No Princess von Yinjian ================================================================================ Kapitel 22: Die nächste Königin ------------------------------- Anna lag in ihrem Bett. Die Vögel begannen, die ersten Melodien des Tages zu zwitschern. Das Mädchen drehte nachdenklich ein metallenes, schwarzes Etwas in ihren Händen und betrachtete es eingehend. Immer noch hörte sie, wie die Stimmen ihr zuflüsterten: „Geh. Keine Zeit.“ Wieso war das passiert? Egal, mit welchen Gründen sie versuchte, der Sache eine Erklärung zu geben, sie verwarf jeden einzelnen von ihnen. Sie glaubte einfach nicht, dass die Schattenmenschen sie verraten hatten, geschweige denn ihr was antun wollen würden. Und dennoch konnten sie Adam nicht finden – die Nummer des Hauses wurde geändert und sein Handy war ausgeschaltet geblieben. Und wieso wollte dieses schwarze Ding in ihrem Zimmer, dass sie ausgerechnet DAS mitnahm? Sie drehte weiter das kleine Butterfly in ihren Händen. Mit einem Flipp ihres Handgelenks klappte es auf und entblößte eine weiß glänzende Klinge. Sie war scharf, Anna wusste das, denn Adam hatte sich immer gut darum gekümmert und es geschliffen, sobald es anfing stumpf zu werden. War das eine Art „letzte Erinnerung“ an ihn? Oder ein Abschiedsgeschenk? Annas Wecker klingelte. Erschöpft haute sie auf den Schlummer-Knopf. Der erste Schultag würde gleich anfangen. Es war jetzt schon vier, fünf Wochen her, dass sie Adam das letzte Mal gesehen hatte. Sie weinte nicht mehr, das haben ihr die anderen aus den Kopf geschlagen, aber dennoch verging keine Minute, in der nicht die Sorgen um Adam in ihrem Hinterkopf schlummerten und rumorten. Die Sachen für die Schule waren schnell gepackt, da Anna eh nicht vor hatte, am Unterricht teil zu nehmen. Sie war auch schnell angezogen. Dabei bemerkte das Mädchen, dass ihre Haare um einiges länger geworden waren, als noch letztes Semester – ihr Pferdeschwanz, den sie immer trug, damit ihre Haare beim Kämpfen nicht im Weg waren, fiel nun über ihren Po, während er vor den Sommerferien höchstens bis zur Hüfte ging. War das normal? Das Frühstück war nicht so ausgiebig wie sonst. Auch wenn Annas Mutter wusste, dass Adam nicht ihr Sohn gewesen war, vermisste sie ihn schmerzhaft. Genau so wie Anna hatte auch sie aufgehört zu weinen, schien aber nicht so gut damit klar zu kommen, wie ihre Tochter. Zahllose Anrufe hatte sie getätigt, sie hatte sogar Annas Vater angerufen, doch es brachte nichts. Als die Blondine aus der Haustür trat, schien die Augustsonne noch angenehm heiß auf den Asphalt. Akira und Kai warteten vor dem Gartentor, Akira sichtlich aufgeregt und Kai sichtlich genervt von der Hitze. Als die drei sich in Bewegung setzten begannen sie über Schulsachen, Schülerrat und AGs zu sprechen. „Wir haben gar nichts mehr von den anderen gehört.“ fiel Anna dabei auf. Seit sie wieder nach Hause gekommen war, hatte sich keiner ihrer Freunde gemeldet, außer Kiki. Auch Ren, Mirai, Toki und Liam hatten sich nicht mehr gemeldet. „Vielleicht haben sie dich aufgegeben.“ grinste Kai schwach unter den Sonnenstrahlen. Seine Hand fuhr über ihren Pferdeschwanz. War ihm aufgefallen, dass ihre Haare gewachsen waren? Akira sagte nichts. Ihm war bewusst, dass die anderen nicht so leicht aufgeben würden. Langsam kam die Schule in Sicht. „Eurer Fußball AG fehlt jetzt ein Mann, oder? Überlegt, Mirai danach zu fragen?