Demonic Rewind von Flordelis ([Demonic Reverie]) ================================================================================ Kapitel 10: Was hat dich jetzt überzeugt? ----------------------------------------- Es schien Luan wie eine Ewigkeit her zu sein, seit er zuletzt in einem Auto gefahren war. Vor allem gemeinsam mit Cathan. Es war nicht derselbe Wagen, wie damals, sondern ein größerer, mit mehr Platz für die Familie und deren Gepäck. Nachdem er Cathan von seinen Erlebnissen erzählt hatte, schmunzelte dieser. „Ja, klingt wie mein alter Wagen. Der war leider nicht mehr zu gebrauchen, nach den Auseinandersetzungen mit Atanas und Armas.“ Luan fragte sich, was wohl genau dabei geschehen sein mochte, wollte es aber nicht aussprechen. Vielleicht war es besser, keine Antwort darauf zu erhalten. Es war Samstag, Parthalan hatte erlaubt, dass Luan zu den Lanes gehen dürfe, um dort einige Stunden zu verbringen – unter der Voraussetzung, dass darauf geachtet wurde, dass er nicht weglief und spätestens um 21 Uhr wiederkäme. In Luans Inneren kämpften unterschiedliche Gefühle miteinander um die Oberhand. Einerseits wollte er wirklich nur ein friedliches Treffen mit den Lanes erleben, besonders mit den Zwillingen, die sich scheinbar an ihn erinnerten, andererseits wollte er aber auch die Gelegenheit nutzen, um zu fliehen und doch noch zum Bahnhof zu kommen, um endlich zu schlafen. Aber für beides fand er immer eine logische Erwiderung, die ihm verriet, dass er keine Entscheidung nur mit reichlicher Überlegung treffen könnte. Er müsste abwarten, ob sich ihm eine Gelegenheit böte und ob er diese dann ergreifen wolle. Zumindest das Haus war noch dasselbe, wie Luan schnell feststellte, als sie davor anhielten. Aber es schmerzte in seiner Brust, wenn er daran dachte, dass es nicht mehr sein Zuhause war. Und auch nicht mehr das von Kieran. Alles war besser gewesen damals. Warum wusste er das erst in diesem Moment zu schätzen? Cathan sagte nichts, während sie gemeinsam zur Haustür gingen, erst im Inneren war seine Stimme wieder zu hören: „Ich bin wieder da! Und ich habe Luan mitgebracht.“ Für den ersten Moment war nichts zu hören, es herrschte eine fast schon bedrückende Stille – die urplötzlich von einem Chor zweier kleiner Mädchen unterbrochen wurde: „Luan! Luan!“ Gleich danach kamen sie ihnen bereits entgegengelaufen. Zwillingsmädchen, etwa drei Jahre alt, kamen mit wehendem schwarzen Haar auf sie zugerannt, ließen Cathan einfach links liegen und klammerten sich stattdessen an Luans Beine, während sie weiterhin unablässig seinen Namen riefen. Tränen stiegen in Luans Augen, er kniete sich hin, um die Mädchen richtig zu umarmen. „Hallo, Amy, hallo, Mya.“ Es war fast so als käme er wirklich nach Hause und würde dort begrüßt werden. Aber er wusste es besser – besonders als er sich auf den Geruch konzentrierte. Es roch ähnlich wie damals, in der anderen Zeitachse, aber doch fehlte hier etwas. Es war Kierans Geruch, der fehlte, kaum merkbar und doch bohrte sich sein Fehlen tief in Luans Herz. Erst als er eine Hand in seinem Gesicht spürte, ließ er den Gedanken wieder links liegen. Er sah Amy an, die sich darum bemüht hatte, seine Tränen wegzuwischen. „Nicht weinen“ forderte sie dabei. Mya nickte zustimmend, sagte sonst aber nichts mehr. „O-okay“, stammelte er und