In the Dead of Night von Puppenspieler (Sommerwichteln '15) ================================================================================ Kapitel 2: Drekavac ------------------- Die nächsten Aufträge, die sie ereilten, waren entweder nur rachsüchtige Hausgeister, die die neuen Besitzer ihrer Wohnstätten wieder vertreiben wollten, oder blinder Alarm – beides nichts, das Laci irgendwie größer beeindruckt hätte. Mit Hausgeistern hatte sie es schon in der Ausbildung zu tun bekommen, und blinder Alarm bedeutete ohnehin nichts anderes als ein bisschen ungeplante Freizeit. Bis die Sache mit den Schraten kam, verbrachte Laci eine fast ruhige Zeit voll simpler Aufträge, langen Telefonaten mit Eltern und Freunden, und seltenen Gesprächen mit Lady Di abends am Küchentisch über einer Tasse heißem Kaffee oder Tee. Laci mochte diese Abende wirklich sehr; je mehr sie von Lady Di kennenlernte, desto mehr schloss sie die harsche Frau ins Herz, die selten etwas von sich Preis gab, wenn es nicht nötig war. Auch jetzt, wo sie schon über zwei Monate zusammenarbeiteten, wusste Laci immer noch nicht viel mehr als den Namen ihrer Partnerin. Sie hatte nur dazu gelernt, dass sie eine große Narbe unterhalb der linken Brust hatte. Von einem Einsatz. Die Details wollte Lady Di nicht verraten. Außerdem mochte sie Hunde, aber das hatte sie Laci nicht verraten, sondern das hatte Laci einfach daran gelernt, wie oft Lady Di lächelte, wenn sie Hunde beim Gassigehen sah.   Die Schrate waren ein Problem in einer Neubausiedlung, die auf vorher unbebautem, verwildertem Land fertiggestellt worden war. Die dort ansässig gewesenen Schrate, eher einzelgängerische Naturgeister, fanden es überhaupt nicht lustig, ihre Heimat zu verlieren, und begannen, die Bewohner der neuen Wohnsiedlung zu terrorisieren, kaum, dass sie einzogen. In den meisten Fällen waren es keine schweren Vergehen, zumindest nicht auf physischer Ebene. Schrate allerdings erzeugten allein durch ihre Nähe schon heftigste Albträume, weshalb viele der Bewohner unter enormem Stress standen und dringend etwas gegen das Phänomen unternommen werden musste. Aufgrund der hohen Anzahl der Schrate, die sich hier umtrieben, wurde das gesamte Team an aktiven Jägern eingespannt, sowie Paper Boy, der sich hinterher um die Spurenverwischung kümmerte. Es war eine leidige Arbeit. Schrate waren klein, wendig, und sie hatten schon viel zu viel Zeit gehabt, sich Schlupfwinkel und Verstecke zu finden, in denen sie verschwanden, wenn man ihnen zu nahe kam. Da den Schraten eine positive Wirkung auf die Natur, in der sie lebten, zugesprochen wurde, war die erste Priorität nicht einmal, sie zu eliminieren, sondern schlicht, sie einzufangen und umzusiedeln. Nach zwei Tagen Jagd hatten Laci und Lady Di gerade mal einen Schrat erwischt, während Sasquatch und Bloody Mary noch komplett leer ausgingen. Es dauerte fast eine Woche, bis sich ein effektiver Trott eingestellt hatte, der zumindest sicherstellte, dass jedes Grüppchen am Abend ein bis zwei der kratzbürstigen Naturgeister ins nächste große Wald- und Wiesengebiet fahren konnte. Am ersten Morgen der zweiten Woche Schrat-Jagd hatte Paper Boy ein Whiteboard aufgestellt, auf dem er mit simplen Strichlisten darstellte, welches Team wie viele Schrate zur Strecke gebracht hatte. „Wir machen einen Wettbewerb draus. So als Motivation. Wer am Ende die meisten von diesen Kriechtieren erwischt, kriegt… huh. Na, der hat nen Gefallen bei sämtlichen anderen Leuten aus dem Team gut?“ Die Idee schlug ein wie eine Bombe. Es war keine große Sache, aber es als Spiel zu betrachten, machte es Laci viel einfacher, nicht zu frustrieren, wenn eines der kleinen Wesen ihr wieder durch die Lappen ging. Sie stürzte lachend und frohlockend hinterher, und irgendwo in der Ferne hörte sie Bloody Marys glockenhelles Kichern und Splatter fluchte unfeine russische Flüche, die Laci längst zu verstehen gelernt hatte. Sogar Lady Di lachte, wann immer sie einen Schrat festgesetzt hatte, grinste mit wildem Blick und gebleckten Zähnen zu Laci auf, das sonst so ordentliche, kurze Haar stand ihr wild und zerzaust vom Kopf ab, und sie hatte noch nie schöner ausgesehen.   