“ fuhr Kai nun fort. Annas Herz verkrampfte sich kurz. Der „Mann“ der fehlte war ihr Bruder. „Ja, aber er meldet sich nicht.“ antwortete Akira und seufzte. „Ich weiß nicht, wieso. Hört sich an, als wäre etwas in den Ferien passiert.“ beendete er das Thema. Zu diesem Zeitpunkt wusste der Rotschopf noch nicht, wie Recht er eigentlich hatte. Die Allee, die zum Hauptgebäude führte, war gefüllt mit Schülern. Alle redeten, lachten und tauschten Fotos von ihren Urlaubstagen aus. Viele neue Schüler, die Anna noch nicht kannten, liefen dicht an der Königin und ihren zwei Prinzen vorbei, ohne Scham und Scheu. Es war irgendwie erfrischend. Auch die Schüler, die Anna bereits kannten, schienen nun nicht mehr so viel Angst zu haben, wie früher. Vielleicht hatten sie es einfach vergessen? Einer rempelte Anna beim Vorbeilaufen an. Vielleicht mussten sie daran erinnert werden. Kurz vor dem Hauptgebäude machten die drei Jugendlichen eine Biege und gingen Richtung Hinterhof. Anna wollte unbedingt mit Mika und Yuki über Adam reden – immerhin kannten die vier sich, seit sie noch klein waren. Doch was Anna im Hinterhof vorfand enttäuschte sie: Yuki lehnte am Baum und starrte ungeduldig Richtung Hauptgebäude. Ansonsten war es leer – komplett leer. Bis auf den Baum war nichts übrig geblieben. Der Gartenschuppen war weg, die kleinen Pflanzen, die Mika eingesetzt hatte, um ihr „Hauptquartier“ schöner zu gestalten, waren raus gerissen worden. Als Yuki Anna erblickte sprang der Junge auf sie zu, packte sie an den Schultern und ernte sich fauchende und bissige Kommentare von Kai und Akira. Doch Yuki ignorierte das. Der sonst so stille und bodenständige Junge war aufgebracht. Dicke Augenringe, die nicht vom zu lange Lesen oder Spielen herrührten, machten sich bemerkbar. Er war blass. Er schien krank. Als hätte er Nächte lang nicht geschlafen. „Anna, hat sich Mika bei dir gemeldet?“ fragte Yuki aufgebracht. Anna, von der Situation völlig aus den Wolken gerissen, schüttelte nur den Kopf. Ein Seufzen folgte. Ihr Sandkastenfreund griff sich an die Stirn und wischte sich den Angstschweiß weg, schaute sich um, fiel dann aber auf die Knie. Anna beugte sich zu ihm hinunter – sichtlich besorgt – und hielt ihn fest. „Yuki. Komm' runter. Erzähl mir, was los ist.“ Da war sie wieder. Sie hatte einige Monate lang eine Auszeit genommen, doch nun war die Anführerin der Gang zurück. „Mika wollte mit irgendjemandem in den Urlaub fahren. Aber ihre Mutter hat mich vor zwei Wochen angerufen – sie ist verschwunden, Anna. Sie taucht einfach nicht wieder auf. Sie geht nicht ans Handy, meldet sich nicht… Ich weiß nicht, was ich tun soll.“ Yukis Stimme brach. Man konnte hören, wie er versuchte, seine Tränen und Angst hinunter zu schlucken, damit sie nicht ans Tageslicht traten. Das Mädchen legte ihre Arme um ihn und drückte den Jungen an sich. Ihr war schon immer klar, dass egal welche Beziehung Mika und Yuki nun hatten, es ein Band war, dass niemand so schnell trennen konnte. Doch wieso war sie weg? Auch Anna hatte immer wieder mal versucht, mit Mika in Kontakt zu treten, war aber nie durchgekommen. Sie hatte nicht bei ihr Zuhause angerufen, weil Mikas Mutter Anna hasste. Das war schon vor dem Sandkasten-Massaker so gewesen. „Habt ihr die Polizei gerufen?