die im Schatten ein paar alter Bäume stand. „Setz dich. Und dann erzähl, kleiner Bruder.“ Akiteru sah immer noch aus, als könne er es nicht glauben. Fassungslos, und glücklich, und Kei hasste es, denn er war sicherlich der letzte, der Akiteru glücklich machen wollte. Er lehnte sich zurück, sah hinunter auf die Finger, die er im Schoß verknotet hatte, und wusste gar nicht so recht, was er eigentlich sagen sollte. Er würde Akiteru sicherlich nicht erzählen, was passiert war. Nichts davon. „Warum spielst du noch?“ Kei wusste es. Er hatte gehört, wie seine Mutter und sein Bruder darüber gesprochen hatten, bei einem der schrecklich befangenen Essen, die sie geteilt hatten, wenn Akiteru einmal nach Hause kam. (Kei vermied ihn wie die Pest. Er wollte seinen Bruder nicht sehen, wenn es nicht nötig war.) Einen langen Moment sah Akiteru ihn nur an. Dann lächelte er und lehnte sich ebenfalls zurück. Sein Blick, wo Kei zu Boden blickte, ging hinauf in den Himmel. „Du bist groß geworden.“ Nicht das, was Kei hatte hören wollen, und entsprechend runzelte er unwillig die Stirn. Er zuckte mit den Schultern, schnaubte herablassend. „Es hat geholfen, einen Platz in der Startaufstellung zu bekommen.“ – „Ehrlich?! Das ist großartig, Kei!!“ Kei sparte es sich, hinzuzufügen, dass ihm dieser Platz gerade abhandenkam. Es sollte ihm egal sein, aber es war ihm nicht egal, und obwohl die Worte schon auf seiner Zunge lagen, kamen sie nicht heraus. Er brummte nur unbestimmt.   Er mochte diesen Rollentausch nicht.   „Warum sollte ich aufhören?“ – „High School.“ Akiteru lachte. Es klang nicht ganz bitter, eher wehmütig und schuldbewusst. „Aber gerade deshalb höre ich nicht auf. Ich hab mich dumm verhalten. Ich habe Fehler gemacht, und ich war echt verdammt frustriert. Ich hab drüber nachgedacht, zu schmeißen. Aber – nein. Gerade weil ich ein Idiot war. Weil ich nie die Möglichkeit hatte, wirklich zu spielen. Weil ich dich so etwas Erbärmliches hab sehen lassen. Weil ich weiß, was Volleyball so besonders macht. Ich will nicht aufhören, ehe ich das nicht wieder haben kann.“ Kei blinzelte. Er sah in Akiterus stolz grinsendes Gesicht und wandte den Blick doch lieber wieder ab. Es ergab für ihn keinen Sinn. „Spielt ihr Turniere?“ – „Jup.“ Wieder ein Grinsen. Diesmal sah es scheu aus. „Diesmal bin ich wirklich Starter.“ Es war so leise, dass Kei es kaum hörte, obwohl er direkt neben ihm saß. Sollte es ihn kümmern? Alles, woran ihn Akiterus Worte erinnerten, war die Enttäuschung, die Welt, die für Kei zusammengebrochen war mit dem Lügenschloss seines Bruders. Machte es irgendetwas besser, dass Akiteru es schaffte, sich als nützlich hervorzutun in einem Team, das zweifelsohne nicht gut war? „Warum?“ „Ich will wirklich zufrieden sein können mit meiner Leistung. Bis ich das nicht schaffe, höre ich nicht auf. Ist das nicht normal?“ Kei seufzte still. War es das? Er empfand diesen Antrieb nicht. „Was hast du davon? Es ist doch nur ein Club. Du verdienst weder Geld damit, noch Anerkennung, noch irgendetwas anderes.“   „Muss ich auch nicht. Kei, weißt du? Wenn es etwas gibt, dass dir wirklich, wirklich wichtig ist… dann tust du es nicht, um gut dabei auszusehen. Oder weil du große Erfolgschancen hast. Du tust es, weil du es willst – und das auch dann noch, wenn es fruchtlos erscheint und du ewig nur auf der Ersatzbank sitzt.“ So wie Yamaguchi. Wenn man es so betrachtete, war Yamaguchi wahlweise beeindruckend, oder unglaublich erbärmlich. Kei hatte ihn noch nie als erbärmlich betrachtet.   „Du spielst auch noch. Musst du nicht eher dir die Frage stellen?“ Aber Kei hatte seine Antwort – er spielte aus Bequemlichkeit, und er konnte jederzeit aufhören. Zumindest war das bisher so gewesen. Jetzt aber… „Ich gönne ihm die Genugtuung nicht.“ Einen Moment sah es so aus, als wollte Akiteru nachfragen. Dann blinzelte er nur und zuckte die Schultern, lachend. Etwas in seinem Gesicht sagte das ist so typisch für dich, und Kei hasste diesen Blick, hasste die Selbstverständlichkeit, mit der Akiteru immer noch sein Bruder war, egal, wie sehr er sich von ihm zu distanzieren versuchte. Schwungvoll stand er auf, grinsend, streckte eine Hand nach Kei aus. „Dann trainiere! Willst du uns Gesellschaft leisten?“ „…“ Kei schnaubte. Er ergriff die Hand seines Bruders nicht.   „Ich hab eh nichts Besseres zu tun.“     Sie sprachen nicht mehr darüber, wieso Kei nicht bei seinem Spiel war. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)