Demonic Rewind von Flordelis ([Demonic Reverie]) ================================================================================ Kapitel 14: Ich möchte etwas tun, um alles besser zu machen. ------------------------------------------------------------ Es kam Luan wie das Eintauchen in eine Erinnerung vor, als er am Mittwoch Nachmittag in Cathans Wagen saß, auf dem Weg zu Vincent. Genau wie früher. An jedem Mittwoch hatte er nachmittags eine Stunde bei dem Therapeuten verbracht, gemeinsam mit Kieran, der aber natürlich nicht mehr dorthin ging. Also wäre er an diesem Tag allein bei Vincent. Und Ferris. Er rutschte auf seinem Sitz herum, aufgeregt darüber, dass er bald selbst erfahren könnte, wie es ihm nun ging und ob es ihm bei Vincent wirklich so gut gefiel wie Faren gesagt hatte. Die Straßen jenseits der Fenster kamen ihm immer bekannter vor, was dafür sprach, dass sie in der Nähe von Vincents Haus waren. Und das brachte Luan auf eine weitere Frage: „Gibt es eigentlich Alberts Süßigkeitenladen noch?“ Cathan warf ihm einen kurzen Blick zu, der etwas verwirrt wirkte, dann nickte er. „Den der Beraths meinst du? Ja, den gibt es noch. Ciar geht manchmal dort vorbei. Er versteht sich wohl relativ gut mit Albert.“ Bei der Ernsthaftigkeit der beiden konnte Luan sich das gut vorstellen. „Und was ist mit Allegra?“ Er erinnerte sich noch gut an die lebhafte Verkäuferin, die zu gern Süßigkeiten aß und ihre Scherze mit den Kunden trieb – aber vor allem mit Albert, mit dem sie auch zusammen gewesen war. „Da müsstest du Ciar fragen. Ich geh da so gut wie nie hin.“ Cathan runzelte die Stirn. „Aber falls sie eine blonde Verkäuferin dort ist, dann war sie zumindest letzten Valentinstag noch dort und hat die ganze Zeit geschmunzelt.“ Luan musste leise lachen. „Ja, das klingt eindeutig nach ihr.“ Also ging es ihr auch gut. Es war schön zu wissen, dass sein Handeln nicht für jeden schlimme Konsequenzen nach sich gezogen hatte. Gerade bei den beiden, die ihm so viel geholfen hatten, wollte er keinen Schaden verursacht haben. Schließlich bog Cathan in die Straße ein, die zu Vincents Haus führte. Auch heute war noch deutlich, dass es ein besser gestelltes Viertel war. Häuser mit geradezu schneeweißen Fassaden reihten sich aneinander, jedes einzelne stand inmitten eines sorgsam gepflegten Gartens, der wiederum von einer hohen Hecke begrenzt war. Sie waren alle so identisch, dass sie sich lediglich darin unterschieden, ob sich noch eine kleine Garage dabei befand oder nicht. Vor einem Haus mit einer solchen, die allerdings hauptsächlich mit Efeu überwuchert war, was nur dafür sprach, dass sie nicht wirklich genutzt wurde, hielt Cathan den Wagen. „Da wären wir. Warst du früher schon bei Mr. Valentine?“ Er nannte ihn nicht mehr beim Vornamen, fiel Luan sofort auf. Als er das erwähnte, musste Cathan ein wenig schmunzeln. „Ja, es ist eine ziemliche Weile her, seit wir uns miteinander unterhalten haben. Da will ich dann lieber nicht mehr zu sehr … vertraut sein.“ „Musste Ciar nicht herkommen?“ „Er wollte nicht. Und du weißt, wie durchsetzungsfähig er sein kann.“ Cathan seufzte leise, während er ausstieg. Luan verließ das Auto ebenfalls. Es herrschte eine angenehme Stille, die lediglich von dem Zwitschern einiger Vögel und dem weit entfernten Verkehrslärm gestört wurde. Irgendwo in der Nachbarschaft bellte ein Hund, während Luan und Cathan den Kiesweg zur Haustür entlanggingen. Neben der schwarzen Tür, in die Milchglasscheiben eingelassen war, hing noch immer das Schild, das Luan so gut kannte: Vincent Valentine. Therapeut. Er übernahm auch sofort das Klingeln, weil er so aufgeregt war. Wie früher dauerte es nur wenige Sekunden, bis Schritte erklangen, aber es waren eindeutig nicht die von Vincent, sondern leichte, beschwingte. Ist das etwa …? Die Tür wurde schwungvoll geöffnet, worauf sich Luans Verdacht bestätigte. Vor ihnen stand ein junger Mann mit schwarz gefärbten Haaren, deren blauer Schimmer sich hartnäckig jeder Änderung verweigerte. Besonders in Verbindung mit den braunen Augen wirkte Ferris von seinem Körperbau über die Form seines Gesichts wie Farens Zwilling. „Du bist aber süß~.