No Princess von Yinjian ================================================================================ Kapitel 21: Interview mit einem Vampir -------------------------------------- Kein. Funke. Schlaf. Erschöpft saß Anna im Park. Die heiße Mittagssonne knallte auf den Rasen, der jede Sekunde darunter litt. Akira saß neben ihr und völlig unbeeindruckt von der Hitze. Gelangweilt ließ er seinen Fußball vor sich hin und her rollen. Dann seufzte er. „Anna, was ist los?“ fragte er genervt. „Ich will Fußball spielen. Oder irgendwas. Lass uns irgendwas machen.“ Anna rollte mit den Augen. „Hab' nicht geschlafen.“ ächzte sie und streckte ihre Beine aus. Ihre Shorts gingen höchstens bis zu ihren Knien, sie trug ein knappes Tanktop mit einer Strickjacke darüber. Dennoch war ihr zu heiß. Erneut stöhnte das Mädchen gequält auf und begann, ihr Top mit der Hand flattern zu lassen. „Wenn dir zu heiß ist, zieh die Jacke aus.“ knirschte Akira. „Nee… Rücken.“ gab Anna halbherzig zurück und lehnte sich an den Baum, der ihr wenigstens ein bisschen Schatten spendete. Doch Akira ließ keine Widerworte zu. Er packte Anna am Kragen und begann, sie auszuziehen. Und Anna musste zugeben, dass es ihr gut tat. Als die Jacke sich von ihrer klebrigen Haut löste, ließ sie das kleine bisschen kühle Luft daran, die dieser Tag aufbringen konnte. „So. Und jetzt erzähl mir, warum du nicht geschlafen hast.“ Akira war merkwürdig hartnäckig. Anna verharrte jedoch in Schweigen. Was sollte sie ihm sagen? Und beim längeren Nachdenken fiel es Anna auf. Sie hatte niemanden mehr, den sie es sonst hätte erzählen können. Adam war fort. Und sie wusste nicht, wann er wieder kommen würde. Also begann das Mädchen zu erzählen. Zuerst zeigte Akira ein Grinsen. Das verflog dann. Dann versetzten ihre Sätze sein Gesicht in einen Schockzustand. Er wurde bleich. Zu guter Letzt zeigte sich pure Abscheu in seinen Augen, die nun gold flackerten. „Er … Er hat was?“ fragte er, völlig fassungslos darüber, dass er ihre Brüste befummelt hatte. Annas Kopf fiel auf ihre Knie. Ihr Gesicht war puterrot. Sie schämte sich noch mehr, die Sache zu erzählen, als dabei gewesen zu sein. Akiras Blick wandelte sich nicht. Das war ungewöhnlich. Als sie erzählt hatte, wie das Date mit Mirai gelaufen war, hatte er schnell sein Lächeln wieder gefunden. Doch jetzt nicht. Sie spürte, wie sein Blick sich in ihren Nacken brannte. Und es tat weh. „Was soll ich nur mit dir machen.“ seufzte er dann schließlich. Anna bewegte sich nicht. „Du kannst dich doch nicht einfach von so 'ner Nachtratte befummeln lassen.“ „Ich weiß...“ gab Anna gequält zu. „Wenn du's weißt, wieso tust du es dann?“ Akira klang ziemlich kaltherzig. Genervt schmiss er den Ball von sich weg. Er wollte spielen. Gegen irgendetwas treten. Anna schwieg wieder. „Was soll ich nur mit dir machen...“ seufzte er erneut. Seine Stimme klang sehr viel näher, als vorher. Das Mädchen spürte, wie sich einer ihre Strähnen aus dem Haar löste und in die Luft gehoben wurde. Akira betrachtete es in den kleinen Sonnenfetzen, die die Blätter des Baumes zu ließen, drehte und wendete es vor seinem Gesicht. Nun wagte Anna sich, ein bisschen aufzuschauen. Als der Junge sah, dass sie sich wieder traute ihr Gesicht zu zeigen, schaute er ihr in ihre Augen. Und wieder konnte Anna nichts, aber rein gar nichts, erkennen. Akira war ein Buch, das ihr verschlossen blieb. Selbst als er sich vor lehnte, wusste Anna nicht, was er sich dabei dachte. Die