“ fragte Anna ruhig. „Ja. Aber es gibt keinerlei Spuren.“ Yukis Stimme war schwach, kaum hörbar. Anna drehte sich zu Kai und Akira um. Kai musterte die Situation teilnahmslos, Akira schien nachzudenken. „Dann müssen wir selbst suchen.“ Ihre Worte waren eher an die beiden übernatürlichen Wesen gerichtet, als an Yuki. Doch ausgerechnet Yuki schüttelte den Kopf. „Ich habe jeden, JEDEN einzelnen Tag nach ihr gesucht, seit ich und meine Familie aus dem Urlaub zurück gekommen sind. Ich finde sie nicht. Alle Stellen, wo sie vielleicht sein könnte… Wo wir Erinnerungen gesammelt haben … Oder wo man sich vor seinen Eltern verstecken könnte, alle ...“ Er brach ab. Sein Handballen rieb in seinem Gesicht herum. Anna holte tief Luft. „Alle sind verschwunden.“ Dieser Gedanke, den sie vor einigen Wochen noch gehabt hatte, dann aber als Paranoia abstempelte, kehrte zurück. Er umklammerte Annas Herz, als wolle er es zerquetschen und sich in ihrem Schmerz suhlen. Doch sie konnte jetzt nicht die Fassung verlieren: Yuki brauchte sie. Mika brauchte sie. Das Mädchen stand auf, zog Yuki auf die Beine und schaute ihm in die Augen. Seine Gedanken überschlugen sich mit Erinnerungen an Mika und Sorgen um ihre Person. Es war nichts hilfreiches dabei. „Wir finden sie. Wir haben den Schülerrat auf unserer Seite. Die sind für solche Sachen zuständig.“ Ihre Stimme drang so klar und leicht zu Yuki hindurch, sodass er es endlich schaffte, vom Boden aufzublicken. Er schaute besorgt zu den zwei Jungs, die nun etwas zurückhaltend aussahen, und schaute dann noch besorgter zu Anna. „Ja, das ist mein Ernst. Überlass' es uns. Hast du noch was von Mika?“ fragte Anna schnell nach. Yuki dachte kurz nach, ging dann zu den Büschen hinter dem Ahorn und zog die lange, weiche Decke hervor, die Mika immer für das Mittagessen ausbreitete. „Sonst nichts.“ murmelte er gedankenvoll. „Muss reichen.“ „Was reicht?“ Mirais Stimme drang durch den Hinterhof wie Donner. Alle Anwesenden fuhren herum und starrten den großen, braun gebräunten Mann an, der den Blick verwirrt erwiderte. „Was ist los?“ fragte er verwirrt. Anna seufzte – halb genervt, halb erleichtert. Wenigstens ihm ging es gut. Doch sie konnte nicht weit denken – innerhalb einer Sekunde spürte das Mädchen, wie sich ihre Füße vom Boden lösten. Mirai hatte sie hoch gehoben und ließ sie in seinen Händen fliegen. „Wie geht’s dir, meine Königin?“ fragte er mit einem Lächeln, dass man ihm gar nicht zu traute. Er ließ sie runter und umarmte das Mädchen. „Ich hab' dich vermisst.“ „Lass' sie los.“ fauchte Kai und auch Akira hatte sich in Bewegung gesetzt, um Mirai von Anna zu trennen. „Das ist jetzt wirklich nicht der Zeitpunkt!“ Anna erhob die Stimme und richtete sich ihre Kleidung, als sie wieder festen Grund unter sich hatte. „Yuki, geh' zum Unterricht. Mirai, Akira und Kai: Wir treffen uns zum Mittag in eurem Raum. Wir müssen den anderen erzählen, was los ist.“ koordinierte die Anführerin. „Oh. Toki und Liam kommen nicht mehr.“ Mirais Worte waren Eiswasser, dass einem plötzlich über den Kopf geschüttet wurde. „Was?“ fragte Anna schockiert nach. „Wieso nicht?“ „Erzähl' ich dir später.