Gegen die Schwerkraft von mickii-K ================================================================================ Kapitel 17: Bittere Realität ---------------------------- Wie knüpft man nach solchen Ereignissen wieder an sein altes Leben, wenn es doch so fern zu sein schien? Wie hatte ich mich vor den Geschehnissen verhalten? Was hatte ich am liebsten getan? Ich wusste es nicht mehr. Es war aussichtlos. Ich war in dieser elenden Gegenwart verloren. Dies war nun meine Realität. Mein Leben. „Miss Doli. Sie müssen mit mir über diese Ereignisse reden. Ich kann Ihnen nicht helfen, wenn sie nicht mit mir darüber sprechen“, redete meine Psychiaterin einfühlsam auf mich ein. Ich schielte kurz zu ihr, ehe ich wieder die Bilder über ihrem Kopf anstarrte. Es waren merkwürdige Farbenkleckse, dessen Sinn ich nicht wirklich verstand. Ich hörte sie entnervt seufzen und sah, wie sie sich mit ihren rot lackierten Fingernägeln am Kopf kratzte. Ihre blonden Haare hatte sie in einem strengen Dutt zusammengebunden. Sie trug Designerklamotten und war immer total schick. Ich empfand ihr Erscheinungsbild eher abstoßend, als vertrauenswürdig. Wie konnte mir eine aus dem Ei gepellte Ärztin helfen? Als würde sie mir je die Wahrheit glauben. Sobald ich auch nur ein Wort darüber verlieren würde, was an jenem Tag vor fast einem Monat geschehen war, würde man mich ohne zu zögern in die geschlossene Anstalt bringen. Ich wäre ein hoffnungsloser Fall, dabei war es die bittere Realität. Die, die keiner mir glauben würde. Ich selbst hätte es für einen Traum abgestempelt, wenn mein Körper nicht von neue Narben, dank diesem Monster, geschmückt wäre. „Ihr Vater hat mir erzählt, dass sie sich auch von ihm zurückgezogen haben. Dass sie jeden Abend ihren Schreibtisch vor die Tür schieben, aus Angst jemand könnte hineinkommen. Haben Sie Angst, dass ihr Vater Ihnen Schmerzen zufügen würde, wie die Männer, die sie attackiert haben?“ Innerlich schrie ich auf. Es war erst meine dritte Sitzung bei ihr, doch die Rückschlüsse von meinem Vater und ihr, fand ich schrecklich. Niemals würde ich so etwas über meinen Vater denken. Ich hatte in jener Nacht, so wie in eigentlich jeder, von ihr geträumt und war schreiend aufgewacht. Doch damals war nicht ich angegriffen worden, sondern ich hatte beobachten dürfen, wie Vater und Nina vor meinen Augen ausgesaugt wurden. Sie grinste mich animalisch an und ihre Zähne waren mit dem Blut meiner Liebsten benetzt. Es war ein Traum, der mir nur deutlich gezeigt hatte, wie gefährlich ich für alle war. Wenn sie zurückkam, würde uns keiner beschützen können. In jener Nacht fing ich an zu schreien und nach meinem Vater zu rufen. Als er die Tür aufmachen wollte, merkte er, dass ich sie verbarrikadiert hatte. Das tat ich seitdem Tag, als ich von dieser Privatpraxis nach Hause gekommen war. Ich hatte nämlich mein Zimmer umgestaltet. Meinen Schreibtisch so hingestellt, dass ich ihn mit Leichtigkeit vor die Tür schieben könnte. Das mein Vater dachte, ich hätte Angst vor ihm, weil er genau wie meine Angreifer ein Mann war, tat mir leid. Doch es kam mir auch gut entgegen. Ich hatte eine perfekte Ausrede, warum ich nicht mehr aus meinem Zimmer ging. Mit Nina hatte ich auch kaum noch Kontakt, da ich es nicht über mich brachte, in die Schule zu gehen. Sie sollten alle von mir ablassen. Dann wären sie in Sicherheit. „Miss Doli? So kommen wir nicht weiter. Nehmen Sie denn auch ihre Medikamente?