Rücken seiner Finger streichelten über Annas Wange, sein Atem blies gegen ihre Lippen, so nah war er ihr. Sie schaute in diese goldgelben, funkelnden Augen und wusste, sie würde ihnen erliegen. Es war nicht so wie bei Kai, wo sie darüber nach dachte, ob sie so tun wollte. Sie wusste ganz genau: Würde Akira es wollen, würde Anna nicht nein sagen können. Doch sie wusste nicht wieso. Und sie wusste nicht, wieso er ihr so nahe war. Wollte er sie küssen? Wollte er sie ärgern? Seine Finger glitten die Wange hinab zu ihrem Kinn und zogen es an sein Gesicht. Nur noch ein Zentimeter. Ein Zentimeter fehlte noch, damit die zwei sich küssen würden. Anna wurde schwach. Sie schloss die Augen, wartete darauf, dass es passierte. Dann vernahm sie Akiras Flüstern: „Du bist echt süß, wenn du was erwartest.“ Das Mädchen öffnete die Augen. Akira war aufgestanden, um den Ball wieder einzusammeln und ließ Anna wie den letzten Idioten da sitzen. Sie wurde knallrot. Ihr Herz zog sich schmerzhaft zusammen. Am liebsten wäre sie aufgesprungen und hätte ihn gewürgt, doch er lenkte schnell vom Thema ab, als er zurück kam: „Und? Gehst du mit ihm aufs Date?“ Er klang wieder ganz wie der alte Akira. Als würde es ihn nicht interessieren. „Natürlich.“ gab Anna beleidigt zurück. „Dann solltest du wahrscheinlich noch ein bisschen Schlaf aufholen.“ grinste der Rotschopf. Und das tat Anna. Es war später Abend, als Anna wieder aufwachte. Ihre Mutter schlief bereits. Gebeutelt ging Anna Richtung Bad. Vor Adams Tür machte sie Halt. Die Flure waren dunkel, Adams Tür war geschlossen. Er war nicht nach Hause gekommen, das spürte Anna sofort. Deprimiert stieg sie unter die Dusche. Es dauerte eine Weile, bis sie sich den Schweiß und die Müdigkeit abgewaschen hatte. Als sie sich umzog, überlegte sie kurz, was sie tragen sollte: Ein Kleid, wie bei Ren? Jeans wie bei Mirai? Sie hatte keinerlei Anhaltspunkte, auf was sie sich eigentlich einrichten sollte. Vielleicht einen Pullover? Auch wenn es später Juni war, waren die Nächte zum Teil recht kühl. Ja, ein Pullover wäre vielleicht nicht schlecht. Aber sie wollte auch nicht aussehen, als wäre sie gerade aus dem Bett aufgestanden. Vielleicht einen Rock dazu, damit sie das ganze Outfit etwas aufpeppen konnte? Nachdenklich stand die Blonde vor ihrem Schrank und musterte ihre Kleidung. Sie hatte bisher nur ihre Unterwäsche und Strumpfhosen an, doch nichts wollte ihr so richtig in den Sinn kommen. „Zieh' an, was du willst.“ murmelte Kai im Fenstersims. Anna fuhr herum und starrte den Vampiren an. Dieser guckte schnell weg. „Beeil' dich. Ich will dich nicht den ganzen Abend lang halb nackt sehen.“ knurrte er beschämt und drehte sich um, um die Beine aus dem Fenster baumeln zu lassen. Anna zischte aufgebracht zwischen ihren Zähnen hervor und begann, wahllos Klamotten aus dem Schrank zu ziehen. Und so blieb es bei einem Top und Shorts. Die Strickjacke vom Mittag, die noch über den Schreibtischstuhl hing, krallte sie sich auch noch eben. „Wir treffen uns unten.“ knurrte sie, immer noch beschämt, als sie fertig angezogen war. „Hast du Höhenangst?“ fragte Kai plötzlich und brachte Anna dazu, stehen zu bleiben. „Nein, wieso?“ entgegnete sie leicht nervös. Kai kam durchs Fenster und nahm ihren Arm. „Gut.