No Princess von Yinjian ================================================================================ Kapitel 13: Das Feiern der Katastrophe -------------------------------------- Das erste, was Anna an diesem Morgen auffiel, waren die berstenden Kopfschmerzen, die ihren Schädel sprengen wollten. Sie drehte sich murrend um und Shiros Fell kitzelte ihre Nase. Seit einigen Tagen war er wieder in Hundeform und machte keine Anstalten, Anna noch mal sein menschliches Gesicht zu zeigen. Er hob kurz den Kopf, als er merkte, dass Anna wach war, und leckte ihr treu mit der nassen Zunge über die Wange. Dann legte er sein Kinn wieder auf seine Pfoten und schaute die Blondine besorgt aus seinen blauen Augen heraus an. Anna fuhr sich mit der Hand über das Gesicht, um sich Shiros Sabber abzuwischen und spürte, dass sie warm war. Sie starrte ihn eine Weile lang an. Eigentlich hatte sie keine Lust, heute irgendetwas zu feiern, auch wenn sie jetzt 16 Jahre alt war. In Gedanken versunken schloss sie noch mal die Augen, dann öffnete sich die Tür. „Happy Birthday to you...“ Adams und Frau Kurosawas Stimmen begannen das Geburtstagslied anzustimmen, doch verstummten schnell, als sie sahen, dass das Mädchen noch im Bett lag. „Ich weck' sie, Mum.“ sagte Adam leise und ihre Mutter verließ das Zimmer wieder. Anna hörte, wie seine Schritte dem Bett immer näher kamen. Dann hockte er sich wohl hin, sie wusste es nicht genau, weil sie mit dem Rücken zur Tür lag. Seine Hand zog langsam die Bettdecke weg, fuhr unter ihr Schlafshirt und hob es an. Seine Finger waren kalt, als sie die Konturen ihres Rückens entlang fuhren. „Macht's dir Spaß, deine Schwester beim Schlafen zu befummeln?“ brummte Anna schließlich und zog sich die Decke wieder über die Schulter. Ihr war kalt. „Du bist also doch wach.“ entgegnete Adam nur stumpf und setzte sich neben Anna aufs Bett. „Ist es gewachsen?“ fragte Anna dann leise nach. „Natürlich. Wie jedes Jahr.“ antwortete ihr ihr Bruder. Anna seufzte, sagte aber nichts weiter dazu. Jedes Jahr würde ihr Tattoo größer werden, als würde es sie langsam verschlingen. „Mir geht’s nicht gut. Wie sieht's draußen aus?“ Anna rappelte sich langsam auf und wischte sich den Schlaf aus den Augen. „Grau. Nichts großartiges passiert bisher.“ Anna nickte beruhigt. „Komm, Mama hat Frühstück gemacht. Du kriegst auch Geschenke.“ grinste Adam jetzt und wuschelte seiner Schwester durchs Haar. „Komme gleich.“ entgegnete Anna, schlug Adams Hand genervt weg und richtete sich ihr Haar wieder. Ihre Mutter hatte den Tisch bereits gedeckt. Ein großer Blumenstrauß zierte ihn und bildete den Mittelpunkt unter dem ganzen Essen. Alles war da. Es war toll. Nach dem Frühstück ging es ans Geschenke Auspacken. Tante und Onkel hatten ihr – wie jedes Jahr – Bücher geschenkt. Diesmal war noch etwas anderes dabei: Eine Art Mineral, das Anna an Quarz erinnerte. Es war hellblau und stumpf. Nur selten glänzte es mal. Ihre Mutter hatte ihr ein Kleid geschenkt. Es war in Rot und Schwarz gehalten, warf lange Rüschen, kam mit passender Tasche und war, wie immer, nicht ganz nach Annas Geschmack. Doch alles, was ihre Mutter ihr schenkte, liebte sie dennoch. Von ihrem Vater hatte sie Geld bekommen und das nicht zu knapp, aber das interessierte Anna nicht. Für sie war er nur der Mann, der die Rechnungen bezahlte. Adam hatte ihr ein kleines Schmuckkästchen gereicht, was Anna verwunderte. Normalerweise bekam sie von Adam die nützlichen Sachen, zum Beispiel das Handy, was sie zu Weihnachten von ihm bekommen hatte (wo er das Geld her hatte, wusste niemand so genau). „Was ist das?