“, ihre Verzweiflung stand ihr ins Gesicht geschrieben. Laut dem Arzt, Dr. Cullen, war sie eine erstklassige Psychiaterin und sehr erfahren, aber ich nahm die Medikamente nicht. Anfangs hatte ich das Gefühl, wenn alles stumpf wurde, geliebt. Wenn meine Angst abebbte und meine Panikattacken nicht kamen. Es war einfach wundervoll gewesen. Doch es gab nichts Gutes ohne einen Nachteil, und so war es bei mir, dass die Träume realer wurden und ich nicht aufwachen konnte, da die Medikamente mich zu fest schlafen ließen. Deswegen hatte ich aufgehört sie zu nehmen. Dr. Alexandra Anderson, eine gebürtige Schwedin, seufzte leise und schlug ihr leeres Notizbuch zu. „Ihre Sitzung ist für heute vorbei“, meinte sie besorgt. Ich glaubte wirklich, dass sie sich um mich sorgte, denn ich machte keinen guten Eindruck. Bei keinem meiner Ärzte. Vor einer Woche musste ich ins Krankenhaus und meinen Gips wechseln, da ich zu dünn geworden war. Mein Gips war locker geworden und brachte nicht nötigen Halt, den man brauchte. Selbst da hatten mich die Ärzte angesprochen, ob ich vielleicht eine Zeit lang in die Psychiatrie möchte. Ich hatte nur mit dem Kopf geschüttelt. Es wären nur noch mehr Rechnungen ins Haus geflogen, ohne dass irgendetwas mir davon helfen konnte und das konnte ich Vater nicht auch noch antun. Ich stand einfach auf und ging aus dem Zimmer. Mein Vater saß im Warteraum und sah hoffnungsvoll zur Psychiaterin, die kaum merklich den Kopf schüttelte. Die Gesichtszüge meines Vaters wurden von Trauer getränkt und plötzlich wirkte er alt. Es brach mir das Herz. Ich wünschte mir, dass ich etwas für ihn tun könnte damit er glücklich war. Erneut war ich nur eine Bürde für meinen Vater. Innerlich schrie ich vor Verzweiflung. Ich wollte das alles nicht. *** „Hast du Hunger Ana?“, fing mein Vater an, während er sich anschnallte. Ich schüttelte nur den Kopf. So etwas wie Hunger kannte ich nicht mehr. Ich hatte das Gefühl, wenn ich essen würde, würde alles wieder hoch kommen. Seufzend legte mir mein Vater ein Sandwich auf meinen Schoß und strich mir leicht über meinen Arm. Ich zuckte erschrocken zusammen und rückte weiter weg von ihm. Berührungen fand ich schrecklich. Sie machten mir Angst. Ich erinnerte mich noch genau, wie sie mir mit einer Berührung den Oberarm angebrochen hatte. Auch wenn ich wusste, dass mein Vater ein Mensch war. Dass er mir so etwas nie antun würde. Doch die Angst war tief in mir verankert, und ich konnte sie einfach nicht mehr abwerfen. Ich musste meinen Vater nicht ansehen, um zu wissen, dass er mich traurig musterte. Zaghaft zupfte ich am Sandwicht und steckte mir die Krümel in den Mund. Vielleicht würde es ihn ein wenig glücklicher stimmen, wenn ich etwas zu mir nahm. „Heute wird dein Gips abgenommen“, erklärte er mir, während er das Auto in Bewegung setzte. Ich nickte nur. Ich war wirklich froh darüber, meinen Arm wieder zu bekommen. Dieser Gips war schrecklich und ich fühlte mich noch verwundbarer, als ich es ohnehin schon als Mensch war. *** „Überraschung“, trällerte Nina, als wir ins Wohnzimmer kamen. Verwirrt sah ich mich in der Wohnküche um. Girlanden hangen von der Decke und überall waren Luftballons verstreut. Auf dem runden Esstisch, der Mitten im Zimmer stand, war eine kleine Torte, auf welcher die Nummer 19 aufgemalt war. Mein Geburtstag! War der heute? Ich zwang mich zu einem Lächeln, doch ihren Blicken nach zu urteilen, kam es eher einer Grimasse gleich. „Wie war dein Tag Schätzchen“, Ninas Mutter sah über die Schulter, während sie Sektgläser befüllte. Sie sah aus wie Nina, hatte aber dunkel gefärbte Haare. Nina zog mich zu einem Sessel und forderte mich auf, dass ich mich setzte. Schweigend kam ich ihrer Forderung nach und beobachtete, wie sie die Kerzen auf der Torte anzündete. „Du musst dir was wünschen, Ana!