Nicht dein Leben... von Grayson ================================================================================ 20. --- Die Tage rannen dahin. Gemeinsam mit Roy hielten sie abwechselnd Nachts die Augen offen, sorgten für Ruhe in Gotham und Sicherheit auf den Straßen. Dealer, Kleinganoven, Diebe und so einige andere Verbrecher fanden ihren Weg in die hiesigen Gefängniszellen. Es verwunderte schon ein wenig, dass diese noch nicht aus allen Nähten platzen. Während Richard und Tim arbeiteten durchforstete Roy die Weiten des Netzes immer auf der Suche nach all den anderen Superhelden. Ab und zu fand er einen der Namen. Bei den anderen musste er geschlagen aufgeben. Jede Recherche wurde festgehalten, die Dateien aktualisiert und schon bald ergaben sie ein eindeutiges Bild. Es existierten tatsächlich keine Metawesen und Außerirdische schienen nie den Weg auf die Erde gefunden zu haben und so blieb es bei ihnen, bei Superhelden ohne Superkräfte. Fünf Tage blieb Roy noch in Gotham, ehe Lian und er sich wieder auf den Weg nach Star City machte, um dort nach dem Rechten zu schauen und sich mal wieder bei Ollie blicken zu lassen. Richard und Barbara erledigten die letzten Handgriffe und gegen Ende Januar war das zweite Kinderzimmer endlich vollständig eingerichtet und schien sehnsüchtig auf seinen neuen Bewohner zu warten. Bruce Reha verlief nach der erfolgreichen Operation gut. Er konnte sein Knie beinah wieder vollständig belasten. In vierzehn Tagen würde der Millionär zurückkehren und dann sein eigenes Trainingsprogramm aufnehmen. Timothy und Ariana suchten nach der perfekten Location für ihre Hochzeit und Barbara hoffte jeden Tag, dass es bald soweit war. Trotz der verdächtigen Ruhe die im Moment über Gotham lag, fand Richard diese nicht. Es war, als würden tief in ihm immer und immer wieder, alle Alarmsirenen schrillen. Er konnte sich die innere Unruhe nicht erklären und versuchte so gut wie möglich damit umzugehen und es zu ignorieren. Vielleicht lag die Unruhe aber auch nur daran, dass er demnächst zum zweiten mal Vater wurde. Zumindest verbarg er seine Nervosität so gut es ging vor Barbara, damit nicht auch noch sie durch Sorgen gequält wurde. Jason Todd schien wie vom Erdboden verschluckt zu sein. Red Hood meldete sich nicht und es gab auch keine Hinweise darauf, das dieser irgendwo gesichtet wurde. Roys Träume hatten sich verzogen, quälten ihn nicht mehr und er sah auch keinen Grund, diese mit Hilfe von Peyote hervorzurufen. Vielleicht hatten sich die Zeitlinien stabilisiert oder aber Red Hood reiste noch immer mit Rewind und Repeat hin und her und veränderte dadurch ihr Leben, ohne das sie es bemerkten. Richard wusste es einfach nicht. Dennoch wurde er das Gefühl nicht los, dass etwas in der Luft lag. Im Fall Katie Miller tat sich auch nichts. Richard wusste, dass Tim noch immer an dem Fall dran war und sporadisch Filter laufen ließ, aber bei seiner Suche nichts fand, genauso wie Dean, mit dem Richard sich heute zum Kletten verabredet hatte. Auf dem Dachboden suchte der dunkelhaarige Mann seine Klettersachen zusammen, die Schuhe, die Karabiner, die Seile und den Klettergurt. All die Utensilien verstaute er in einem Rucksack und ging im Kopf noch mal alles durch, ob er auch wirklich nicht vergessen hatte etwas einzupacken. Männerabend, endlich mal wieder, nach langer Zeit. Er freute sich darauf. Endlich mal wieder er selbst sein und nicht Nightwing. „Dad!?“ „Auf dem Dachboden, Johnny“, antwortete er. „Darf ich mitkommen?“ Die Hände in den Hosentaschen vergraben stand der Junge in der Tür. „Dean und ich gehen klettern.