Demonic Rewind von Flordelis ([Demonic Reverie]) ================================================================================ Kapitel 15: Wir haben beide keinen Plan --------------------------------------- Das orange-farbene Glühen des Himmels erschien Luan verheißungsvoll, ein Vorbote schlechter Ereignisse. Der Eindruck war derart intensiv, dass er ihm Magenschmerzen bereitete. Die Häuser hatten sich in Felsen verwandelt, jeder von ihnen war anders geformt, aber sie hatten Fenster beibehalten. Vincents Haus war zu einem schwarzen Brocken geworden, der den Anschein machte als hätte er sich selbst in den Himmel schrauben wollen. Er stand ähnlich geformt wie ein Korkenzieher vor ihnen, die Fenster nur noch blinde Augen, in denen sich eine Unendlichkeit zu spiegeln schien, die Luan nicht beschreiben konnte und die bei ihm Kopfschmerzen auslöste. Er musste sich abwenden. Das Haus direkt neben dem von Vincent war gewachsen – aber nur weil es sich zu einem Ring geformt hatte. Der Hohlraum in der Mitte hatte es notwendig gemacht, dass sich die eigentliche Substanz passend verteilte. Die zuvor hier gewesenen Pflanzen hatten sich ebenfalls verändert. Eine Tanne, direkt neben dem Ring, hatte sich verfärbt. Die grünen Nadeln waren nun rot, der Baum wog heftig von der einen auf die andere Seite, dabei erklang immer wieder ein spöttisches Lachen daraus. Luan hoffte, dass es sich bei diesem Laut nur um ein Wesen handelte, das ungesehen zwischen den dichten Nadeln saß. Eine Hecke auf der anderen Straßenseite hatte sich ebenfalls rot gefärbt – aber es schien sich dabei um richtiges Blut zu handeln. Es tropfte von den Blättern auf den Boden darunter, bildete Lachen, in denen Luan meinte, etwas sich bewegen zu sehen. Der Zaun hatte sich in messerscharfe Metallstreben verwandelt, die kreuz und quer im Gebüsch drapiert waren als wollten sie es aufspießen. Da auch das Metall mit Blut beschmiert war, sah Luan sich überzeugt, dass diese Streben der Grund für die Verletzungen sein mussten. Die Luft war erfüllt von einem starken Kupfergeruch, unterlegt mit etwas Schwefel. Nichts davon war angenehm, es stach in Luans Nase. Er glaubte, diesen Geruch nie wieder loswerden zu können. In der Ferne war ein Brüllen zu hören, wie das eines sehr großen und sehr wütenden Tieres. Nein, es konnte kein Tier geben, das einen solchen Laut von sich gab. Es musste sich mindestens um einen Dämon handeln. „Papa ...“ Luan rückte schutzsuchend näher an Cathan heran und konnte sich dabei nicht beherrschen, ihn wieder so anzusprechen. Nun war nicht die Zeit für Rationalität. Cathan schien das ebenfalls so zu sehen, denn er reagierte nicht auf diese Ansprache. Er fasste Luan bei den Schultern und brachte ihn sanft dazu, loszulaufen. „Ich weiß nicht, wo wir sind, aber wir sollten hier nicht stehen bleiben. Wir müssen einen Ausweg suchen.“ Obwohl er selber verwirrt war, übernahm er direkt die Führung, was Luan erleichterte. Mit Cathan konnte ihm bestimmt nichts geschehen. Selbst ihre Schritte hörten sich in dieser Welt anders an. Es war ein stetiges Knirschen wie bei einem Kiesweg, obwohl sie auf einer geteerten Straße liefen. Hinter einigen Fenstern glaubte Luan, Augen sehen zu können, die ihnen neugierig mit ihren Blicken folgten. Wer beobachtete sie da? Luan konnte hören, wie noch mehr der Bäume lachten, andere schienen über sie zu tuscheln, aber in einer Sprache, die er nicht verstand. Während sie so liefen, fragte Luan sich, was sie machen sollten, wenn es keinen Ausweg gab. „Wieso 'wenn'?