“, sprach sie, während sie kurz zu mir sah. Ihre Augen spiegelten die Besorgnis, die ich in ihr hervorrief. Ich hatte Nina schon eine Zeit lang nicht mehr gesehen. Ich vermisste sie auch, doch ich wollte nicht riskieren, dass ich sie in Gefahr brachte. Ninas Mutter, Luise, kam mit einem Tablett, auf dem sie vorsichtig die Sektgläser balancierte, auf uns zu, während sie alle ein Ständchen für mich sangen. Ich mochte es nicht. Warum taten sie sich das an? Es war offensichtlich, dass sie sich nicht wohl fühlten und zwanghaft versuchten, die längst vergessene Normalität zu waren. „Du musst die Kerzen ausblasen. Vergiss deinen Wunsch nicht!“, lächelte mein Vater. Was sollte ich mir wünschen? Dass ich starb und sie vor diesen Qualen erlöste? Dass ich niemals nach Port Angeles gegangen wäre? Dass ich wieder normal werden würde? Könnte ich das überhaupt? Ich beugte mich näher zur Torte und pustete die Kerzen aus. Ich wünsche mir, dass sie eines Tages glücklich werden. Die Flammen der Kerzen schwankten und erloschen kurz darauf. Erleichtert lehnte ich mich zurück. Sie würden glücklich werden. „Hier mein Geschenk für dich, Spatz“, verkündete mein Vater und reichte mir ein Päckchen. Nervös packte ich es aus und starrte die Schachtel an. Ein Klapphandy. Dasselbe Model, das ich gehabt hatte. „Ich habe beim Anbieter nachgefragt, und er hat eine Sim-Karte mit deiner alten Nummer codiert“, erklärte er mir, während ich mit zittrigen Händen das Handy aus seiner Halterung löste. Ich durfte nicht panisch werden. Ich musste meine Panikattacke unterdrücken. Es würde meinem Dad das Herz brechen, wenn mich sein Geschenk aus der Bahn werfen würde. Also riss ich mich zusammen und lächelte ihn, so gut ich konnte, an. „Danke“, murmelte ich. Mit geweiteten Augen starrten mich alle an. Es war mein erstes Wort, seitdem Embry gegangen war. Meine Stimme war heiser und monoton. Sie klang hohl, ohne jegliche Emotion. Genau wie ich. *** Erschöpft ging ich in mein Zimmer und schob den Schreibtisch vor die Tür. Meine Aktionen hatte die Lackierung der Tür beschädigt, doch das war mir egal. Ich ging zum Schrank, den ich vor das Fenster geschoben hatte und durchsuchte ihn. Es gab mir ein Gefühl der Sicherheit zu wissen, dass niemand im Schrank war. Ich ließ die Türen offen und kniete mich auf den Boden, um unter mein Bett zu sehen. Nichts. Etwas beruhigter, zog meinen Pyjama, bestehend aus schlabbriger, langer Hose und weitem Sweatshirt, an und setzte mich ins Eck, wo ich das ganze Zimmer im Überblick hatte. Ich bettete meinen Kopf auf mein Kissen und hob mir die Decke bis zur Nase hoch. Im Eck eingerollt, starrte ich die Staubpartikel an, die im Licht der Deckenbeleuchtung tänzelten. Ich vermisste mein gemütliches Bett, auf welchem ich nicht mehr schlafen konnte, aus Angst, jemand wäre darunter. Ich vermisste mein halbwegs normales Leben, dass mir weggenommen wurde. Nachdenklich starrte ich den offenen Schrank an, der voller neuer Klamotten war. Sie schrien geradezu „Port Angeles“, doch ich brachte es nicht übers Herz sie wegzuwerfen. Es würde Nina verletzten. Noch mehr, als ich es jetzt schon tat. Ich ballte meine Hände zu Fäusten zusammen und bemerkte, dass ich in einer Hand noch immer das Handy hielt. Ich biss mir auf die Lippen, als ich es musterte. Bilder, wie sie mein Handy nahm, wie sie es mit bloßer Hand zerquetschte, tauchten vor meinen Augen auf. Ein lautloser Schrei entwich mir, als ich daran dachte, dass nie wieder etwas gut werden würde. Warum nur hatte ich an jenem Tag nicht sterben können? Es würde ihnen so viel Schmerz ersparen. Es war aussichtlos. Es war vorbei. Ich würde nie wieder normal werden. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)