“ Und von seinen verlegen machenden Aussagen auch. Wäre Luan das nicht bereits gewohnt gewesen und hätte es daher nicht schon erwartet, wäre er nun wieder rot geworden. Aber so seufzte er lediglich leise. „Hallo, Ferris.“ Der andere blinzelte überrascht. „Oh? Kennen wir uns? Normalerweise vergesse ich keine süßen Jungs.“ „Nein, nicht direkt.“ Ferris schien nun derart verwirrt, dass er nichts mehr sagte, genausowenig wie Luan, weswegen Cathan sich zu Wort meldete: „Luan ist hier, um Mr. Valentine zu sehen. Er weiß Bescheid.“ „Ach ja, er hat da was erzählt. Kommt rein.“ Damit trat Ferris beiseite, so dass sie ins Haus kommen konnten. Es roch anders als Luan es in Erinnerung hatte und es fehlten einige Bilder an der Wand, die nicht nur Ferris und Faren zeigten, sondern auch Vincents Sohn. In dieser Zeit gab es keinen Luka Valentine. Also gab es keine Bilder. Ferris deutete hinter sich, den Gang entlang. „Vince ist in seinem Behandlungszimmer. Ist gar nicht zu verfehlen.“ Luan nickte, lief aber noch nicht los, sondern musterte Ferris aufmerksam. „Bist du glücklich?“ Sein Gegenüber lehnte den Oberkörper ein wenig zurück, als wolle er ihm ausweichen, ohne es allzu offensichtlich zu machen. „Oh? Das ist wirklich eine seltsame Frage. Nicht mal Vince stellt die mir.“ Luan wiederholte sie nicht, wartete aber auf Ferris' Antwort. Dieser wurde immer ein wenig nervöser, räusperte sich dann aber schließlich. „Klar bin ich glücklich. Mir geht’s super.“ „Wirklich?“ „Absolut, total. Siehst du?“ Ferris zeigte ihm ein strahlendes Lächeln. „Kann so ein umwerfendes Lächeln gefälscht sein?“ Wieder einmal musste Luan sich eingestehen, dass er nicht gut darin war, zu erkennen, ob jemand log oder nicht. Besonders nicht, wenn er diese andere Person nicht so gut kannte. Faren wäre sicher besser hierfür geeignet. „Du solltest dich wieder einmal bei Faren melden“, meinte Luan. „Er freut sich bestimmt darüber.“ Dann ging er an dem sprachlosen Ferris vorbei in Richtung des Behandlungszimmers. Er hörte nur noch, wie Cathan zu dem anderen sagte, dass er ihm alles erklären würde, dann war er bereits an der Tür angekommen, die leicht offen stand. Wie es die Höflichkeit verlangte, klopfte er an, dann drückte er die Tür weiter auf, ohne auf eine Antwort zu warten. In diesem Raum hatte sich absolut nichts verändert. Der Schreibtisch mit dem Computer und einigen Notizbüchern stand noch immer auf der Seite, direkt neben dem Regal, in denen allerlei Bücher über Psychologie standen, teilweise sogar Selbsthilfebücher. Die schwarze Uhr, die sich zwischen all diese schmiegte, war kaum zu sehen. Vor dem in den Garten zeigenden Fenster, das eine ganze Wand einnahm, stand ein schwarzes Sofa, ein Sessel und davor ein kleiner Sofatisch auf dem im Moment nur eine Ledermappe lag. An der linken Wand stand, immer noch so außergewöhnlich wie damals, ein Aquarium. Es nahm die gesamte Länge der Wand ein und strahlte ein beruhigendes blaues Licht aus. Schwärme von kleinen roten Fischen zogen ihre ruhigen Bahnen, ungeachtet des gelben Fisches, der durch die Unterwasserwelt mit all ihren kunstvoll gestalteten Felsen und Pflanzen schoss. Einige silberne Fische verschwanden