“, schien ihm eine Stimme zuzuflüstern. „Es gibt keinen Ausweg. Ihr werdet für immer hier bei uns bleiben.“ „Bei uns~“, frohlockte eine andere Stimme. Bald stimmten ihr Tausend andere zu, so dass es zu einem lautstarken Chor der Absurdität anwuchs. „Bei uns. Bei uns! BEI UNS! Bei uns~. Bei uns. Bei uns! BEI UNS! Bei uns~. Bei uns. Bei uns! BEI UNS!“ Ein wilder Schrei, der Luan mehr Furcht einflößte als alles zuvor, übertönte die Stimmen. Er presste sich die Hände auf die Ohren, aber die Stimmen und der Schrei ließen nicht nach. Etwas Hartes prallte gegen seine Knie. Jemand packte ihn an den Schultern und schüttelte ihn, erst vorsichtig, dann ein wenig heftiger. Das Schreien erstarb. Dafür bemerkte Luan endlich, dass er auf dem Boden kniete, Cathan war direkt vor ihm und begutachtete ihn mit einem besorgten Blick. Langsam ließ Luan die Arme wieder sinken. „Diese Welt nagt ziemlich an deinen Nerven, oder?“ In Cathans Stimme lag kein Ärger, er war nicht genervt; es klang vielmehr nach aufrichtiger Sorge. Luan wollte antworten, da bemerkte er aber, wie wund sich seine Kehle anfühlte. Habe ich geschrien? War dieser laute Schrei von mir? Cathan erwartete offenbar keine Antwort, stattdessen versuchte er, Luan wieder auf die Beine zu helfen. Aber dieser fühlte sich viel zu kraftlos dafür. Deswegen versuchte er auch erst gar nicht, wieder auf seine zitternden Beine zu kommen. Diese Welt, wo immer sie auch waren, fühlte sich einfach nach zu viel an. Er konnte es kaum ertragen, nicht nach allem, was er bereits hatte durchmachen müssen. War das seine gerechte Strafe dafür, dass er mit er Zeit herumgespielt hatte? Doch selbst wenn, er wollte hier nicht bleiben. Schon gar nicht wollte er, dass Cathan hier blieb, er hatte das nicht verdient. Aber er wusste nicht, was er dagegen tun sollte. Nein, so ganz stimmte das nicht. Kian regte sich in seinem Inneren. Er käme sicher mit der Umgebung zurecht. Schließlich erinnerte er sich an seine Zeit im Eden Howl, der Heimat der Albträume. Er hätte keine Angst. Er war ein Weltenbrecher, geboren aus der Verzweiflung unzähliger Albträume. Solch ein Wesen kannte keine Furcht. Er wäre kein Hindernis für Cathan. Vielleicht könnte er ihm sogar helfen. Auch wenn Luan sich ungern von Cathan trennen wollte, von dem Mann, der ihn garantiert sicher hielte. Aber es wäre ja nur so lange, bis sie wieder hier draußen wären. Kian versprach es ihm. Und Luan wollte ihm vertrauen. Deswegen schloss er die Augen und erlaubte Kian die Kontrolle über ihren gemeinsamen Körper. Luans Augen waren derart lange geschlossen, dass Cathan begann, sich ernsthafte Sorgen zu machen. Bislang war ihnen noch nichts Feindseliges in dieser Welt über den Weg gelaufen, aber das musste nicht bedeuten, dass es auch so blieb. Deswegen war es für ihn wichtig, dass sie diesen Ort rasch verlassen könnten, aber Luans Zusammenbruch hatte das verhindert. Cathan stellte sicher, dass der Junge aufrecht sitzenblieb, dann ließ er ihn los und stand auf. Er warf einen Blick umher, entdeckte tuschelnde Pflanzen, die über ihr Unglück kicherten, und auch Augen, die sie aus den Fenstern heraus beobachteten. Aber nichts davon schien sie angreifen zu wollen. „Glücklicherweise“, murmelte Cathan. Er wollte gar nicht wissen, wie ein Dämon