“ Mirais Augen folgten Yuki, der nun eher an einen Schneemann in der heißen Sonne erinnerte, während dieser zur Klasse ging. In ihrer Klasse angekommen, befand sich Anna in einer Situation, die sie lange schon nicht mehr erlebt hatte: Ignoranz. Die sonst von Geflüster und Gerüchten gefüllte Luft war klar, von Lachen erstrahlt und voller Gespräche. Sie rankten sich um die neuen Schüler, die hierher versetzt worden waren. Einer davon schien in ihrer Klasse zu sein. Wäre Anna bei der Morgenversammlung in der Aula gewesen, bei der der Direktor das neue Semester begrüßte, hätte sie vielleicht was davon mitbekommen. Aber nun wusste sie nicht, was auf sie zukam. Die Glocke klingelte. Ein Schüler kam herein. Er war groß gewachsen, hatte schwarzes, unbändiges Haar. Seine Augen waren ein tiefes Blau. Seine Statur, seine Haare, seine Augen. Ohne, dass Anna es wusste, stand sie auf ihren Füßen. Die Schüler, die dem Neuen gerade bei seiner Vorstellung gelauscht hatten, wandten sich nun Anna zu. Aber kein Wort drang an ihre Ohren. Sie starrte den Neuen an. Er erwiderte ihren Blick, lächelte sogar. „Fräulein Kurosawa, setzen Sie sich bitte wieder.“ ermahnte sie der Lehrer eingeschüchtert. „Wie ich bereits sagte: Ab sofort wird Iori hier zur Schule gehen. Setzen Sie sich.“ Iori. Nicht Adam. Anna ließ sich auf ihren Po fallen und seufzte leicht auf. Natürlich. Adam sah ganz anders aus. Auf den ersten Blick hin hätte Iori sie vielleicht täuschen können, aber auch seine Ausstrahlung war komplett anders, als die von Adam. Adam war fröhlich, offen für alles, genau so wie Anna es an ihm liebte. Aber Iori umgab eine geheimnisvolle, leicht gefährliche Aura. Auch wenn er lächelte, wusste Anna, das alles was er sagte, nur Lügen waren. Es war Anfang der Mittagspause. Die Mädchen rankten sich um den Neuen. Die Blondine lehnte in ihrem Stuhl und begann damit zu kippeln, während sie dem Gespräch folgte. Wieso hat er die Schule gewechselt? Seine Familie sei umgezogen. Wie alt war er? Siebzehn. Hatte er eine Freundin? Nein, aber jemanden, den er gerne als Freundin hätte. War sie auch an dieser Schule? Wer weiß. Seine Stimme klang total anders als Adams. Adam hatte eine tiefe, angenehme Stimme. Ioris Stimme war etwas höher, geladen mit Energie und Kraft. Anna schnaubte kurz. „Wer ist das?“ fragte Iori nun und nickte Richtung Anna. „Das… Wäre besser, wenn du dich nicht mit ihr abgibst.“ Die angenehme Luft von Geflüster und Gerüchte trat wieder in den Raum. „Wieso? Hat sie 'nen Freund?“ fragte er grinsend. Die Mädchen begannen zu lachen. „Nee, die hat keinen. So'n Machoweib kriegt auch nicht so schnell...“ Anna war aufgestanden. Ihre Schritte hallten durch den Klassenraum, der mit einem Schlag mucksmäuschenstill geworden war. Sie ging auf die kleine Traube von Mädchen zu, die es gerade noch für angebracht hielten, ihre Mäuler über die zukünftige Königin zu zerreißen. Ein schmaler Arm legte sich um die Normalsterbliche, die eben noch gelacht hatte. Kristallblaue Augen wanderten über die Gesichter der nun erbleichten Mädchen, ehe sie an dem Neuen hängen blieben. „Ich brauch' keinen Mann. Ich brauch' Untertanen.“ lächelte sie feist. Ihre Finger glitten durch das struppige Haar ihrer Klassenkameradin, ehe sich Anna an diese wandte und ihr in die Augen starrte. Sie musste nichts sagen. Ihre Gedanken würden reichen. „Und du… solltest dich in Zukunft besser ein bisschen zurück halten, was deine Aussagen betrifft. Auch wenn wir Klassenkameradin sind, hab' ich kein Problem damit, dir deine Knochen zu brechen.