No Princess von Yinjian ================================================================================ Kapitel 19: Sommerferien ------------------------ Der restliche Monat war gefüllt mit Stress und Prüfungen. Bis Ende Juni würden diese gehen und Anna ließ sich von nichts abhalten, um für sie zu lernen. Fehler wurden nicht geduldet. Dates wurden nicht geduldet. Das schlug vor allem denen auf den Magen, die noch keine private Treffen mit Anna hatten. Toki und Kai waren extrem genervt von der Situation, vor allem Toki war ungewöhnlich frustriert darüber. Doch Anna ließ sich von nichts davon abbringen, ihre Zeit fürs Lernen zu unterbrechen. Auf die Frage hin, ob sie wenigstens in den Sommerferien zusammen Urlaub machen würde, verneinte auch das Anna. Neben der Tatsache, dass Mirai und Liam im Affenreich und Ren auf Geschäftsreise seien würden, wären Anna und Adam auch nicht Zuhause (woraufhin Toki grummelte: „Adam interessiert mich nicht.“). Und so brach der erste Ferientag an. Anna hatte ihre Prüfungen gemeistert und war auf gutem Wege, in die nächste Jahrgangsstufe zu kommen. Sie würde dann in der zweiten Klasse der High School sein. Am frühen Morgen hatten die Geschwister ihre Taschen schon Abreise bereit und die kleine Schwester brachte ihren Koffer zum Gartentor, an welchem ein bekannter, roter Haarschopf zu sehen war. „Was machst du denn hier?“ fragte Anna überrascht, als Akira sie angrinste. „Ich dachte, wir könnten zusammen Fußballspielen gehen. Natürlich mit deinem Bruder.“ fügte er winkend hinzu, als Adam Anna aus der Haustür folgte. Der Junge lehnte auf dem eisernen Tor und ließ von einer Hand zur anderen einen Fußball über das Metall rollen. „Wir werden gleich abgeholt...“ seufzte Anna leicht gequält als sie daran dachte, wie ihre „Ferien“ aussehen würden. Akira verzog das Gesicht zu einer frustrierten Miene. „Ernsthaft? Es ist gerade mal acht Uhr, ich dachte, ich könnte wenigstens noch heute morgen etwas Zeit mit euch verbringen.“ schnauzte er genervt. „Ja, ich wunder' mich sowieso, wie du's geschafft hast, so früh aufzustehen.“ lachte Anna. Ein Wagen fuhr vor, der Blick der drei Jugendlichen schwenkte vom Gespräch zu dem schwarzen Van. Akira zog die Augenbrauen hoch, seufzte dann kurz und wandte sich wieder an Anna. Er hatte das liebste Lächeln auf den Lippen, das Anna bisher gesehen hatte. „Na dann viel Spaß.“ Er verabschiedete sich. Annas Körper versteifte sich merkwürdig. Ihr Griff umklammerte den Henkel ihres Koffers. Sie dachte nach. War es das? Einfach 'Viel Spaß' ? Jetzt, wo sie darüber nach dachte, hatte Akira sich sowieso nicht viel Mühe hinsichtlich ihrer Person oder Beziehung gemacht. Würde er sie einfach gehen lassen? Würde er sie nicht vermissen? Mochte er sie überhaupt? Als wüsste Akira genau, was in Annas Kopf vorging, streichelte er ihr sanft über diesen und grinste sie an. „Guck' nicht so.“ Anna wusste nicht, was sie darauf sagen sollte. „Vielleicht schreib' ich dir ja.“ fügte er neckisch hinzu, ehe er das Tor öffnete und Anna und Adam ihrer Wege gehen ließ. Es war heiß. Die Luft war stickig und angespannt. Die Fahrt dauerte Stunden. Als sie endlich am Ziel angekommen waren, war es bereits Nachmittag. Hier, beim Haus ihrer Tante und Onkels, schien die Juni Sonne kaum durch die dichten Baumkronen hindurch kriechen zu können. Das Haus an sich war alt und wenn es auch gut gepflegt aussah, schien es, als wäre es verflucht. Als der Fahrer den Geschwistern ihre Koffer gab, standen bereits zwei langgezogene, schmale Personen vor ihnen. „Hallo Adam.“ Die kühle Stimme der Frau schien wie ein kalter Windzug zu sein. Plötzlich zeigte sich ein Lächeln auf den Lippen dieser Person: „Und hallo Anna, meine Liebe.