Gegen die Schwerkraft von mickii-K ================================================================================ Kapitel 10: ------------ "Ich weiß nicht. Die Bluse ist viel zu eng", murmelte ich, während ich mich in der engen Garderobe im Spiegel betrachtete. Nina hatte mir eine hellgrüne Bluse aufgezwungen, die vom Schnitt her einem Hemd ähnlich war. Ich selbst hätte so etwas nie für mich ausgewählt, da ich den Ausschnitt viel zu gewagt fand. Was wenn ich unachtsam wurde, und man meine Narben sah? "Die schwarze Hose find ich auch zu klein. Ich bin viel zu dünn für so enge Klamotten Nina", beschwerte ich mich bei ihr. Vor der Kabine hörte ich sie genervt seufzen, weshalb ich sofort meine Worte bereute. Ich wollte sie nicht mit meinen Komplexen nerven, wo sie sich offensichtlich darum bemühte, dass es mir besser ging. "Jetzt halt aber mal die Luft an. Du hast zwar keinen Hintern wie Jennifer Lopez, aber du kannst trotzdem zeigen, was du hast." Sie schob den roten Vorhang zur Seite und steckte den Kopf durch den frei gewordenen Spalt. Ihr wütender Blick wich und sie starrte mich mit offenem Mund an. "Wow … also ich finde, du siehst fabelhaft aus! Das wird gekauft. Hier probiere das Mal an", sie reichte mir ein rotes Shirt. Zögernd nahm ich es entgegen. "Ich hab aber nicht so viel Geld, Nina", protestierte ich schwach. Ich wusste, dass es unmöglich war, Nina etwas auszureden. "Seh's als Geburtstagsgeschenk an", sie zwinkerte mir zu. "Geburtstagsgeschenk?" Ich war verwirrt. Mein Geburtstag war doch erst in einem Monat! Hatte sie das vergessen? "Nur weil dein Geburtstag erst am 6. Mai ist, heißt das nicht, dass ich dir nicht jetzt schon dein Geschenk übergeben kann. Immerhin zwingen mich die Umstände dazu, dass ich dir jetzt schon mein Umstyling Paket schenke", sie lachte. Ich sah sie schweigend an. Nina war wirklich ein toller Mensch. Ich sollte mich nicht so anstellen und ihr entgegen kommen. Wenn sie glücklich war, war ich es auch. Und vielleicht würde ich wirklich in diesen neuen Klamotten selbstbewusster werden. Erleichtert ging ich aus dem Laden und atmete genussvoll die frische Luft ein. Der abgestandene Geruch von neuen Sachen und zu viel Parfüm im Geschäft hatte mir das Gefühl gegeben, dass ich jedem Moment ersticken würde. Nina hatte mich über zwei Stunden lang Klamotten anprobieren lassen. Es war der reinste Horror gewesen. Ich wusste nun, dass shoppen nicht zu meinen Hobbys gehören würde. Niemals. Ich würde, falls ich nach dem heutigen Tag je wieder Klamotten bräuchte, wieder alles übers Internet bestellten. „Woah … endlich fertig. Jetzt sollten wir etwas essen und dann zum Frisör“, Nina kam lächelnd aus dem Geschäft und schleppte die Einkäufe mit sich. Mir gefielen die Sachen sehr, doch ich fand nicht, dass sie mir passten. Nina hingegen war hin und weg gewesen. Ob ich Embry darin auch gefallen würde? Ich schüttelte energisch meinen Kopf. Ich sollte aufhören, an ihn zu denken. Bei Ninas kleinem, rotem Flitzer, wie sie ihn nannte, angekommen, packte sie die Einkaufstaschen in den Kofferraum und grinste. „Ich finde so etwas super. Ist dir eigentlich klar, dass wir zum ersten Mal einen Mädelstag veranstalten?