immer wieder in zerklüfteten Steinen, nur um danach irgendwo anders wieder aufzutauchen und beinahe mit einem Schwarm grüner Fische zusammenzustoßen. Dieser Anblick ließ Luan unwillkürlich lächeln. Deswegen übersah er aber auch vollkommen den Mann vor dem Aquarium, obwohl das nicht einfach war. Vincent war ein hochgewachsener Mann – nur etwas kleiner als Vane – mit schwarzen Haaren, die stets ein wenig unordentlich wirkten und deswegen nicht wirklich zu den dunklen Anzügen passten, die er immer trug. Zumindest harmonierten seine blauen Augen aber mit dem Licht des Aquariums. Vincent wandte sich Luan zu. „Du bist Luan Howe?“ Seine Stimme ähnelte der von Vane, wenn auch nicht wegen der Tonlage, denn sie war nicht derart tief. Aber sie war stets ruhig, besonnen, sie tanzte nicht im Raum umher, sondern legte sich wie seidiger Balsam auf der Seele ab, was an der Schall-Prägung liegen musste. Vincent war ebenfalls einmal ein Traumbrecher gewesen, besaß auch immer noch die entsprechenden Fähigkeiten, obwohl er von seiner einstmals eingepflanzten Geißel gebrochen worden war, noch bevor Luan ihn kennen gelernt hatte. Genau wie Vane. Aber, soweit er die Geschichte mitbekommen hatte, war Vincents Geißel so sehr von den Gefühlen seines sterbenden Wirts berührt worden, dass er das Leben als normaler Mensch und Therapeut bevorzugt hatte. Vincent und Vane waren für Luan stets die Erinnerung gewesen, dass auch ein Weltenbrecher sich sein Schicksal selbst aussuchen konnte, wenn sogar den Geißeln das gelang. Er war sich nicht sicher, wie er ohne die beiden damals die Erkenntnis, dass er der Weltenbrecher war, überlebt und aufgenommen hätte. Luan teilte ihm mit, dass er keine Vorstellung und auch keine Einführung in die Therapie benötigte, worauf Vincent nickte. Parthalan musste ihm alles erzählt haben, was das Ganze schon einfacher machte. „Das ist wirklich ein tolles Aquarium, auch in dieser Zeit.“ Nachdem er das gesagt hatte, setzte Luan sich auf das Sofa. Vincent bedankte sich für das Kompliment und nahm auf dem Sessel Platz. Er nahm die Mappe an sich und öffnete diese, so dass auch Luan wieder den vertrauten Schreibblock sehen konnte, so wie den Füller, den Vincent für seine Notizen über die Patienten benutzte. Dieser schlug die Beine übereinander und platzierte die Mappe auf seinem Oberschenkel. Dann sah er Luan wieder direkt an, seine Augen konkurrierten mit dem Leuchten des Aquariums in seinem Rücken. „Wie fühlst du dich?“ Vincents Standardfrage, sie kam stets am Anfang, am Ende und auch nach jeder erschütternden Erkenntnis. Luan hob die Mundwinkel ein wenig. „Ich fühle mich nicht sonderlich gut. Aber ich glaube, das ist auch normal, wenn man das alles durchgemacht hat, oder?“ Dass Vincent nicht nachhakte, sondern nickte und sich direkt etwas notierte, bestätigte Luan nur noch einmal darin, dass er bereits alles von jemandem erfahren hatte. „Wer hat dir davon erzählt?“ Natürlich begriff Vincent sofort, worauf er hinauswollte: „Parthalan empfand es als angebracht, dass ich deine Hintergrundgeschichte kenne, bevor du zu mir kommst.“ „Möchtest du dann auch … wissen, wie dein Leben vor meiner Einmischung war?“ Vincent sah ihn ernst und gleichzeitig vollkommen ausdruckslos an. „Nein. Ich möchte mich nicht von einem Ich beeinflussen lassen, das unter anderen Umständen lebte als ich. Ich werde meinen eigenen Weg finden.“ Das war eine Aussage, die absolut typisch für Vincent war. Jedenfalls empfand Luan sie so – und seltsamerweise erleichterte es ihn gewissermaßen, dass er einmal nicht erzählen musste, dass früher so vieles besser gewesen war. Möglicherweise war das auf seinem Gesicht zu lesen, denn Vincent notierte sich wieder etwas. „Parthalan sagte, als Kieran und Faren dich fanden, warst du auf dem Weg zu einem Bahnhof, in dem du schlafen wolltest. Worum geht es dabei?