Demonic Rewind von Flordelis ([Demonic Reverie]) ================================================================================ Kapitel 11: Ist es gefährlich? ------------------------------ Erst nach Bravas Bericht hatte Skalia ebenfalls beschlossen, dass etwas getan werden musste. So trafen sie sich in dieser Sonntagnacht, dem 12. Januar, auf dem Dach eines Hochhauses. Der kalte Wind zerrte an ihren Haaren, weswegen Brava sich immer wieder mit den Händen durch die Strähnen ging, in einem vergeblichen Versuch, sie zu bändigen. Dabei blickte sie fast schon neidisch auf Skalia, die Älteste von ihnen, deren langes rotes Haar sich kaum bewegte. Sie trug eine schwarze Uniform, die denken ließ, dass sie eine wichtige Person in irgendeiner Art wäre, aber falls es so war, verlor sie nie ein Wort darüber. Auch im Moment rückte sie nur ihre Brille zurecht, während ihre rot-braunen Augen über die hell erleuchtete Stadt schweiften. Der ferne Lärm des Straßenverkehrs brandete bis zu ihnen herauf. „Manchmal“, seufzte sie, „vermisse ich die Zeiten, als die Menschen nachts noch friedlich geschlafen haben und wir nur Nachtwächtern ausweichen mussten.“ Brava erinnerte sich nicht an eine solche Zeit. Sie wusste nicht, ob es daran lag, weil sie diese nur vergessen hatte oder weil sie nie in einer solchen gewesen war. Aber egal wie oft sie Skalia danach fragte, diese lächelte immer nur, mit einem bitteren Glitzern in den Augen. Was auch immer das bedeuten mochte, es war mit Sicherheit nichts Positives. Yurid, die Dritte im Bunde, schloss sich ihnen nun ebenfalls an. Ihre grünen Augen leuchteten regelrecht, vermutlich nicht nur wegen der Lichter, sondern auch wegen der Aufregung des Kommenden. Durch ihr pinkes Haar, das ihr gerade mal bis an den Nacken reichte, müsste sie eigentlich die wenigsten Probleme auf diesem Dach haben. Ihre Haarspange, die an ein stilisiertes Ziffernblatt erinnerte, gab einen deutlichen Hinweis auf ihre Fähigkeiten – aber Brava hoffte, dass sie nicht eingesetzt werden müssten. „Ist dir nicht kalt?“, fragte Brava sie. Yurid trug, gewohnheitsmäßig, nur kurze Shorts, ihr Oberteil, so viel es auch im Großen und Ganzen bedecken mochte, offenbarte ihre Brust. Auch mit ihrem roten Schal sah es aus, als müsste sie bei diesen Temperaturen furchtbar frieren. „Absolut nicht“, sagte Yurid lächelnd. „Ich bin schon richtig heiß auf diesen Kampf – und darum ist mir nicht kalt.“ Wie konnte sie sich nur so sehr darauf freuen? Brava deutete ein Kopfschütteln an und folgte nun Skalias Blick. Dieser war vollkommen auf den nicht weit entfernten Glockenturm der Kirche konzentriert. Dort war, kaum sichtbar, eine blau glühende Kugel platziert worden, sie schwebte nur wenige Meter neben den Glocken in der Luft. In regelmäßigen Abständen sandte sie einen Impuls von Feindseligkeit durch die Stadt. Menschen dürften diese nicht bemerken, Traumbrecher und Dämonenjäger hoffentlich ebenfalls nicht. Hexen fielen in dieser Gleichung auch aus, aber sie waren ohnehin die ungefährlichsten Gegner. „Und wenn es nicht funktioniert?“, fragte Brava. Skalia lächelte selbstsicher. „Es wird funktionieren, keine Sorge.