“ Skeptisch betrachtete der Vater seinen Sohn, der sich bisher nichts aus dem Klettersport machte. „Ich weiß, aber mir ist so langweilig.“ Neugierig trat Johnny näher, schaute in den Rucksack und erklärte: „Lian ist fort, Onkel Tim ist nicht da und draußen ist es schon dunkel.“ „Nicky hat keine Zeit für sich?“ Richard zog den Reißverschluss des Rucksacks zu. „Der ist bei der Geburtstagsfeier seines Opas.“ Die Hände noch immer in den Hosentaschen, blickte Johnny mit gesenktem Kopf auf die Holzdielen und trat unruhig von einem Fuß auf den anderen. Aus der Hocke kommend, hob Richard den Rucksack auf eine Schulter und betrachtete nachdenklich seinen Sohn. „Okay, Großer, wenn ich dich mitnehmen soll, dann musst du mir versprechen, dass du nicht quengelst!“ Sanft schob er einige schwarze Haarsträhnen aus Johnnys Stirn. „Ich möchte nicht hören, dass du lieber nach Hause willst, weil Dean oder ich gerade mal keine Zeit haben, uns um dich zu kümmern.“ Ganz langsam hob der Sechsjährige den Blick. Er biss sich auf die Unterlippe, schien angestrengt nachzudenken und dann nickte er begeistert. „Versprochen.“ Auf dem Absatz machte Johnny kehrt, stürmte die Stufen hinab und rief: „Daddy nimmt mich zum Klettern mit.“ Einmal tief durchatmen. Das würde ein Abend werden. Wenigstens konnten sich so die Frauen einen gemütlichen machen. Durch das Gespräch mit einem Sohn abgelenkt, öffnete er noch einmal den Rucksack, schaute nach, ob er auch wirklich nichts vergessen hatte. Für Johnny würde er vor Ort einen Klettergurt leihen. Er löschte das Licht, begab sich in das Reich seines Sohnes, um für diesen ein paar Shorts und ein Wechsel-T-Shirt zu holen. Irgendwo mussten doch auch noch Hallenturnschuhe sein? Ah ja, ganz hinten im Schrank, wo sonst? Im Wohnzimmer angekommen, beobachtete er, am unteren Ende der Treppe angekommen, wie seine Frau sich durch einen Stapel Fotos wühlte. Was das Sortieren ihrer Erinnerungsfotos betraf, gab Familie Grayson nicht gerade die ordentlichste ab. Ihnen fehlte einfach die Zeit dazu. Niemand kam mehr dazu die Bilder in ein Album zu kleben. Sie schafften es auch nicht, wie andere, ein Photobuch zu erstellen. Richard war schon froh darüber, dass er es ab und zu hinbekam, ein paar Schnappschüsse in einem Fotoatelier entwickeln zu lassen. Er selbst kam gar nicht auf den Gedanken das Photolabor in der Höhle zu benutzen. Diese Refugium gehörte Bruce und Tim und seinen kleinen Bruder zu fragen, verbot er sich. Daher existierte in ihrem Haushalt genau ein Photoalbum, welches Barbara nach Johnnys Geburt anlegte. Hin und wieder klebte sie einige Fotos ein, versah sie mit einem Datum und dem Ort, an dem sie entstanden. Johnny würde dieses Album erhalten, wenn er irgendwann einmal auszog. „Denkst du wirklich, es ist eine gute Idee Johnny mitzunehmen?“, fragte Barbara leise, als sie ihren Mann bemerkte. „Das wird sich zeigen.“ Neben ihr nahm er auf dem Sofa Platz, griff nach dem Stapel Bilder, den sie zur Seite gelegt hatte und schaute diese an. Johnny und Lian vor ihrem Superheldenschneemann, hinter ihrer Legostadt und während der Maleraktion mit Eis verschmierten Mündern und überall mit orangener Farbe bekleckst, Johnny auf dem Sofa schlafend, dabei Jason als Kopfkissen benutzend. Ein warmes, stolzes Lächeln auf dem Gesicht, betrachtete Richard seinen Sohn und freute sich darauf, wenn schon bald ein weiterer Graysonsprössling auf den Fotos zu sehen sein würde. „Emily und ich holen Johnny gegen 21:00 Uhr ab. Dann habt ihr noch etwas von eurem Kletterabend.“ „Das Angebot werde ich nicht ausschlagen.