“ Vincent war ein Therapeut, eine Geißel, Luan hatte ihm immer vertrauen können. Außerdem wusste auch Vane bereits davon, genau wie andere Personen in Abteracht, also könnte er es auch jetzt einfach sagen: „Ich bin ein Weltenbrecher.“ Als wäre ein elektrischer Schlag durch ihn gefahren, hielt Vincent inne. Sein Gesichtsausdruck änderte sich kein bisschen, aber es kam Luan vor als halte er für eine Sekunde sogar den Atem an. Wusste jede Geißel, was ein Weltenbrecher war? Doch schließlich gelang es Vincent endlich, die Starre wieder abzuschütteln. „Dann ist dieser Bahnhof quasi dein Geburtsort?“ Froh darüber, dass Vincent das so schnell verstand, nickte Luan. „Genau. Ich wollte dort schlafen und mich nie wieder in irgendetwas einmischen oder auch nur etwas mitbekommen.“ Vincent notierte sich das, dabei fiel Luan auf, dass die Stirn des Therapeuten gerunzelt war. „Hast du jetzt immer noch vor, dort zu schlafen?“ Er hielt es wohl für einen Euphemismus für Selbstmord, dabei hatte Luan das gar nicht vor. Aber vermutlich, so dachte er sich, musste es für andere auch so erscheinen. „Nein. Ich möchte etwas tun, um alles besser zu machen.“ Luan rutschte tiefer auf dem Sofa. „Ich möchte mich nicht mehr einmischen, aber ich muss, wenn ich meinen Fehler wiedergutmachen will. Und das will ich unbedingt.“ Nachdenklich geworden tippte Vincent mit seinem Füller auf den Block. Sein Blick wanderte in den Garten hinaus, wo es außer Gras und einem einzelnen Baum nicht viel zu sehen gab. Aber für Vincent schien dort draußen gerade eine interessante Show abzulaufen. Luans Blick verweilte derweil auf dem Aquarium, die wirklich einzige Komponente, die sich nie zu ändern schien. Es war tröstlich und ließ ihn gerade alles andere vergessen. Vincent holte ihn aber schnell wieder in die Realität zurück, indem er sich räusperte. Er versicherte sich, dass er Luans Aufmerksamkeit wieder besaß, ehe er etwas sagte: „Für mich klingt das als ob du wirklich entschlossen bist, etwas zu tun. Du klingst reifer als dein Alter es vermuten lässt. Weswegen ich Parthalan zustimmen muss, deine Geschichte ist wahr und du bist wirklich aus einer anderen Zukunft gekommen.“ Natürlich, jeder musste in irgendeiner Art und Weise daran zweifeln, wenn er einigermaßen vernünftig war. Sogar Cathan hatte das, obwohl seine Töchter ihm beide bestätigt hatten, dass er wirklich aus der Zukunft kam. Luan nickte deswegen nur, obwohl es angenehm war, von ihm gesagt zu bekommen, dass man reif war. „Ich muss aber dennoch mit dir reden“, fuhr Vincent fort. „Nur über dich.“ Luan verstand das zwar nicht, aber dennoch stimmte er zu, was den Therapeuten zu erleichtern schien. Wieder machte er sich eine Notiz, dann hob er den Blick, wesentlich motivierter als noch zuvor. „Gut, wie fühlst du dich denn jetzt?“ Wegen dieser Frage musste Luan unwillkürlich lächeln. „Besser. Es tut seltsamerweise immer gut, mit dir zu reden.“ „Dabei haben wir noch gar nicht viel miteinander gesprochen. Aber es freut mich.“ Es musste allein schon Vincents beruhigende Anwesenheit sein, die dazu beitrug. Aber das erwähnte Luan nicht weiter. „Gibt es irgendein Thema, mit dem du gern anfangen würdest?