“ Anna musste kurz lachen bei dem Gedanken, dass er ihr tatsächlich Schmuck schenken würde. Doch er grinste nur und bedeutete ihr, das Kästchen aufzumachen. Wenige Sekunden später hielt das Mädchen eine feine Silberkette zwischen ihren Fingern. An ihr hing ein schwarzer, eiförmiger Opal. Beim näheren Hinsehen konnte man meinen, dass blaue Rauchschwaden ihn durchfluteten. Sofort hing Anna die Kette um den Hals. Shiro, der am Tischbein auf seinen Auftritt gewartet hatte, tappste zur Blondine und stellte seine Beine auf ihren Schoß, ehe er aus seinem Maul ein paar Löwenzahne fallen ließ. Anna lachte kurz, dann umarmte sie ihre Familienmitglieder einen nach dem anderen. Der Tag wurde damit verbracht, einige der Bücher durch zu wälzen und später dann Kaffee und Kuchen zu essen. Gegen Nachmittag nötigte Annas Mutter sie, sich fertig zu machen. Sie musste sich duschen, die Haare mussten gemacht werden (was dann nach einigem Gemecker doch ihre Mutter übernahm), zog das neue Kleid an und packte ihre Tasche mit dem nötigen Kram. Die Kette baumelte immer noch um ihren Hals – es passte perfekt zu diesem Kleid (als hätten sich Adam und ihre Mutter abgesprochen). Danach legte ihre Mutter ihr Make-Up auf. Anna hatte nie wirklich oft Make-Up getragen, das einzige, was sie gerne machte, war ein bisschen Mascara aufzutragen, bevor sie zur Schule ging. Doch ihre Mutter wollte nichts hören. Adam klopfte an die Tür und schaute, ob Anna fertig war. Es war bereits zehn vor sechs, bald würden die anderen ankommen. Adam trug einen Anzug, der ihn merkwürdig erwachsen aussehen ließ. Zur Überraschung aller Anwesenden hatte er sich sein Haar gemacht und konnte sogar die Krawatte richtig binden. Anna witzelte kurz, dass sie ja doch einen gutaussehenden Bruder hätte, als es an der Tür klingelte. Als die Familie die Tür aufmachte, standen Ren und Liam davor. Beide trugen Anzüge: Während Rens komplett schwarz gehalten war, war Liams eher beige und braun. Sie sahen so unglaublich gut aus, dass Mikas Stimme in Annas Kopf wieder hallte: 'Du bist die ganze Zeit von heißen Kerlen umringt.' Ein Auto parkte vor dem Gartentor. Es war eine schwarze Limousine. Anna war nur froh, dass es keine Stretch-Limo war. „Guten Tag, Frau Kurosawa.“ Ren war charmant wie eh und je und reichte der Dame einen Strauß Blumen. „Das ist eine kleine Entschädigung dafür, dass wir ihre Tochter heute Abend entführen.“ „Oh, das macht doch nichts.“ sagte Annas Mutter geschmeichelt und nahm die Blumen entgegen. Adam und Anna liefen aus der Tür zur Limo und Anna entging es nicht, dass Liam und Ren ihm merkwürdige Blicke zuwarfen. Sie stiegen ins Auto. Ein unbekannter Fahrer saß am Steuer und sobald sich alle angeschnallt hatten, raste er los. Das Auto machte vor einem großen Hotel in der Innenstadt Halt. „Wir essen in dem Restaurant im obersten Stock.