in dieser Welt aussehen musste. Luan regte sich wieder, was seine Aufmerksamkeit zurück auf diesen lenkte. Doch als der Junge die Augen schlagartig öffnete, zuckte Cathan erschrocken zurück. Die Augen, die zuvor noch grün gewesen waren, hatten sich rot verfärbt. Mit den Augen schien sich auch seine gesamte Ausstrahlung verändert zu haben, genau wie seine aktuelle Gefühlswelt. Mit abrupten Bewegungen stand er auf, dann klopfte er sich den Schmutz von seiner Hose. „Jetzt muss ich auch noch diese Weichei-Kleidung tragen ...“ Cathan wich noch einen Schritt zurück. „Luan?“ Er wandte ihm den Blick zu, das Gesicht war genervt und gelangweilt zugleich. „Ich bin nicht Luan“, knurrte er. „Ich bin Kian.“ Parthalan und Jii hatten Cathan davon erzählt. Aber so wirklich geglaubt hatte er das dennoch nicht. Nun blieb ihm aber keine Wahl mehr als das zu glauben. Vor allem weil er in dieser Umgebung nicht mit ihm diskutieren wollte. Also ging er nicht weiter darauf ein. „Weißt du, wo wir sind?“ Desinteressiert ließ Kian den Blick schweifen. „Ich war hier noch nie. Aber das muss wohl was sein, das Limbus oder so heißt.“ Das Wort rief Cathan sofort das Bild der Vorhölle vor Augen. Aber auch wenn das hier eine fragwürdige, seltsame Welt war, konnte er sich kaum vorstellen, dass es sich um einen Ort wie die Hölle handelte. Er glaubte ja nicht einmal, dass eine solche existierte. „Limbus bedeutet auch Rand“, murmelte Cathan, nachdem er sein kaum vorhandenes Wissen über Latein zusammengekratzt hatte. „Bedeutet das, wir sind hier am Rand unserer Welt?“ Kian schnaubte. „Mir egal! Es wird nur Zeit, dass wir hier wieder wegkommen. Ich mag die Farben, aber ich hab echt keinen Bock, hierzubleiben.“ Cathan war zwar durchaus fasziniert von diesem Ort, aber er sah ebenfalls ein, dass es besser war, Luan … oder Kian … von hier wegzubringen. Also setzte er sich in Bewegung, worauf Kian sich ihm anschloss. Der Junge verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Er machte sich offensichtlich keine Sorgen. Das machte die Sache ein wenig leichter. Gleichzeitig war Cathan aber auch angespannter als zuvor. Er kannte diesen jungen Mann nicht, der nun plötzlich Luans Körper zu besitzen schien. Wie sollte er da ruhig bleiben? Aus den Augenwinkeln bemerkte Cathan, dass Kian immer wieder zu ihm hinüberschielte. Er war sich nicht sicher, ob sein Begleiter einen Angriff plante oder ob er sich sonst in acht nehmen sollte. Gerade als er Kian darauf ansprechen wollte, spürte er eine weitere Präsenz – und das direkt um die nächste Ecke. Die tuschelnden Pflanzen verstummten schlagartig und begannen dafür zu zittern. Cathan packte Kian am Arm, ignorierte dessen Protest und zog ihn mit sich hinter eine blutende Hecke. Dort zwang er seinen Begleiter auf die Knie und gab ihm mit einem finsteren Blick und einem „Shh!“ zu verstehen, dass er still sein sollte. Kian zeigte sich zwar nicht begeistert, aber er gehorchte ihm. Cathan lehnte sich ein wenig vor, um zu beobachten, was vor sich ging. Zuerst war ein Schaben zu hören, dann ein schweres Schnaufen. Schließlich kam ein Wesen in sein Blickfeld, das er noch nie gesehen hatte. Es wirkte auf den ersten Blick zwar wie ein Mensch, aber es war mindestens drei Meter groß, wie er schätzte. Es lief, genau wie ein Mensch, auf zwei massigen Beinen, sogar von der Bräune seiner Haut her hätte es ein Mensch sein können. Der Kopf