wischte sich selbst noch einmal über die Augen. Dann stand er wieder auf und bemerkte, dass Cathan nicht mehr da war. Die Mädchen zogen ihn bereits ins Wohnzimmer, wo er schließlich die auf dem Sofa sitzenden Granya entdeckte, die gerade von Cathan über den Besucher aufgeklärt wurde. Sie wandte den Kopf, um Luan anzusehen. Dabei fiel ihm auf, dass sie immer noch so schön aussah, wie er sie in Erinnerung hatte. Das lange schwarze Haar, die dunklen Augen und das spitze Gesicht, das so sehr an Kieran erinnerte … es war fast zu schön. Aber als er genauer hinsah, entdeckte er, dass Trauer in ihren Augen lag, verbunden mit Furcht, was ihm direkt wieder ins Herz stechen wollte. Aber dafür blieb ihm keine Zeit, denn sie erhob sich bereits vom Sofa, kam auf ihn zu und schloss ihn, wie selbstverständlich, in ihre Arme. Ihr ganzer Geruch hüllte ihn sofort ein und erinnerte ihn wieder an jene Tage, an denen er Kierans Familie das erste Mal getroffen hatte. Er erinnerte sich, dass Kieran ihm damals erzählt hatte, Granya umarme gern traurige Menschen – und dem blieb sie wohl auch in dieser Zeitachse treu. „Mama ...“, flüsterte er leise, obwohl er das eigentlich nicht sollte, aber er konnte sich kaum beherrschen. Sie löste sich wieder von ihm und neigte lächelnd den Kopf. „Wenn du mich so nennen willst, ist das in Ordnung.“ Offenbar waren seine Gedanken zu offensichtlich oder seine Stimme zu reuevoll. Er lächelte sie dankbar an, dann ließ er den Blick schweifen, während sie sich wieder an Cathans Seite begab. „Wo ist Ciar?“, fragte Luan. Er wollte ihn nicht unbedingt treffen, aber es hätte ihn doch interessiert, was wirklich aus ihm geworden war, wie er nun aussah, wie es ihm ging. Und das könnte er alles nur erfahren, wenn er ihn selbst sah. Cathan setzte bereits zur Antwort an, da wirbelte Amy herum und rannte aus dem Wohnzimmer hinaus, dabei immerzu „Ci! Ci!“ schreiend. Mya folgte ihrem Beispiel sofort. Nach wenigen Sekunden hörte er ihre Stimmen auf der Treppe verklingen. „Er ist oben, in seinem Zimmer“, sagte Cathan schmunzelnd und deutete dabei mit dem Finger in den ersten Stock. „Da hält er sich meistens auf.“ Das klang wirklich nach ihm. Es tat Luan leid, dass Ciar nicht bei Atanas sein konnte, den er viel eher als Vater akzeptiert hatte, trotz der fehlenden Blutverwandtschaft. Das war eines der Themen, das er willentlich in Kauf genommen hatte, in der Hoffnung, es könne helfen, die Beziehung zwischen Cathan und Ciar zu verbessern. Während er noch darüber nachdachte, ob das wirklich richtig gewesen war, hörte er wieder die vergnügten Stimmen der Zwillinge, die sich ihnen näherten. „Beruhigt euch doch mal“, sagte eine andere Stimme, die er nur zu gut kannte. Sie klang ähnlich wie die von Kieran, aber doch fehlte ihr das lieblich-melodische, stattdessen klang sie eher nüchtern und … erfahrener? Luan wusste nicht so recht, wie er diesen Unterton einordnen sollte. Aber das musste er auch gar nicht, denn in diesem Moment regte sich etwas in seinem Inneren. Es war lange her, seit er ihn zuletzt gespürt hatte, aber es war eindeutig Kian, der da gerade auf Ciars Stimme reagierte. Noch befand er sich in einem trüben Halbschlaf, war sich wohl nicht sicher, ob es nicht nur ein Traum gewesen war, aber er reckte sich bereits. Luan bereitete sich darauf vor, jemanden zu sehen, der Kieran zum Verwechseln ähnlich sah – und wurde dann von Überraschung übermannt, als Ciar wirklich eintrat. Er trug Mya auf seinen Armen, die doch ein wenig muskulöser waren als die von Kieran, Amy ritt auf seinem Rücken und verkündete ihren Erfolg mit einem fröhlichen „Ci!