Demonic Rewind von Flordelis ([Demonic Reverie]) ================================================================================ Kapitel 4: Öfter als du glaubst. -------------------------------- Am nächsten Morgen befand Konia sich nicht mehr auf der Krankenstation – oder jedenfalls nicht in unmittelbarer Sichtweite. Dafür war Ias da, um ihm lächelnd einen guten Morgen zu wünschen und ihm sein Frühstück zu bringen. Sie erklärte ihm, wieder einmal, dass sie die Krankenschwester und Heilerin – die aber nur in besonders schweren Fällen genutzt wurde – sei, und noch immer war er von ihrem purpurfarbenen Haar, das sie meist hochgesteckt trug, fasziniert. Im Grunde war es genau wie damals, vertraut, als wäre er zu Hause angekommen, obwohl er nicht einmal bei den Lanes war. Es war nur ein weiteres Zeichen für ihn, wie viel Zeit er bereits auf dieser Krankenstation verbracht hatte. Sogar das Frühstück, so konnte er nach wenigen Bissen feststellen, schmeckte noch genau wie damals. Selbst mit all den nostalgischen Gefühlen, die ihm die Kehle zuschnüren wollten, fiel es ihm daher nicht schwer, das Essen ausgiebig zu genießen. Man benötigte neben Schlaf immerhin auch Nahrung, wenn man anständig denken wollte. Durch das einfallende Tageslicht wirkte die Krankenstation auch wesentlich friedlicher und heimischer als noch in der Nacht zuvor, als erst das grelle Neonlicht und dann das gedämpfte, fast schon als düster zu bezeichnende Licht, alles erhellt hatte. Nach dem Frühstück zog er sich an und nahm sich dann endlich die Zeit, um nachzudenken. Er hatte die Wahl, einfach wegzugehen und zu versuchen, sich zu seinem Geburtsort durchzuschlagen – aber er könnte niemals schnell und unaufmerksam genug fliehen, um den Jägern zu entkommen. Nicht zuletzt Kieran hatte ihm schon mehr als einmal deutlich demonstriert, dass er vollkommen problemlos Luan einholen könnte, ohne sich auch nur anzustrengen. Also fiel dieser Plan schon einmal weg. Wenn er wirklich Dinge wieder gutmachen wollte, müsste er versuchen, Kieran und Faren zu verkuppeln, so wie Vane und Konia. Aber er besaß keinerlei Erfahrung in derartigen Dingen und war sich nicht einmal sicher, wie man so etwas am besten anfing. Er hätte besser Ferris vor seiner Zeitreise danach gefragt. Selbst wenn er ihn hier fände, wäre das kein geeignetes Gesprächsthema bei der ersten Begegnung. Er könnte aber auch allen die Wahrheit erzählen. Die Frage wäre nur, ob man sie ihm glaubte und was das im Endeffekt brächte. Selbst wenn er eine Wahrsager-Nummer durchführte, kannte er Kieran gut genug, um zu wissen, dass er nicht aufgrund einer solchen Aussage einfach eine Beziehung mit jemandem einging. Dasselbe galt sicher auch für Vane und Konia. Der allerletzte Ausweg wäre dann, einfach noch einmal die schwarze Taschenuhr zu benutzen – falls das denn ginge – und zu hoffen, dass er diesmal wesentlich eindeutigere Briefe schreiben könnte. Aber selbst nach drei Jahren fiel ihm kein Text ein, der besser geeignet wäre, als jener, den er damals geschrieben hatte. Im Prinzip war keine seiner Alternativen wirklich gut, wie er feststellte. Was ihn wieder vor dasselbe Problem wie zuvor stellte: Er wusste einfach nicht, wie es weitergehen sollte. Also müsste er es offenbar Parthalan und Cerise überlassen, wie sie mit ihm verfahren wollten. Es mochten nur wenige Stunden seit dem Frühstück vergangen sein – die er hauptsächlich damit verbracht hatte, nachzudenken und Ias' Erklärungen zu lauschen, die ihm bereits bekannt waren – als sich die Tür öffnete und Kieran gemeinsam mit Parthalan hereinkam. Hinter ihnen folgte Konia, die sich noch immer auf ihrem Stock abstützte und sich deswegen dann auch direkt auf dem Stuhl niederließ, den Kieran ihr neben Luans Bett stellte. Sie nahm sich aber sofort das Klemmbrett und notierte auf diesem wieder einige Dinge, ohne etwas zu sagen. Ias