“ Die Bilder zurück auf den Tisch legend, blickte Richard auf, schaute in die grünen Augen vor sich, die ihm so vertraut waren und erklärte leise, aber von ganzem Herzen: „Ich liebe dich!“ „Ich dich auch!“ Ernst gemeinte Worte. Sie sagten es sich viel zu selten, aber wenn er es tat, dann tat er es, weil er es gerade wirklich fühlte und nicht wie Jenny und Michael, die diese drei so besonderen Worte, seiner Meinung nach, viel zu oft benutzten. Selbst am Telefon hörte er, wie die beiden sie sich sagten, selbst wenn sie sich nur an einen Termin erinnerten oder über das Abendessen sprachen. Nein, für ihn sollten diese Worte immer etwas besonderes bleiben. Bei mehrmaligen Gebrauch am Tag, war er sich sicher, würden sie sich abnutzen und zu etwas alltäglichem verkommen, wie das übliche Guten Morgen. Er versank regelrecht in dem leuchtenden Grün ihrer wunderschönen Augen, streichelte sanft mit den Fingerspitzen über ihre Wangen, ehe er ihr Gesicht sanft in die Hände schloss und ihre vollen Lippen sanft und zärtlich küsste, ohne Verlangen, ohne Gier, nur mit viel Gefühl und all seiner Liebe. Noch ewig hätte er die Frau in seinen Armen weiter küssen können, aber das Läuten an der Tür, zog ihn zurück in das Hier und Jetzt, hinfort von seinen Träumen und Wünschen. Aufgeregt bellte Jason, lief zur Haustüre, hockte sich davor und winselte nur noch leise, als Zeichen, dass kein Fremder vor der Türe stand. Dem Hund folgten stampfende Kinderschritte, als Johnny die Stufen hinab eilte und rief: „Ich mach auf!“ Noch einmal die Lippen auf Barbaras senkend, löste Richard sich von ihr und erhob sich. Er würde den Kuss heute Nacht zu einem Ende bringen müssen. „Hey Kleiner!“, grüße Dean Johnny, nachdem dieser die Tür aufgezogen hatte und wuschelte ihm zur Begrüßung durchs Haar. „Kommt rein!“, rief Barbara und Richard erhob sich von der Couch, um die Freunde Willkommen zu heißen. „Weißt du was, Dean“, plapperte Johnny sofort drauf los, während der Detective und seine Freundin den Korridor betraten. „Was denn?“ Der dunkelhaarige und dunkelhäutige Mann, der auf dem Revier von allen nur 'Vereinte wandelnde Nation', genannt wurde, da seine Vorfahren aus Afrika, von Hawaii und aus Norwegen und Italien stammten, half Emily aus ihrem Mantel, den er auf einen leeren Bügel an der Garderobe hängte. Stolz reckte der Sechsjährige sich. „Ich komme mit euch klettern.“ Fragend blickte Dean zu Richard, der nur entschuldigend mit den Schultern zucken konnte. „Aber nur bis um neun, Johnny, dann holen Emily und ich dich ab.“ Barbara ignorierte ihren schmollenden Sohn und trat lieber zu Emily. Die beiden Frauen umarmten sich. „Ich hätte uns nur zu gern Sushi bestellt, aber ich darf ja nicht.“ „Das holen wir nach“, lachte Deans Freundin und fuhr sich mit den Fingern in das lange, krause, schwarze Haar um es aufzulockern und schlüpfte aus den Pumps, die sie trug. „Stattdessen hab ich was beim Thai bestellt.“ Etwas lauter fuhr Barbara fort. „Wir können Johnnys Fischküchlein also mitessen.“ „Nein...“ Entsetzt blickte der Junge seine Mutter an. „Und die süßen Kugeln, die Johnny so sehr mag, auch...“ „Nein...“ Johnnys Blick huschte zwischen den Erwachsenen hin und her. „Ich glaube, deine Mom nimmt dich nur auf den Arm“, lachte Dean und kraulte Jason den Kopf, da ihm der Hund noch immer mit der Schnauze gegen den Oberschenkel stieß. „Ich stell deine Tod man pla und die Met kanoon in den Kühlschrank“, beruhigte Barbara ihren Sohn, hauchte ihm einen Kuss auf den Scheitel und reichte ihm die dicke blaue Daunenjacke. „Du isst mit Dean und deinem Dad im 'Limit' und du hörst auf das, was sie dir sagen!