“ Die Kugel leuchtete auf, ein helles Klingeln ertönte, dann schickte sie eine weitere Welle durch die Stadt. Für Brava erschien es einen Moment so, als zog gleichzeitig ein Riss durch die Realität, der sich gleich danach wieder schloss. Ihr Kopf begann davon zu schmerzen. Sie wollte sich entschuldigen, um sich Tabletten dagegen zu holen – da tauchte etwas aus dem Nichts neben der Kugel auf und verharrte dort schwebend. Es war ein Mensch, nein, er sah nur aus wie ein solcher, in Wahrheit aber- „Da ist der Vollstrecker“, sagte Skalia, „holen wir ihn uns.“ Yurid nickte zustimmend. Sie ballte eine Hand zur Faust – und der Lärm der Stadt erstarb. Wer in einem solchen Moment einen genaueren Blick auf die Menschen geworfen hätte, wäre in der Lage gewesen, festzustellen, dass sich keiner von ihnen mehr bewegte. Die Zeit stand buchstäblich still. Skalia machte einen Schritt nach vorne, direkt ins Leere. Unter ihren Füßen entstand ein roter Bannkreis, der es ihr erlaubte, einfach in der Luft zu stehen. Yurid machte ihr das sofort nach, worauf auch Brava diesem Beispiel folgte. Bei jedem weiteren Schritt entstanden neue Bannfelder unter ihren Füßen, so dass sie problemlos die Distanz bis zum Kirchturm hinter sich bringen konnten, wo Yurid ihren Zauber wieder aufhob. Der Vollstrecker befand sich immer noch dort, er musterte die blaue Kugel, vermutlich ohne sie einordnen zu können. Manch anderer wäre vermutlich überrascht gewesen, dass der Vollstrecker eine eklatante Ähnlichkeit zu Kieran aufwies, aber Brava gehörte da nicht dazu – hauptsächlich weil sie diesem Kieran noch nie selbst begegnet war. Sein emotionsloser Blick wanderte über die drei Frauen. „Ist das hier eure Lockkugel?“ „Das ist sie“, sagte Skalia. „Und sie funktioniert vortrefflich, Vollstrecker.“ „Rick.“ Brava tauschte einen verwirrten Blick mit ihren beiden Gefährtinnen. Er reagierte nicht wirklich darauf. „Das ist mein Name, Rick Nuallan.“ „Du hast wirklich einen Namen?“, fragte Yurid irritiert. „Warum denn nicht?“ In seinem Gesicht war kein Anzeichen einer Emotion zu sehen. „Ihr Nornen habt doch auch Namen, obwohl ihr keine benötigt.“ Sie tauschten einen Blick miteinander. Er wusste, wer sie waren. Möglicherweise wusste er dann noch wesentlich mehr über sie und ihre Welt. Aber woher bezog er diese Informationen? Skalia beschloss, das sofort herauszufinden: „Wie kommst du in diese Welt, Vollstrecker?“ Er zog die Brauen zusammen, entweder wegen des fehlenden Namens oder weil er nicht gern nach solchen Dingen gefragt wurde. Dennoch antwortete er: „Durch das Tor.“ „Was für ein Tor?“ Die Nornen hatten kein wirkliches Verständnis für Welten außerhalb ihrer eigenen. In jeder Welt gab es andere ihrer Art, jede achtete nur auf ihr Revier, deswegen gab es auch keine Notwendigkeit, dieses zu verlassen und aus diesem Grund wussten sie auch nicht, mit welchen Mitteln man sie verließ. „Das Weltentor.“ Er ließ sich nicht im Mindesten von ihrem Unwissen irritieren. „Und woher weißt du so viel über die Welt und uns?“, fragte Brava, um seine Gesprächigkeit auszunutzen. Er neigte den Kopf ein wenig. „Ich weiß es eben.“ Sie unterdrückte ein Seufzen der Frustration, das ihrer Kehle entkommen wollte. Da sie wohl keine weiteren Informationen aus diesem Gesprächsverlauf erhielten, beschloss Brava, etwas anderes zu fragen: „Warum hast du neulich diese Würmer aus dem Limbus auf mich gehetzt?