Als es vorbei war, versammelten sie sich in einer hübschen, rustikalen Kneipe, um zu trinken, zu feiern und zu plaudern. Gewinner des Wettbewerbs waren nicht unerwartet Splatter und Gore, die ihre Gefallen gleich ganz unkompliziert einlösten, indem sie sich von jedem einen Drink spendieren ließen – „Wenn wir wirklich mal etwas brauchen, können wir uns sowieso aufs Team verlassen“, erklärte Gore in seinem breiten texaner Dialekt mit einem Grinsen, das eine Lücke zwischen seinen vollzähligen Zähnen entblößte. Es war ein wunderbarer Abend, voller Gelächter und Fröhlichkeit, der Laci noch lange in Erinnerung blieb. Selten hatte sie sich in einer Gruppe anderer Menschen so wohl gefühlt. Laci liebte ihre Einheit wirklich.     ***     Big in Japan sah aus, als hätte er ein paar Nächte nicht geschlafen. Dunkle Ringe unter den dunklen Augen, müder Blick, blasse Haut, und die große Tasse Kaffee, die auf seinem Tisch stand, schien nicht zu helfen. Bloody Mary und Sasquatch waren im Außeneinsatz zusammen mit Teilen eines anderen russischen Stützpunkts, von dem sie Unterstützung bekommen hatten, um eine Baba Jaga zu jagen. Splatter und Gore saßen ebenfalls im Besprechungsraum, Paper Boy und Firestarter waren auch da. Niemand sah wirklich wach aus, und auch Laci fühlte sich müde. Frühlingsanfang. Für die meisten Leute symbolisierte er ein Erwachen, einen Neubeginn, etwas Positives. Laci hingegen fand spätestens in diesem Jahr so gar nichts Positives daran. Die slawische Mythologie war der festen Überzeugung, dass die Zeit um den Frühlingsanfang mitunter die war, zu der die Geister und Dämonen am Stärksten waren – und am Häufigsten vorkamen. Leider hatte die Mythologie Recht: Im Moment gab sich Fall nach Fall die Klinke in die Hand. Laci war froh, wenn sie eine Nacht durchschlief, ohne zu einem Notruf gerufen zu werden, der sich aktuell leider nur noch sehr selten als falscher Alarm herausstellte. Sie gähnte, die Hand vor den Mund gehalten. Lady Di, obwohl so elegant und damenhaft, machte sich die Mühe gar nicht, reckte sich beim Gähnen ungeniert auf ihrem Stuhl. Laci lächelte flüchtig. Es mochte Einbildung sein, aber sie wollte sich einreden, dass Lady Di in den Monaten ihrer aller Zusammenarbeit um einiges lockerer geworden war. „Unser aktuelles Problem ist ein Drekavac. Übersetzt der Schreier genannt ist die wohl prägnanteste  Eigenschaft dieses Wesens der grausige Schrei, den es ausstoßen kann. Wer seinen Schrei hört, den überkommt angeblich großes Unheil bis hin zum Tode. Nun. Leider stimmt das. Ein Drekavac entsteht aus der Seele eines Neugeborenen, das verstorben ist, ehe es getauft wurde. Was seine Erscheinungsform angeht, scheiden sich die Geister. Mal tierisch, mal menschlich, mal ganz anders. Ihr werdet ihn spätestens hören, wenn ihr ihm begegnet.“ Big in Japan seufzte, klopfte auf die Tischplatte. Es war ein klares Zeichen dafür, dass er unzufrieden war. „Das größte Problem ist – es ist kein normales Geisterwesen. Überlieferungen zufolge kann man den Drekavac nicht töten oder austreiben – man kann nur seiner Seele den Frieden bringen, wenn er die Gestalt eines kleinen Kindes annimmt. Der verbreitetste Glaube ist, dass es einer Taufe bedarf, um ihn zu befreien. Da wir kein entsprechendes Personal haben, haben Firestarter und ich bereits einen Außenstehenden um Hilfe gebeten, der bereits seit einigen Jahrzehnten Kontakt zum Übernatürlichen hat und unsere Sache schon mehrfach unterstützt hat. Der Drekavac, scheinbar noch den Instinkten seines menschlichen Lebens folgend, fühlt sich am Ehesten hingezogen von Familien. Da Bloody Mary und Sasquatch aber noch eine ganze Weile beschäftigt sein werden, müssen wir mit dem Vorlieb nehmen, was noch halbwegs überzeugend ist – Frauen. Es könnte durch den Anblick einer Frau an seine Mutter erinnert werden und sein wahres, verletzliches Ich zeigen, statt in Gestalt eines Monsters daherzukommen.