“ lächelte Ren. Natürlich hätte er sich jedes Restaurant in dieser Stadt aussuchen können; sein Vater zahlte ja alles. Der Fahrstuhl, der sie nach oben brachte, brauchte fast drei Minuten, bis die Türen sich wieder öffneten. Ein großer Saal eröffnete sich ihnen und an den Fenstern, die vom Boden bis zur Decke gingen und einen Überblick über die Stadt verschafften, stand ein langer Tisch. An diesem saßen bereits Toki, Kai und Akira. Toki trug ein Hemd mit Fliege. Es passte zu ihm, sich nicht ganz so aufzuhübschen, wie die anderen Kerle. Kai trug unter seiner schwarzen Anzugjacke ein violettes Hemd, an dem eine ebenfalls schwarze Krawatte hing. Akira, der zum 1. Mal, seit Anna ihn kannte, sein wildes, rotes Haar gebändigt hatte, trug ein weinrotes Hemd, bei dem die obersten Knöpfe geöffnet waren. Anscheinend hielt er es nicht nötig, sich Jacke und Krawatte anzulegen, doch er trug eine sehr hübsche, gestreifte Nadelhose. Nur Mirai war noch nicht da. Sie begrüßten Anna alle, bevor diese zum Platz geführt wurde, der den Kopf der Tafel bildete, und sich hinsetzte. Dabei musste sie darauf achten, dass der bauschige Rock des Kleides nirgendswo hingen blieb. Unaufgefordert setzte sich Adam zu ihrer Rechten hin, zu ihrer Linken setzte sich Ren. Eine Kellnerin kam vorbei und begann, Gläser mit Sekt zu füllen, als Mirai aus dem Fahrstuhl trat und sich an den Tisch setzte. Auch er war nicht sonderlich formal angezogen. Zwar trug er ein dunkelblaues Jackett und die passende Hose, hatte aber anscheinend kein Hemd gefunden, weshalb er einfach ein weißes T-Shirt angezogen hatte. Akira machte sich etwas darüber lustig. Es war eine lebhafte Runde. Aber Anna fühlte sich ausgeschlossen. Ihr Kopf puckerte unter Schmerzen. Sie spürte, wie sich Schweiß im Nacken sammelte. Ihr Mund war trocken. Sie griff nach dem Sekt, trank nach dem Anstoßen und den Glückwünschen daraus, doch der Sekt schien in ihrem Mund zu Staub zu zerfallen. Sie spürte Adams musternden Blick. In diesem Moment wünschte sie sich, er wäre nicht mitgekommen. Der erste Gang wurde serviert. Die Gespräche flogen an Anna vorbei. Oft wurde sie etwas gefragt, antwortete darauf wie in Trance, erinnerte sich wenige Sekunden später aber schon gar nicht mehr an die Frage. Jedes Mal, wenn sie zum Sektglas griff, war es wieder voll, als wäre die Kellnerin ein Ninja und würde immer aus dem Schatten heraus nach füllen. Sie verfluchte die Kellnerin. Der zweite Gang kam. Es war eine Suppe. Vielleicht würde das Annas Durst stillen. Sie griff nach dem Löffel und begann zu essen. Die Gespräche wurden lauter. Das Puckern in Annas Stirn wurde stärker. Die Blondine wusste gar nicht mehr, dass sie die Suppe aufgegessen hatte, und verwundert schaute sie auf den Teller, der ein großes, saftiges Stück Fleisch und gebratenes Gemüse als Beilage trug. Anna hob ihr Besteck zum Schneiden nicht an. Kraftlosigkeit und Unmut breitete sich in ihrer Brust aus. Sie hatte keinen Hunger mehr, sie hatte nur Durst. Sie griff nach dem vollem Glas Sekt. Hatte