“ „Ja“, grummelte der Junge anscheinend noch immer ein wenig eingeschnappt, zog sich aber die Jacke über. „Hast du gehört, was ich sagte?“, fragte Barbara, nun eine Spur ernster. „Auf Daddy hören“, wiederholte der Junge, schlüpfte in seine Schuhe und bückte sich, um diese zuzubinden. „Da müssen wir wohl deinen Wagen nehmen“, überlegte Dean, sich dabei an Richard gewandt. „Oder wir bauen den Kindersitz um.“ „Umparken“, schlug Richard vor, nahm seinen Wagenschlüssel und verließ das Haus, um den Ford aus der Garage zu fahren, damit Dean seinen Flitzer, eine alte, aufgearbeitete Corvette einparken konnte, danach brachen die drei Richtung Gotham auf. In einem der Industriegebiete, hatten pfiffige Geschäftsführer eine der stillgelegten Fabrikhallen in ein Kletterparadies mit Hochseilgarten und Skaterpark verwandelt. Seit dem Tag der Eröffnung vor sechs Jahren waren Richard und Dean Mitglied, so wie auch Timothy und Roy, der nur zu gern, wenn er zu Besuch war, dem Hochseilgarten einen Besuch abstattete. Richard freute sich auf den Abend. Im November hatte er das letzte Mal Zeit gefunden. Das er heute seinen Sohn mitbetreuen musste, störte ihn nicht weiter. Zur Not gab er Johnny einfach bei dem Kinderbetreuungsteam ab. Dort würde er sich mit den anderen Kids austoben können und neue Freundschaften knüpfen. Erst mal jedoch, wollte der Dunkelhaarige abwarten. Wer weiß, vielleicht fand Johnny ja Gefallen am Klettern. Der große Parkplatz war gut gefüllt und so musste Richard ein wenig suchen, aber dann fand er eine freie Lücke, die groß genug war, um den Ford abzustellen. Johnny nicht aus den Augen lassend, betraten sie die alte Industriehalle. Begrüßt wurden sie durch bunte Graffiti und einem riesigen Anmeldetresen, hinter dem Alex, ein drahtiger, blonder Mann mit langen Haaren, die er heute zu einem Zopf gebunden trug, stand und sie anstrahlte. „Richard, Dean“, grüßte er und trat hinter seiner Theke hervor. Direkt vor Johnny, der sich staunend umschaute, blieb der junge Mann stehen und ging in die Knie. „Du bist sicherlich Johnny.“ „Bin ich“, antwortete der Sechsjährige und ließ sie einfach stehen. Sein Aufmerksamkeit galt der großen Vitrine, in der unzählige Pokale, Medaillen und Urkunden auslagen. „Alex, wärst du so freundlich, für Johnny einen Gurt rauszusuchen?“ Richard war sich ziemlich sicher, dass sein Sohn, wenn er schon mal hier war, sich an einer der Kletterwände versuchen würde. „Klar. Tragt ihr euch derweil ein.“ Alex schob ihnen das dicke Anwesenheitsregister zu. „Johnny!“ Dreimal musste Richard seinen Sohn ansprechen, ehe dieser überhaupt reagierte. Völlig fasziniert stand dieser unterdessen vor der Glasscheibe, die die Empfangshalle von der eigentlichen Halle trennte und blickte in das Innere. „Gehst du bitte mit Alex mit, damit er dir einen Klettergurt geben kann!“ „Mach ich.“ Den Blick noch immer auf die Kletterwände mit den bunten Klettergriffen gerichtet, stolperte Johnny über die eigenen Füße, als er sich umdrehte. Der Junge fing sich, grinste seinen Vater an und folgte dem blonden Mann. „Es gibt zwei neue schwarze Routen mit der Schwierigkeit 5.15a“, erinnerte Dean sich an den Newsletter, den er zum Neujahr vom 'Limit' erhielt. „Neue Herausforderungen.“ Nickend trug sich Richard nach seinem ehemaligen Mitbewohner in das Buch ein. Sichtlich stolz, mit einem blauen Klettergurt über den Jeans und einem Brustgurt kehrte Johnny zurück. „Der Gurt musste unbedingt blau dein“, lachte Alex und räumte das Mitgliederverzeichnis weg. „Ich habe neue Wege gesteckt.“ „Wir sagen dir hinterher, ob sie gut waren“, lachte Richard. „Los Johnny, umziehen!