“ Er sah auf, direkt zu Lady Di und Laci hinüber. Lady Di ächzte unbegeistert. „Ehrlich? Ich soll Mütterchen für ein Dämonenbalg spielen? Na wunderbar.“ – „Bei deiner Einstellung wird sich das Vieh eh Liddell Alice an den Hals schmeißen“, gackerte Paper Boy amüsiert, wofür er einen bösen Blick bekam und einen gezielt gegen seine Schläfe geworfenen Kugelschreiber. Sofort war er wieder still, schob lieber schmollend die Unterlippe vor und begann dann, eifrig auf seinem Smartphone herumzutippen; sobald klar war, dass sein Typ hier nicht verlangt war, stürzte er sich immer in seine Technik. „Ihr solltet vorsichtig sein“, führte Big in Japan seinen Vortrag fort, als wäre nichts gewesen, „Zwar ist nicht bekannt, ob der Drekavac in seiner Gestalt als Kleinkind auch physischen Schaden anrichten kann, aber im Zweifelsfall solltet ihr ihm nicht einfach zu nahe kommen. Außerdem soll sein Erscheinen Unglück und einen baldigen Tod bringen, also – seid vorsichtig, wirklich.“   Der Kommentar des nahenden Todes ließ Laci zu ihrer Partnerin sehen. Sie erinnerte sich noch an die Erzählungen über deren Partnerverschleiß zu Beginn ihrer Zusammenkunft. Lady Di blickte stoisch nach vorn, die roten Lippen zusammengepresst und einen Ausdruck vollkommener Entschlossenheit und Stärke auf dem winterblassen Gesicht.     Der Drekavac trieb scheinbar sein Unwesen in einem heruntergekommenen, lieblosen Wohnblock mit abblätternder, bröckliger Fassade, langen Rissen im Putz und schmutzigen, schmucklosen Graffiti. Die Flurwände waren vergilbt und lange nicht mehr gestrichen worden, der Boden alt und hatte längst seine schönsten Tage hinter sich. Ein paar Deckenlampen funktionierten nicht, so dass das Licht je nach Stockwerk eher schummrig war. Es sah schon aus wie mitten aus einem Horrorfilm entnommen. Laci verstand, dass dieses schaurige Wesen sich diesen schaurigen Ort für seinen Spuk ausgesucht hatte. Unwohl zog sie die Schultern hoch, während sie neben Lady Di durch die Gänge lief. Ihre Schritte hallten von den Wänden wider, erzeugten ein unheimliches Echo, als würde ihnen eine Unzahl an seltsamen Wesenheiten auf Schritt und Tritt folgen. „Wenn wir das Vieh finden, bleibst du ruhig, verstanden?“, blaffte Lady Di schon fast. Laci schürzte beleidigt die Lippen. Seit ihrem Zusammenstoß mit der Rusálka ganz zu Beginn ihrer Partnerschaft war Laci kein einziges Mal mehr in Panik geraten! Aber wenn sie ehrlich war, hatten sie seitdem auch nur vergleichsweise harmlose Fälle bearbeitet, bei denen nie so etwas Gravierendes wie eine Todesdrohung im Raum gestanden hatte.   Lady Di hätte sich die Mahnung allerdings sparen können – Laci hätte nichts anderes tun können, als ruhig – erstarrt – zu verharren, als sie den Drekavac sah, erhellt durch das unstete Licht einer flackernden Leuchtstoffröhre. Auf den ersten Blick war er ein kleines Kind, ein kleiner Junge mit zotteligem Haar, schmutziger Kleidung und einem unschuldigen Kindergesicht. Aber seine Augen! Laci konnte den Blick nicht von ihnen wenden, während Panik ihr die Glieder lähmte und ihr die Kehle zuschnürte. Es war nichts, das man hätte direkt benennen können. Seine Augen waren Kinderaugen, Menschenaugen, dunkle Iris, wacher Blick. Doch es lag eine so abgrundtiefe, schwere Bosheit in ihnen, dass es Laci den Atem verschlug. Mit einem Mal schien es mehrere Grad kälter im Raum zu sein – und waren das Dampfwölkchen, die ihr Atem in der Luft hinterließ? Sie hörte nur am Rande, wie Lady Di kurz in ihr Telefon sprach, um den Geistlichen zu