dieses Restaurant nichts anderes zu trinken? Adams Blick war wie Messerstiche. Nur nebenbei hörte sie seine Stimme, wie er etwas bei der Kellnerin bestellte. Kurz darauf stand ein Glas mit eiskaltem Wasser vor Anna. Jetzt hatte Adam wieder Berechtigung, bei ihnen zu sein. Das Wasser glitt wie ein eisiger Strom Annas Kehle hinab und erfüllte ihre Brust mit einem wohligem Schmerz. Sie spürte sofort, wie sich ihre Lungen und Rippenmuskeln unter der Kälte kurz zusammen zogen. Das Glas war sofort leer. „Hast du zu viel getrunken? Deine Wangen sind ganz rot.“ lachte Toki kurz und zeigte auf die Blondine. Diese schaffte es, ein schiefes Lächeln zu zeigen. „Mir geht’s gut.“ log sie und trank erneut etwas – wieder der Sekt. „Du solltest wirklich nicht so viel trinken.“ murrte Adam nun und fragte erneut nach Wasser. Mirai lachte. „Du hast also gelogen, als du sagtest, du seist trinkfest.“ sagte er höhnisch. „Ach, Anna kann ihren Alkohol nicht halten?“ lachte Ren nun. Dass er tatsächlich lachte, gruselte Anna ein bisschen. Auch Liam zeigte ein ungewohntes Lächeln. Toki hatte seine Fliege gelockert. Kai balancierte die Spitze seines Messers auf seinem Zeigefinger. Anna sollte wahrscheinlich wirklich nichts mehr trinken. Sie fand ihre Hand auf ihrer Stirn wieder, die den Schweiß abwischte. Schnell wischte sie den Schweiß an ihrer Serviette ab. Das Stück Fleisch vor ihr war nun halb gegessen und verharrte kalt auf dem Teller. Die Ninja-Kellnerin begann mit anderen Kellnern (die Anna erst jetzt auffielen), den Tisch abzuräumen. Wein wurde serviert. Vielleicht eine gute Abwechslung zum Blubberwasser. Neben Annas Rotweinglas stand nun auch immer ein gefülltes Wasserglas. Das Dessert kam. Heißer Schokoladenkuchen mit Vanilleeis und Himbeeren. Normalerweise ein Gedicht, eine Speise, die jedem sofort das Wasser im Mund zusammen laufen ließ, doch Anna wurde bei dem Anblick schlecht. Ihr Magen fühlte sich wie aufgebläht. „Ich bin gleich wieder da.“ sagte sie ruhig, erhob sich, nahm ihre Tasche und begann, Richtung Tür zu Laufen. Der Ninja, so nannte Anna die Kellnerin nun, führte sie zu den Damentoiletten. „Ich hätte nicht gedacht, dass man mit euch Bratzen so viel Spaß haben kann.“ lachte Mirai, als Anna verschwunden war, und trank seinen Schnaps aus. „Ich auch nicht.“ Ren lächelte immer noch. Adam lehnte sich zurück und musterte die Decke. „Ihr solltet nicht versuchen, Anna abzufüllen.“ murmelte er schließlich und erntete dafür undankbare Blicke. „Wieso nicht? Vielleicht kriegen wir sie ja dadurch ins Bett.“ lächelte Kai und begann, das Messer auf dem Tisch zu drehen. Adam lachte höhnisch. „Eher nicht.“ „Wieso nicht? Sie ist auch nur ein Mensch. Ein Mädchen, kommt noch dazu.“ entgegnete Kai nun und hielt das Messer an. Adam lehnte sich vor und faltete die Hände unter seinem Kinn zusammen. Er musterte Annas Weinglas. Sie hatte es schon wieder ausgetrunken. „Sie wird nicht betrunken. Ihr Körper verarbeitet den Alkohol nicht, er schickt ihn gleich raus. Jedes Gift, das jemals seinen Weg in Annas Körper findet, wird sofort verdunstet. Deshalb wart ihr so schnell besoffen.