“ Ich legte meinen Kopf schief. Sie hatte Recht. Wir waren noch nie irgendwo gemeinsam hingefahren. Mein schlechtes Gewissen wurde größer. Ich sollte, Nina zu liebe, euphorischer an die Sache rangehen. Gerade als wir uns ins Auto setzten, vibrierte mein Handy in meiner Hosentasche. Mein Magen zog sich sofort vor Nervosität zusammen. Ich biss mir auf die Lippen und sah aus dem Fenster. Dass es eine Nachricht von Embry war, wusste ich, ohne hinsehen zu müssen. Und obwohl ich neugierig war, wollte ich sie nicht lesen. Ich hatte Angst, dass er mir endgültig sagte, dass er mich in Ruhe lassen würde. Denn ein kleiner Teil von mir hoffte, ihm vergeben zu können. Hoffte, dass ich über meinen eigenen Schatten springen konnte. Ich seufzte schwerfällig. Gefühle waren verwirrend. Nichts von all dem verstand ich. Ich wollte ihn nicht mehr sehen, das hatte ich schon vor Jahren beschlossen gehabt. Warum sehnte sich dann mein Herz so nach seinem Lächeln? Das ergab alles keinen Sinn. Auf meiner Lippe kauend, sah ich schließlich zu meinem Handy und öffnete die Nachricht. Embry – Heute 15:04 Bitte Huyana! Bitte melde dich! Sonst komm ich zu dir, wenn’s sein muss. Fassungslos starrte ich den Bildschirm an. Er würde zu mir kommen? Aber ich war doch nicht zu Hause! Gott! Wie er wohl reagieren würde, wenn er mich nicht dort vorfand? Ob er mich hassen würde? Mein Herz stockte bei diesem Gedanken. Ich wollte nicht, dass er mich verabscheute. „Alles okay?“, Ninas Stimme drang zu mir durch. Hilfe suchend sah ich zu ihr. Ich wusste nicht, was ich machen sollte. Was tat man in einer solchen Situation? Vielleicht wusste sie weiter, sie konnte gut mit Menschen umgehen, und hatte schon mehrere Freunde gehabt. „Embry … er hat gesagt, er kommt vorbei … wenn ich mich nicht mehr melde“, stotterte ich völlig aufgelöst. „Dann schreib ihm doch endlich. Der macht sich bestimmt sorgen, Ana“, Nina sah mich fassungslos an. „Du kannst doch nicht ständig vor ihm wegrennen. Mann Ana, du bedeutest ihm wirklich etwas“, sie schüttelte den Kopf. Wenn er tatsächlich keine bösen Absichten hatte, durfte ich ihn dann abweisen? Hatte ich ein Recht dazu? Durfte ich noch böse auf ihn sein? Würde er meine Enttäuschung ihm gegenüber verstehen? Würde er es verstehen, dass ich ihn nicht sehen wollte, weil der Schmerz von vor zehn Jahren noch tief in mir saß? Ich wollte nicht von ihm gehasst werden. Ich brauchte nur etwas Zeit. Zeit, um mich selbst zu verstehen. Ich sah Nina panisch an. „Und … und was soll ich ihm schreiben?“ „Keine Ahnung. Schreib, dass es dir gut geht, dank seinem Tee … so etwas in der Art“, Nina zuckte mit den Schultern, während sie an einer Kreuzung abbog. Ich nickte ihr zu und tippte das Erstbeste, was mir einfiel. Ich – Heute 15:13 Hi! Mir geht’s besser. Der Tee war wirklich lecker, danke! Als ich es abgeschickt hatte, überkam mich ein schlechtes Gefühl. Ich hatte zum ersten Mal jemanden vorsätzlich belogen und es fühlte sich schrecklich an. Noch bevor ich die Tastensperre aktiviert hatte, erreichte mich seine Nachricht. Das unbehagliche Gefühl verstärkte sich noch mehr. Embry – Heute 15:14 Verstehe … Ich schnappte nach Luft, doch es war nicht genug. Ich hatte das Gefühl zu ersticken. Der Schmerz in meiner Brust wurde unerträglich. Ich wimmerte leise. Er hatte mich bestimmt durchschaut. „Hei Ana. Alles Okay? Was ist passiert?“, Nina parkte vor einem kleinen Restaurant und drehte sich zu mir. Ich konnte ihr nicht Antworten. Der Kloß in meinem Hals war zu groß. Ich bekam keine Luft mehr. „Hei Ana. Beruhig dich, sonst hyperventilierst du noch. Ana …“, sie legte mir eine Hand auf die Schulter und strich mir sanft über meinen Arm. Es beruhigte mich tatsächlich ein wenig. „Schön ein und aus atmen“, murmelte sie leise, „Ein und aus.