wiederum verließ die Krankenstation, das Gespräch war wohl nicht für ihre Ohren bestimmt. Kieran wiederzusehen, ließ sein Herz sofort schneller schlagen. Auch wenn er von derart viel Trauer und Pessimismus begleitet war, konnte Luan nicht anders als ihn zu lieben. Aber für sie beide gab es einfach keine Zukunft. Parthalan, der wie üblich vollkommen gerade, mit auf dem Rücken verschränkten Händen vor Luan stand, räusperte sich, um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. „Als Repräsentant der Cherrygrove-Jägervereinigung Abteracht begrüße ich dich als unseren Gast, Luan Howe.“ Also war er, natürlich, bestens darüber informiert, wer er war. Luan bedankte sich bei ihm, war aber wie üblich zu eingeschüchtert, um noch etwas zu sagen. Parthalan ließ sich davon aber nicht beeindrucken und fuhr fort: „Zuallererst möchte ich gern erfahren, weswegen du dich um diese Zeit in einer derart gefährlichen Gegend der Stadt aufgehalten hast. Gab es einen bestimmten Grund dafür?“ „Ich wollte dahin zurück, wo ich geboren wurde.“ Parthalan tauschte einen kurzen Blick mit Kieran, ehe er wieder Luan ansah. „Und wo mag das sein?“ Klänge es verrückt, wenn er einen Bahnhof nannte? Aber Kinder konnten immerhin an allen möglichen Orten geboren werden. Deswegen versuchte er das einfach, erntete aber einen skeptischen Blick von Parthalan dafür. „Und was wolltest du dort?“ Vielleicht war es besser, ehrlich zu sein. „Schlafen.“ „An einem Bahnhof?“, mischte sich nun Kieran ein. „Warum solltest du dort schlafen?“ Derart offen wollte er dann doch nicht sein, deswegen senkte er den Kopf ein wenig und sah auf seine baumelnden Beine hinab. Dafür konnte er die Verwirrung der beiden spüren. Lediglich Konia schien sich nicht sonderlich viel aus den Worten zu machen und notierte sich weiterhin Dinge, die er erwähnte und ihr wichtig erschienen. Parthalan verstand das Signal schließlich und wechselte das Thema: „Vor etwa drei Jahren erhielten wir einen Brief von einem gewissen Luan, der uns erstaunlich präzise zukünftige Ereignisse voraussagen konnte. Handelt es sich bei euch zufällig um dieselbe Person?“ Luan fluchte innerlich darüber, dass er damals zumindest seinen Vornamen angegeben hatte. Aber er war davon ausgegangen, dass man dem Inhalt eher Glauben schenkte, wenn er nicht von einer vollkommen anonymen Person kam. Nun drohte dieser Gedanke aber, ihm seine vorigen Überlegungen zu zerschlagen, um sich selbst eine Antwort zu wählen – und Parthalans prüfender Blick, der auf seiner Haut zu brennen schien, machte es nicht besser. Kieran hatte ihm damals erzählt, dass Parthalan in der Lage war, jede Lüge zu durchschauen. Wie genau war ihm zwar nicht mitgeteilt worden, aber Luan glaubte diese Behauptung auch ohne jede Erklärung, deswegen blieb er lieber bei der Wahrheit: „Das tut es.“ Diesmal gab es keinen Blickaustausch zwischen Parthalan und Kieran, dafür aber zwischen diesem und Konia, die davon wirklich überrascht wirkten. Der Vizeanführer dagegen wirkte als könne ihn absolut nichts erschüttern oder verwundern. „Woher stammten deine Informationen?“, fragte er stattdessen. „Ich ...“ Luan sah zu Kieran hinüber, der sich nichts anmerken ließ von dem, was gerade in seinem Inneren vorging; genau wie er ihn eben kannte. „Ich hatte diese Informationen, weil ich aus der Zukunft gekommen bin.“ Parthalan zog skeptisch die Augenbrauen zusammen. „Bitte?“ Er hatte ihn nicht oft sehen können, aber er glaubte, es war das erste Mal, dass nicht einmal Parthalan glauben konnte, dass sein Gegenüber nicht log, obwohl er den besten Beweis, dank seiner Fähigkeiten, dafür hatte. Luan erzählte von einer aussichtslosen Konfrontation mit den Chaosbrechern, von der schwarzen Taschenuhr und seinem Wunsch, alles besser zu machen, indem er Abteracht rechtzeitig eingreifen ließ. Die Anwesenden lauschten ihm mit ernsten Gesichtern, überlegten vermutlich, ob sie ihm diese Geschichte wirklich glauben sollten. Zumindest Parthalan tat es offenbar schließlich, denn bei seinem ernsten Blick und der gerunzelten Stirn, wusste Luan, was im Anschluss kam, noch bevor der Vizeanführer es aussprach: „Dir ist bewusst, dass es nicht in Ordnung ist, derart mit der Zeit zu spielen? Selbst wenn du es nur gut gemeint hast.