“, hakte Vincent nach. Kaum wurde er das gefragt, begann Luan bereits zu erzählen. Von der Zukunft, die er hatte verhindern wollen, von seiner Sehnsucht nach Kieran und seiner Enttäuschung darüber, dass es nicht sonderlich gut für diesen gelaufen war. Er berichtete über seine Machtlosigkeit und Hoffnungslosigkeit, die ihn aber schließlich zu seinem Entschluss geführt hatte. Vincent hörte ihm aufmerksam zu, machte sich Notizen und hakte hin und wieder nach, wenn er etwas nicht vollkommen verstanden zu haben schien. Schließlich, nachdem er sich alles von der Seele gesprochen hatte, fühlte er sich nicht nur wesentlich leichter, sondern auch ein wenig atemlos, als wäre er gerannt. Er atmete tief durch und wartete auf Vincents Erwiderungen darauf. Dieser sah noch einmal auf seine Notizen hinab, wägte seine Antwort wohl gut ab. Es erschien Luan wie eine halbe Ewigkeit, bis Vincent schließlich wieder den Blick hob. „Ich finde, du bist wirklich sehr mutig.“ Damit hatte er nun nicht gerechnet, seine Augen weiteten sich. „Was?“ „Warum ist das so überraschend für dich? Es erfordert Mut, sein eigenes Glück zu opfern, sein gewohntes Umfeld zu verlassen und dann vollkommen allein in unbekanntes Gebiet zu schreiten.“ Er hob die Hand, ehe Luan widersprechen konnte. „Du warst möglicherweise nur an Orten, die du kanntest, aber du wusstest nicht, wie die von dir geplanten Änderungen sich auswirken würden. Dir war aber hoffentlich klar, dass alles hätte passieren können.“ Luan deutete ein Nicken an. Gut, alles war ihm nicht klar gewesen, aber er hatte jeden Tag damit gerechnet, dass mit seiner Schule oder dem Waisenhaus etwas geschehen könnte – aber glücklicherweise war das nicht passiert. „Dieser Mut ist wirklich außergewöhnlich, nicht jeder hätte ihn aufgebracht. Deswegen gibt es absolut keinen Grund, wegen dem du dich in welcher Weise auch immer schlecht fühlen müsstest.“ „Aber ich habe so viel kaputt gemacht.“ „Und du willst Verantwortung dafür übernehmen, indem du es so gut wie möglich wieder richtest, nicht wahr?“ Luan nickte, so entschlossen wie es ihm möglich war. Vincent schien darüber zufrieden. „Das Übernehmen dieser Verantwortung spricht auch für viel Mut. Ich weiß nicht, wie du früher gewesen bist, aber in diesem Moment sehe ich einen jungen Mann vor mir, der bereit ist, sich seiner Verantwortung zu stellen – und als solcher wird es dir auch gelingen, das zu erreichen, was du dir vorgenommen hast, da bin ich mir sicher.“ Vincents Worte verliehen Luan einen neuen Auftrieb. Er könnte alles wieder regeln, damit jeder glücklich wurde. Cathan und Lowe hatten es auch schon gesagt: Er durfte nur nicht aufgeben. Er versicherte, dass er alles täte, was in seiner Macht stünde und verzichtete sogar darauf, zu erwähnen, dass das eigentlich nicht sonderlich viel war. Vincent war jedenfalls zufrieden darüber, machte noch eine Notiz und sah dann auf die Uhr. „Die Stunde ist jetzt vorbei, Luan. Oder möchtest du noch etwas sagen?“ Hatte er wirklich so lange geredet? So lang war es ihm gar nicht vorgekommen. Hastig schüttelte er mit dem Kopf und stand bereits auf. „Nein, heute nicht mehr. Ich habe alles gesagt, was ich sagen wollte.“ Mehr fiel ihm im Moment jedenfalls nicht ein. Vincent schloss die Mappe wieder und legte sie zurück auf den Tisch, ehe er ebenfalls aufstand. „Ich begleite dich noch nach draußen.“ Doch noch bevor Luan das Behandlungszimmer verlassen konnte, fiel ihm noch etwas auf, das er zuvor übersehen haben musste. Neugierig geworden trat er näher an den Schreibtisch und hob das dort stehende eingerahmte Bild hoch. Es zeigte eine blonde Frau, die eine gewisse Ähnlichkeit mit Seline aufwies, aber diese hier war etwas älter und ernster, als wäre sie mit viel Verantwortung beladen. Dennoch lächelte sie in die Kamera. „Ist das Joy?“ „Ja“, antwortete Vincent sofort. „Warum hast du ihr Bild hier stehen?“ „Ist es nicht normal, Fotos seiner Verlobten am Arbeitsplatz aufzustellen?“ Luan hob ruckartig den Kopf, um Vincent fassungslos anzustarren. „Verlobt?