“ Die Hand auf Johnnys Schulter gelegt, schob Dean den Sohn seines Freundes vor sich her, in Richtung Umkleide. Leer lag der Raum vor ihnen. Einige Spinds standen offen. „Kannst du den Gurt alleine ausziehen?“, fragte Richard, während er den Rucksack, an einer der Bänke, öffnete und aller hervorholte. „Klar.“ Sich auf die Unterlippe beißend, werkelte Johnny an den Verschlüssen, so lange, bis Richard ein Einsehen hatte und seinem Sohn half, danach reichte er ihm T-Shirt und Shorts und zog sich selber um. Während Richard in seinen Gurt stieg und die Riemen festzog, beobachtete er Dean, der Johnny half, den geliehen Gurt wieder anzulegen. Diesmal hatte Richard an ein Paar Badelatschen für sich gedacht. Damit war es leichter von einer Kletterwand zu nächsten zu gehen, als in den engen Kletterschuhen. „Fertig“, rief Johnny sichtlich aufgeregt. Richard hakte noch einige Karabiner links und recht an seinen Gurt, dann schloss er ihre Sachen in einem Spind ein und schulterte sein Seil. Zur Zeit war die Kletterhalle in Gotham die größte und modernste in den USA und dementsprechend viele Auswärtige tummelten sich hier. Den Blick nach oben gleiten lassend, staunte Richard immer wieder. Die Werkhalle hatte früher einmal vier Produktionsetagen besessen. Die Zwischendecken waren entfernt worden. Über ihnen baumelte ein Auffangnetz, darüber befand sich der Hochseilgarten, in dem gerade reger Betrieb herrschte. Es schienen sich mehr Leute in luftiger Höhe zu befinden, als an den Kletterwänden. „Boulderhalle?“ Dean wuschelte Johnny, der den Blick nicht von dem Hochseilgarten wenden konnte, durch das dunkle Haar. Da Johnny nicht wirklich darauf achtete, wo er hinlief, fasste Richard nach der Hand seines Sohnes, ehe sie gemeinsam die Halle durchquerten. Ganz am anderen Ende befand sich die wesentlich kleinere Boulderhalle. Leer lag der Raum vor ihnen. Johnny hatte schon seinen Spaß, als er die dicken, federnden Matten, die den Boden des Raumes ausfüllten, eroberte. Vor den Wänden, die nicht immer gerade nach oben führten, sondern auch schräg verliefen, gekrümmt oder aber mit Überhängen versehen waren, blieben sie stehen. Der Raum besaß eine gesamte Höhe von vier Metern, aber durch die unterschiedlichen Schwierigkeitsgrade, kam hier jeder auf seine Kosten. „Hier gibt es gar keine Halterungen für ein Seil“, stellte Johnny mit einem Blick nach oben fest. „Hier benutzt man kein Seil. Hier kannst du einfach so klettern. Pass auf, ich zeig es dir.“ Überhang, huschte es Richard durch den Kopf. Er ging zu der entsprechenden Wand, suchte kurz mit den Augen nach den schwarzen Griffen. Wenn schon, denn schon, dachte er und machte sich an den Aufstieg zu dem gekrümmten Überhang über sich. Für ihn kein Problem und schneller als gedacht, hatte er den Überhang erobert. Mit den Füßen voran ließ er sich fallen. Sicher kam er auf und federte in den Knien ein wenig nach. Nun trat Johnny näher an die Wand, griff nach einem der größeren Griffe in Kopfhöhe und gab sich einen Ruck. Mit dem rechten Fuß suchte er nach einem sicheren Tritt. Ohne größere Schwierigkeiten erreichte er schon bald das obere Ende der Wand und hielt dort inne, unsicher, was er als nächstes tun sollte. „Dad?“ „Du kannst wieder runterklettern, dir einen seitlichen Weg suchen oder runterspringen.“ Den Blick auf seinen Sohn gerichtet, beobachtete er mit den Augen eines Vaters. „Okay“, kam die Antwort von oben, ehe Johnny einfach weiter nach rechts kletterte, bis er auf die nächste Wand traf, an der sich dir Griffe für den Jungen allerdings viel zu weit entfernt befanden. Dennoch gab Johnny nicht auf und versuchte sein Glück. Ein leiser Aufschrei. Johnny verlor den Halt, dann fiel er lachend auf die weiche Matratze. „Das macht Spaß.