“. Ciars schwarzes Haar war nun kurz geschnitten, hing nicht mehr über sein Auge wie das von Kieran, war dafür aber unordentlich als wäre er gerade eben erst aufgestanden. Seine dunklen Augen wirkten müde und gelangweilt, selbst als sie auf Luan zu liegen kamen. Er nickte ihm nur knapp zu, dann setzte er die Mädchen auf dem Boden ab. „Die beiden Nervensägen haben mich aus dem Bett gezerrt, weil wir Besuch haben.“ Ungestört von dieser Kritik begaben sie sich sofort wieder zu Luan, damit sie um diesen herumlaufen konnten. Granya wich mit einem knappen Seitenschritt halb hinter Cathan. „Die beiden wissen eben nicht, dass du nachts arbeitest.“ Ciar warf einen kurzen Blick zu Granya, ehe er die Augen wieder niederschlug. „So meinte ich das nicht.“ Um wieder von sich abzulenken, sah er Luan an, der sofort zusammenzuckte, dann aber die Hand hob. „Äh, hallo, ich bin Luan.“ „Dachte ich mir“, erwiderte Ciar knapp, reichte ihm aber dennoch die Hand. „Ich bin Ciar, auch wenn ich dir das vermutlich nicht sagen muss, was?“ Nur zögernd ergriff Luan die ihm dargebotene Hand – und im selben Moment, in dem sie sich berührten, spürte er, wie Kian in ihm vollends erwachte, mit einer Gewalt, die ihn fast keuchend in die Knie zwang. Ciar zog die Augenbrauen zusammen, schaffte es aber, Luan auf den Füßen zu halten. „Alles in Ordnung? Das sieht nicht wie ein sonderlich gesunder Anfall aus.“ „Lass. Mich. Raus!“ Es gelang ihm kaum, die Worte noch richtig zu hören. In seinem Inneren schrie Kian ihn an, bedrohte ihn, damit er ihm sofort wieder die Oberhand über diesen Körper gewährte. Nur mit Mühe gelang es Luan, wieder einigermaßen die Kontrolle zu bekommen – und das vermutlich auch nur durch Amy, die ihm plötzlich etwas entgegenstreckte. Durch seine brennenden Augen gelang es ihm kaum, den Gegenstand wirklich zu erkennen, aber als er die Tränen wegblinzelte, wurde das Bild immer klarer: Es war ein Schokoladenriegel. „Luan, Süßes“, sagte sie, was von Mya direkt geechot wurde. Er bedankte sich stammelnd, als er den Riegel an sich nahm, ihn aber nicht sofort öffnete. Nur undeutlich nahm er wahr, dass Ciar ihn zwar losgelassen hatte, aber Granya und Cathan dafür an ihn herangetreten waren. „Setz dich“, forderte sie ihn auf. Er kam dem auch sofort nach, da Cathan ihm glücklicherweise bereits einen Stuhl aus dem Esszimmer herangeholt hatte. „Was ist geschehen?“ Luan blinzelte mehrmals, in der Hoffnung, dass seine Augen sich nicht auch noch rot zu färben begannen. Er sah auf den Schokoladenriegel hinab, den er unablässig in seinen Händen drehte. „N-nichts weiter. Macht euch keine Sorgen. Zeitreisen sind nur nicht sonderlich gesund.“ Da ihm niemand das Gegenteil beweisen konnte, empfand er das als recht gutes Argument. „Luan, Süßes!“, forderte Amy lautstark und sah ihn dabei überraschend entschlossen an. Granya lächelte. „Ich glaube, sie wollen, dass du ihn isst. Wahrscheinlich glauben sie, dass es dir besser geht, wenn du erst einmal etwas Süßes gegessen hast.