“ Er zerrte das Mädchen aus dem Fenster aufs Dach und sprang. Annas Atem gefror in ihrer Brust. Sie wollte schreien, als sie fielen, doch sie fielen nicht – sie erhoben sich in die Lüfte. Wie, warum und wieso verstand Anna nicht. Sie baumelte an Kais Arm wie ein schweres Gepäckstück. Auch er merkte das, zog an ihrem Arm und hielt sie, zum Leidwesen von Anna, wie eine Prinzessin in seinen Armen, damit sie nicht fallen würde. Die kalte Nachtluft, die ihr gerade noch Gänsehaut verpasst hatte, wurde nun durch Kais Körper mehr oder weniger blockiert. Er war ungewöhnlich kräftig für so einen schmalen Mann. Langsam fand das Mädchen ihren Mut wieder. „Wohin gehen wir?“ fragte sie leise. Sie war sich allerdings nicht ganz sicher, ob er sie überhaupt hören konnte. „Wir sind gleich da.“ antwortete Kai, dessen Blick auf den Horizont gerichtet war. Sie flogen nicht Richtung Innenstadt. Die Stellen, wie Dächer oder Laternenpfähle, auf denen Kai sich manchmal absetzte, wurden weniger. Die Häuser wurden größer, aber so wurden es auch die Abstände zwischen ihnen. Sie näherten sich der Stadtgrenze und von weitem konnte man schon die ersten Sachen erkennen: Ein Riesenrad, eine Schiffsschaukel und ein riesiges Schild. Ein Vergnügungspark? Sie landeten. Es war sehr frisch hier. Die Lichter waren aus und der Park war verlassen. Nicht nur das, anscheinend wurde er seit Jahren nicht mehr benutzt. Was wollten die beiden hier? „Hier komme ich her, um nach zu denken.“ antwortete Kai, als wäre diesmal er es, der Gedanken lesen könnte. Er nahm die Hand der Königin und begann sie durch den Park zu führen. An einem Karussel machten die beiden Halt. „Willst du fahren?“ fragte der Junge grinsend und deutete zu den merkwürdig entstellt wirkenden Plastikpferden. Anna war noch nie in einem Vergnügungspark gewesen. Machte das Spaß? „Wir können's mal ausprobieren...“ meinte sie unsicher. Mit einem Schwung hob Kai sie hoch und setzte sie auf eins der Pferde. „Warte kurz.“ Er freute sich wie ein kleines Kind und verschwand. Anna saß da. Das Plastik war kalt, selbst durch die Shorts hindurch. Sie schaute in die Richtung, in die Kai verschwunden war, aber nichts als Dunkelheit und Stille lag in dem Park. Er hatte sie doch nicht etwa zurückgelassen? Mit einem Ruck setzte sich ihr Pferd in Bewegung. Lichter begannen aufzuleuchten, Musik fing an zu spielen. Anna japste erschrocken auf, als ihr Pferd auch noch anfing, hoch und runter zu wippen. „Haha, hast du Angst?“ lachte Kai nun. Er stand plötzlich wieder hinter ihr und ein merkwürdiges Gefühl der Sicherheit kehrte zu Anna zurück. Nun musste auch sie grinsen. „Irgendwie schon, aber irgendwie ist es auch cool.“ gab sie belustigt zu. „Schön.“ Kai setzte sich nicht, er hangelte sich an den Stangen entlang, die hier und da aus dem Boden ragten und den Pferden den Halt am Karussell gaben. Er summte ein kleines Lied, während er so durch die Pferdereihen tanzte. Dann stoppte die Fahrt. Der Vampir half der Königin von ihrem edlen Ross hinunter und führte sie weiter. „Hier gibt es ein Spiegelkabinett und da vorne ist ein Geisterhaus. Aber da hier keine Mitarbeiter sind, denke ich mal, dass wir im Spiegelkabinett mehr Spaß haben werden. Hast du Lust?“ Er klang aufgeregt. Er klang fröhlich. Er klang glücklich. Wieso machte ihm das so viel Spaß? „Ja, okay.“ Anna konnte nicht umhin, nicht in die gute Stimmung einzusteigen. Sie folgte Kai eine Treppe hinauf. Auf einem großen, vermodertem Schild stand „Spiegellabyrinth“ und eine große Metalltür gewährte Einlass. „Am besten, du lässt meine Hand nicht los. Sonst verirrst du dich nur.“ grinste Kai nun und streckte seine Hand aus. „Ist das ein billiger Versuch, Händchen zu halten?