In the Dead of Night von Puppenspieler (Sommerwichteln '15) ================================================================================ Kapitel 3: Tscherwona Ruta -------------------------- Mit den Monaten, die kamen und gingen, kam schließlich das Frühlingsgrün und ging der Schnee. Die Sonne wurde zu einem warmen Kitzeln auf der Haut, das aus dem Haus lockte, und sobald man die Innenstadt hinter sich ließ, wurde man überall von den Düften der neu erblühten Pflanzen und Bäume willkommen geheißen. Nachdem die Zeit des Frühlingsanfangs überstanden war, gingen die Sichtungen des Paranormalen wieder zurück zu einem Maße, in dem sich Arbeit und Freizeit gut die Waage halten konnten. Im Mai nahm Laci Urlaub, um der Heimat einen Besuch abzustatten, doch sehr zu ihrem eigenen Erstaunen stellte sie in den Staaten angekommen schnell fest, dass sie erst dort Heimweh bekam – nach ihren Kameraden. Sie vermisste die kleine Wohnung in Moskau mit Ausblick auf die Innenstadt, sie vermisste es, jeden Morgen beim Aufstehen Lady Di auf dem Fensterbrett sitzen zu sehen, wo sie umgeben vom Duft ihres Morgenkaffees hinaus auf die Stadt sah. Sie vermisste Paper Boy und seine derben Scherze, Liquid Liar, Gore und Splatter, und natürlich Sasquatch und Bloody Mary, die sie manchmal allesamt zum Essen einluden in das kleine Häuschen, das sie sich inzwischen gekauft hatten. Unter einem hübschen Kronleuchter an einem großen Tisch aß es sich viel schöner als alleine mal schnell in der Küche, wenn gerade die Zeit günstig war. Oder im Auto auf dem Weg zu einem neuen Fall. Sie konnte es kaum erwarten, wieder zurückzukommen.   Als sie in Moskau schließlich aus dem Bahnhofsgebäude stolperte, war ihre gesamte Einheit gekommen, um sie zu begrüßen, und während Sasquatch sie noch durch die Luft wirbelte, erhaschte sie einen Blick auf Lady Dis lächelndes Gesicht. Sie fühlte sich sofort wieder zuhause.     „Im Grunde sind Sirin Tiere. Große, eulenhafte Vögel, die Brust und Kopf einer Menschenfrau besitzen. Ihr Gesang ist wie der der Sirenen – er lockt die, die ihn hören, in den Tod. Allerdings findet man sie nicht zwingend in Gewässern. Ihre ursprüngliche Heimat liegt um den Euphrat herum, doch heutzutage findet man sie auch in allgemein unbewohnten, häufig gebirgigeren Gebieten. Man kann sie töten. Wir müssen sie töten. Wir vermuten ein Nest im Hochland des Baikalgebirges. Liddell Alice, Lady Di, Bloody Mary, Sasquatch, ihr vier werdet in Zweierteams das abgesteckte Gelände absuchen. Ihr werdet mit Schusswaffen ausgerüstet. Diesmal ist Shadow dafür zuständig, hinter euch aufzuräumen.“   Der Auftrag selbst war nicht schwierig – die Sirin waren ziemlich riesig und kaum zu übersehen, wenn man sie einmal entdeckt hatte. Nur das Verständigen mit Ohrenstöpseln in den Ohren und schalldämpfenden Kopfhörern obendrauf, um sich selbst vor dem Gesang der Geschöpfe zu schützen, war recht kompliziert. Laci und Lady Di trennten sich nie weiter als ein paar Meter voneinander, mussten mit Handzeichen kommunizieren. Wenn Bloody Mary oder Sasquatch etwas wollten, mussten sie sich auf den Vibrationsalarm ihrer Telefone verlassen. Doch trotz der Kommunikationsschwierigkeiten war der Auftrag innerhalb der Spanne eines Halbtages erledigt. Den Abend des 7. Juli, dem Iwan-Kupala-Tag, wie Shadow mit seinem russischen Akzent zu berichten wusste, verbrachten sie irgendwo im Baikalgebirge, ausgerüstet mit Zelten und Campingausrüstung und einem großen, wunderbar warm flackernden Lagerfeuer. Laci war noch nie campen gewesen, aber an diesem Abend beschloss sie sofort, sie musste es dringend wiederholen. Es war wunderschön! Die Aussicht war atemberaubend, die Umgebung war wunderschön, und es war einfach toll, an einem Feuer mit ihren Kameraden zu sitzen, zu lauschen, wie Sasquatch und