“ Wie lange war es schon her, seit er zuletzt einen Schokoladenriegel gegessen hatte? In dieser Zeitachse war es jedenfalls noch nie vorgekommen, also mussten es mindestens drei Jahre sein. Da Amy ihn weiterhin derart ernst ansah, wickelte er den Riegel schließlich aus und biss hastig hinein. Der Zucker zog sofort in sein Gehirn und ließ ihn fast seufzen. Wie hatte er die letzten Jahre ohne ihn nur überleben können? Sogar Kian schien sich ein wenig zu beruhigen, vielleicht aber auch nur, weil er wusste, dass es im Moment keinen Sinn machte, sich weiter aufzuregen. Cathan sah die größte Gefahr wohl als vorüber an, da er mit der Ankündigung, er wolle kochen gehen, das Wohnzimmer verließ. Granya kniete sich allerdings neben Luan, während die Mädchen aufgeregt vor ihm stehenblieben und ihn weiterhin musterten. Entsprechend gab er sich Mühe, den Riegel auch zu essen. Ciar setzte sich derweil auf das Sofa, allerdings seitlich, so dass er Luan ebenfalls beobachten konnte. Dieser kaute auf seinem Schokoladenriegel und wandte ein wenig den Blick ab, um nicht vollkommen in Verlegenheit zu geraten. Dabei spürte er aber weiterhin, wie Kian in seinem Inneren wütete, wenn auch diesmal nicht so gewalttätig wie noch zu Beginn. „Also“, begann Ciar, was Kian nur noch mehr in Aufregung versetzte, „Zeitreisen, ja? Wie kamst du denn auf diese Idee?“ „In meiner Zeit gab es einige Probleme“, antwortete Luan leise. „Deswegen dachte ich, wenn ich zurückreise und einen Brief an die Anführer der Schule schreibe ...“ Und an Vincent, aber den musste er nicht extra erwähnen, wie er glaubte. Er war sich nicht einmal sicher, ob Ciar diesen überhaupt besuchte. „Und wie ist es für dich gelaufen?“, fragte er weiter. Also wusste er nichts von seiner Verbindung mit Kieran oder dessen Ausbruch. Dann würde Luan ihn auch nicht extra darauf hinweisen. „Nicht so gut, wie ich gehofft habe – aber es sind einige Dinge auch besser geworden.“ Wenngleich nicht durch sein Eingreifen. Jiis Tochter war nicht sein Verdienst, sondern der des Dämons, der in dem Mann lebte. Er war es gewesen, der ihm die Erinnerungen der anderen Zeitachse übertragen hatte. „Was ist mit mir?“, fragte Ciar ungeniert. „Ist mein Leben jetzt besser?“ Kian schien wieder mit den Fäusten gegen jeden Punkt in Luans Körper zu trommeln, weswegen dieser zu schmerzen begann. Er wollte sich das aber nicht anmerken lassen und kaute weiterhin an dem Schokoladenriegel, in einem Versuch, ihn wieder zu beruhigen. „Nein“, antwortete Luan dann ehrlich. „Ich glaube, dein Leben war vorher besser.“ Entgegen seiner ersten Befürchtung, schmunzelte Ciar nur, statt einen Wutanfall zu bekommen. Vielleicht war er also doch wesentlich besser dran in dieser Zeitachse. Ciar zuckte nur mit den Schultern und vollführte eine wegwerfende Handbewegung. „Tja, dann habe ich wohl Pech, was?“ Luan verspürte das Bedürfnis, sich zu entschuldigen, tat es aber nicht und aß stattdessen den Rest seines Riegels. Amy nahm ihm die leere Verpackung ab und huschte davon, um diese wegzuwerfen. „Mach dir keine Sorgen“, schlug Ciar dann vor. „Ich komme schon klar. Ich hab gehört, du kriegst schon von allen anderen ziemlichen Stress, da muss ich ja nicht mitmachen.“ Er war wesentlich netter sogar, als in der anderen Zeitachse. Vielleicht war es ja wirklich nicht so schlimm, was er getan hatte. Jedenfalls für Ciar. „Du machst doch Witze!