“ Stille trat ein. Jeder Blick ruhte nun auf Adam, Toki sah erschrocken aus, der Rest der Mannschaft wohl eher verwundert oder verwirrt. Doch dann wurden sie finster. „Wir wollten dich sowieso schon mal sprechen.“ Mirai war der erste, der die Gedanken aussprach, die sie wohl alle dachten. „Wieso weißt du so viel über Anna? Wieso hängst du ihr ständig am Arsch? Sie hat uns erzählt, dass du jeden Geburtstag mit ihr feierst. Läuft da was?“ Adam grinste. Er mochte es, wenn die Kandidaten für Anna alle ein bisschen wegen ihm zurück gehalten wurden. „Vielleicht.“ witzelte er und trank von seinem Wein. „Verarsch' uns nicht.“ schnauzte Kai und schlug mit seiner Hand auf den Tisch. Liam hatte schnell sein Weinglas in die Hand genommen, damit es nicht umfallen würde. „Tu' ich nicht. Ich hab' sie sogar schon nackt gesehen.“ Das Grinsen auf Adams Gesicht wurde immer breiter. Nun war es Toki, der sauer wurde. „Sowas macht man nicht, wenn man die Person nicht liebt.“ sagte er genervt und stocherte so wild mit der Gabel im Kuchen herum, dass der langsam zerfiel. „Ich liebe sie. Und sie liebt mich.“ entgegnete Adam gelassen und erreichte erneut, dass der große Saal durch eine schlagartige Stille erfüllt wurde. „Ich hab' gesagt: Verarsch' uns nicht.“ Obwohl Kais Stimme nur ein Flüstern war, klang es, als würde es direkt an Adams Nacken gerichtet sein. Er stand plötzlich auf seinen Füßen. Auch Mirai und Liam waren aufgestanden. Ren trank genervt sein Glas aus. „Und ich hab' gesagt: Tu' ich nicht.“ gab Adam gelassen zurück und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. „Ist doch normal, wenn ein Bruder seine kleine Schwester liebt.“ „Was?“ fauchte Kai nun genervt. Er wollte Adams Worte wohl noch nicht ganz verstehen. Akira hatte seinen Kuchen aufgegessen und sah nun auch auf. Anscheinend war das Thema für ihn nicht wichtiger, als sein Dessert. Er musterte Adam kurz, legte dann seine Gabel auf den Teller und seufzte. „Er sagt, dass er Annas Bruder ist, du Dummkopf.“ erklärte der Rotschopf ruhig, wippte kurz in seinem Stuhl vor und zurück und stand dann auf, während die anderen langsam wieder zurück in ihre Sitze fanden. Akira begab sich zur Kellnerin. „Wohin gehst du?“ fragte Toki verwundert, aber nun sichtlich beruhigt, dass er nicht noch einen Rivalen in Adam hatte. „Klo.“ gab Akira knapp zurück und verschwand im dunklen Flur. Ihre Hände krallten sich in das Waschbecken vor ihr. Wasser tropfte von ihrem Pony auf das Marmor. Anna sah in den Spiegel und musste erkennen, dass sie kreidebleich war. Noch bleicher als Kai an seinen schlechten Tagen. Sie sah aus wie eine wandelnde Leiche. Nicht mal das wiederholte Waschen ihres Gesichtes half. Im Gegenteil: Die Schminke, die ihr vielleicht noch ein bisschen Farbe ins Gesicht zaubern konnte, war mit dem Wasser im Abfluss gelandet. Nur das Augen-MakeUp hielt noch. Mit einem Papiertuch wischte sich das junge Mädchen das restliche Wasser aus dem Gesicht. Das raue Papier rötete die Haut leicht, die dann aber sofort wieder blass wurde. Anschließend kramte sie in ihrer Tasche nach MakeUp und Rouge. Sie war nicht so gut darin, sich zu schminken, wie ihre Mutter, aber das Resultat war befriedigend. Sie sah