“ „Hallo Tante.“ entgegnete die zukünftige Königin etwas steif. Ein junger Mann trat heran, um Anna den Koffer abzunehmen. Auch ihr Onkel begrüßte die beiden nun und führte sie ins Haus. Es gibt nicht viel über den Aufenthalt der beiden Geschwister bei ihren Verwandten zu erzählen. Anna und Adam verbrachten ihre Tage meist getrennt: Während Anna tagsüber über die Profession einer Königin lernte, verbrachte sie ihre Nächte in einem stockdunklen Zimmer. Sie musste eine Kerze in den Raum bringen, um nichts umzuwerfen und musste dann auch das letzte bisschen Licht in dem Raum löschen. Sie lernte über die vergangenen Königinnen: Zero, Kalista und Charlotte. Zero war die erste Königin, von der man wusste. Niemand kannte ihren richtigen Namen und ohne die aus ihr entstanden Schattenmenschen hätte wohl keiner jemals von ihr erfahren. Ihr Aussehen, Alter und Tod waren unbekannt. Es war nicht einmal klar, was sie in der Welt bewegt hatte oder ob sie jemals verliebt gewesen war. Sie gebar wohl ein Kind, doch ihre Blutlinie ist nach wenigen Generationen ausgestorben. Die Alten der Schattenmenschen, die aus ihrer verbliebenen Macht geboren wurden, berichten aber, dass sie die Schönste aller Lebewesen gewesen war. Ihre Macht war bis zu ihrem Tod ungebrochen und deshalb wären sie, die ältesten der Schattenmenschen, auch die stärksten und bis zum heutigen Tage unsterblich. Die nächste Königin hieß Kalista. Auch sie war von unbändiger Schönheit gepriesen. Von Geburt an hatte sie die Macht, Menschen zu verzaubern und nach ihrer Pfeife tanzen zu lassen. Nie war es jemandem in den Sinn gekommen, sie als Menschen zu betrachten: Sie war eine Nymphe, die sogar als Göttin angepriesen wurde. Es gab wohl nur einen, der es jemals geschafft hatte, ihr Herz zu berühren: Artemis. Zeus, der Göttervater, wie hypnotisiert von der Nymphe, verwandelte sich in diesen und verführte Kalista. Daraufhin gebar sie sein Kind, Arcas. Hera, die Geliebte des Göttervaters, wurde so wütend und eifersüchtig, dass sie Kalista in einen Bären verwandelte, hässlich, gefährlich und ungeliebt. Lycaon, der König der Region, in der Arcas versteckt worden war, wollte den Sohn der beiden dann als Opfer auf einen brennendem Altar sterben lassen. Zeus rettete das Leben Arcas und verwandelte Lycaon in den ersten Werwolfen. Anna konnte daraus nur schließen, dass Kalista zwar schön, aber nicht unbedingt stark gewesen war. Oder war es so, dass Götter immer stärker sein würden, als die Königin der Dunkelheit? Bei dem Gedanken wurde Anna ein bisschen unwohl. Die letzte Königin, Charlotte, war wohl pures Chaos. Schön und mächtig, ja, aber unzähmbar. Das gefiel Anna. Sie war die erste Königin, für die eine Bräutigam-Show gestaltet wurde. Sie hätte jeden einzelnen von ihnen verführen können, ob es nun Götter, Prinzen oder Dämonen gewesen waren. Allerdings gab es keinen einzigen, den sie hätte lieben können. Zu ihrem 18. Geburtstag, als sie sich immer noch weigerte, jemanden als Mann anzuerkennen (oder auf Frauen auszuweichen), geschah dann das Unvorstellbare: Das Tattoo, als Zeichen der Macht, die im Körper innewohnt, wandte sich gegen den Besitzer: Es verschlang ihren ganzen Körper. Anna hatte Charlotte im Hauptgebäude gesehen. Man konnte kaum noch einen Flecken ihrer Haut erkennen, so schwarz war ihr Körper geworden. Sie strahlte immer noch eine unheimliche Lebendigkeit aus. Ihre Augen waren milchig weiß gewesen, ihr Haar im Kristall und Glas ausgebreitet wie ein riesiges Spinnennetz, in dem jeder, der zu lange hingucken würde, gefangen werden würde. Adam hatte seiner Schwester schon öfter erzählt, dass das nur ein Mythos sei, um die jungen Schatten einzuschüchtern, und dass Charlotte längst fort sei. „Nur noch ihr Körper ist da.