Shadow Lieder sangen, zuzusehen, wie Bloody Mary tanzte, als die beiden Männer einen schnelleren Rhythmus anschlugen. Laci klatschte im Takt, und irgendwann ließ sich auch Lady Di dazu mitreißen, sich anzuschließen. Als sich die Gesellschaft spät abends auflöste, war Laci noch so aufgepeitscht, dass sie an Schlafen nicht denken konnte. Lieber streifte sie durch das wogende Gras, betrachtete Blumen, die zur Nachtruhe ihre Blütenkelche geschlossen hatten. Hinter einem Felsen entdeckte sie eine Blume, die geöffnet war. Im Schein des Mondes war ihre Farbe schwer abzuschätzen, aber Laci tippte auf einen rötlichen Farbton. Sie war wunderschön. Behutsam brach Laci eine der Blumen ab, nahm sie mit zurück zum Lagerfeuer, um sie dort näher betrachten zu können. Shadow, der noch wach war, stieß einen anerkennenden Pfiff aus, als er sie sah.   „Du hast Glück, Liddell Alice. Welches Mädchen eine rote Tscherwona Ruta in der Nacht von Iwan Kupala findet, dem ist die große Liebe nicht mehr fern.“     ***     Zeit verging, die Tage flogen nur so vorbei. Lacis Leben war ein buntes Kaleidoskop aus Unglaublichkeiten und neuen Erkenntnissen, aus Kameradschaft und neuen Freundschaften, Lachen und Bangen, und der Gemeinsamkeit, die man nur erreichte, wenn man ein gemeinsames Geheimnis teilte, wenn man verstand, was der andere durchmachte, wenn er nachts schreiend aufwachte, oder zusammenzuckte vor seinem eigenen Schatten in einer ganz besonders finsteren Nacht. Laci bereute keine Sekunde, dass sie hergekommen war. Ihr Tagebuch hatte sie immer noch, doch mit jedem Monat wurden die Einträge weniger und weniger, während Laci zu begreifen begann, dass die wirklich wichtigen Erinnerungen viel eher in ihrem Herzen weiterleben würden als auf cremefarbenem Papier. Der Herbst kam, buntes Laub bedeckte die Straßen, knisterte unter den Füßen, Regenschauer trommelten geheime Melodien auf den Asphalt. Lady Dis tiefroter Regenschirm wurde ein bunter Anker in der grau verregneten Welt, und schließlich wich der Regen der Winterkälte, die die Wangen rötete und den Atem kondensieren ließ. Schnee fiel. Bedeckte die Welt mit einer weißen Schicht aus Geheimnis und Endgültigkeit, eine Decke, die die Welt vor sich selbst verbarg, bis der Frühling sie schließlich neu zum Leben erweckte. In der Einsatzzentrale hing bereits im Flur hinter der Eingangstür ein riesiger Kalender, auf dem jeder weitere Tag mit rotem Marker durchgestrichen wurde. Noch _ Tage bis zum Jubiläum! stand darüber geschrieben, und es war Splatter mit seiner Krakelschrift, der jeden Tag die Zahl anpasste. Laci mochte es, beim Hereinkommen vor dem Kalender stehen zu bleiben. Einige der durchgestrichenen Tage enthielten Kommentare – Sasquatch hat den Kaffee verschüttet. Gore schon wieder verschlafen – wir sollten ihm einen Wecker kaufen! Schande über den, der die Donuts aufgefuttert hat. Dass sie ihr Jubiläum gemeinsam feiern würde, war längst beschlossene Sache. Bloody Mary wollte sich um die Party kümmern – es würde eine Überraschung werden, hatte sie breit strahlend verkündet. So richtig stören tat das niemanden; die Männer waren ohnehin keine Party-Organisationstalente ihren eigenen Aussagen nach, und Laci war noch viel zu beschäftigt damit, ihr wunderbar spannendes Leben zu verarbeiten, als dass sie sich darauf hätte konzentrieren können. Und Lady Di – war Lady Di. Sie war allgemein ein Partymuffel.     Noch 10 Tage bis zum Jubiläum! verkündete die Schrift über dem Kalender, als Laci an diesem Morgen an der Seite ihrer Partnerin die Kommandozentrale betrat. Dieses Mal war es aber nicht Splatters Gekrakel. Sie erkannte Big in Japans säuberlich akkurate Schrift. „Splatter ist nicht da!“, rief Paper Boy hinüber, als er mit ein paar Kaffeebechern aus der Küche kam, „Er und Gore mussten kurzfristig zu einem Einsatz in der Nacht los. Deshalb hat Biggy übernommen.