nicht mehr wie halb tot aus. Anna seufzte kurz auf. Sie wollte nach Hause. Ihre Knie zitterten und gaben Grund zu der Sorge, dass sie mit jedem nächsten Schritt umfallen könnte. Ihr ganzer Körper schien verspannt zu sein. Als würden Blitze durch ihre Muskeln zucken, verkrampfte sich jeder ihrer Körperteile. Langsam verschwamm ihre Umgebung. Aber das würde sie nicht unterkriegen. Das Mädchen nahm die paar Schritte zur Tür zum Flur, öffnete sie mit einem großen Schwung und trat in den spärlich beleuchteten Gang, der fernab der Räumlichkeiten zum Essen war. Doch der Gang war nicht leer. Akira lehnte an der Wand zur Damentoilette und schaute von seinem Handy auf, als Anna so schwungvoll heraus trat. Er verstaute sein Handy in der Hosentasche, musterte sie kurz und sagte dann, ohne zu lächeln: „Yo. Wie geht’s dir?“ Anna zuckte zusammen. Ihre Arme verschränkten sich wie automatisch. Schmerzhaft spürte sie, wie ihre Fingernägel sich in ihr eigenes Fleisch bohrten. Doch sie konnte den Griff nicht lockern. Sie schwieg. Akira machte einen Schritt auf sie zu. Seine Finger legten sich unter ihren Pony, der immer noch nass war. „Warst du noch mal duschen?“ Normalerweise würde er bei einem solchen Spruch lachen, um zu signalisieren, dass er einen Witz machte. Aber er lachte nicht. Wieso lachte er nicht? Wieso gab er Anna keinen Anlass dazu, die Situation so gut es ging zu bewältigen? Ein bisschen Aufmunterung hätte nicht geschadet. Erneut schwieg sie, schaffte es aber, den Kopf zu schütteln. Ihr Nacken knackte bei der Bewegung kurz schmerzhaft. „Du zitterst.“ Akiras Stimme kam immer näher. Anna wusste nicht wie, aber plötzlich fand ihr Rücken die Wand, an der Akira vorher noch gelehnt hatte. Er stütze sich mit seiner Hand daran ab. Sein Oberkörper versperrte Anna die Sicht auf den Gang. Sein Arm blockierte den Weg zurück zu den anderen. Akiras freie Hand schlenderte langsam über Annas Arm, der unter der warmen Berührung noch mehr zuckte. Sie war schon angespannt, aber das half gerade nicht, um sie zu entspannen. Ihre Hand lockerte sich von ihrem Arm und legte sich auf Akiras Brust, um ihn wegzudrücken. „Mir geht’s nicht gut...“ Annas Seele krümmte sich unter der Piepsigkeit ihrer eigenen Stimme. „Ich weiß.“ Akiras Stimme war nicht mehr als ein Flüstern geworden. Seine Finger strichen über ihre Wange. Er trieb die Röte zurück in ihr Gesicht. Sie fühlte sich noch schwächer als vor ein paar Minuten im Badezimmer. Dem Ziehen der Finger an ihrem Kinn gab Anna nicht nach, das musste sie aber auch nicht. Akira lehnte sich einfach vor. Seine Lippen lagen auf ihren. Sie konnte nichts tun. Sie spürte, wie seine Zunge über ihre Lippen strich, diese langsam öffneten und ihm Einlass gewährten. Seine Hand war in ihren schweißnassen Nacken gewandert. Doch das schien ihn nicht zu ekeln – behutsam streichelte er ihn, während er sie küsste, und wanderte ihren Rücken hinab, bis seine Hand über ihrem Po Halt machte, um sie etwas näher an sich ran zu ziehen. Das Zucken, das jeder Annas Körperteile vorher fast gelähmt hatte, verschwand. Die Blitze, die durch ihre Muskeln schossen, verwandelten sich in Flammen. Ihre Arme