“ versicherte er ihr. Aber Anna war sich nicht so sicher. Manchmal, wenn sie alleine durch die Gänge streifte, um dem Lesen zu entgehen, hörte sie Geflüster. In seltenen Fällen fand sich das Mädchen vor Charlotte wieder, wo deren milchig weißen Augen auf sie fixiert waren. Wie Königinnen nun eigentlich entstanden, wusste allerdings niemand. Ob es nun eine gewisse Sternenkonstellation sei, wie bei Anna oder die Sünden der Menschheit das Miasma in der Luft einem Körper gaben; es waren nur Gerüchte. Es gab keine Beweise. Die Tage verstrichen. Sie wurden zu Wochen des Geschichten Lesens und Manieren Lernens. Die Nächte waren kurz und undankbar: Jedes Jahr musste Anna in diesem Raum verbringen, in dem es kein Licht gab. Sie hatte sich irgendwann damit abgefunden, als ihr mehrmals erklärt wurde, dass der Raum einen minimalen Teil ihrer Energie aufnehmen würde. Man wollte dem Fiasko mit Charlotte, wegen der keine Nachkommen entstanden waren, aus dem Weg gehen, und begann bereits jetzt, Miasma und Energie der Königin zu sammeln. Doch dieses Jahr war anders. Einige Flecken im Raum schienen schwarzer zu sein, als andere, selbst wenn man in diesen auch nichts von der Umgebung erkennen konnte. Nachts, wenn Anna dann die Augen schloss um zu schlafen, begannen die Stimmen. Es waren keine Sätze, es waren höchstens Wörter, meist aber nur Wortfetzen. „Hunger“, „kalt“ und „Wo?“ waren die Sachen, die sie in den ganzen Nächten erfahren konnte. Wie sollte man so etwas deuten? Konnte Anna sie hören, weil ihre Kräfte gewachsen waren und sie nun Gedanken lesen konnte, ohne jemandem in die Augen blicken zu müssen? Sie wollte Adam davon erzählen, doch sobald sie den Mut gefunden hatte, ihn darauf anzusprechen, sah sie ihn nicht mehr. Ihr Bruder ging ihr aus dem Weg, so schien ihr, auch wenn er sehr beschäftigt mit seinem Training war. Tante und Onkel vertraute sie nicht genug, um ihnen zu erzählen, was nachts in diesem Raum vor sich ging. Und so blieb Anna mit ihren Sorgen alleine. Es war nur in dieser einen Nacht, das alles sich änderte. „Geh. Geh. Geh. Geh. Geh. Geh. Geh. Geh. Geh. Geh. Geh. Geh. Geh. Geh.“ Das Flüstern, das sie abends in den Schlaf jammerte, hallte nun gefährlich in ihren Ohren wieder und rüttelte Anna wach. Nackter Schweiß bildete sich in ihrem Rücken. Das Atmen wurde schwer. Die Stimmen wurden lauter. Sie blickte sich um: Nichts als Schwarz. Keine Augen, keine Münder, keine Gestalten, die die Stimmen erklären könnten. Doch das Mantra fuhr fort: „Geh. Geh. Geh.“ Waren die Stimmen in ihrem Kopf? Oder sprachen sie wirklich mit Anna? Bildete sie sich das alles nur ein? Es wurde lauter. „GEH. GEH. GEH.“ Klirren. Etwas rutschte über den Boden. Ihr Handy, das neben ihr lag, fing an zu vibrieren und das fahle, neongrüne Licht entblößte die Umgebung. Augen in schwarzem, flüssigem Schatten. Manchmal hoben sich runde Gestalten ab, die den Augen Besitzer verliehen, zerfielen dann aber wieder in schwarzen Dunst. Anna stockte der Atem. Ihr Herz hämmerte gegen ihre Brust, befahl ihr mit all ihrer Kraft aufzustehen und weg zu rennen, doch sie blieb sitzen und starrte auf die schwarze Masse an Energie, der sie wohl Leben verliehen hatte. „Zeit. Zeit. Zeit. Zeit.“ Die Stimmen veränderten ihre Worte. Sie hallten in Annas Ohren wieder, als würden sie ihr Befehle erteilen. Unweigerlich blickte das Mädchen auf die Uhr ihres Handys. 06:13 Uhr. „Geh. Geh. Zeit. Zeit.