“ In seiner alten Zeit hatten sie gemeinsam einen Sohn, waren aber nicht verheiratet oder gar verlobt gewesen, was bei Faren und Ferris anscheinend oft zu leicht amüsierten Fragen diesbezüglich geführt hatte. Hier gab es keinen Luka, aber dafür waren Vincent und Joy verlobt? „Ist daran irgendetwas seltsam? Jii, Seline und Ferris fanden den Gedanken gut.“ „N-nein, das ist auch gut“, versicherte Luan ihm rasch und stellte das Foto wieder hin. „Ich war nur überrascht. Aber herzlichen Glückwunsch.“ Bevor er nochmal in ein solches Fettnäpfchen treten konnte, verließ er rasch das Behandlungszimmer, damit er zu Cathan und Ferris zurückkehren könnte. Diese fand er im Wohnzimmer, wo sein Begleiter gerade von der Dämonenjagd zu erzählen schien. Ferris hörte ihm begeistert zu und spielte dabei mit seinem Haar, das so lang war, dass er es zu einem hängenden Pferdeschwanz gebunden hatte. Als Cathan bemerkte, dass Luan hereingekommen war, beendete er die Geschichte abrupt: „Das ist jedenfalls der Grund, weswegen du niemals nachts durch einsame Gegenden ziehen solltest. Nicht jeder kann so viel Glück haben.“ Ferris wandte seine Aufmerksamkeit den beiden Neuankömmlingen zu. „Hörst du, Vince?! Mr. L ist ein Dämonenjäger! Das ist so cool! Ich wünschte, ich-“ „Du wirst kein Dämonenjäger“, unterbrach Vincent ihn. „Es ist schon schlimm genug, dass du Traumbrecher geworden bist, weil Jii das für eine gute Idee hielt.“ Luan wurde wieder einmal klar, wie viel Vincent eigentlich von Jii hielt. In direkter Konkurrenz zu Vane war ihm das nie wirklich aufgefallen. „Ich bin ein Naturtalent!“, platzte es aus Ferris heraus. „Ich wäre bestimmt auch ein cooler Dämonenjäger. Vielleicht nimmt mein Bro Faren mich ja mal mit~.“ Also hatte er hoffentlich wirklich vor, sich wieder bei Faren zu melden. Es war wohl nur noch eine Frage der Zeit, bis er zumindest die Beziehung der beiden wieder ein wenig gekittet hatte. Sie könnte nicht mehr so werden wie früher, aber zumindest wären sie weiterhin Freunde. Cathan erhob sich nun vom Sofa. „Dann sollten wir mal wieder los. Es wird sonst zu spät und Parthalan schaut mich dann wütend an, wenn wir wieder zurück sind.“ Lachend verabschiedete Cathan sich von Ferris und Vincent, was Luan ihm direkt nachmachte. Dabei musterte er Ferris noch einmal ganz genau, konnte aber immer noch nicht feststellen, ob dessen gute Laune nur gespielt war. Bei Vincent konnte er dafür aber sagen, dass dieser irgendwie zufrieden wirkte. Jedenfalls sah er bei genauerer Betrachtung nicht ganz so teilnahmslos aus wie früher. In seinem Inneren hörte er Kian leise grummeln, weil er nicht über ihn gesprochen hatte, aber Luan versicherte ihm, dass sie das beim nächsten Mal nachholen würden. Als er mit Cathan aus dem Haus trat, fiel ihm nämlich eine ganz andere Sache ein, die er auch vergessen hatte: Ich hätte ihn nach seiner Schwester fragen sollen. Sephira ist doch auch ein Teil seiner Familie. Doch auch das trat vollkommen in den Hintergrund, als die Haustür sich hinter ihnen schloss und sie sich in einer Umgebung wiederfanden, die ganz sicher nicht Vincents Nachbarschaft war. Unter einem orange-farbenen Himmel standen Luan und Cathan zwischen kunstvoll verzerrten Gebäuden, deren Formen noch keiner von ihnen bislang gesehen hatte. Selbst das Haus hinter ihnen, in dem sie gerade eben noch gewesen waren, hatte sich komplett verwandelt und gab keinerlei Anhaltspunkt von Leben mehr. Unfähig, das zu glauben, ließ Luan den Blick schweifen, während Cathan die Frage stellte, die sie beide in diesem Moment am meisten beschäftigte: „Wo sind wir?“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)