entspannten sich. Ängstlich hielten die Finger Akiras Hemd fest, als könnte Anna jeden Moment fallen. Er schmeckte nach Schokolade und Himbeeren. Seine Zunge fuhr behutsam über ihre und verschwand dann. Akira löste den Kuss für eine kurze Sekunde, legte seine Lippen aber erneut an und küsste das Geburtstagskind wieder zärtlich. Anna war sich nicht sicher, wann sie ihre Augen geschlossen hatte, aber sie spürte mit jeder Zelle ihres Körpers, wie Akira vor ihr stand. Vielleicht schaute er sie an, während er sie küsste. Vielleicht musterte er sie, um ihre Reaktion zu erfahren. Ihre Gedanken übertönten seine, die langsam in ihren Kopf eindrangen, während er ihre Lippen mit seinen liebkoste. Er küsste sie immer wieder. Jeder Kuss war wie leichter Schnee, der sich auf ihre Haut legte und eine brennende Spur hinterließ. Jedes Mal, wenn seine Zunge ihre Lippen benetzte, stillte es Annas Durst ein bisschen mehr. Beide seiner Hände wärmten nun ihre Schulterblätter und gaben dem Mädchen Halt. Wie in dem Moment versunken ließ Anna es über sich ergehen. Sie mochte Akira, hatte aber nie daran gedacht, ihn irgendwann mal zu küssen. Das war ihr nie in den Sinn gekommen. Dennoch war es in dieser Situation wahrscheinlich das richtige. Sie ließ die Küsse weiterhin zu. Diese wanderten von ihrem Mund zu ihrer Wange, ihrem Ohr, ihrem Hals und ihrem Schlüsselbein. Der letzte, den sie spürte, berührte den nun trockenen Pony auf ihrer Stirn. Die Küsse fühlten sich an, als würden sie nachbeben. Sie wagte sich nicht, ihre Augen zu öffnen. Akiras Hände streichelten behutsam über ihren Rücken, wanderten wieder hoch zu ihrem Kopf und ihren Wangen. Seine Berührungen waren wie Feuer. Sie entzogen Annas Körper all die Schmerzen, die sie vorher noch hatte. Anna war sich nicht sicher, wie lange sie da standen. Ihr Blick war auf ihre Hände gerichtet, die sich immer noch an Akiras Hemd festhielten. Sie konnte den Griff nicht lockern. Ihre Wangen glühten. Jede Stelle, die er geküsst hatte, glühte. „Geht's dir besser?“ Akiras Stimme war wie Sprühregen. Sie spürte, wie sich jedes Haar an ihrem Körper aufstellte. Langsam nickte sie. Ein erneuter, kleiner Kuss auf ihre Wange, gab ihr Mut aufzublicken. Akiras Augen glänzten golden in seinem schattigen Gesicht. Nun sah sie, was sein Blick bedeutete: Er war besorgt gewesen. Als er bemerkte, dass sie ihn anschaute, zeigte er jedoch ein leichtes, beruhigtes Lächeln. Seine Hand glitt über ihren Kopf auf ihre Schulter, dann wandte er sich dem Flur zu. Annas Herz sank in ihre Kniekehlen. Adam stand da. Sein Gesicht war weder überrascht, noch wütend, noch traurig, noch glücklich. Er starrte die beiden einfach nur an, als hätte er es vermutet. Er wahrte einen gewissen Abstand, bestimmt um die fünf Meter. Seine Hände hatte er in seinen Hosentaschen zu Fäusten geballt. Er sagte nichts. Akira ließ Anna los und ging einen Schritt zurück. Auch er verspürte nicht das Verlangen, das Schweigen zu brechen. Dann sagte Adam doch etwas. „Wir gehen, Anna.“ Anna nickte. Das Gefühl Akiras Küsse wärmten ihr Herz immer noch. „Bis dann.