Farben schmecken von mickii-K ================================================================================ Kapitel 1: Hand in Hand ----------------------- Ein Monat zuvor Das helle Läuten meines Weckers riss mich aus meinem ruhigen Schlaf. Aufstehen gehörte zu einem der Dinge in meinem Leben, die ich verabscheute. Denn Schlaf war für mich viel mehr, als nur eine Notwendigkeit für den Körper. Es war wundervoll, die Augen zu schließen und in die Projektionen des Gehirns einzutauchen. Eine Welt, die es für mich außerhalb eines Traums nicht geben würde. Farben, deren Namen ich nicht mehr kannte, erfüllten die Dunkelheit. Mein kleiner Projektor im Gehirn ließ mich sehen, was sich mein Unterbewusstsein als kleines Kind gemerkt hatte. Ich seufzte nur. Heute Nacht könnte ich wieder dahin zurückkehren, doch jetzt hieß es, dem Alltag wieder die Stirn zu bieten. Müde rieb ich mir meine Augen wach und strich mir meine wirren Haare zurück. Ich musste morgens schrecklich aussehen, wenn ich es nach meinem Gemütszustand beurteilte. War es normal sich im wahren Leben so deprimiert zu fühlen? Unausgeglichen und irgendwie leer? Ich raffte mich jeden Tag aus diesem Bett, stolperte durch die Straßen von La Push, hatte ein geregeltes Leben und doch fehlte es an etwas. „Hör auf darüber nachzudenken Norah“, tadelte ich mich selbst. Meine Stimme klang anders in der Früh. Rauer als normalerweise, doch keineswegs unangenehm. War es selbstverliebt zu denken, dass der Klang der eigenen Stimme schön war? Ich lächelte kurz bei diesem Gedanken. Eitelkeit war doch keine schlechte Eigenschaft. Die erfolgreichsten Menschen unter uns hatten immer eine überaus gesunde Portion an Selbstbewusstsein. Die Schönheit lag im Auge des Betrachters. So sagten es die Menschen zumindest. Menschen, die sehen konnten und doch hatte ich das Gefühl, das sie so oft geblendet sein mussten, denn sie übersahen so vieles. Vermutlich vertraute ein Mensch seinem Augenlicht mehr, als den Ohren, die so viel mehr über einen anderen herausfinden konnten. Zum Beispiel, wenn sie logen, veränderte sich die Tonlage ihrer Stimme. Wenn sie traurig waren, dann wurde ihre Stimme trüb und tief, bei Nervosität zitterte sie leicht. Es war eine eigene Welt, die mich so viel sehen ließ. Ich schüttelte kurz meinen Kopf, um ihn freizubekommen. Meine Gedanken waren wieder einmal zu wirr. Sobald ich wach war, wanderten sie von einem Themengebiet ins andere. Drehten und wendeten es, inspizierten jeden erdenklichen Teil, der unaufgeklärt war. Es war fast so, als hätte mein Denken ein Eigenleben entwickelt und ich durfte gnädigerweise nur dabei sein. Ein leises Kichern entrang aus meiner Kehle und ich rutschte zum Rand meines Bettes. Routiniert betätigte ich eine Taste und lauschte den Informationen, des kleinen Geräts. „Guten Morgen. Heute ist Freitag, der 8. April 2016. Die Außentemperatur beträgt 50 Grad*. Es wird sonnig. Die Tageshöchstwerte liegen bei 59 Grad* im Schatten“, sprach die mechanische Stimme meines neuen Hilfsgadgets zu mir. Ich mochte diese kleinen Hilfsmittelchen, die mir mein Leben so viel einfacher machten. Ein Lächeln breitete sich auf meinem Gesicht aus. Es würde warm werden. Unglaublich, aber wahr! Es sollte tatsächlich die Sonne scheinen! Das erste Mal seit dem Frühlingsbeginn. Ein warmes Gefühl umspielte mein Herz. Ich liebte es, wenn sich die Sonne zeigte. Es war ein unfassbares und einzigartiges Gefühl, dass ihre Strahlen erzeugten. Dieses warme Kitzeln, wenn meine Haut sich mit ihrer Energie auflud. Wie konnte man an solchen Tagen nicht fröhlich sein? Ich würde den heutigen Tag draußen verbringen. Mit Bailey einen Spaziergang zum Strand machen und danach könnte ich selbst ein paar Dinge einkaufen, ohne Jonathan zu belästigen. Zustimmend nickte ich mir zu und ging auf den Schrank zu. Da es warm werden würde, könnte ich etwas Offeneres anziehen, um mehr von der Sonne einfangen zu können. Ich strich über die Bügel und konzentrierte mich auf das Etikett, das bei jedem Einzelnen angebracht war. Es war Jonathans Idee gewesen, da er meine wild zusammengewürfelten Kleidungsstücke nicht ertragen konnte. Sie hatten oft nicht zusammengepasst. Sich angeblich farblich so stark widersprochen, dass andere Menschen über mich getuschelt hätten. Nicht das mich Letzteres belastete. Ich lebte immerhin in La Push. Einem kleinen Städtchen, das manche als ein Dorf interpretieren würden. Ein Ort, an dem jeder jeden irgendwie