“, fauchte Kian in seinem Inneren. „Er braucht mich! Lass mich raus!“ Nein, erwiderte Luan. Du bleibst drinnen. Ich kann dich nicht herauslassen. Allerdings könnte er vielleicht doch bei Jii nachhaken, ob eine der Hexen wieder einen Körper für Kian schaffen könnte, wenn ihm das derart wichtig war. Zumindest beruhigte er sich nach diesem Gedanken wieder ein wenig, brodelte aber weiter in Luans Inneren. „Was machst du jetzt eigentlich?“, fragte Luan ihn. Granya war derweil in eine leise Unterhaltung mit Amy und Mya vertieft, um diese abzulenken. Ciar griff in seine Tasche und zog eine Taschenuhr hervor, die Luan eigentlich bereits alles sagte, aber dennoch holte er zu einer Erklärung aus: „Jii hatte solche Angst vor mir, er hat als Bedingung für meine Freilassung gefordert, dass ich ein Traumbrecher werde, damit er jederzeit einfach die Uhr abstellen könnte, sollte ich etwas Falsches tun.“ Das klang wirklich nach Jii, musste selbst Luan zugeben. Aber auch nicht überraschend. Jeder wollte doch etwas in der Hinterhand haben, um sich in Sicherheit zu wähnen. Jeder Traumbrecher legte seine Seele in einer Taschenuhr ab. Damit konnte er auf die Kraft seiner eigenen Träume zurückgreifen, allerdings nur insgesamt sechs Stunden – und jedes Nutzen seiner Fähigkeiten kostete ihn ein wenig seiner Zeit. Je nach Ausprägung seiner Talente mehr oder weniger. Die Uhren dienten sowohl als Hilfsmittel, um die verbliebenen Stunden und Minuten zu ermitteln, als auch als Herz des Traumbrechers; zerstörte man die Uhr, oder geschah ihr aus sonstigen Gründen etwas, starb auch ihr Träger. „Bist du auch wieder ein Hüter?“ Ciar nickte. „Ich habe die Hexer-Prägung.“ Jeder Traumbrecher bekam neben der Möglichkeit, Albträume zu sehen und gegen sie kämpfen zu können auch eine Prägung, an der sich seine Fähigkeiten orientierten. Luan selbst hatte einmal über die Atem-Prägung verfügt, bis er die Traumbrecher wieder verlassen hatte. Zumindest in seiner Zeitachse war auch Ciar mit dieser Prägung zu Athamos gestoßen, nur um irgendwann die Hexer-Prägung wieder zum Leben zu erwecken. Und hier war es möglicherweise ähnlich gelaufen, auch wenn es eine Frage in Luan weckte: „Wer ist dann der Hüter der Atem-Prägung geworden?“ In seiner Zeitachse hatte Kian diese Rolle dann notgedrungen übernommen. Die Atem-Prägung war schwer zu meistern und entsprechend selten. Zu Luans Zeiten war er sogar der einzige Schüler damit gewesen – bis Ciar eben gekommen war und kurz darauf auch Kian. Die genauen Details bezüglich der Hüter kannte Luan zwar nicht, aber er wusste, dass sie notwendig für Athamos waren. Man konnte also keine Prägung einfach auslassen. Mit der Aufklärung hätte Luan aber nicht gerechnet: „Seline hat das übernommen.“ Russels Partnerin sollte jetzt ein Traumbrecher mit Atem-Prägung sein? Gut, schon in seiner Zeitachse war das eine Weile eines von Selines Zielen gewesen – aber doch nur wegen Ciars Einfluss auf ihren inneren Dämon, oder? „Warum hat sie das getan?