“ Er grinste, hob die Kaffeetassen auffordernd hoch. „Los kommt, die sind für euch, Besprechung geht gleich los! Notfall und so.“   Der Notfall und so entpuppte sich als ein ziemlich großes Problem: Mindestens ein Dwojeduschnik suchte eine Siedlung am Rande von Moskau auf und tötete dort auf recht typisch vampirische Art des Nachts die Anwohner. Splatter und Gore, die bereits Erfahrung mit Vampirwesen hatten, waren bereits losgeschickt worden, um die Situation in Augenschein zu nehmen. Ihr erster, vorläufiger Bericht bestätigte die Vermutung, dass es sich um einen Dwojeduschnik handelte – nur einen, scheinbar. Was nicht hieß, dass es dadurch einfacher wurde. „Diese Viecher haben eine ganz abartige Eigenheit: Sie verfügen über zwei Seelen, sagt man. Eine menschliche, eine dämonische. Ob das so stimmt… na ja. Jedenfalls verfügen sie über zwei Lebensquellen, von denen sie eine außerhalb ihres Körpers verstecken können. Meist geschieht das an möglichst unauffälligen Orten. Früher unter Steinen, heute sind sie wahrscheinlich ein wenig mehr an heutige Lebenssituationen angepasst und nutzen auch andere Verstecke, die man nicht oder nur schwer finden kann. Wenn man diese zweite Seele nicht zerstört, kann man die Viecher noch so oft abknallen, es passiert nichts. Sie kommen einfach wieder. Gores Bericht zufolge hat der Dwojeduschnik sich einfach wieder zusammengesetzt, kurz nachdem sie ihm die Birne weggepustet haben. Das war ein Zitat. Wir haben Unterstützung einer anderen Einheit bekommen, sie sind bereits unterwegs. Wir werden alle verfügbaren Kräfte, Operationseinheit wie Organisationseinheit, brauchen, um diese zweite Seele ausfindig zu machen. In den letzten zwei Wochen gab es bereits zehn Todesfälle. Wir müssen schnell handeln.“   Ein weiterer Haken der ganzen Geschichte war, dass die Seele des Dwojeduschnik nur gefunden werden konnte, solange er aktiv war – also nachts. Außerdem musste er sie nicht wieder zu sich holen, wenn er sich zur Ruhe bettete, sonst hätte man ihm wohl einfach zu seinem Versteck folgen können und hoffen, dass man ihn mit gutem Timing überwältigen konnte. Sie mussten tatsächlich suchen. Es war das frustrierendste, ermüdendste und zermürbendste, das Laci jemals erlebt hatte. Jeden Abend nach Sonnenuntergang zogen sie los, dick eingepackt in warme Kleidung, behindert durch Schnee und Eis, wühlten sich durch jeden Ort, der ihnen auffällig unauffällig erschien – Mülltonnen, Container, Steine und kahles, dicht verästeltes Gebüsch. Alles, was nicht niet- und nagelfest war, wurde umgedreht, noch einmal umgedreht. Es war, als suchten sie die Nadel im Heuhaufen. Immer zu zweit unterwegs, zur Sicherheit, und fast jeden Morgen fanden sie neue Todesmeldungen in der Zeitung. Eine Woche verging – nichts passierte. Es war wie damals bei der Rusálka. Zwischen aller Resignation und allem Frust stellte sich bei Laci unbedachte Unbekümmertheit ein. Die Gewissheit, dass sie nichts finden, dass nichts passieren würde, wurde mit jedem Tag stärker, Laci sah sich schon bald nicht mehr nach jedem Schatten um.   Hätte sie es getan, hätte es auch keinen Unterschied gemacht. Er erschien völlig aus dem Nichts. Ein Wesen, menschenähnlich, aber nicht ganz menschlich, in der trüben Beleuchtung größtenteils ausgefallener Straßenbeleuchtung kaum zu erkennen. Der Dwojeduschnik war von einem Moment auf den anderen einfach da, ohne Laut, ohne Hinweis auf sein Kommen. Er stand da, die Zähne gebleckt, blutbeschmiert und gefährlich fauchend. Irgendwo weit hinten am Horizont war ein erster Streifen herannahender Helligkeit zu erahnen. Die Nacht war bald vorbei. „Wir haben ihn“, flüsterte Lady Di atemlos. „Hier irgendwo muss es sein. Liddell Alice! Such!