informieren, wo genau im Gebäude sie waren. Innerhalb weniger Minuten würde er hier sein. Bis dahin mussten sie den Drekavac festhalten. Und dann begann er zu schreien. Es war das grausigste, abstoßendste Geräusch, das Laci in ihrem ganzen Leben gehört hatte. Wie eine ganze Armee an gequälten, gefolterten Kinderstimmchen, die sich zu einem unheimlichen, unmenschlichen Jaulen hochgeschraubt hatten, dem es an allem fehlte, was es einmal natürlich und menschlich gemacht hatte. Sie schlug die Hände vor den Mund, bebend, ihre Knie drohten nachzugeben, doch noch hielt sie die Schockstarre aufrecht. Dabei tat ihr dieses kleine, kinderähnliche Wesen fast Leid. Es sah aus wie ein normales, plärrendes Kind, das seine Mutter im Gedränge des Einkaufszentrums nicht fand. Nur die unmenschlichen Laute, die es von sich gab, erinnerten gerade daran, dass dieses Kind hier alles andere als normal und menschlich war. Hätte Laci nicht so große Angst, sie hätte ihn in den Arm genommen und getröstet.   Ehe sie etwas ähnlich Dummes hätte tun können, setzte Lady Di sich in Bewegung. Ungerührt, mit straffen Schultern und entschlossenem Blick. Sie hob eine Hand, um Laci zu signalisieren, dass sie bleiben sollte, wo sie war, und dann trat sie mit langsamen Schritten auf den Drekavac zu, als wäre es das Normalste der Welt. Sie war so unglaublich stark. „Shhh. Es ist gut“, sagte sie, gerade laut genug, dass Laci sie noch hören konnte. Lady Di ging vor dem kleinen Jungen in die Hocke, ihre Stimme so unnatürlich sanft, dass es Laci Unbehagen bereitete; es wollte einfach nicht zu der Frau passen, die sie bisher kennengelernt hatte! Sie tätschelte dem Jungen das Haar, begann wortlos ein russisches Kinderlied zu singen, das Liquid Liar oft vor sich hin summte, wenn er sonst nichts zu tun hatte. Zu Lacis Erstaunen beruhigte sich das kleine Wesen tatsächlich. Hörte auf zu schreien. Sofort hatte sie das Gefühl, eine riesige Last sei von ihren Schultern genommen, und langsam löste sich all die Anspannung in ihren Gliedern. Dennoch immer noch mehr als unbehaglich sah sie zu, wie Lady Di den Jungen an sich drückte, dabei heimlich einen kleinen Behälter aus der Manteltasche holte. Er enthielt Salz – selbst wenn der Drekavac kein normales Geistwesen war, so sollte er wie jedes andere Geistwesen mit dem Salz einzufangen sein, zumindest war das ihre Hoffnung. Der Drekavac schien gar nicht zu merken, was Lady Di tat, während sie in fast chirurgischer Präzision einen Kreis um das Wesen und sich selbst zog. Als sie fertig war, löste sie sich, und mit einem eleganten Satz war sie aus dem Kreis verschwunden. Ein Moment verging, in dem der Drekavac verarbeitete, was geschehen war, dann fletschte er die Zähne, seine Kinderaugen glühten fanatisch vor eiskalter Boshaft und Wut. Und dann schrie er wieder, so laut, so markerschütternd durchdringend, dass selbst Lady Di sich die Ohren zuhielt. Es war grauenhaft. Laci war nur froh, dass ihre Unterstützung kurz darauf kam, und nach einer recht improvisierten Taufe… verschwand das Wesen einfach. Die plötzliche Stille dröhnte so laut in ihren Ohren, dass es schmerzte, aber noch nie war Laci so froh gewesen, einfach gar nichts zu hören außer den üblichen Hintergrundgeräuschen des Lebens. Den ganzen Heimweg über schwiegen sie und Lady Di, und auch die nächsten Tage fühlte Laci sich nicht danach, die wohltuende Stille zu durchbrechen.   „Mal sehen, wie lange ihr beide noch lebt“, war Paper Boys Willkommensgruß, als sie wieder in die Kommandozentrale kamen. Lady Di warf ihn locker über den Tisch, mit wildem Blick, drückte ihn fest auf den glatten Untergrund hinunter. „Mal sehen, wie lange du noch lebst.“     Wie sich herausstellte, erfreuten sie sich alle noch Monate später bester Gesundheit. Laci dankte allen ihr bekannten und unbekannten Göttern dafür. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)