“ Und schon erklomm der Junge einen anderen Abschnitt. „Geben wir ihm noch ein paar Minuten.“ In der Mitte des Raumes stehend, folgte Dean dem Sechsjährigen mit den Augen. „Er macht das besser, als manch älteres Kind in meiner Gruppe“, lobte der Detectiv anerkennend. „Johnny, du kannst hier bleiben und alleine weiterklettern. Dean und ich befinden uns in der Kletterhalle. Falls du uns nicht findest, frag einfach Alex.“ Richard machte sich nicht wirklich Sorgen. Sein Sohn kletterte geschickt, ohne Unsicherheiten und durch die weichen Matten, konnte nicht wirklich viel passieren, außerdem hatte Richard Johnny schon als Kind beigebracht, wie er sich sicher abrollte. „Geht ruhig!“ Erklang es über ihnen. „Bis dann.“ Mit einem wissenden Lächeln auf den Lippen verließ Richard den Raum und blieb im Gang davor stehen. „Willst du ihn wirklich alleine lassen?“ Nachdenklich schaute Dean ihn von der Seite an. Leise zählte Richard, bei der zwanzig angefangen, runter. Er war gerade bei der Zahl vierzehn angekommen, als sie ein: „Dad, warte!“, vernahmen. „So viel zum alleine lassen“, lachte Richard und wuschelte seinem Sohn durchs Haar, nachdem dieser angeflitzt kam. An der großen Wand, mit den neuen schwarzen gesteckten Wegen waren sie ganz alleine. Ganz geduldig erklärten Dean und Richard Johnny die wichtigsten Knoten, die sie benötigten. Dennoch hieß es für den Jungen erst einmal nur zusehen und beobachten und so stand Johnny neben seinem Vater, während dieser Dean, der dem neuen Weg nach oben folgte, sicherte. Richard gab sich alle Mühe, den neugierigen Fragen seines Sohne gerecht zu werden und danach war es Dean, der sich Johnny stellte, während sie gemeinsam Richard sicherten. Zufrieden, dass sie den ersten Weg gemeistert hatten, löste Richard den doppelten Achterknoten an seinem Gurt und reichte das Seilende Johnny. „Üb mal mit Dean den Achterknoten. Ich geh uns was zu trinken holen.“ In dem kleinen Café angekommen, musste Richard sich in Geduld üben. Er schien nicht der einzige zu sein, der etwas zu Trinken kaufen wollte. Mit zwei Flaschen Cola, zwei Wasserflaschen und einem Apfelsaft kehrte er später zurück. Von seinem Sohn sah er nichts, aber Dean schien jemanden zu sichern. „Eindeutig dein Sohn“, kommentierte der Detectiv und nickte nach oben. „Er nimmt zwar jeden Griff der sich ihm bietet, egal welche Farbe, aber Johnny scheint ein Naturtalent zu sein.“ Richard stellte die Flaschen ab und blickt nach oben. Etwa sechs Meter über ihm, hing der Junge in der Wand, krallte sich mit den Händen fest und schien zu überlegen, wohin er den linken Fuß als nächstes stellen sollte. „Etwa zwanzig Zentimeter links von dir“, wies Dean den Weg. „Den Fuß noch etwas höher, Kleiner.“ Und Johnny versuchte es. Mit der Schuhspitze erreichte er den roten Griff, aber dann verlor er den Halt. Lachend schwebte das Kind über ihnen. „Willst du weiterklettern oder erst mal runterkommen? Ich hab dir Apfelsaft mitgebracht.“ „Wollen wir ihn schaukeln lassen?“, fragte Dean, der das Seil hielt und Johnny nicht aus den Augen ließ. „Schaukeln?“, kam es von oben. Die Hände um das Seil gelegt, blickte Johnny zu ihnen hinunter. „Hast du schon mal gesehen, wie sich jemand abseilt?“ Während Dean sich mit Johnny unterhielt, trank Richard etwas von der Cola und gab den stummen Beobachter. „Ja...“ „Stemm mal beide Füße gegen die Wand!“ „Okay.“ Lächelnd betrachtete Richard seinen Sohn, der mit sichtlichem Eifer und Spaß bei der Sache zu sein schien. „Stoß dich langsam, mit beiden Füßen gleichzeitig, von der Wand ab.