“ Und das Mädchen zeigte genau die Reaktion, die Anna sehen wollte: Terror. Und das gefiel ihr. Seit wann war sie jemand, über den man sich lustig machen könnte? Hatte sie nicht schon genug durch gemacht und gemeistert, damit man ihr wenigstens ein bisschen Anerkennung zeigte? In diesem Moment wurde Anna klar, dass zu viele Leute in letzter Zeit mit ihr Spielchen getrieben haben. Jeder aus dem Schülerrat bog und formte sie in seinen Händen, Anna war nicht sehr viel mehr als ein Spielzeug, mit dem sie Spaß hatten. Mirai. Akira. Kai. Ren. Sie alle hatten Anna berührt, ohne dass Anna es wollte. Sie hatten ihr Probleme bereitet. Sie hatten sie abhängig gemacht. Eigentlich hatte Anna gedacht, sie hätte Fortschritte in Sachen Diplomatie und Regieren erreicht, aber jetzt zerfiel diese Wunschvorstellung. Sie war nicht stärker geworden. Sie war schwach geworden. Und dass in letzter Zeit keinerlei Vorfälle passiert waren, die den Schülern einbläuten, dass Anna DIESE Anna war, schien nicht zu helfen. Ein Lachen riss Anna aus ihren Gedanken. Iori war aufgestanden und lachte aus vollem Herzen, ehe er Anna die Hand reichte. „Ich heiße Iori.“ grinste der Junge. Annas Hand, die noch auf dem Kopf ihrer „Freundin“ lag, zuckte kurz, um die Begrüßung anzunehmen. Aber ihr Stolz verhinderte es. Nichtsdestotrotz fand sich ihre Hand in Ioris wieder, als dieser sie einfach an sich nahm. Er küsste ihren Handrücken, wie man es aus Mittelalterfilmen her kannte. „Guten Tag, werte Königin.“ „Willst du mich verarschen?“ hisste Anna genervt und zog ihre Hand weg. Schluss damit, dass Leute sie einfach küssten. Sie drehte sich um und wandte sich der Tür zu, ehe sie es noch einmal klar stellte: „Es ist vielleicht doch besser, wenn du dich von mir fern hältst. Dein Gesicht verursacht einen Würgreiz in mir.“ Und damit verschwand sie. Sie schlenderte durch die Gänge. Schule war scheiße. Lehrer waren scheiße. Schüler waren scheiße. Am liebsten hätte sie auf etwas eingetreten. Warum? Warum nur musste er Adam so ähneln? Der Fluch der Sommerferien jagte Anna nach wie ein Schatten, kurz davor sie in absolute, tobsüchtige Dunkelheit zu ziehen. Die doppelflüglige Tür des Schülerratsraums eröffnete sich vor ihr. Ren blickte auf. Seine Worte waren Worte der Begrüßung und Begeisterung, das Mädchen wieder zu sehen. Mirai war aufgestanden. Toki und Liam waren wirklich nicht da. Als die Männer merkten, dass Anna in keiner guten Stimmung war, erlagen die Floskeln und Nebengespräche. Das Mädchen schmiss die Tür ins Schloss. Sie wollte sich nicht setzen, sie wollte ausbrechen. Aber Mika ging gerade vor. Mit einem tiefen Atemzug begann Anna, durch den Raum zu schreiten. „Wir müssen Mika finden.“ brachte sie schließlich hervor, als sie am bekannten Fenster stand. Die Vorhänge ließen kein Licht und keine Hitze in diesem Raum und dafür war Anna dankbar. „Sollten wir nicht erst mal nach deinem Bruder suchen?“ fragte Ren verwundert nach. „Mein Bruder ...“ hisste Anna genervt und Ioris Gesicht tauchte in ihren Gedanken auf. Die Wut in ihr brodelte. Adam war nicht ihr Bruder. Er war ihr Shiki, ihr Beschützer, ihr Diener. Wenn er seine Aufgaben und Anna vernachlässigte, war er seinem Status als Shiki nicht würdig. Anna spürte, wie sich Blicke in ihren Rücken brannten. Schweißperlen formten sich unter ihrer Bluse zusammen und kitzelten das Tattoo auf ihrem Rücken. Ihre Hand fuhr über ihre Stirn. „Nein, wir suchen Adam nicht.