“ lächelte Anna nun höhnisch, nahm das Angebot aber an. Und es war die richtige Entscheidung. Als die beiden die Gänge entlang liefen, sah Anna sich selbst in allen Formen und Größen. Mal klein und dick, mal groß und dürr, mal total verzerrt. Auch wenn das Licht in diesem Raum nicht schien, kam irgendwo genug her, um ihnen den Blick auf ihre Spiegelbilder zu gestatten. Doch nach einigen weiteren Schritten bemerkte die Königin es: Sie war alleine. Von allen Seiten herum sah sie nur sich selbst. Blaue Augen, die sie anstarrten. Leicht zerzaustes, blondes Haar. Wann war das letzte Mal gewesen, dass sie in den Spiegel geguckt hatte? Sie hatte Sonnenbrand auf dem Nasenrücken. Sogar ein paar Sommersprossen. Ihre Klamotten passten überhaupt nicht zueinander. Das Mädchen versuchte, ihre Haare zu richten. Sie hob die Strähnen im Nacken an, drehte sie ein paar mal in ihren Händen und ließ sie zur Seite hinunter hängen. Dann sah sie es. Es war unscheinbar, klein, nicht zu bemerken, hätte Anna nicht darauf geachtet: Eine kleine, schwarze Ecke machte sich auf ihrer Schulter Platz. Anna drehte ihren Kopf. Ihr Spiegelbild wandte ihr den Rücken zu, blickte sie aber über die Schulter an. War da ein Lächeln? War da ein Lächeln auf ihrem Spiegelbild? Sie lächelte doch nicht etwa, oder? Die Augen des Spiegelbildes wanderten ihren eigenen Rücken hinab. Das Top, das sonst so gut versteckte, was Anna zu verbergen versuchte, entblößte eine feine, schwarze Linie, die vom Rücken aus über ihre Schulter Spuren zog. Annas Herz setzte aus. Dann spürte sie eine zärtliche, liebe Bewegung auf eben dieser Schulter. Das Mädchen zuckte zusammen. Kai stand hinter ihr. Wieso hatte sie ihn nicht bemerkt? „Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen.“ grinste er neckisch. Doch Anna konnte nicht lachen. „Wo warst du?“ „Was redest du? Ich war die ganze Zeit bei dir.“ Kai schien verwundert darüber zu sein, dass sie ihn so anfauchte. „Was? Nein. Du warst nirgendswo zu sehen.“ Man konnte Sorge aus ihrer Stimme hören, doch Kai lächelte verständnisvoll. „Nimm meine Hände.“ sagte er ruhig und ließ Anna keine Wahl. Er legte beide ihrer Hände in seine. „Und nun schau in den Spiegel vor dir. Ich stehe hinter dir. Ich rede mit dir. Ich berühre dich. Was siehst du?“ flüsterte er leise. Anna betrachtete den Spiegel vor ihr. Sie sah sich selbst, blass, trotz des Sonnenbrandes. Ihre Hände griffen ins Nichts. „Nichts...“ „Jep.“ Anna hörte, wie Kai grinste. „Lass uns gehen, das ist nichts für uns.“ „Wieso kann man Vampire nicht im Spiegel sehen? Ich dachte, das wäre nur 'ne blöde Legende.“ fragte Anna verwundert, während sie die verwinkelten Gassen des Spiegelkabinetts zurück liefen. „Lange Geschichte, kurzer Sinn: Wir reflektieren kein Licht.“ erwiderte Kai knapp und blieb an einer Kreuzung stehen. „Licht scheint durch uns hindurch. Und da Spiegel nur eine Art von Lichtreflexion sind, haben wir kein Spiegelbild. Deswegen ist dein Tattoo auch so schön. Anstatt Licht hindurch zu lassen, saugt es jedes kleine Elektron auf und verschlingt es. Kein Licht wird jemals davon reflektiert werden.“ Kai lächelte bei dieser Bemerkung: „Vielleicht mag ich deinen Rücken deshalb so.