“ Dean ging noch ein wenig zurück, damit das sichernde Seil Johnny nicht im Weg war und Johnny tat wie ihm geheißen. Er machte das wirklich gut. Mit jedem Schwung stieß er sich stärker ab als zuvor, bis er dann doch etwas zu wagemutig wurde. Johnny fiel aus der Richtung, näherte sich nicht, wie all die male davor mit den Füßen der Wand, sondern traf seitlich auf. Nichts, was der Junge nicht in den Griff bekam. Mit den Händen fing er sich ab, suchte nach einem der angebrachten Griffe und kam zur Ruhe. „Nichts passiert“, lachte der Sechsjährige. „Versuch mal an der Wand nach links und rechts zu laufen!“ Dean zog noch mal kurz an dem Seil. „Er hat ein sehr gut ausgeprägtes Gleichgewicht.“ Richard nickt zustimmend, während sein Sohn erst mit kleinen und dann mit größeren gewagten Schritten an der Wand entlanglief. Immer wieder von links nach rechts, dabei wurde der Bogen den er beschrieb, immer größer. „Johnny, das reicht dann für heute. Dean lässt dich runter. Einfach immer nur einen Fuß vor den anderen setzen.“ Zumindest hatte Dick sich dies so gedacht, aber nicht sein Sohn, der stieß sich mit beiden Füßen ab, immer und immer wieder. Dean ließ den Jungen, gab nur jedes mal ein Stück Seil nach. Warum auch nicht wie die Schauspieler im Film, dachte Richard. Er machte es ja nicht wirklich anders, außerdem ging es schneller. Johnnys blaue Augen strahlten euphorisch und kaum das Dean ihn von dem Seil befreit hatte, bestürmte der Junge seinen Vater. „Kann ich klettern lernen?“ Die Hände in die Hüften gestützt schaute Johnny mit fragendem und bettelndem Blick nach oben. „Trink erst mal was.“ Johnny nahm den Apfelsaft an sich und trank durstig. „Darf ich?“ „Und was ist mit deinem Baseballtraining?“ Johnny zuckte mit den Schultern. „Habe ich doch nur Dienstags und Donnerstags.“ Okay, nun war guter Rat teuer. Natürlich konnte Richard Johnny für einen Kletterkurs anmelden. Über den Daumen brechen wollte er dies jedoch nicht. Erst mal drüber schlafen, dann noch mal nachfragen. Manche Dinger erledigten sich ganz schnell von alleine. „Dean, weißt du wann die Kletterkurse für Kinder stattfinden?“ „Immer Montags um 16:00 Uhr für die Kids von sechs bis neun Jahren.“ „Siehst du, ich kann klettern und auch zum Baseball.“ Vor Richard streckte Johnny sich, machte sich lang, um größer zu wirken, dann hüpfte er plötzlich aufgeregt auf und ab. „Darf ich, Daddy, bitte, bitte, bitte...“ „Wir reden erst mal mit deiner Mom, danach fällen wir gemeinsam eine Entscheidung, in Ordnung?“ Schmollen verzog Johnny das Gesicht. „Ist gut...“ „Was ist gut?“ Barbaras warme Stimme trieb Richard, nach all den Jahren noch immer, eine Gänsehaut über den Rücken. War es tatsächlich schon um neun? Sie hatten die Ankunft der beiden Frauen gar nicht mitbekommen. „Mommy!“ Wie ein Irrwisch eilte Johnny auf Barbara zu. „Darf ich klettern lernen?“ „Wenn du das möchtest?“, antwortete die Rothaarige vollkommen überrumpelt und zog den Jungen in die Arme. Soviel zu einem Familienrat, dachte Richard und grinste. „Das muss ich Nicky erzählen...“ Triumphierend, da er die Erlaubnis seiner Mutter bekam, schaute Johnny zu seinem Vater, der das ganze amüsiert verfolgte. „Aber nicht jetzt, mein Schatz. Du kannst es Nicky morgen in der Schule erzählen.“ „Aber Rosinchen erzähle ich es gleich.“ Die Hände flach auf Barbaras runden Bauch gelegt, berichtete Johnny leise, was er in der Kletterhalle erleben durfte und Richard gestand seiner Frau, dass sie vergessen hatten, etwas zu Abend zu essen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)