“ beendete sie das Thema zähneknirschend. „Mika geht vor. Sie ist nur ein Mensch, wenn ihr wirklich etwas passiert ist, zählt eigentlich jede Sekunde.“ Und dabei war sie schon seit Wochen verschwunden. War sie überhaupt noch am Leben? Denk nicht darüber nach, ermahnte sich Anna selbst. „Mirai, ruf' Zuhause an und lass' Silver drei seiner Jungs herschicken. Sie sollen Mikas Fährte aufnehmen.“ Mirai blickte verwundert zu Anna. Er hatte sich hingesetzt und kippelte in seinem Stuhl, während er ein Hotdog aß. „Sicher? Shiro kennt sie. Soll er das nicht übernehmen?“ fragte er beiläufig. Anna schnalzte mit der Zunge. „Hätte ich gewollt, dass Shiro es tut, hätte ich 'Shiro' gesagt, oder?“ fauchte sie. Wieso hinterfragte man sie? Mirai verschluckte sich. Er hatte so eine aggressive Antwort nicht erwartet. „Hmm. Sollen Liam und Toki auch helfen? Wobei Toki wahrscheinlich nicht kann...“ murmelte dann der Affenkönig. „Was?“ Anna drehte sich um und sah Mirai an. „Sind sie etwa im Wald?“ „Ja...“ antwortete Mirai leicht eingeschüchtert. „Hmm. Wo soll ich anfangen? Toki ist krank geworden. Er liegt zur Zeit bei mir Zuhause und ruht sich aus, Liam kümmert sich um ihn. Sieht aber nicht gut aus.“ Annas Herz hatte die Schwere eines Felsens, als es ihr in die Hose rutschte. „Wie 'sieht nicht gut aus'?“ Ihre Stimme war wie ein tonloser Windzug geworden. „Das hat auch wann anders Zeit. Was sollen wir machen?“ unterbrach sie Rens tiefe, ruhige Stimme. Annas Augen wanderten zu Ren. Was KONNTEN sie denn tun? „Ren. Hast du oder deine Familie Beziehungen zur örtlichen Polizei? Falls ja, meinst du, du kannst irgendetwas in Erfahrung bringen?“ Ren nickte. Anna wandte sich an Kai. „Und du meintest, du hättest viele Gefährten. Können die vielleicht die Augen offen halten und schauen, ob sie Anhaltspunkte für Mikas Aufenthaltsort finden? Ich weiß, ihr habt gerade Stress in eurer Gruppe, aber...“ Kai unterbrach sie. „Ich bin ihr Anführer. Selbst wenn wir Stress haben, sollten sie mir gehorchen. Außerdem lenkt es sie vielleicht ab...“ Ein kleines Lächeln umspielte seine Lippen, als er seine Fingernägel betrachtete. Gut, das sollte reichen. Dann betrachtete Anna Akira. Was konnte er tun? Er erwiderte ihren Blick lächelnd. Anna wusste NICHTS darüber, was Akira eigentlich tun konnte und was nicht. Sie wusste nicht einmal, was er war. „Dann wäre ja alles geklärt.“ Akiras Stimme hallte durch den Raum wie ein Weckruf. Die Männer erhoben sich und begannen, Richtung Tür zu laufen. Anna blieb wie angewurzelt stehen. Seit wann hatte Akira so eine Autorität über die anderen? Der einzige, der blieb, war die Person, die Anna im Moment so viele Fragen aufwarf und gleichzeitig faszinierte. „Anna, was ist los?“ Akira schloss die Tür hinter Kai und kam nun auf das Mädchen zu. Sie schluckte. Woher wusste er schon wieder, dass etwas los war? Genervt ging das Mädchen auf Mirais Platz zu und suchte in seiner Tasche nach etwas zu essen, ehe sie sich in einen der Lederstühle fallen ließ und auf einem Apfel rum kaute. „Ich hab 'nen neuen Mitschüler.“ fauchte sie genervt und schluckte runter. „Er sieht aus wie Adam.“ „Aber er ist es nicht?