“ sagte sie zu Akira und ging zurück in den Speisesaal, um sich zu verabschieden. Akira sah Anna nach. Adam nicht. Sein Blick war auf Akira geheftet, selbst als Anna an ihm vorbei ging. „Sag' mir nicht, du bist eifersüchtig.“ lächelte Akira nun. Adam kratzte sich am Kinn. „Nicht wirklich. Ich bin ihr Bruder, nicht ihr Lover.“ erklärte er sich. Akira steckte seine Hände in seine Jackentaschen. Annas Haut war zart gewesen, kalt. Es war, als hätte er Porzellan angefasst. Er wollte dieses Gefühl nicht so schnell wieder los lassen. „Natürlich nicht. Aber du brauchst dir auch nicht so alberne Lügen einfallen lassen.“ Die Stimmung wurde eisig, als Akira dies sagte. „Was meinst du? Ich bin wirklich nicht ihr Lover.“ Adam klang bei diesem Vorwurf etwas gekränkt, doch das Heben seiner Stimme konnte Akira nicht seines Lächelns berauben. „Aber du bist auch nicht ihr Bruder.“ Adams Gesicht wurde so bleich, wie das von Anna vor wenigen Minuten. Akira genoss diesen Anblick der Angst. Er war wahrscheinlich der erste, der das jemals laut ausgesprochen hatte. Die blauen Augen Adams starrten geschockt den Rothaarigen an. „Keine Sorge, ich verrat's keinem.“ beruhigte dieser Adam und begann, auf Adam zu zu laufen. „Das einzige, was ich wissen will, ist ob ihr Shiki mein Rivale wird oder nicht.“ Adams ganze Körperhaltung verspannte sich. Er schluckte. „Werd' ich nicht.“ keuchte er. „Du liebst sie also nicht?“ Akira war Adam nun so nahe, dass er seine Stimme nicht mehr heben musste, als ein Flüstern. „Ich liebe sie, wie eine Schwester.“ „Du hast nie daran gedacht, wie es wäre, sie wie eine Frau zu lieben?“ fragte Akira leise nach und sein Lächeln wurde breiter. Finsterer. „Nie.“ Adam fand sein Selbstbewusstsein wieder. Bestimmt schaute er Akira in den Augen. Das überzeugte Akira davon, dass Anna wirklich nur wie eine Schwester für ihn war. Vielleicht sogar weniger. Vielleicht etwas ganz anderes. Aber nie die Frau, die Adam mal heiraten würde. „Okay. Dann kommt gut nach Hause.“ Als Anna zurück in den Speisesaal kam, erstarb das leise Tuscheln. Sie ging zu ihrem Platz und fand eine Tüte vor. Geschenke waren darin. Ein bisschen schuldig fühlte sie sich jetzt dafür schon. „Entschuldigt bitte, aber wir gehen jetzt. Mir geht’s nicht so gut. Danke für den Abend und die Geschenke, ich pack' sie Zuhause aus.“ Das war das erste Mal, dass die Jungs sahen, wie Anna sich schämte. Anscheinend ging es ihr also wirklich nicht gut. „Du brauchst dich nicht entschuldigen.“ sagte Kai gelassen. „Ja, wenn's dir nicht gut geht, ruh' dich aus. Wir sehen uns Montag.“ stimmte Mirai zu, was unüblich war in Anbetracht dessen, dass er Kai nicht leiden konnte. „Hoffentlich wirst du bald wieder gesund.“ meinte Toki und blubberte durch seinem Strohhalm in den Saft. Ren stand auf: „Ich bring' euch raus. Das Taxi wartet schon.“ Anna dankte ihm dafür. Die Heimfahrt war still. Adam hatte einen Arm um Anna gelegt, während diese versuchte, zu schlafen. Schnee rieselte gegen die Fensterscheiben. Der Taxifahrer verfluchte das Wetter: Schnee im Mai! Das gab's schon lange nicht mehr! Doch Adam überraschte es nicht. Im Gegenteil: es überraschte ihn, dass nicht mehr passierte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)