“, fragte Luan ungläubig. Ciar stützte einen Ellenbogen auf die Rückenlehne und bettete dann sein Kinn auf seiner Hand. Keiner von ihnen sagte dabei etwas, aber obwohl er dem Gespräch Granyas mit den Mädchen lauschte, konnte er nicht verstehen, worüber sie sprachen. Luan glaubte schon, Ciar wolle ihm gar nicht mehr antworten, vielleicht weil er es auch gar nicht konnte, da öffnete er wirklich wieder den Mund: „Soweit ich weiß, ging es einerseits darum, mich im Auge zu behalten, andererseits wollte sie Jii nicht ganz allein nach Athamos gehen lassen und zum dritten wünschte sie sich wohl auch, sich von ihrer Familie ein wenig abzusetzen. Sie ist ja nur Dämonenjägerin geworden, weil ihr Vater es sich so gewünscht hatte.“ Was Luan wieder einmal zu dem Gedanken führte, dass es vielleicht besser war, keine Eltern zu haben. Zumindest konnte so niemand etwas von ihm verlangen und es war unmöglich, dass er irgendjemandes Erwartungen enttäuschte. Das geschah ohnehin schon oft genug und bereitete ihm ein schlechtes Gewissen. „Ah, okay ...“ Vielleicht war seine Zeitreise also für Seline eine gute Sache gewesen? Wenn er sie einmal traf, müsste er sie fragen, wie es ihr nun ging. Vielleicht konnte sie sein Gewissen ein wenig beruhigen. Da er nichts weiter zu sagen wusste, schwieg Luan – aber Ciar nutzte die Gelegenheit, um selbst Fragen zu stellen: „Wie hast du dich eigentlich von Abteracht schnappen lassen?“ Da das auch Granya zu interessieren schien, erzählte Luan eben von seinen Erlebnissen seit er wieder in die Vergangenheit gekommen war – selbst wenn ihm das immer noch schwer im Magen lag. Luan verlor bald die Zeit aus dem Auge, während er darüber erzählte, wie es ihm bislang ergangen war, Kians unruhiges Klopfen in seinem Inneren ignorierte und sich gleichzeitig darüber wunderte, dass keiner der Anwesenden ihn über ihr Leben in der anderen Zeitachse ausfragte. Ciar hatte nur eine einzige Frage gestellt und das wollte er nicht so recht gelten lassen. Irgendwann schwebten köstliche Essensdüfte bis ins Wohnzimmer, ließen Luan das Wasser im Mund zusammenlaufen und ihn wieder daran denken, wie köstlich Cathans Essen immer gewesen war – und wie es höchstwahrscheinlich immer noch war. Als Cathan sie dann endlich ins Esszimmer rief, konnte Luan nicht anders als überrascht in der Tür stehenzubleiben und den Tisch anzusehen, der bereits gedeckt war. Der köstlich duftende Braten war bereits aufgeschnitten worden, das Gemüse sah so frisch aus, dass es fast noch auf dem Feld in der Erde zu sein schien. „Das ist jetzt nichts weiter Besonderes“, wehrte Cathan ab, während der Großteil seiner Familie sich bereits auf ihre Plätze am Tisch setzte. Zu Luans Überraschung nahm Ciar nicht den Platz von Kieran ein, stattdessen setzte er sich gegenüber seines Vaters an das Tischende. Aber er nutzte diesen Umstand, um sich gefahrlos an seinen eigenen Platz zu setzen, gegenüber von Granya, an die Ecke neben Cathan. Die Zwillinge saßen auf der anderen Seite des Tisches neben ihrer Mutter, und ergriffen bereits das Plastikbesteck, das für sie bereitgelegt worden war. „Das sieht wunderbar aus“, schwärmte Luan, als Cathan ihm etwas auf den Teller gab. „Wenn Kane noch genauso gut kocht wie früher, ist es bestimmt köstlich.“ Er bemerkte den kurzen vielsagenden Blick, den Cathan und Granya miteinander austauschten, dann lächelte er ihn wieder an. „Danke, Luan. Lass es dir schmecken.