“ Dasselbe, was auch Jii gesagt hätte, wäre er gerade hier. Luan nickte zerknirscht. „Warum hast du es dennoch getan?“, fragte Parthalan. „Ich wollte nur Kieran helfen.“ Er wagte es kaum, in dessen Richtung zu blicken, um zu sehen, wie er darauf reagierte. Glücklicherweise sagte er auch immer noch nichts und überließ es weiterhin Parthalan: „Gibt es einen bestimmten Grund dafür, dass du gerade ihm helfen wolltest?“ An diesem Punkt wollte er nicht mehr die Wahrheit sagen. Es kam ihm zu eigenartig vor, diesen drei Personen zu sagen, dass er Kieran so sehr liebte, dass er es nicht mehr hatte ertragen können, ihn unglücklich oder gar leiden zu sehen. Also müsste er wohl oder übel auf etwas anderes ausweichen: „Dank Kieran habe ich bei den Lanes ein Zuhause gefunden. Deswegen wollte ich verhindern, dass ihm etwas geschieht.“ Es war nicht vollkommen gelogen, deswegen gab Parthalan sich mit dieser Antwort zufrieden. Während er nachdachte, herrschte Schweigen, das von Luan wieder gestört wurde: „Ähm, Entschuldigung, aber … wo ist eigentlich Cerise?“ Parthalan schloss die Augen. Er berichtete ihm von einem furchterregenden Kampf zwischen Cerise, Atanas und Armas, aus dem sie zwar siegreich hervorgegangen war – aber derart geschwächt, dass sie seitdem schlief, um sich zu regenerieren. Alles in Luans Inneren schien zu gefrieren, mit einer derartigen Konsequenz hatte er nicht gerechnet, es erfüllte ihn mit noch mehr Schuld, der er inzwischen gar nicht mehr Herr zu werden glaubte. „Das tut mir leid. Ich wollte nicht, dass sie-“ „Ich gehe davon aus, dass du diesen Ausgang nicht erwünscht hast“, unterbrach Parthalan ihn. „Aber sei es wie es sei. Wir müssen nun überlegen, wie es mit dir weitergeht.“ Also hatten sie nicht vor, ihn so bald wieder gehen zu lassen. Luan ließ den Kopf hängen. „Für die nächste Zeit bist du erst einmal ein Gast in Abteracht. Du wirst es nicht allein verlassen, kannst dich im Inneren aber frei bewegen. Falls du Fragen oder Probleme hast, melde dich bitte bei Konia oder Faren.“ Er zögerte einen kurzen Moment, warf einen Blick zu Kieran hinüber. „Oder melde dich bei Cathan Lane. Laut deiner Geschichte dürftest du ihn gut kennen, da dürfte dir das nicht schwerfallen.“ Das nicht, aber vielleicht fiel es ihm schwer, ihn nicht Papa zu nennen, so wie früher. Parthalan wollte sich gerade abwenden, hielt aber noch einmal inne. „Oh ja … hast du diese schwarze Taschenuhr bei dir? Ich würde sie mir gern einmal genauer ansehen.“ Luan sah auf Parthalans geöffnete Hand hinab. Er wusste, dass es mehr bedeutete: Parthalan wollte ihm jegliche Möglichkeit nehmen, noch einmal mit der Zeit zu spielen. Schweren Herzens griff er unter sein Kopfkissen, zog die Uhr hervor und legte sie in Parthalans Hand. Erst dann verabschiedete der Vizeführer sich steif und ging mit raschen Schritten davon. Luan sah ihm hinterher, da er sich kaum traute, Konia oder Kieran, die beide schwiegen, anzusehen. Besonders seinem früheren Freund wollte er nicht in die Augen sehen. Deswegen betete er innerlich auch darum, dass er keine Fragen stellte – aber vergebens. „Dann ist das alles eigentlich meine Schuld?“ Kierans Stimme war kaum zu hören, aber für Luan kam sie kristallklar an – und die Traurigkeit darin brach ihm fast das Herz. Gerade als er vehement widersprechen wollte, übernahm Konia das: „Denk nicht so etwas, Kieran. Nichts hiervon ist deine Schuld. Außerdem sagt doch niemand, dass ein anderes Leben besser wäre als dieses. Luan hat das sicher nicht umsonst getan.