“ fragte Akira nach und setzte sich ihr gegenüber. Anna schüttelte den Kopf. Natürlich war es nicht. „Wir haben auch ein paar neue… Mirai ist jetzt übrigens mit Kai in einer Klasse. Die zwei verstehen sich überhaupt nicht.“ grinste der Junge. Auch Anna musste grinsen. Dass der Vampir und der Affenkönig sich nicht verstünden, glaubte sie sofort. Kai war immerhin nicht leicht umgänglich. „Wie sind deine neuen so?“ fragte Anna neugierig nach. „Oh, wir haben ein Mädchen und einen Jungen. Der Junge ist ziemlich blass, glaub' er war krank oder so. Sieht fast aus, wie ein Albino. Das Mädchen hat schwarze kurze Haare und scheint ziemlich lebendig zu sein. Die beiden sind wie Ying und Yang, totale Gegensätze, aber scheinen sich nicht zu kennen.“ erzählte Akira belustigt, lehnte sich dann jedoch zurück und starrte auf Annas angebissenen Apfel. „Aber wenn du mich fragst...“ Seine Stimme verfiel in ein Flüstern, als würden sie belauscht werden. „Wenn du mich fragst, kennen sie sich. Und sie sind nicht menschlich.“ Das Stück Apfel, das gerade Annas Speiseröhre betrat, wollte nicht in den Magen. Anna hustete kurz. Aber ja, auch Iori machte einen übernatürlichen Eindruck auf sie. Anna nickte. „Meiner wahrscheinlich auch nicht. Was wollen sie hier?“ überlegte sie. „Vielleicht hat dein Vater gehört, dass einige von uns nicht mehr im Rennen sind und hat neue Kandidaten hergeschickt.“ witzelte der Junge leise. Anna schnaubte kurz. „Als ob. Und im Fall der Fälle, wieso ein Mädchen?“ entgegnete sie ungläubig. „Vielleicht glaubt er, du bist lesbisch? Könnte man sich vielleicht denken. Immerhin hattest du nie einen Freund und hast dir immer noch keinen der heißen Schülerratjungs ausgesucht.“ Sein Grinsen wurde immer breiter. Er wollte sie ärgern. Doch Anna zwirbelte den Stiel des Apfels zwischen ihren Fingern und ließ das angeknabberte Gehäuse damit rotieren. Es erinnerte sie an das Karussell. „Ich bin nicht lesbisch.“ gab sie kühl zurück. „Du müsstest das wissen.“ Ein kleines Lächeln zeigte sich. Auch Akira musste grinsen. Kurz trat eine nachdenkliche, melancholische Stille ein, in der beide an die Situation des Kusses nachdachten. Dann fragte Anna Akira schließlich: „Was bist du eigentlich?“ Akira ließ den Blick durch den Raum wandern und antwortete nicht. Er summte eine kleine Melodie, die Anna nicht wieder erkannte. „Ist noch nicht an der Zeit, dir das zu sagen.“ erklärte Akira schließlich, als er merkte, wie Annas Blick sich ungeduldig in sein Gesicht bohrten. Anna schnaubte genervt und stand auf. „Was machen wir wegen den Neuen?“ wollte sie nun wissen. „Was sollen wir schon machen?“ Das Desinteresse in Akiras Stimme war erschlagend. „Wenn dir einer gefällt, machst du ihn zu deinem Mann. Oder deiner Frau.“ fügte er neckisch hinzu und erntete sich einen strafenden Blick der Blondine, ehe diese wieder zurück zur Klasse ging. Doch im Türrahmen zu ihrer Klasse stand eine alte, erfreuliche Gestalt. Kiki war da. Ihr Haar war kurz, sie hatte sich wohl einen Pixi-Schnitt während der Sommerferien zugelegt. Außerdem hatte sie deutlich abgenommen: Das runde, freundliche Gesicht wirkte schmaler und erwachsener, sie hatte keine Stummelbeine mehr und zeigte tatsächlich etwas Taille. „Hey Anna.“ sagte das Mädchen glücklich. „Was geht, Kiki. Siehst gut aus.“ grinste Anna. Auch sie war glücklich, das Gesicht ihrer menschlichen Freundin endlich wieder zu sehen. Wenigstens ihr ging es gut. „Danke… Ich wollte fragen: Hast du das von Mika gehört?