“ Und damit war sie vorgeprescht, ihr roter Schal peitschte hinter ihr her, als sie ihre Waffe zog. Mit einem ohrenbetäubenden Knall fetzte das Geschoss das halbe Gesicht des Monsters weg – es lachte nur, zumindest schien das gurgelnde Geräusch ein Lachen zu sein, und noch während Laci zusah, setzte sich das kaputte Gewebe einfach wieder zusammen. „BEWEG DICH, LIDDELL ALICE!“ Lady Dis Schrei riss sie aus ihrer Trance, und sofort stürmte sie los. Hinter sich hörte sie die Geräusche des Kampfes, knallende Pistolenschüsse, Fauchen und Fluchen, Lady Dis Stimme, Schreie, Flüche – sie sah nicht zurück. Durfte nicht zurücksehen. Sie stolperte, doch sie lief weiter. Sie musste diese Seele finden. Wieder stolperte sie. Ein loser Pflasterstein. Laci fluchte – dann erstarrte sie. „Ich hab sie!“, rief sie laut aus, fiel vor dem Stein auf die Knie und zerrte ihn mit behandschuhten Fingern hoch. Mit einem dumpfen Aufschlag kam der Stein auf seinen Artgenossen zum Liegen, brachte nicht nur eine Lücke im Pflaster zum Vorschein, sondern auch… ein schlagendes Herz. Laci überkam Übelkeit, die sie mühsam niederrang, während sie nach ihrem kleinen Silberdolch griff. Ein Stich, und das körperlose Organ zerplatzte wie eine überreife Tomate, verspritzte eine dunkle, dampfende Flüssigkeit um sich herum. Mit einem ohrenbetäubenden, gequälten Kreischen verging der Dwojeduschnik. Laci nahm sich keine Sekunde, um sich ihrer Erleichterung hinzugeben. Sofort eilte sie zu ihrer Partnerin hinüber, die sie mit müdem Blick angrinste. Sie war verletzt, überall voller blutiger Kratzer, und zwei kleine, blutige Punkte an ihrem Hals zeigten den Flecken, wo das Monster sich hatte verbeißen wollen, ehe es zugrunde ging. „Gerade noch rechtzeitig“, kommentierte Lady Di, trotz ihrer Erscheinung völlig trocken und locker. Sie straffte die Schultern wieder, brachte mit einem Kopfschütteln ihr Haar wieder in Form und sah Laci dann abschätzend an. „Vielleicht wird doch noch was aus dir.“   Laci strahlte. Es war das größte Lob, das sie bisher bekommen hatte.     „Wir haben unsere eigene Jubiläumsparty verpasst“, verkündete Bloody Mary enttäuscht, als sie endlich zurück in ihrer Einsatzzentrale waren. Splatter hatte bereits in der Lücke auf dem Plakat am Kalender eine -3 notiert. Sie waren drei Tage zu spät. „Nächstes Jahr“, beschloss Bloody Mary lachend, „Wir haben ja noch einiges an Zeit vor uns hier! Nicht wahr?“ Big in Japan bejahte, Gore verkündete ächzend, dass er nächstes Jahr schon im Ruhestand sein wollte, doch niemand glaubte ihm so recht. Es ging einfach weiter. Laci war enttäuscht, dass sie ihr Jubiläum völlig vergessen hatten. Es war ein wichtiges Datum gewesen.   „Ich verstehe nicht einmal, wieso wir feiern müssen, dass wir es ausgehalten haben, so und so lange aufeinander zu hängen.“ Lady Di saß wieder auf ihrem Lieblingsplatz auf der Fensterbank, als Laci mit zwei Tassen Kaffee und einem betrübten Kommentar aus der Küche kam. Sie hob eine elegant geschwungene Augenbraue und schwang die Beine ebenso elegant von dem breiten Fensterbrett. Sie trat zu Laci hinüber, nahm ihr eine Kaffeetasse aus der Hand, beugte sich zu ihr hinab. „Feiern wir lieber, wie viel gemeinsame Zeit noch vor uns liegt. Und dafür brauchen wir nun wirklich kein Datum.“ Mit diesen Worten beugte sie sich weiter vor, bis ihre roten Lippen Lacis streiften. Ehe das perplexe Mädchen hätte reagieren können, war Lady Di mit wiegenden Hüften in ihrem Schlafzimmer verschwunden. Erst Minuten später kam wieder Regung in Laci, ein sanftes, seliges Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus. Die rote Blume, die sie einst in der Nacht der Sommersonnenwende gefunden hatte, lag getrocknet immer noch auf ihrem Schreibtisch.   Sie hatte Recht behalten. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)