“ Seine Gesichtszüge verzogen sich in offensichtlicher Verwirrung. „Ich habe keine Gewalt über irgendwelche Wesen im Limbus. Aber mir ist auch aufgefallen, dass sie nervöser erscheinen.“ Aufgrund seines Gesichtsausdrucks und seiner nach wie vor emotionslosen Stimme war Brava überzeugt, dass er wirklich nichts damit zu tun hatte. Sie bezweifelte, dass er das Konzept der Lüge überhaupt verstand. Skalia war aber noch nicht wirklich überzeugt: „Gut, das hast du vielleicht nicht getan – aber das heißt nicht, dass du hierherkommen und die Ordnung verändern kannst.“ Ihre Stimme, die normalerweise so mütterlich und warm klingen konnte, war bei diesen Worten hart und unnachgiebig, wie die einer Generälin, die gerade ihrem Feind gegenüberstand. Aber auch davon ließ Rick sich nicht beeinflussen: „Das habe ich nicht vor.“ „Huh?“ Yurid war nicht minder verwirrt wie Brava sich fühlte. „Aber was hast du denn hier vor? Es muss doch einen Grund geben, warum du hier bist – und warum du dich von unserem Lockmittel herführen lässt.“ Sie deutete auf die Kugel, was auch Ricks Aufmerksamkeit wieder darauf lenkte. „Oh, da wir gerade davon sprechen.“ Er schnippte nur mit den Fingern – und die blaue Kugel wurde sauber in zwei Hälften geteilt, die direkt verblassten und innerhalb kürzester Zeit verschwunden waren. „Ihr solltet nicht so unvorsichtig sein mit diesen Dingen. Und was ich hier vorhabe …“ Er zögerte für einen Moment, als überlege er, ihnen einfach zu vertrauen und ihnen die Wahrheit zu sagen, aber dann entschied er sich doch anders: „…ist meine eigene Sache. Es hat jedenfalls nichts mit euch zu tun.“ Skalia kommentierte diese Antwort mit einem humorlosen Lachen, dann zog sie ihr Schwert und hielt es ihm entgegen. „Unter diesen Umständen müssen wir, die Nornen dieser Welt, dich als Feind betrachten, Rick Nuallan, Vollstrecker des selbsternannten Weltenwächters.“ Sie spie das letzte Wort aus als beinhalte es Gift, und zum ersten Mal in dieser Unterhaltung wandelte sich etwas in Ricks Gesichtsausdruck. Es war nicht direkt Wut, aber zumindest zog er seine Brauen zusammen und bewies damit, dass er doch zu gewissen Emotionen fähig war. „In Ordnung“, erwiderte er schulterzuckend. „Aber wir müssen das auf unsere nächste Begegnung verschieben. Ich habe heute noch etwas zu tun.“ Und noch bevor eine von ihnen etwas erwidern konnte, flog er rasch davon, ohne große Mühe. Brava kam nicht umhin, diese Fähigkeit für einen kurzen Moment einfach nur sprachlos zu bewundern. „So einfach kommst du uns nicht davon!“, rief Skalia. Sie begann in einem rötlichen Licht zu glühen – und im nächsten Augenblick prallte Rick mit einem erstaunlich hörbaren Knacken gegen ein rotes Schild. Er nahm sich nicht die Zeit, sich um etwaige Verletzungen zu kümmern, genau genommen hielt er nicht einmal lange genug inne, um überhaupt festzustellen, ob er verletzt worden war. Seine Form zerplatzte in auseinderdriftende Schatten – und setzte sich nur den Bruchteil einer Sekunde später an einer anderen Stelle wieder zusammen, als er gegen ein weiteres Schild stieß, das diagonal zum ersten verlief. Wieder hielt er nicht inne, zerplatzte, um gleich danach direkt gegenüber aufzutauchen, dann versuchte er es nach oben, nach unten, wieder in ihre Richtung – aber das Ergebnis blieb immer dasselbe. Skalia schob ihre Brille mit einem Finger nach oben. „Gib es auf, Vollstrecker. Du bist in meinem Käfig gefangen – und der löst sich erst wieder auf, wenn ich es bestimme oder sterbe.