kannte und die Nachbarin mehr von einem wusste, als man selbst. Hier tuschelten sie alle über mich. Vergaßen, dass meine Ohren unfassbar gut waren und ich sie hören konnte. Doch ich mochte die Idee von Jonathan, weshalb ich seinen Vorschlag gerne angenommen hatte. Alles, was mir mein Leben erleichterte, nahm ich gerne an. Ein Etikett verriet mir, dass auf dem Bügel ein bodenlanges Kleid mit Blümchenmuster hing und einer dazu passenden hellen Strickjacke. Perfekt für ein warmes Frühlingswetter. Lächelnd zog ich es aus dem Schrank und ging mit dem Bügel ins Badezimmer. Während ich mir meine Zähne putzte, spielte ich mit dem flauschigen Teppich unter meinen Füßen, indem ich die Fransen zwischen meine Zehen gleiten ließ. Es kitzelte angenehm und beruhigte mich. Es war eine vertraute Spielerei von mir, die ich, seit ich denken konnte, beim Zähneputzen machte. Nachdem ich fertig war und umgezogen wieder zurück ins Wohnzimmer ging, schaltete ich meine Audioanlage ein und ging in die Küche, um mir einen Kaffee zu holen. Der Holzboden unter meinen nackten Füßen war kalt und rau. Ich trug zu Hause weder Schuhe noch Socken, da ich mein Tastgefühl liebte. Warum sollte ich mir etwas freiwillig nehmen lassen? Ich nahm mir eine Tasse aus der Küchentheke und zog die volle Kaffeekanne aus dem Automaten. Jonathan hatte ihn schon zubereitet, bevor er raus gegangen war. Mittlerweile hatte ich ein Gefühl für die neuen Tassen entwickelt und wusste, wie viel ich hineingießen konnte. Jonathan hatte sie letzten Monat ausgewechselt, weil sie seiner Meinung nach zu alt und hässlich gewesen waren. Als ob mich ihr Aussehen gestört hätte. Ich schmunzelte bei dem Gedanken und ging zurück ins Wohnzimmer. Die Musik zarten Töne meines Lieblingsstücks erfüllten den Raum. Tiefer Bass rumorte in meinem Bauch und ich seufzte. Ich liebte diese Anlage über alles. Man konnte so vieles heraushören. Die Botschaft des Komponisten so deutlich aufnehmen. Es war einfach wundervoll. Das vertraute Klacken des Türschlosses war im Hintergrund zu hören. Die Tür wurde aufgerissen und der Wind pfiff in einem hohen Ton, als er in die Wohnung peitschte. Genüsslich atmete ich die frische Luft, die aus einer Mischung aus Meer und Wald roch, ein und wartete lächelnd auf Bailey. Keine Sekunde später vernahm ich, wie seine Krallen am Boden schabten, während er zu mir trabte. „Na mein kleiner Junge. War dein Spaziergang mit John schön?“, fragte ich ihn mit einem Lächeln auf den Lippen und grinste, als Bailey seinen Kopf auf meinen Schoß legte. Ich vergrub meine Finger in sein kurzes Fell und kratzte ihn hinter den Ohren, was ihm ein genüssliches Schnaufen entlockte. Bailey war ein Labrador und laut Jonathan, schwarz und mit einem grimmigen Ausdruck im Gesicht. Als ob mein kleiner, zweijähriger Bailey grimmig wäre. Wie alle anderen vertraute John nur seinen Augen und hörte nicht, wie Bailey sich fühlte. Ich schüttelte den Kopf. Menschen, die sehen konnten, waren so unfassbar blind. „Wir waren am Strand. Ich hab alles erledigt. Er hat seinen Haufen gemacht, sich ausgetobt und ist nach dem Frühstück jetzt, bereit für seinen Einsatz“, erzählte mir John und ich grinste, bei seiner gespielt genervten Tonlage. Jonathan hatte wie ich, eine rauchige Stimme, doch seine war viel tiefer und irgendwie auch melodischer. Wenn ich sie hörte, fühlte ich mich geborgen. Sie war mir vertraut, auch wenn ich manchmal seine kindliche Stimme vermisste. Denn diese Tiefe passte nicht zu dem Bild in meinem Kopf, das ich hatte, wenn ich an ihn dachte. Bilder von ihm, die ich noch aus Kindertagen kannte. Ich seufzte leise und spürte, wie Bailey sich zu mir drehte. Liebevoll knuffte ich ihn, damit er sich keine Sorgen machte. Er war ein wunderbarer Hund. „Danke dir, Johnny. Du bist der Beste“, ich sah zu ihm und lächelte ihn an. „Natürlich bin ich das.“ Seine Stimme triefte vor Schalk. Ich konnte nicht anders als dabei zu kichern. Jonathan war der beste Mensch, den es auf dieser Welt gab. Er vernachlässigte all seine Bedürfnisse, um meinen entgegen zu kommen. Menschen, wie ihn, gab es sehr selten und ich liebte ihn dafür über alles. Ohne ihn und Bailey wäre mein Leben nicht lebenswert. So hatte ich zumindest einen Ansporn zu kämpfen. Jeden Morgen aufzustehen und mich der Dunkelheit gegenüberzustellen. Dank ihnen hatte ich die Kraft mit der Finsternis Hand in Hand durchs Leben zu wandern. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)