“ Nun konnte man hören, wie mehrere Sachen über den Boden schleiften: Tasche, Handy, Portemonaie, Kleidung, alles, was Anna mitgebracht hatte, wurde an einen Ort geführt. Nur Anna bewegte sich nicht. Das Licht des Handys starb. Das Mädchen spürte, wie die Masse sich erhob und wuchs. Sie erreichte die Decke, wollte Anna verschlingen. Die Stimmen, ein einstiges Flüstern, wurden zu einem tiefem, einstimmigen Brummen. Es war so tief, so bedrohlich, als würde man sich Silver zum Feind machen. „GEH. GEH. GEH. GEH. GEH. GEH. GEH. GEH. GEH. GEH. GEH. GEH. GEH. GEH. GEH. GEH.“ Das Geschrei hämmerte in ihren Ohren. Mit einem erstickten Japsen sprang Anna auf, griff sich die umliegenden Klamotten und ihre Wertgegenstände und rannte zur Tür. Doch die Schatten hielten sie fest. Totenblass drehte sich das Mädchen um. Gänsehaut breitete sich auf ihrem Körper aus. Eine letzte Sache rutschte über den Boden. Es hatte keinen Glanz in dieser Dunkelheit, Anna konnte nicht ausmachen, was es war. Sie beugte sich hinunter, um es aufzuheben und spürte wie kaltes, dickes, schleimiges und schwarzes Nichts es ihr in die Hand drückte. „Geh. Geh. Geh. Geh. Keine Zeit.“ Das Schwarz drückte sie in den Türrahmen und dann, als wäre die klamme Lähmung verschwunden, rannte sie. Sie rannte wie schon lange nicht mehr. Schattenmenschen, die sie eigentlich hätten begrüßen sollen, stellten sich ihr in den Weg. Manche wollten kämpfen. Manche riefen andere als Verstärkung. Doch Anna hielt nichts auf: Sie rannte. Alles was in ihrem Weg stand wurde entweder umgangen oder umgestoßen. Dazu zählten auch Personen. Sie wusste nicht, wieso, aber etwas an dieser Warnung hinterließ einen bleibenden, scharfen Geschmack in ihrem Mund. Sie musste verschwinden. Sie wusste nicht, wieso. Wo war Adams Zimmer? Wenn sie in Gefahr war, war er es wahrscheinlich auch. Sie konnte nicht ohne ihn gehen. Doch je tiefer das Mädchen ins Haus rannte, desto mehr Gegner stellten sich in ihren Weg. Ein Mann packte sie an ihren Haaren, riss und zerrte daran. Anna begann zu schreien. Es waren nicht einmal Worte, es war nur ein schriller, unglaublich lauter Schrei, der den Mann anscheinend so schockiert hatte, dass er sie los ließ. Anna hatte noch nie so geschrien; Sie musste es noch nie. Ihr Rücken brannte und das Mädchen hatte das Gefühl, dass er jeden Moment aufplatzen würde. Sie konnte hier nicht bleiben. Sie musste Adam zurück lassen. Ihre Kehle brannte. Anna wusste nicht, woher sie die Kraft hatte oder wo sie war. Es dämmerte. Sie war ohne Halt gerannt. Die Wälder und Hügel, wo das Haus stand, hatte sie verlassen. Sie war irgendwo in irgendeiner Stadt. Kalter Schweiß rann den heißen Körper hinab. Nur in T-Shirt und Leggins gekleidet kämpfte sie sich die letzten Meter zu einer Taxi-Haltestelle. Sie musste nach Hause. Die Fahrt dauerte Stunden und kostete ein kleines Vermögen. Auf dem Weg rief das Mädchen ihre Mutter an, auch wenn es mitten in der Nacht gewesen war. Dann rief sie ihre Freunde an, um die zu fragen, ob sie Adam erreichen könnten, denn Anna traute sich nicht, dort anzurufen. Doch was erwartete sie, als sie ihre Kontaktliste durch ging? Sie rief Yuki an. „Der von Ihnen angerufene Teilnehmer ist momentan nicht zu erreichen.“ Sie rief Mika an. „Der von Ihnen angerufene Teilnehmer ist momentan nicht zu erreichen.“ Sie rief Kiki an. „Der von Ihnen angerufene Teilnehmer ist momentan nicht zu erreichen.“ Das Herz, das sich erst gerade beruhigt hatte, hämmerte nun wie ein Vorschlaghammer gegen ihre Rippen. Anna drehte sich der Magen um. Sie wollte brechen. Ob vor Erschöpfung oder vor Angst, war ihr egal. Sie wollte es raus lassen. Ihre Hand hielt sich ihr den Mund zu, zwang sie, ihren Mageninhalt bei sich zu behalten. Was war mit den anderen? Sie wählte Liams Nummer. Während die Wahltöne in ihrem Ohr wieder hallten, betete sie zu Gott, er möge ran gehen. „Der von Ihnen angerufene Teilnehmer ist momentan nicht zu erreichen.