“ Das ließ er sich nicht zweimal sagen, stattdessen begann er sofort, zu essen. Schon nach den ersten Bissen musste er ergriffen seufzen, so gut schmeckte es. Vielleicht sogar noch besser als in der letzten Zeitachse, was der Tatsache geschuldet sein musste, dass Luan ihm das nicht hatte abnehmen können in den letzten Jahren. Sie aßen schweigend, lediglich das Klappern des Bestecks erfüllte den Raum mit Geräuschen. Luan störte sich nicht daran, er vermisste lediglich Kieran, ohne dessen Wärme schien es ihm wesentlich kälter in diesem Raum zu sein, obwohl es sicher angenehm temperiert war. Die Stille wurde erst gebrochen, als plötzlich noch etwas anderes zu hören war. Es war ein Klingeln, das ihm äußerst vertraut vorkam. Luan hielt inne und ließ den Blick schweifen. Für einen Moment glaubte er, dass er sich das nur einbilde, da es so aussah, als ob keiner der anderen es hören könnte. Aber als er seinen verwirrten Blick bemerkte, pausierte Cathan seine Mahlzeit ebenfalls, um die unausgesprochene Frage zu beantworten: „Kümmere dich nicht um dieses Klingeln. Das ist nur unser Haus-Trugmahr.“ Ciar gluckste, versuchte das aber, mit seinem weiteren Essen zu verbergen. „Haus-Trugmahr?“, hakte Luan nach. „Hope!“, verkündete Mya fröhlich und streckte ihre Gabel in die Luft. Die gesamte Familie – und auch Luan – sahen zu ihr hinüber, Cathan nickte. „So haben ihn jedenfalls die Mädchen genannt. Ich weiß aber nicht so recht, wie er eigentlich ins Haus gekommen ist.“ Das wunderte Luan auch ein wenig. In ihrer Zeitachse hatten er und Kieran Hope aus einem Tunnel erst hierher bringen müssen. Aber anscheinend konnte keiner der Familie dieses Rätsel lösen. „Hope ist also hier ...“ Es erfüllte Luan mit einer beruhigenden Freude, dass sogar sie in Sicherheit war. In all dem Tumult hatte er sie schon vergessen, aber es war schön, zu sehen, dass sie dennoch in der Lage gewesen war, ihren Platz zu finden. Sein Blick schweifte über die einzelnen Familienmitglieder, die alle ins Essen vertieft waren, was Luan auf einen Gedanken brachte. Er erhob sich. „Ich gehe schnell ins Bad.“ Aus den Augenwinkeln bekam er mit, dass Cathan ihm zunickte, er ahnte also nicht, was der eigentliche Plan war. Das schlechte Gewissen beschlich Luan zwar, als er in den Flur trat und dort wieder stehenblieb, aber er wusste, dass er nur diese eine Gelegenheit hatte, zum Bahnhof zu kommen. Dort könnte er schlafen und müsste sich nicht mehr mit den Problemen auseinandersetzen, die er verursacht hatte. Bei diesem Gedanken erlebte er ein ungewohntes Stechen in seiner Brust. Er hatte all das verursacht – und er wollte einfach weglaufen und sich vor seiner Verantwortung verstecken. Könnte er das wirklich tun? „Wenn du keinen Bock mehr hast, kannst du auch einfach brechen und mir diesen Körper überlassen. Ich laufe garantiert nicht weg.“ Aber das war keine Alternative. Er konnte nicht einfach Kian übernehmen lassen, weil er mit Sicherheit nur noch mehr Probleme verursachte. Luan kannte ihn lange genug. Er wollte einen Schritt in Richtung Haustür machen – da spürte er ein warmes Gefühl, das sich auf seinen Schultern ablegte. Er kannte es, hatte es selbst in dieser Zeitachse schon gespürt – aber da waren es nur die Trugmahre aus dem Waisenhaus gewesen. „Hope ...“ Er glaubte zu spüren, wie sie zustimmte, was ihm wieder ein beruhigendes Gefühl vermittelte. „Du willst nicht, dass ich gehe, oder?