“ Anna starrte die wilden, violetten Strähnen an, die während des Laufens leicht auf und ab hüpften. Seit wann dachte Kai so? Seit wann fühlte er so über sie? Die beiden hatten nie richtig geredet. Ja, vielleicht war er schüchtern gewesen, aber er war auch ein ziemliches Arschloch, wenn es um Frauen ging. Er hatte nie richtig Interesse gezeigt, irgendetwas ernsthaftes anzufangen, das wusste sie von Mika. Und doch – just in diesem Moment fiel Anna ein, wie sie im Hinterhof geschlafen hatte. Kai war bei ihr gewesen und hatte sich an sie geschmiegt. Vielleicht war er wirklich nur jemand, der erst einmal auftauen musste, um mit jemanden ernst zu machen? Die kühle Nachtluft klatschte Anna ins Gesicht und weckte sie aus ihren Gedanken. „Wohin willst du jetzt?“ Kais Stimme hatte nicht an Aufregung nach gelassen. „Hmm, weiß' nicht. War noch nie in einem Vergnügungspark.“ gestand die Sechszehnjährige und sah sich um. Kai fuhr herum. „Wie bitte?“ fragte er schockiert. Anna lachte kurz. „Ja, ist mein Ernst.“ „Das können wir aber nicht so auf dir sitzen lassen.“ Und damit hat Anna Kai dazu eingeladen, ihr ALLES im Park zu zeigen: Von verlassenen Schießbuden bis hin zu dem verlassenen Geisterhaus war alles dabei. Viele Orte waren allerdings unbrauchbar ohne Preise oder Personal. Doch das erschütterte nicht Kais Gemüt – er führte sie zum letzten Ort. Sie liefen auf das Riesenrad zu. Die Sterne hingen klar wir LED Leuchten am Himmel, der Mond war zu einer dünnen Sichel geschrumpft. Und plötzlich verließen Annas Füße den Boden – der Himmel rückte näher und mit ihm die Sterne und der Mond. Ein erneuter Sprung brachte sie noch höher hinaus. Kai hatte sich das Mädchen gepackt und sprang mit ihr die Kabinen des Riesenrads hinauf, ehe sie auf der obersten angekommen waren. Das verrostete Metall knarzte gefährlich unter ihrem Gewicht und die Kabinen fingen an zu schaukeln. Vorsichtig setzte er Anna auf dem Dach ab. Diese bewegte sich so lange nicht, bis jedes knarrende Geräusch verstummt war. Ein Blick auf den Boden verriet ihr, dass sie mindestens 100 Meter in der Höhe waren. Auch wenn die Königin keine Höhenangst hatte – nun wurden ihre Knie weich. Kai hielt sie vorsichtshalber fest. „Ich glaub', es ist besser, wenn wir uns setzen.“ Er konnte sich ein leichtes Lachen nicht verkneifen. Er ließ sich auf das Metalldach fallen, welches ein weiteres gefährliches Schwanken auslöste und zog Anna in seinen Schoß, wodurch die Kabine noch mehr ins Schaukeln geriet. Anna kniff die Augen zusammen und quietschte kurz vor Schreck auf. Sie drückte sich vor lauter Angst in seine Brust, was ihr, beim längeren Überlegungen, doch peinlich wurde. Doch Kai war es nicht peinlich. Er streichelte beruhigend über ihren Rücken und starrte in den Sternenhimmel. Dann begann er zu erzählen: „Ich mag diesen Ort. Ich hab' schnell gemerkt, dass alles hier wie mein eigenes Leben ist. Alles, ohne Ausnahme, dreht sich im Kreis. Das Karussell, die Achterbahn, das Riesenrad. Selbst das Spiegellabyrinth hat einen Weg, der zurück ins Innere führt.“ Seine Stimme hielt er leise, dennoch war sie so klar wie die Nacht, die sie gerade gemeinsam beobachteten. „Bei mir ist es genau so. Seit ich denken kann, reise ich. Dann trinke ich Blut, verführe Frauen, töte Menschen, hole mir Leute, die mir dienen… Dann flüchte ich wieder. Es ist immer das selbe. Und wenn man sich denkt 'Ich würde gerne sterben' steht man plötzlich kurz davor. Und was denkst du, macht jemand, wenn er kurz vor'm Ableben ist?“ Sein Kopf richtete sich zu seiner Brust, in der Anna ihr Gesicht vergraben hatte. Als sie das merkte, hob sie ihren Blick an. Sie hatte sich noch nie gewünscht, zu sterben und sie war auch nie kurz davor gewesen. „Weiß nicht?