und beide muskulösen Arme steckten in einem hölzernen Pranger, so dass Cathan von hinten nur den bulligen Nacken sehen konnte. Aus seinem Rücken ragte ein Speer, an dessen Ende eine altmodische Laterne baumelte. Sie verbreitete ein grünes Licht, das nicht gerade positiv zur Atmosphäre beitrug. Während er die trägen Bewegungen des Wesens beobachtete, fragte er sich, ob er einfach hervortreten und es bekämpfen sollte – falls es wirklich bösartig war. Aber das Surren direkt hinter seiner Stirn, das ihn stets vor Feinden warnte, genau wie jeden anderen Dämonenjäger, verriet ihm, dass er nicht mit einer friedlichen Begegnung rechnen dürfte. Und er hatte sich vorgenommen, nicht mehr gegen Dämonen zu kämpfen, die ihm vollkommen unbekannt waren. Schon gar nicht in dieser Welt. Zumindest wirkte dieses Wesen aber nicht sonderlich aufmerksam, es lief in die entgegengesetzte Richtung von jener, in die Cathan gehen wollte. Nachdem er das sichergestellt hatte, wandte er sich wieder Kian zu. „Wir müssen vorsichtig sein. Ich will nicht, dass eines von diesen Dingern uns sieht und uns die Köpfe abreißt.“ Das war natürlich nur der schlimmste Fall, aber er zweifelte nicht daran, dass er eintreten könnte. Glücklicherweise schien Kian zu verstehen, wie ernst die Situation war, denn er flüsterte ebenfalls bei seiner Antwort: „Wo willst du überhaupt hin? Weißt du, wo es rausgeht?“ „Nicht wirklich. Aber ich will nach Abteracht. Oder zumindest dahin, wo Abteracht in unserer Welt ist.“ Obwohl er sich nicht sicher war, ob er es in dieser Realität finden könnte. „Ich schätze, dort wird es eine Art Ausgang oder so etwas geben.“ „Gib doch zu, dass du nur ins heimatliche Nest willst.“ Cathan verzog ein wenig das Gesicht. Die Bemerkung traf vollkommen zu. Es ging ihm tatsächlich nur darum, dass Abteracht vertrautes Terrain war, und er in seinem Inneren glaubte, dass sich dort Lösungen zu allen Problemen finden ließen. „Ist der Grund nicht letztendlich egal?“, fragte Cathan. „Wir müssen hier irgendwie wieder wegkommen, aber wir haben beide keinen Plan. Also können wir einfach versuchen, irgendetwas zu tun. Und das einzige, das mir einfällt, ist Abteracht. Hast du einen besseren Plan?“ Kian sagte nichts mehr. Er fuhr auf seinen Fersen herum und lief, immer noch in der Hocke, bereits voraus. Cathan war erleichtert, dass die Diskussion so schnell geendet hatte, und folgte ihm. Dank seiner Fähigkeit, die Anwesenheit der Dämonen zu spüren, konnte er glücklicherweise auch ohne jeden Blick über die blutende Hecke bemerken, dass sie sich wirklich immer weiter voneinander entfernten. Ein paar Gärten weiter begannen die Pflanzen erneut zu tuscheln und zu kichern, weswegen Cathan Kian zurück auf die Straße führte. Durch die seltsamen Gebäudeformationen empfand er es schon als schwer genug, sich zu orientieren, aber die Straßenführung gab ihm zumindest die Illusion, dass er sich auskannte. Nach wenigen hundert Metern kamen sie wieder in Straßen zurück, die mit mehr Menschen bevölkert waren – jedenfalls in der Realität. In dieser Ebene, dem Limbus, waren es nur entfernt an Menschen erinnernde Schatten, mit in die Länge gezogenen Gliedmaßen und Köpfen. Löcher ersetzten die Augen, mit denen musterten sie die Vorbeikommenden. Kian schien sich daraus absolut nichts zu machen, aber Cathan fühlte sich doch zunehmend unruhig, je länger sie an all diesen Wesen vorbeiliefen. Die Straßenlampen verbreiteten ebenfalls ein grünes Licht, obwohl die Laternenpfähle sich selbst auf wundersame Weise ineinander verknotet hatten. Das Tuscheln war inzwischen in den Hintergrund getreten. Von den Schatten ging eher ein Geräusch aus, das an das Summen von Hochspannungsleitungen erinnerte. Vielleicht ließen sie deswegen auch Cathans Haar zu Berge stehen. „Hey.