“ Das konnte nicht stimmen. Sie wählte Tokis Nummer. „Der von Ihnen angerufene Teilnehmer ist zur Zeit nicht zu erreichen.“ Mirai. „Der von Ihnen angerufene Teilnehmer ist momentan nicht zu erreichen.“ Ren? „Der von Ihnen angerufene Teilnehmer ist momentan nicht zu erreichen.“ Die Worte, die die mechanische Ansage von sich gab, waren wie Messerstiche. Bei jedem weiteren Wort hätte Anna laut los schreien können. Tränen sammelten sich in ihren Augen. Sie biss sich auf die Unterlippe. Wieso? War das nur ein Traum? Sie konnte sich nicht zurück halten. Die Tränen purzelten über die verdreckten und verschwitzten Wangen. Anna wischte sich mit dem Arm den Rotz von der Nase weg und hustete. Ihr Hals war zu trocken vom ganzen Rennen, um richtig atmen zu können. Ihre Stirn war heiß. Ihr Rücken schmerzte immer noch und pochte unter dem leichten Shirt bedrohlich. Sie fuhr sich mit den Händen durchs Gesicht und über die Stirn, um den Schweiß in ihren Pony zu reiben. Das konnte nicht wahr sein. Du musst dich beruhigen. Sie wählte Kais Nummer. Sie hatte ihn noch nie angerufen, doch Ren, der darauf beharrte, dass alle gleich berechtigt wurden, hatte ihr die Nummer aller Heiratswilligen eingespeichert. Es klingelte. Und es klingelte weiter. Und weiter. Kai ging nicht ans Handy. Anna zog die Nase hoch. Ohnmacht befiel sie, doch sie bekämpfte diese so gut es ging. Es konnte nicht sein. Es konnte einfach nicht sein, dass keiner von ihnen erreichbar war. Die letzte Nummer. Annas Herz füllte sich mit der letzten Hoffnung, die sie noch hatte, und gleichzeitig mit Panik. Was, wenn er nicht ran gehen würde? Was, wenn die mechanische Ansage ihr wieder das Leben zur Hölle machen wollte? Sie wählte Akiras Nummer. Das Tuten ließ Anna in ungeduldiger Atemlosigkeit warten. Es klingelte weiter. Und weiter. Dann fühlte Anna erneut, wie Tränen ihre Wangen befeuchteten. Ihre Stimme wurde selbstständig. Akira klang müde und verschlafen, als wäre er durch das Klingeln aufgewacht. Doch sein „Hallo“ war genau so liebevoll und freundlich, wie sie es in Erinnerung gehabt hatte. Das erste, was Anna sah, als das Taxi vor ihrer Haustür vor fuhr, waren die Lichter in Küche und Wohnzimmer. Dann erst sah sie die Gestalt am Tor. Akira stand in Shorts und Shirt da, als hätte er sich gar nicht erst umgezogen – er trug sogar noch Hausschuhe. Das Mädchen bezahlte den Taxifahrer, in dem sie ihm zitternd ihre EC-Karte hin hielt und wieder in Empfang nahm. Dann stieg sie aus. Erst jetzt bemerkte sie, dass sie keinen BH trug. Ihre Haare waren fettig und zerrupft vom Rennen. Ihre Füße waren schmutzig und geschunden. Wahrscheinlich hatte sie auch ein paar Zecken an ihren Beinen. Doch nichts konnte sie in diesem Moment halten: Sie ging auf Akira zu und drückte sich an ihn, während der Taxifahrer wieder weg fuhr. Sie zitterte am ganzen Leib. Akiras Hand legte sich auf ihren Kopf. Behutsam fuhr die Hand über ihre Haare, zu ihrem Rücken. Dieser zuckte unter der Berührung kurz auf. Doch Anna weinte nicht. Sie konnte nicht mehr. Ihre Beine würden jeden Moment unter ihr nach geben, würde sie auch nur eine weitere Träne verlieren. Wortlos legte der junge Mann seinen Arm um das Mädchen und brachte sie zur Haustür. Er klingelte. Ihre Hände ließen ihn nicht los. Er wusste nicht, was los war. Anna konnte keine klaren Sätze am Telefon formulieren, geschweige denn erklären, was überhaupt passiert war. Ihr Schluchzen war so kratzig und heiser gewesen, dass er sie wahrscheinlich eh nicht verstanden hätte. Eine sehr verstörte, dürre Frau öffnete den beiden die Tür. Sie fiel Anna um den Hals, ohne nur zu bemerken, dass Akira noch an ihr hing. Es war kein Moment für Worte, auch wenn Annas Mutter damit überschwappte. Ihre Stimme bebte vor Sorge und Angst um ihre Tochter. Sie führte Anna – und letztendlich auch Akira – ins Wohnzimmer und begann, das Mädchen mit einer Decke warm zu rubbeln. „Du bist ja eiskalt, Kind!