“ Es sah nicht so aus, als wäre Rick an ihren Worten interessiert, noch immer löste er sich in Schatten auf, um dann an einer anderen Stelle wieder zu erscheinen, weil er erneut gegen das Schild prallte. „Und jetzt kürzen wir das ab“, verkündete Skalia dennoch, und begab sich selbst ins Innere des Käfigs, gefolgt von Yurid und Brava. Rick hielt erst wieder inne, als er sich in unmittelbarer Nähe zu ihnen befand. Eine blutende Wunde an seiner Stirn, sowie Blut, das aus einer leicht verbogenen Nase lief, verriet, wie stark er gegen die Wände des Käfigs gestoßen war. Möglicherweise hatte er auch noch mehr Verletzungen davongetragen, aber er ließ sich das nicht anmerken. Sein Gesicht sprach nun eher von Ungeduld. „Ich habe wirklich keine Zeit hierfür.“ „Das ist kein Problem“, sagte Yurid fröhlich und ballte die Hand zur Faust. Brava sah, wie der Verkehr auf der Straße unter ihnen schlagartig stoppte – aber Rick seufzte nur. „Ihr seid Nornen“, erinnerte er sie. „Derartige Zauber wirken nur auf alles, was eure Welt bevölkert. Ich gehöre nicht dazu.“ „Auch kein Problem“, sagte Yurid, die sich davon nicht niederschlagen ließ. In ihrer zur Faust geballten Hand erschien eine Waffe, die mit viel Fantasie wie zwei altertümliche Stunden- und Minutenzeiger aussahen, wenn sie gerade in einer Position waren, die es erforderten, dass sie eine gerade Linie bildeten. Die geschwungenen Linien, deren Ränder messerscharf waren, formten sich zu zwei Klingen, die mit einem Griff verbunden waren. Brava war, egal wie sie es betrachtete, immer wieder erstaunt, dass Yurid von ihnen dreien am besten für diese Aufgabe ausgestattet schien. Yurid griff sofort an, kaum dass ihre Waffe sich geformt hatte. Rick wich dem Angriff aus, nicht im Mindesten von den zuvor durch die Zusammenstöße erlittenen Wunden, beeinträchtigt. Yurid ließ die Waffe zur Seite schwingen, aber auch diesmal schaffte er es, um Haaresbreite, ihr auszuweichen. Skalia stürzte sich sofort ebenfalls in den Kampf, das Schwert fest in beiden Händen. Sie konnte nicht so schnell zuschlagen wie Yurid, aber sie versuchte, einen Vorteil daraus zu ziehen, dass sie erahnen konnte, in welche Richtung Rick auswich. Kaum bemerkte er, dass er zwei Feinde hatte, ließ er etwas aus dem Nichts erscheinen. Es war ein Rapier in seiner rechten Hand und ein Schild an seinem linken Unterarm. Damit konterte und wehrte er die weiteren Angriffe ab, in einer Geschwindigkeit, die es Brava fast unmöglich machte, wirklich zu erkennen, was eigentlich vor sich ging. Sie hörte lediglich eine schnelle Abfolge von Metall, das auf Metall traf, sah das Aufblitzen der einzelnen Waffen im Mondschein. Wie schafft er es, sich gegen sie beide gleichzeitig zu verteidigen? Obwohl ihm das gelang, blieb ihm allerdings keine Zeit, auch noch zu kontern. So war er eindeutig in eine defensive Haltung gedrängt, die auch ihm nicht zu gefallen schien. Er gab einen Laut von sich, der von Ungeduld zeugte, dann sprang er zurück, ein blaues Licht hüllte ihn ein. Es sah aus, als bereite er einen Angriff vor, den Brava ihn nicht durchführen lassen wollte. Sie griff nach ihrem Kompass, zog den Revolver hervor, legte an und schoss – alles innerhalb einer Sekunde, die sie dank