“ Kians Stimme – eigentlich Luans Stimme, die nur ein wenig kühler und desinteressierter klang – war das einzige, das dieses Summen durchbrach. „Ist es wirklich okay, hier offen herumzuspazieren? Was auch immer diese Dinger sind, sie scheinen uns immerhin zu beobachten.“ „Aber sie wirken nicht aggressiv“, erwiderte Cathan. Möglicherweise konnte er das Surren seines Instinkts aber nur nicht hören, weil das Summen zu laut war. „Selbst wenn sie uns angreifen, ich bekomme das schon hin. Vertrau mir.“ Er wusste nicht, ob er eine gemeinsame Vergangenheit mit Kian hatte. Gab es für diesen überhaupt einen Grund, ihm zu vertrauen? Zu seiner Erleichterung diskutierte Kian jedoch nicht mit ihm. Sein Schweigen interpretierte Cathan als Zustimmung. An der nächsten Kreuzung hielten sie wieder inne, um zu betrachten, was sie vor sich sehen konnten. Mitten auf der Straße waren menschenähnliche Wesen zu sehen, die aus weißem Eis zu bestehen schienen. Im Gegensatz zu den Schatten wirkten sie wesentlich menschlicher, die von ihnen geworfenen Silhouetten hätten problemlos für Frauen gehalten werden können – ihnen fehlten lediglich Gesichtszüge. Sie bewegten sich über die Straßen, als liefen sie Schlittschuh, ohne solche überhaupt an den Füßen zu tragen. Das von ihnen ausgehende Lachen klang hübsch, unbeschwert. „Selbst hier amüsiert man sich“, murmelte Cathan. Obwohl er selbst einen Dämon in sich trug, verdrängte er stets den Gedanken, dass diese Wesen auch Spaß haben können. Oder Familien. Es half ihm, sich besser auf seine Arbeit zu konzentrieren, ohne jeden Abend Gewissensbisse zu bekommen, ohne sich vorzustellen, dass er kleinen wartenden Dämonen an diesem Tag den einzigen Vater genommen hatte. Kian rollte mit den Augen. „Albträume würden sich nie derart verhalten.“ „Sind Albträume immer schlecht gelaunt?“ „So ziemlich. Besonders als Tanas sie noch gequält hat.“ Cathan öffnete bereits den Mund, um zu fragen, ob er Atanas meinte, da stießen die Schlittschuhläufer einen erschrockenen Laut aus. Schon im nächsten Augenblick waren sie in alle Himmelsrichtungen auseinandergeprescht. Die umstehenden Schatten schmolzen einfach in den Boden. „Was ist mit denen los?“, fragte Kian. „Fängt gleich die neue Staffel einer Serie an?“ „Vielleicht laufen sie vor uns weg“, schlug Cathan vor – doch er wusste sofort, dass sie nicht der Grund waren. Jedenfalls nicht direkt. Das Surren des Instinkts begann plötzlich derart laut und fordernd in seinem Kopf, dass vor seinen Augen alles verschwamm. Er musste mehrmals blinzeln, bis seine Sicht wieder klar wurde. Er fuhr herum – und entdeckte das Wesen, den Dämon, von zuvor in der Entfernung. Es war noch weit entfernt, aber es rannte geradewegs auf sie zu, dabei stieß es ein lautes Brüllen aus. „Wie gut bist du im Rennen?“ Kian runzelte seine Stirn. „Nicht so gut, warum?“ Das hatte Cathan bereits befürchtet. Er nickte in Richtung des Wesens. Kian drehte sich nun auch endlich um. „Scheiße! Sieht nicht so aus als wäre er friedlich.