“ Annas gute Laune wich genau so schnell, wie ihr Lächeln. „Ja.“ gab sie wortkarg zurück und ging zu ihrem Platz, um Sachen in ihre Tasche zu packen. „Wir kümmern uns darum.“ fügte sie noch hinzu, als sie Kikis besorgten Blick sah. „Kann ich helfen?“ fragte sie nervös. Wie konnte sie helfen? „Denk' nicht...“ Anna hasste sich für diese Antwort. „Vielleicht kannst du'n paar Snacks für die Suchenden machen.“ ergänzte sie schnell. Kiki konnte gut kochen, aber ob die Wölfe oder Vampire es essen würden, war eine andere Frage. „Okay.“ Kiki schien erleichtert und zufrieden mit dieser Aufgabe. „Wird Adam auch da sein?“ In diesem Moment wünschte Anna sich, Kiki wäre nicht da. Dieser erste Schultag war wie ein Höllentrip geworden. Die Blondine biss sich auf die Unterlippe und massierte ihre Stirn, ehe sie schließlich sagte: „Nein. Adam ist bei Verwandten.“ „Oh… Na gut. Meld' dich, sobald du was brauchst, ich muss zurück zum Unterricht.“ erklärte Kiki sich enttäuscht. „Ist das einer deiner Untertanen?“ Ioris Stimme drang an Annas Ohr. Es wurde schlimmer und schlimmer. Anna wollte keine Sekunde mehr hier verbringen. „Nein. Sie ist meine Freundin.“ zischte sie kühl. Iori, der sich neben Anna gestellt hatte, ging nun auf Kiki zu und betrachtete sie eingehend. Es gefiel Anna nicht. „Geh' jetzt, Kiki.“ sagte sie zu der Kleinen, die Annas Rat befolgte. „Hast sie gut dressiert.“ grinste Iori schamlos. Anna warf ihm einen bösen Blick zu, ehe sie ihr vibrierendes Handy in die Hand nahm. Es war eine Nachricht von Mirai: Die Wölfe würden morgen eintreffen. Das Mädchen schmiss ihr Handy in die Tasche und wandte sich um zu gehen. „Gehst du etwa schon?“ fragte Iori enttäuscht und hielt sie fest. War es wirklich Enttäuschung? „Hey, Iori.“ Eine glockenhelle, fröhliche Stimme trällerte durch die Klasse. Vor Anna in der Tür stand ein schlankes, hübsches Mädchen. Sie hatte kurze, schwarze Haare. Einige ihrer Strähnen waren in kleine Zöpfchen geflochten. Sie hatte dunkle, schwarze Augen. Sie erinnerten an Kais. Sie trug das liebste Lächeln im Gesicht. „Oh, hey. Ich bin neu hier. Ich heiße Eve.“ stellte sich die junge Dame charmant vor. „Anna.“ Die Blondine konnte nicht umhin, ihrer Stimmung Ausdruck zu verleihen und klang dementsprechend genervt. „Bist du eine Freundin von Iori?“ fragte Eve erfreut nach. „Psh. Als ob.“ eriwderte Anna und warf Iori erneut einen bösen Blick zu, welcher daraufhin lachte. „Ach, bist du DIE Anna?“ Eves Stimme klang, als würde sie Anna durchleuchten. „Die, die immer mit den Jungs aus dem Schülerrat abhängt? Ich glaub' einer von ihnen, Akira oder so, ist in meiner Klasse.“ fügte sie hinzu und man sah ihrem Gesicht an, wie sie versuchte, sich Akira in Erinnerung zu rufen. „Ja, ich kenne sie.“ entgegnete Anna schroff und schulterte ihre Tasche. „Ah, cool. Anscheinend hast du viele Verehrer.“ Anna knirschte mit den Zähnen. „Gehst du etwa schon? Ist doch noch Untericht, oder?“ „Ja. Sorry, wir reden wann anders weiter. Bis dann, Eve.“ Nichts konnte sie mehr in diesem Klassenraum halten. Nichts. Wütend ging Anna nach Hause. Auch der Hinterhof würde ihr keine Ruhe schenken, wenn der Großteil ihrer Clique weg oder verschwunden war. An diesem Tag hasste Anna die Welt. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)