ihrer Fähigkeit für alle anderen zu einer Ewigkeit anwachsen lassen konnte. Die abgeschossene Energiekugel traf Rick mit voller Wucht und schleuderte ihn mehrere Meter zurück, bis er gegen eine der Wände prallte. Yurid setzte sofort nach, allerdings nicht mit ihrer Waffe. Stattdessen ließ sie einen blauen Ball aus Energie erscheinen, der für einen kurzen Moment vor ihr schwebte, dann der Schwerkraft folgte – und dann von ihr getreten wurde, als wolle sie ein Tor beim Fußball schießen. Rick hatte es gerade erst geschafft, sich wieder aufzurichten, schien aber im Moment zu schwach, um auszuweichen, weswegen er erneut getroffen wurde. Seine Glieder zuckten und verkrampften sich, als die fremde Energie seinen Körper angriff, mit dem festen Vorhaben, ihn in dieser Welt auszulöschen. Das Fleisch löste sich wie von Säure berührt von seinen Knochen – aber es regenerierte sich sofort wieder, ohne ein weiteres Anzeichen einer Verbrennung zu zeigen. Er ist immerhin nicht umsonst der Vollstrecker des Weltenwächters. Auch wenn Brava seinen Wächter-Status und seine Einmischungen nicht einfach akzeptieren konnte, bedeutete das nicht, dass sie nicht zumindest seine Fähigkeiten anerkennen könnte. Skalia sprintete auf ihn zu, und stieß ihm – ehe er sich vollständig regenerieren konnte – das Schwert direkt durch die Brust, durch sein Herz. Tatsächlich gab Rick sofort jeglichen Widerstand auf, seine Glieder fielen nutzlos herunter, der Regenerierungsprozess stoppte abrupt. Für zwei Herzschläge herrschte angespannte Stille, dann- „Wir haben den Vollstrecker des Weltenwächters besiegt!“, verkündete Yurid fröhlich. „Wir können alles schaffen, was wir nur wollen!“ Noch immer den aufgespießten Rick haltend, schob Skalia zufrieden mit einem Finger ihre Brille wieder nach oben, sagte aber nichts. Brava dagegen fühlte sich ein wenig … enttäuscht. Vom Vollstrecker des Weltenwächters, einem Mann, der – laut den Geschichten – immerhin unzählige Dämonen und einen Gott besiegt und sich deswegen zum Wächter aller Welten emporgeschwungen hatte, hätte sie sich wesentlich mehr erwartet. Einen besseren Kampf, mehr Gegenwehr. Doch während sie gerade in ein düsteres Brüten versinken wollte, konnte sie deutlich eine Stimme hinter sich hören: „Denkst du, sie sind jetzt zufrieden?“ Sie wollte sich umdrehen, um ihn anzusehen, aber- „Sieh nicht her“, wies Rick sie an. „Schau weiter die beiden an.“ Warum sprach er gerade mit ihr, statt sie in dem Glauben zu lassen, dass er tot sei? Nur weil sie enttäuscht über diesen Kampf gewesen war? „Du verstehst, dass ich nichts Böses will. Ich weiß es.“ „Du hättest mich trotzdem in dem Glauben lassen können, dass du tot bist“, murmelte sie, damit Yurid und Skalia, die sich gerade die vermeintliche Leiche ansahen, sie nicht hörten. „Das hätte ich“, sagte er nach kurzem Nachdenken. „Aber ich wollte dir noch sagen, weswegen ich keine Zeit hatte, um mich wirklich mit euch auseinanderzusetzen.“ Vertrödelte er diese Zeit dann nicht gerade mit ihr? Oder wollte er damit andeuten, dass der Kampf, unter anderen Umständen, länger angedauert hätte? Hatte er etwa wirklich nicht sein volles Potential gezeigt? „In genau zwei Minuten wird etwas durch das Tor in diese Welt kommen“, fuhr er fort. „Etwas, dem ich hinterherjage. Hier wollte ich es abfangen.