“ Und bei der Geschwindigkeit war Wegrennen vermutlich auch zwecklos. Also musste er improvisieren. Darin bin ich gut. Ich hoffe zumindest, das bin ich immer noch. Mit dem Fuß zog er eine blau glänzende Linie aus der eine Schutzwand wuchs, die Kian vollständig umgab. „Verlass diesen Schutzwall nicht, klar? Wenn er zerbricht, versteck dich.“ „Hast du vor, gegen ihn zu kämpfen, oder was?“ „Das ist mein Job.“ Ohne jedes weitere Wort sprang Cathan aus dem Kreis heraus, dem angreifenden Monster direkt entgegen. Gerade noch rechtzeitig erschien seine Bardiche in seinen Händen. Die Waffe traf auf das monströse Wesen und stoppte es abrupt in seinem Vormarsch. Die Wucht des Aufpralls ließ Cathan zurücktaumeln. Er fand aber sein Gleichgewicht wieder, dann stellte er sich mit der Bardiche, einer langstieligen Streitaxt, in Pose. Das halbmondförmige Axtblatt glitzerte im grünen Licht der Laterne, die von dem Speer im Rücken des Dämons baumelte. Da sie sich nun gegenüberstanden, konnte Cathan das Wesen auch von vorne betrachten. Dabei stellte er fest, dass die Augen zugenäht worden waren. Probehalber bewegte Cathan die Bardiche in verschiedene Richtungen, worauf er beobachten konnte, dass sein Gegner der Waffe mit dem Oberkörper folgte. Kann er doch irgendwie sehen? Ehe Cathan das herausfinden konnte, brüllte der Dämon noch einmal. Dann rannte er auf ihn zu. Selbst diese Bewegungen wirkten aber irgendwie träge. Cathan wich diesem Angriff aus – und beobachtete, wie sein Angreifer gegen eine der Straßenlampen rannte. Mit einem dumpfen Knall torkelte er rückwärts und blieb erst einmal verwirrt stehen. So bekam Cathan einen direkten Blick auf den Rücken des Dämons. Die Laterne am Speer wackelte hin und her, so dass das Licht immer in andere Richtungen fiel – und damit erkannte Cathan noch ein anderes Wesen. Es sah aus wie eine schwebende Kugel, der man ein weißes Laken übergehängt hatte, um es wie einen klischeehaften Geist aussehen zu lassen. Kreisrunde leuchtend-gelbe Augen saßen mitten auf der Kugel und starrten Cathan an. Das angreifende Wesen erholte sich schließlich von seinem Zusammenstoß und wandte sich wieder Cathan zu. Er erhaschte einen letzten Blick auf die Kugel, die ihn immer noch anstarrte. Sie ist seine Augen! Der Dämon, der immer noch im Pranger steckte, versuchte, ihn mit einer heftigen Kopfnuss zu treffen. Cathan schwang die Bardiche, um den Angriff abzuwehren. Das Wesen schrie auf und zuckte zurück. Ein blutender Schnitt zog sich quer über das Gesicht seines Gegners. Die Laterne enthüllte noch einmal die Kugel. Sie hielt sich stets in der Nähe der Lichtquelle auf, genau wie eine Motte. Aber wenn er diesem Dämon seine Augen nehmen könnte … Statt passiv zu bleiben, entschied Cathan sich, die Offensive zu ergreifen. Er schloss die Distanz zwischen sich und dem Wesen, doch statt eines direkten Angriffs, stemmte er den Stiel der Bardiche auf den Boden. Mit einem Sprung beförderte Cathan sich auf den Kopf des Dämons, dieser gab einen lauten Schrei von sich. Er versuchte, den ungebetenen Gast von sich zu schleudern, aber Cathan gelang es, sich mit einer Hand am oberen Brett des Prangers festzuhalten. In der anderen hielt er immer noch seine Bardiche. Mit dieser zielte er direkt auf den Speer im Rücken des Dämons. Beim ersten Schlag rutschte die Klinge am hölzernen Stiel ab, ohne einen nennenswerten Schaden zu verursachen. Der zweite Schlag