“ Luan fürchtete sich schon vor dem Moment, an dem er Konia sagen müsste, dass ihr altes Leben wesentlich schöner gewesen war. Und Kieran sah das wohl ähnlich: „Wir können das nicht wissen, denn wir erinnern uns ja an nichts, um das vergleichen zu können.“ Darauf sagte sie nichts mehr, er wandte sich daher an Luan: „Und du … wenn ich dir so viel bedeutet habe, warum bist du dann nicht mehr aufgetaucht? Hat es dich nicht interessiert, wie es mir geht? Was ich nun mache?“ Öfter als du glaubst. Aber ich durfte nicht darüber nachdenken. „I-ich dachte, du wärst ohne mich besser dran. Alle sagten immer, unsere Begegnung hätte die Räder des Schicksals in Bewegung gesetzt … und ich wollte, dass du ein anderes Leben hast.“ Eines, in dem es ihm besser ginge, als mit ihm. Vielleicht hätte er ihm das auch noch sagen sollen, aber dafür hätte er ihm auch erklären müssen, in welcher Beziehung sie einst zueinander gestanden hatten und das wollte er nicht. Möglicherweise hätte dieses Wissen ihn nur noch mehr belastet, deswegen schwieg Luan. Das Unterlassen dieser Erklärung führte aber unweigerlich dazu, dass Kieran seinen eigenen Schluss zog. Er betrachtete Luan mit einem harten, distanzierten Gesichtsausdruck. „Dann hast du mich auch zurückgewiesen. So wie alle anderen.“ „Faren hat-“ Doch ehe Luan den Satz beenden konnte, war Kieran bereits herumgefahren und aus der Krankenstation gestürmt, ohne ihm die Zeit zu geben, sich zu erklären. Luans Brust verengte sich, sein Herz schien geradewegs zu brennen, um aus seinem Körper zu entkommen und Kieran zu folgen. Etwas, das er natürlich nicht zulassen konnte, weswegen er tief durchatmete und sich zu beruhigen versuchte. Ohne die Uhr blieb ihm keine andere Möglichkeit mehr als dieses Chaos manuell wieder zu beseitigen und Kierans Wunden jemand anderem zu überlassen. Er hoffte, dass es Faren wirklich möglich war, ihm zu helfen. Besser als er es je gekonnt hätte. So blieb lediglich Konia, die das Klemmbrett endlich wieder am Bett befestigte und sich dann auf ihrem Stuhl zurücklehnte. Wenigstens war in ihrem Blick nichts allzu Negatives zu lesen. Stattdessen wirkte sie äußerst neutral, so wie eh und je. „Kamst du deswegen auf Dr. Belfond?“, fragte sie unvermittelt. Luan benötigte einen Moment, um sich wieder an das Gespräch von letzter Nacht zu erinnern, aber dann nickte er. „Ja, genau. In meiner Zeit hast du ihn geheiratet und drei Kinder mit ihm bekommen.“ An ihrem Gesicht änderte sich nichts, sie sah immer noch vollkommen neutral aus, was ihm das Gespräch erleichterte. „Meinst du, ich war in jenem Leben glücklicher?“ „Ich bin überzeugt.“ Es wäre höflicher gewesen, sie anzulügen, aber das wäre seinem Ziel entgegengelaufen, also entschied er sich für die Wahrheit; und nach diesem Moment fürchtete er sich vor ihrer Reaktion darauf. „Du hast ganz oft gelächelt, viel gesprochen und dein Körper war gesund. Wer auch immer dieser Verehrer ist, in meiner Zeit tat er dir nicht so viel an.“ Darauf schwieg sie wieder nur. Ihr Blick ging geradewegs ins Leere, ihre Brauen waren leicht zusammengezogen, als denke sie gerade über etwas nach, das sie nicht so einfach begreifen könnte. Aber allein anhand daran konnte er nicht ausmachen, was sie darüber dachte. „Bist du jetzt auch böse auf mich?“, fragte er vorsichtig. Sie fokussierte ihren Blick wieder auf ihn. „Hast du wirklich aus einem für dich guten Grund gehandelt?“ Für ihn war das keine Frage mehr, deswegen nickte er sofort. Daraufhin entspannten sich ihre Gesichtszüge wieder ein wenig. „Unter diesen Umständen bin ich dir nicht böse. Wenn jemand aus guten Gründen handelt, gibt es keinen Grund, ihm das nachzutragen.“ Damit hatte er zumindest eine Person, die ihm das nicht nachtrug. Das gab ihm neuen Aufwind, um hoffentlich auch den Rest seines Plans in die Tat umzusetzen. „Danke, Konia.