“ Ein Schauer lief über Bravas Rücken. „Ist es gefährlich?“ In einem solchen Fall fiele das auch in ihren Bereich und sie müssten ebenfalls etwas tun. Warum hatte er das nicht einfach von Anfang an gesagt? Sie hätten ihm doch helfen können. Er zögerte. „Es ist sehr gefährlich. Nicht nur für euch. Sondern auch für den Weltenwächter.“ Worum mochte es sich bei diesem Wesen nur handeln, wenn es sogar dem Wächter gefährlich wurde? „Ist es für dich nicht gefährlich?“ „Ich bin kein Lebewesen. Also, nicht in dem Sinne, wie ihr. Der aufgespießte Rick und ich, wir sind ein- und derselbe. Und während ich mit dir rede, stehen andere Ricks dort, wo ich seine Ankunft erwarte. Wir sind viele. Der einzelne ist ersetzbar.“ Das klang furchtbar traurig, wenn sie darüber nachdachte. Weswegen sie es erstaunlich fand, dass der als so gütig angepriesene Weltenwächter dieses Konzept für seinen Vollstrecker nutzte. „Ich fürchte“, fuhr Rick fort, „ich muss euch deswegen darum bitten, euch aus diesem Kampf herauszuhalten. Er ist unberechenbar – und ich möchte nicht, dass euch oder dieser Welt etwas geschieht.“ Das waren nachvollziehbare Gründe – die sie aber dennoch hätten ablehnen müssen. Sie trugen nach wie vor die Verantwortung für diese Welt. „Wer hat euch diese übertragen?“, fragte Rick, nachdem sie es laut ausgesprochen hatte. Das war eine Frage über die Brava noch nie nachgedacht hatte. Warum auch? Sie kannte ihre Existenz an sich. Kannte ihren Grund dafür. Sie war kein Mensch, der ein göttliches Wesen erst darum bitten musste, ihr einen solchen Grund zu nennen. Und doch stand sie nun hier und grübelte darüber, wer die Nornen und ihr Konzept eigentlich ursprünglich erschaffen haben mochte. Sie konnte keine Antwort finden und Rick ihr keine geben, denn in diesem Moment war es, als zerbreche ein Teil des Himmels – und durch den entstandenen Riss strömte ein reines, geradezu göttliches Licht in die Welt hinein. „Das ist mein Stichwort“, sagte Rick. „Ich muss gehen.“ Sie hörte, wie er sich auflöste, aber das war schon nicht mehr sonderlich wichtig, denn alle drei Nornen blickten gleichermaßen gebannt auf das Lichterspektakel, das sich ihnen bot. „Was geschieht da gerade?“, fragte Yurid ratlos. „Wir sollten dem auf den Grund gehen“, sagte Skalia entschlossen. Die Wände des Käfigs lösten sich wieder auf, genau wie all ihre Waffen, die Leiche zersprang in unzählige helle Funken. Yurid ließ erneut die Zeit anhalten, in einem Versuch, nicht noch mehr Menschen als nötig Zeuge dieses Phänomens werden zu lassen. Während sie zu dem Riss hinüberhasteten, musste Brava wieder an Ricks Worte denken. Was immer in diesem Licht in diese Welt kam, war gefährlich. So sehr, dass er sogar den Weltenwächter nervös machte. Worum mochte es sich dabei handeln? Und warum legte es dabei einen derart auffälligen Auftritt hin? Und was wollte es überhaupt in dieser Welt? Doch noch ehe sie die Stelle erreicht hatten, schloss sich der Riss bereits wieder, das Licht erlosch, der Himmel fügte sich wieder zusammen, als wäre er an dieser Stelle nie zerbrochen. So konnten sie nur noch verwirrt unter dem betroffenen Fleck stehen und ratlos die Sterne anstarren, die keinerlei Anzeichen für etwas Ungewöhnliches aufwiesen. Brava spürte auch keinerlei fremde Entität in der Nähe, die nicht in diese Welt gehörte. War dieses Licht am Ende nur ein Ablenkungsmanöver gewesen? „Was machen wir jetzt?