verursachte eine tiefe Kerbe. Beim dritten Schlag bewegte sich der Dämon derart heftig, dass Cathan so sehr abrutschte, dass er eine oberflächliche Wunde im vernarbten Rücken des Wesens verursachte. Inzwischen schien es verstanden zu haben, wie es ihn am besten loswerden könnte. Der Dämon ging in die Knie und beugte den Oberkörper. Er will seinen Kopf in den Boden rammen?! Statt sich zurückzuziehen, schlug Cathan noch einmal zu. Das Axtblatt traf direkt auf die Kerbe, der Speer brach endlich ab. Cathan schwang sich über den Pranger, sprang vom Rücken ab und schnappte sich den abgetrennten Teil des Speers noch in der Luft. Damit landete er dann wenige Meter entfernt von dem Dämon, der gerade seinen Kopf mit voller Wucht gegen den Asphalt schleuderte. Cathan atmete auf, dann nahm er die Laterne vom Ende des Speers und ließ das nutzlose Stück Holz einfach fallen. Die Kugel schwebte begierig um das grüne Licht, vollkommen darauf konzentriert. „Nicht schlecht“, hörte er Kian sagen. Vermutlich fiel ihm die Kugel erst in diesem Moment auf. Da Cathan sie aber nun nicht mehr benötigte, holte er aus und schleuderte die Laterne so weit weg von sich wie möglich. Die Kugel folgte dem Licht und fing die Laterne auf, bevor sie auf dem Boden aufschlagen und zerspringen konnte. Für einen kurzen Moment befürchtete Cathan, dass die Kugel das Licht einfach zurückbringen könnte – aber stattdessen schwebte sie glücklich davon. Möglicherweise suchte sie sich nun einen anderen Dämon, an den sie sich hängen könnte. Cathan, der erwartete, dass der restliche Kampf nun problemlos verlaufen dürfte, wandte sich zurück zum Dämon. Dieser hatte sich inzwischen wieder aufgerichtet. Aus der Schnittwunde floss immer noch Blut, die Stirn war wegen des Aufpralls gerade eben gerötet. Um ihn endlich von diesem Kampf zu erlösen, schwang Cathan erneut die Bardiche. Im selben Moment zersplitterte der Pranger – und der Dämon riss die Augen auf. Er fing Cathans Waffe mit den Händen auf und entriss sie ihm. Das geschah derart ruckartig, dass Cathan auf die Knie stürzte. Schmerzen zuckten durch seine Beine, aber dafür hatte er keine Zeit. Während der Dämon die Waffe genauer betrachtete – mit einem Interesse, das fast schon unheimlich war – beschwor Cathan einen Bogen in seinen Händen. Ohne aufzustehen zielte er von unten auf den Kopf des Wesens, ein leuchtender Pfeil erschien angelegt an der gespannten Sehne. Cathan ließ ihn los – doch der Dämon wischte den Pfeil desinteressiert beiseite. Er hatte nicht einmal die Gelegenheit, davon überrascht zu sein, da raubte ihm ein heftiger Schlag in den Torso sämtlichen Atem. Er flog durch die Luft, landete auf dem Boden und überschlug sich mehrmals, ehe er zum Liegen kam. Sein gesamter Körper schien in Flammen zu stehen. Die Regenerationskräfte begannen sofort zu wirken, aber das Kribbeln in den brennenden Gelenken machte es nicht besser. Die Schmerzen ignorierend, versuchte Cathan, sich aufzurichten. Da schmetterte der Dämon ihm seine Bardiche entgegen. Um nicht getroffen zu werden, ließ Cathan sich wieder fallen. Mühsam unterdrückte er einen Schrei, die Flammen in seinem Körper wurden intensiver. Die Bardiche flog dafür über ihn hinweg, ohne ihn zu treffen. Wie hatte der Kampf so schnell außer Kontrolle geraten können? Ich habe den Feind unterschätzt. Weil ich nicht genug über ihn wusste. Ich Idiot! Warum geschah ihm das nur immer