“ Ob sie überhaupt wusste, wovon er sprach? Aber ungeachtet dessen gab sie ein zustimmendes Klingeln von sich, gefolgt von einem weiteren, das fast danach klang, als frage sie nach Kieran – jedenfalls interpretierte Luan es so. „Er ist in Abteracht“, erklärte er. „Ich weiß aber nicht, ob es ihm dort wirklich gut geht.“ Und bis es soweit war, konnte er auch nicht einfach gehen, kam ihm der Gedanke. Erst musste er sicherstellen, dass er wirklich Dinge verbessert hatte. Er wollte nicht vor seiner Verantwortung weglaufen – Kieran täte das auch nicht. Und auch wenn Kieran stärker war als er, wollte Luan zeigen, dass er mehr konnte als nur wegzulaufen. Er wollte seine Verantwortung schultern, notfalls bis er brach, damit sein Opfer auch endlich etwas wert war. Also wandte er sich von der Haustür ab und kehrte an den Esstisch zurück, um den restlichen Abend zu genießen, solange er noch anhielt. Morgen würde er immerhin direkt mit seinem Vorsatz anfangen, ganz sicher. Es war kurz vor 21 Uhr, als Luan wieder in Cathans Wagen saß. Der Rest des Abends war ruhig verlaufen, geradezu angenehm, und Hope hatte seine Schultern erst wieder verlassen, als er gegangen war. Für eine Weile fuhren sie schweigend, während Luan die Lichter der Stadt bewunderte. Bei seinem letzten nächtlichen Ausflug, in Richtung des Bahnhofs, war es ihm nicht möglich gewesen, weil er zu sehr mit seinen finsteren Gedanken beschäftigt gewesen war. Aber da er nun entschlossen war, nicht mehr wegzulaufen – selbst wenn es anstrengend wurde – konnte er die Schönheit dieses bunten Glitzerns wirklich genießen. „Hat dir der Abend gefallen?“, fragte Cathan schließlich. Luan wandte ihm den Blick zu und nickte. „Ja. Es war wirklich schön, mal wieder bei euch zu sein. Und auch Ciar zu treffen.“ Immerhin hatte es Kian wieder geweckt, auch wenn dieser immer noch in seinem Inneren brodelte, weil er eigentlich nicht hatte gehen wollen. „Ich hoffe, du bist nicht sauer, weil ich die meiste Zeit in der Küche gewesen war.“ „Nein, ich kenne das so von dir.“ Cathan sah weiterhin auf die Straße, lächelte aber dennoch entschuldigend. „Ich muss übrigens zugeben, dass ich dir bis heute nicht geglaubt habe.“ Zur Antwort neigte Luan nur den Kopf, er wusste nicht, was er darauf erwidern sollte. Aber Cathan übernahm auch schon das weitere Reden: „Ich war misstrauisch, was diese Zeitreise-Sache anging und dachte, vielleicht wärst du einfach nur ein Komplize all dieser Leute gewesen – oder dass du nicht der Luan bist, der die Briefe geschrieben hat.“ Das konnte er gut verstehen. Ihm wäre es auch nicht sonderlich leicht gefallen, das zu glauben. Obwohl, andererseits … zumindest früher wäre er naiv genug dafür gewesen. „Was hat dich jetzt überzeugt?“ „Du kanntest Kanes Namen. Und du wusstest, dass er derjenige ist, der bei uns kocht. Kein noch so guter Detektiv hätte das einfach herausfinden können. Nicht einmal Kieran weiß das.“ Natürlich, er hatte es schließlich erst erfahren, als Luan immer bei ihnen gewesen war. „Ich hoffe, dass du deine Ziele in dieser Zeitachse noch erreichen kannst“, sagte Cathan. „Wenn du schon solche Gefahren auf dich nimmst, sollte es sich auch auszahlen.“ Das dachte Luan auch. Deswegen stimmte er nur einsilbig zu, dass er das ebenfalls hoffte. Sein Blick wanderte wieder zu den Straßenlaternen, deren orange-farbenes Glühen in dieser Nacht viel intensiver als jemals zuvor zu sein schien. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)