“ flüsterte sie besorgt und rubbelte noch fester. Akira sah, wie Anna auf ihre verdreckten und aufgekratzten Knie starrte. Sie fing an zu weinen. Er ahnte es. Er hatte sich auf das Sofa gegenüber von den zwei Frauen gesetzt und beobachtete mit ruhiger Miene die Situation. Ihre Hände krallten sich in die zerrissene Leggins. Ihre Lippen formten Wörter, doch ihre Stimme kam nicht aus dem Mund hervor. Die Worte der Schatten übernahmen ihre Gedanken. Sie konnte nicht klar denken, ihre Sätze überschlugen sich in ihrem Kopf und wurden letztendlich alle nicht ausgesprochen. Akira hatte sein Gesicht auf seiner Hand abgestützt. Sie spürte seinen musternden Blick, wie er sie anstarrte, beobachtete, beurteilte. Sie fühlte sich nicht sicher. Die Decke, die ihr Wärme schenken sollte, raubte ihr nun die Luft zum Atmen. Ihr Herz schlug schneller und schneller und schien jeden Moment aus ihrer Brust zu springen. Beruhig' dich. Beruhig' dich. Doch all diese Versuche, sich bei zu bringen, wie man normal atmet, scheiterten. Eine plötzliche Bewegung ließ Anna zusammen zucken. Akira war aufgestanden und lief um den Teetisch herum, um sich neben Anna zu stellen. „Frau Kurosawa, vielleicht würde etwas Tee helfen, um sie zu beruhigen.“ sagte er in seiner merkwürdig ruhigen Stimme. Die Mutter nickte überrascht, stand auf und verschwand. Den Platz, den sie zurück gelassen hatte, wurde nun durch Akira gefüllt. Er berührte Anna nicht. Er redete ihr nicht gut zu. Er versuchte nicht einmal zu fragen, was los war. Wieso nicht? Wieso würde er nicht fragen, was sie so aufgebracht hatte? Was sie in solch eine Panik versetzte? Erst jetzt erkannte Anna, dass sie ihn anstarrte. Sie starrte ihm direkt in die Augen, die goldgelb unter dem blutroten Haar glänzten. Und er erwiderte ihren Blick. Dennoch… wieso waren seine Gedanken vor ihr verschlossen? „Es funktioniert nicht, wenn ich nervös bin.“ blitzte plötzlich durch ihren Kopf. Sie erinnerte sich. Als sie Mirai küssen musste, als er sie geküsst hatte – sie war nervös gewesen. Sie konnte die Gedanken von Mirai nicht erkennen. Wenn Anna sich nun beruhigen würde, könnte sie sehen, was in Akiras Kopf gerade vor sich ging? Große, warme Arme legten sich um ihren kalten Körper. Akiras Herzschlag puckerte gegen Annas Wange, als er sie an sich drückte. Und plötzlich schwiegen die Stimmen und Sorgen in ihrem Kopf. Plötzlich konnte Anna ihre Hände lockern und schmerzhafte, rote Stellen in ihrem Fleisch, die ihre Fingernägel hinterlassen hatten, machten sich bemerkbar. Ihr Herz hörte auf, ausbrechen zu wollen. Stille füllte das Mädchen aus. „Shh...“ Akira streichelte über ihre Haare. Er klang so ruhig, so gelassen, als würde er ihr eine Gute Nacht Geschichte erzählen. Er flüsterte ihr liebe, beruhigende Worte zu. Seine Hände schienen ihren Körper zu wärmen: Am Rücken, an den Armen, am Kopf, an den Händen, den Oberschenkeln. Jede Stelle, die er berührte, glühte in lieblicher Hitze auf und hörte auf zu zittern. Das Mädchen zog die Beine an ihren Körper, versenkte ihre Hände in Akiras Shirt und drehte ihren Körper zu dem seinen. Wie ein Igel kugelte sie sich in Akiras Umarmung. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)