wieder? Legendärer Dämonenjäger, was für ein lausiger Titel, er konnte ihm nicht mal alle Ehre machen. Der Dämon näherte sich ihm langsam. Cathans Blick wanderte zu Kian, der den Kampf scheinbar unbeteiligt verfolgte. Lediglich seine zusammengezogenen Brauen verrieten, dass er sich Sorgen machte. Ich muss ihn in Sicherheit bringen. Irgendwie. Er versuchte, zu Kian hinüberzukriechen. Seine Arme protestierten dabei kreischend. Er stieß einen Laut aus, der aus den Tiefen seines Halses zu kommen schien, der jemals von keinem menschlichen Wesen kommen dürfte. Schon nach wenigen Sekunden, die sich für ihn wie eine Ewigkeit anfühlten, wurde er wieder von dem Dämon aufgehalten. Diesmal stellte er einfach einen Fuß auf Cathan und übte ein wenig Druck auf ihn aus. Es war genug, dass er leise aufstöhnen musste. Das Wesen gab ein finsteres Lachen von sich, während es spielerisch den Druck erhöhte. Cathan glaubte, seine Knochen brechen zu hören, Blut in seinem Mund zu schmecken. Hätte ich mich heute nur anständig von Granya und den Kindern verabschiedet ... Aber wer hätte ahnen können, dass ein einfacher Therapeuten-Besuch derart enden würde? Wenigstens wird Lowe sich gut um sie kümmern. Auch um Kieran ... Besonders in diesem Moment bereute er, wie sie mit dem Dämon umgegangen waren, der so lange bei ihnen gelebt hatte und eigentlich ein Teil der Familie war. Wenn ich nur noch eine Chance bekäme ... Er wollte die Augen schließen, wollte das Ende nicht sehen – aber da spürte er eine weitere Präsenz. Schüsse zerrissen die wieder eingetretene Stille. Der Dämon kreischte, nahm den Fuß von Cathans Körper und fuhr herum. Die massige Gestalt versperrte ihm die Sicht, deswegen konnte er nicht sehen, wer ihm zur Hilfe gekommen war. Seine Regeneration arbeitete wieder auf Hochtouren, um seinen geschundenen Körper in Ordnung zu bringen. Während dieser Zeit beobachtete er den Kampf vor sich. Aber außer mehreren Lichtblitze konnte er nichts erkennen. Der Dämon versuchte, seinen Angreifer genauso barbarisch auszuschalten wie Cathan zuvor. Aber dieser Gegner musste damit gerechnet haben, denn er wich immer wieder blitzschnell aus, nachdem er selbst angegriffen hatte. Schließlich war der Dämon so sehr mit Stichen, Schnitten und Brandwunden übersät, dass er erschöpft zu Boden sank. Ein letzter Lichtblitz – und der Dämon löste sich in unzählige glitzernde Funken auf, die in den Himmel emporschwebten. Cathan sah ihnen einen Moment hinterher, dann fokussierte sich sein Blick auf zwei Personen, die inmitten der letzten Funken standen. Es war ein edel aussehender Mann mit langem grünen Haar und eine finster dreinblickende Frau mit langem dunklem Haar. Beide trugen sie es zusammengebunden, und sie hatten beide Brillen. Ihre Blicke wirkten dadurch geradezu stechend. Er hatte das Gefühl, die beiden schon einmal gesehen zu haben, aber im Moment konnte er sie nirgends einordnen. Auch nicht als der Mann schließlich den Mund öffnete: „Es war unvorsichtig von dir, im Limbus gegen einen Dämon kämpfen zu wollen, Cathan Lane.“ Die Frau rückte ihre Brille zurecht. „Damit wäre es fast zu dem Ergebnis gekommen, das er sich wünscht.“ Erst als er ihre, etwas leise, unentschlossene Stimme hörte, wusste er endlich, mit wem er es zu tun hatte: Seine Retter waren Patrok und Amari Dragana – die verschollenen Eltern von Konia. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)