“, fragte Yurid. Es gab keinerlei Spuren zu verfolgen, nichts, was darauf hinwies, dass irgendeine Gefahr von diesem Licht ausgegangen war. Und dennoch hatte Brava das Gefühl, als müssten sie irgendetwas tun. Skalia sah zu Yurid hinüber und runzelte die Stirn. „Ich würde vorschlagen, dass wir die Mission für heute erst einmal beenden.“ Als Brava ihrem Blick folgte, bemerkte sie auch sofort den Grund dafür, ihr Herz wurde schwer: Eine von Yurids normalerweise pinken Strähnen hatte sich schneeweiß gefärbt. „Oh“, gab die Geschädigte überraschend fröhlich von sich. „Ich habe meine Kräfte wohl etwas zu viel genutzt, was?“ Zeit war ein stetiger Fluss, der aus der Vergangenheit kam und durch die Gegenwart in Richtung Zukunft floss. Wer sie zu beeinflussen versuchte, indem er sie anhielt oder auch nur eine Sekunde in die Ewigkeit streckte, musste schwere Strafen in Kauf nehmen – das galt selbst für sie als Nornen, als Hüterinnen dieses Flusses. „Ich werde mich zu Hause dann mal ein wenig ausruhen~.“ „Dann lasst uns jetzt gehen“, sagte Skalia zufrieden. „Es macht keinen Sinn, hier weiter herumzustehen – und immerhin haben wir den Vollstrecker besiegt, es war eine erfolgreiche Nacht.“ Brava wusste, dass dem nicht so war, aber sie wagte keinen Einspruch. Sollten die anderen ruhig erst einmal denken, dass Rick tot war. Vielleicht gelang es ihm ja, diese Gefahr, sofern sie denn existierte, selbst auszuschalten – oder es war ihm bereits gelungen. Sie konnte nur hoffen, während sie ihren Schwestern folgte, um zu ihrem Zuhause zurückzukehren. Von allen Personen in Cherrygrove, die in dieser Nacht noch wach und unterwegs waren, gab es nur einen einzigen Mann, der die Nornen über den Verbleib des Risses und die Bedeutung des Lichtes hatte nachdenken sehen. Er saß auf dem Dach eines Bürogebäudes, nicht weit entfernt von den Schwestern, aber keine von ihnen hatte ihn bemerkt. Seine Aura zu verbergen gelang ihm immer besser. Kaum waren die Nornen fort, bestätigte er einige der Aktionen auf seinem Tablet. Das Display glühte in einem grünen, unweltlichen Licht, das sich auch in seinen Brillengläsern spiegelte, hinter denen ein grünes und ein goldenes Auge desinteressiert die fremdartige Schrift auf dem Tablet betrachteten. Er konnte sie lesen, diese geschwungene, schnörkelige Schrift, er verstand die Worte, die sie formte, ganz im Gegensatz zu den meisten derer, die sein Schicksal teilten. Dank seines Wissens und dieses Instruments in seiner Hand, wusste er, anders als die Nornen, ganz genau, was gerade geschehen war, welche Gefahr diese Welt betreten hatte und was das für sie alle bedeuten mochte. Aber er hegte kein Interesse daran, diese verkommene, ihn verfluchende Welt zu retten. Nein, alles, was ihn interessierte, war die Rettung einer einzigen Person und diese würde er durchführen, auch gegen deren Willen. „Konia“, murmelte er kaum hörbar, seine Stimme nur für die Ohren jener Frau bestimmt, die ihn so oft von sich gestoßen hatte. „Wir werden nach Niflheim zurückkehren – gemeinsam.“ Mit diesen Worten schaltete er das Tablet aus, ließ das Display schwarz werden – und einen Windhauch später, befand sich niemand mehr auf diesem Dach. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)