“ Er war es gewohnt, dass sie lächelte, wenn man sich bei ihr bedankte, aber an diesem Tag bekam er nur ein kurzes Nicken, dann erhob sich Konia von ihrem Stuhl. „Du solltest dich noch ein wenig ausruhen. Aber wenn du dich fit genug fühlst, kannst du auch alte Erinnerungen auffrischen … falls du früher einmal in Abteracht gewesen bist.“ Während sie wieder davonhumpelte, fragte er sich, ob das eine gute oder eine schlechte Idee wäre. Aber es gab wohl nur eine Art, das herauszufinden: Indem er sich einfach auf den Weg machte. Also stand er endlich vom Bett auf – und verließ die Krankenstation, um sich Abteracht und die erfolgten Änderungen genauer anzusehen. Konia, die inzwischen wieder an ihrem Schreibtisch saß, wartete, bis Luan draußen war und ganz sicher nicht mehr zurückkehrte. Eine Weile hatte sie so getan, als ginge sie Akten durch, aber aktuell gab es davon nicht sonderlich viele, da niemand verletzt wurde – was immer ein gutes Zeichen war, besonders für sie, immerhin hatte sie so ihre Ruhe – daher war es ihr auch nur schwer möglich gewesen, so zu tun als gäbe es Arbeit. Es mochten zwei Minuten vergangen sein, in denen sie nur auf die Tür gestarrt hatte (irgendwann war ihr aufgefallen, dass sie richtig gut darin war, Dinge einfach nur anzustarren, während in ihrem Kopf zigtausend Prozesse über sie faszinierende Kleinigkeiten gleichzeitig abliefen, so dass ihr nicht langweilig werden konnte), dann war sie überzeugt, dass Luan es ernst meinte, und griff nach dem Telefon. Sie betätigte die Schnellwahltaste für Jiis Handy, lauschte dem Klingeln am anderen Ende der Leitung und dachte dabei wieder über Luans Worte nach. In seiner ursprünglichen Zeitachse sei sie glücklicher gewesen, behauptete er. Mit einer Familie, etwas, das sie seit dem Tod ihres Wirts nicht einmal mehr ansatzweise in Betracht gezogen hatte. Stattdessen war sie von der dämonischen Meinung, die Menschheit sei verdorben und jeder, der sich auf sie einlasse, verloren, überzeugt gewesen und hatte sich so weit wie möglich zurückgezogen. Bis man sie eben aus ihrem Labor, ihrem Refugium, abgezogen hatte, damit sie sich wieder um diese Krankenstation kümmern könne. Seitdem waren ihre Forschungen und ihre Experimente, an denen ihr Herz – falls Dämonen wirklich so etwas besaßen, sie hatte noch keine Autopsie an einem solchen vorgenommen – so sehr hing, zum Erliegen gekommen. Aber mit Luans Aussage hatte sich eine neue Möglichkeit für sie eröffnet. In eine andere Richtung vielleicht, aber mit Sicherheit auch interessant genug für jemanden wie Jii, damit er darauf einginge. Ohne seine Unterstützung wäre dieses Projekt nämlich von Anfang an zum Scheitern verurteilt. „Was gibt es, Konia?“ Obwohl sie derart tief in ihre Gedanken abgetaucht gewesen war, wurde sie sofort aufmerksam, als sie Jiis Stimme aus dem Telefon hören konnte. Selbst als Direktor von Athamos klang er noch immer leicht gelangweilt, angeödet, als könne absolut gar nichts ihn überraschen. Was sie manchmal erstaunlich fand, wenn sie bedachte, dass er immerhin nicht derjenige war, der in die Zukunft sehen konnte – und all jene, die über diese Fähigkeit verfügten und ihr bekannt waren, führten sich eher wie überdrehte Kinder mit zu viel Zucker im Blut auf. Deswegen empfand sie Jii auch als wesentlich angenehmer. „Guten Morgen, Jii.“ Jetzt kam es darauf an, sie hatte nur eine Gelegenheit, um ihre Idee vernünftig zu übermitteln. Er durfte nicht sofort ablehnen, sondern musste sich ihre Ausführungen anhören, deswegen war es erforderlich, dass sie so seriös wie möglich klang. Unwillkürlich setzte sie sich kerzengerade auf ihrem Bürostuhl und räusperte sich noch einmal, ehe sie endlich zum Grund ihres Anrufs kam: „Ich rufe an, um dir ein interessantes Experiment vorzuschlagen. Hast du Interesse?“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)