“ fragte sie unsicher. Was für eine Antwort erwartete er? „Man wünscht sich, mehr gehabt zu haben. Mehr Emotion, mehr Spaß, mehr Leben an sich.“ antwortete Kai. Sein Blick war wieder auf die Sterne gerichtet. Er sah nicht glücklich aus. Seine Gedanken schwappten wieder über und es waren die selben, wie das letzte Mal: Dunkelheit. Schwarze Luft gefüllt mit Blut. Kein Licht schien in diesen Kopf. Anna blendete die Gedanken aus. „Gibt es nichts, was dich glücklich macht?“ fragte sie unbedacht, als sie die Bilder Revue passieren ließ. „Ein Kuss.“ lächelte Kai zufrieden. „Ein Kuss?“ fragte Anna grinsend nach. „Das würde dir doch eh nicht reichen, oder?“ „Stimmt.“ Und Anna wünschte sich, bei allem, was sie je liebte oder einst lieben würde, bei Gott, bei allem, was ihr heilig war, dass sie das nie gesagt hätte. Kai, dieser lebensmüde Vampir, hatte seine Arme um sie geschlungen, lehnte sich zurück in die Tiefe und ließ sich fallen. Alles, was Anna Sicherheit gab, löste sich von ihr. Die Tiefe kam so schnell, dass die Königin nicht mal lang und laut genug schreien konnte, um ihrem Terror Ausdruck verleihen zu können. Der Asphalt kam näher. Nicht nur der Asphalt – auch die Absperrung aus Metallgittern um das Riesenrad herum kam ihnen plötzlich so nahe, dass Anna schon den Gedanken hatte, darauf aufgespießt zu werden. Doch das wurde sie nicht. Zentimeter über dem Boden kamen beide zum Stillstand. Anna zitterte am ganzen Leib. Ihr wurde schlecht und sogar schwarz vor Augen. „Bist du… komplett verrückt?“ fragte sie Kai, völlig außer Atem, und schlug ihn mit ihrer vor Angst bebenden Faust auf die Brust. Doch Kai lachte bereits. „Meinst du wirklich, ich würde dich fallen lassen?“ fragte er sie und kringelte sich vor Lachen. Anna verstummte. „Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht, was du von mir hältst. Zumindest bin ich keine Königin für dich.“ Anna fasste sich ein Herz und kletterte von Kai runter, um wieder festen Boden unter ihren Füßen spüren zu können. Ihre Beine fühlten sich wie Wackelpudding an. „Stimmt, du bist keine Königin für mich.“ wiederholte sich Kai. Seine Worte waren wie Messerstiche direkt in ihr Herz. Er hatte seine Ansicht nie geändert. Kai lächelte sie an. „Du bist wie eine Blume. Ich kann dich nur angucken. Pflücke ich dich, stirbst du.“ Und das sagte er nicht. Es waren die ersten klaren, von Licht gefüllten Gedanken, die er ihr jemals zeigte, auch wenn er das wahrscheinlich nicht wollte. War es das? War es das, was ihn glücklich machte? War sie das Licht in seinen Gedanken? Diesmal konnte sie wahrhaft nicht das Herz aufbringen, wütend zu sein. Wie konnte sie ihm das einzige, was ihm Freude bereitete, nehmen, indem sie ihn anschrie? Annas Blick wanderte zu Boden. „Alles okay? Bin ich zu weit gegangen?“ Kai klang nun etwas besorgt. Er wollte keinen schlechten Eindruck bei ihr hinterlassen. „Ja, bist du.“ antwortete Anna ruhig. Sie sah völlige Gesichtsentgleisung bei Kai als Reaktion. „Man befummelt Mädchen nicht und kneift ihnen auch nicht einfach so in ihre Nippel.“ fügte sie hinzu und griff sich seine Hand. Er errötete unweigerlich. „Ich schwöre dir bei Gott, ich hätte dich am liebsten sofort an Ort und Stelle genommen.“ brachte Kai erregt hervor und drückte ihre Hand, während die beiden zum Ausgang liefen. „Untersteh' dich.“ lachte Anna beschämt und boxte ihn erneut in die Seite. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)