“ Ich versuchte mich an ihrem Atemrhythmus zu orientieren und schloss die Augen. Es half. Ich hatte Embry angelogen und er wusste es. Da war ich mir sicher. Sonst schrieb er immer so unnötig viel. Gott! Jetzt hatte ich die Grenze deutlich überschritten. Ich hatte ihm bestimmt wehgetan. Niemals wollte ich jemanden verletzten und doch tat ich es. „Ich hab Kopfschmerzen“, murmelte ich und sah aus dem Fenster. Ich wünschte mir, dass diese blöde Fliege nie aufgetaucht wäre. Dass Embry mich einfach ignoriert hätte. Dass ich ihm meine Handynummer nicht gegeben hätte. Dass ich nicht diese komischen Gefühle für ihn hätte. Doch es war Embry. Embry, der immer so glücklich lächelte, wenn er mich sah. Der wütend wurde, wenn mich andere beleidigten. Der sich über einen Apfelkuchen freute, als wäre es das Beste auf dieser Welt. Embry. Er würde nicht so bösartig sein und mir etwas vormachen? Ein Mensch konnte doch nicht so viele Emotionen vortäuschen? „Komm wir gehen etwas essen. Du hast die letzten zwei Tage auch kaum etwas zu dir genommen. Danach wird es dir besser gehen“, Nina stieg aus dem Auto und deutete mir, dass ich ihr folgen sollte. Es ging mir nicht besser. „Das war lecker. So und jetzt auf zum Friseur“, verkündete Nina, als sie aus dem Restaurant ging. Demonstrativ strich sie sich über den Bauch und grinste. Mit zusammengepressten Lippen folgte ich ihr aus dem Lokal und sah mich um. In der kurzen Zeit, wo wir essen waren, hatte es ein wenig geregnet. Es hatte mir ein bisschen geholfen, mich zu entspannen. Doch nun, wo ich wieder an der frischen Luft war, wurde mir erneut schlecht. Eine unangenehme Gänsehaut breitete sich auf meinem Körper aus. Ich hatte das merkwürdige Gefühl beobachtet, zu werden. Verwirrt sah ich mich um, denn ich verstand es nicht. Wahrscheinlich war nur mein Körper übermüdet und erschöpft. Ich schüttelte mit dem Kopf. „Können wir nach Hause? Ich fühl mich nicht so gut.“ Ich konnte es mir selbst nicht erklären. Aber es fühlte sich falsch an, hier zu sein. Als wäre ich am falschen Ort zur falschen Zeit. Ich wollte einfach wieder in mein Bett und über alles grübeln. Immerhin war die Wahrscheinlichkeit groß, dass ich morgen Embry im Kaffee sah. Ich musste mich darauf seelisch vorbereiten. „Ana!“, Nina schnappte nach Luft und sah mit großen Augen an mir vorbei. Verwirrt drehte ich mich um und traf auf wunderschöne braune Augen. Augen, die mich in meinen Gedanken verfolgten. Das konnte nicht wahr sein! Warum um alles in der Welt war er hier? Mein Herz setzte einen Moment aus, nur um schneller zu schlagen. Wie gebannt starrte ich ihn an und ignorierte die Person hinter ihm. Ich ignorierte Nina, die auf mich einredete. Ich blendete einfach alles aus. Alles bis auf ihn. Embrys schmerzverzerrte Mimik würde sich für immer in mein Herz einprägen. Jetzt wo ich wusste, wer er war, stach die Ähnlichkeit zu früher deutlich heraus. Es waren dieselben braunen Augen und dasselbe süße Grübchen am Kinn. Nur das Lächeln unterschied sich. Es war nicht mehr so fröhlich wie damals. Und ich war der Grund dafür. „Huyana. Freut mich, dass es dir so gut geht“, hörte ich ihn sagen. Ich nahm es verzerrt auf, als wären meine Ohren in Watte gepackt. Mir wurde schwindlig. Dieser Schmerz in meiner Brust war mir zu viel. Wie konnte ich bloß annehmen, dass er mir etwas vorspielte, wo er nun gebrochen vor mir stand? Ich hatte ihn verletzt. Ich alleine hatte ihm Schmerzen zugefügt. Schmerzen, die ich persönlich nur allzu gut kannte. Es tat mir so leid. Ich hatte das nicht gewollt. Wenn ich bloß mehr Erfahrung hätte. Wenn ich bloß mehr Mut gehabt hätte, um ihn all die Dinge anzusprechen, die mir im Kopf herumschwirrten. Ich senkte meinen Blick und sah zu meinen Schuhen. Ich wollte einfach nur noch weg. Noch ehe ich den Gedanken, zu Ende gedacht hatte, sprintete ich an ihm vorbei und lief. Ich lief vor ihm weg. Ich lief vor mir selbst weg. Vor meinen Gefühlen. Vor meinem Schmerz. Meine Beine fühlten sich kraftlos an, als würde ich gegen ein Gummiband laufen, das mich jeden Moment zurück zu ihm werfen würde. Als würde ich gegen die Schwerkraft laufen. Mit jedem weiteren Schritt zerbrach mein Herz in weitere kleine Stücke. Gehetzt blickte ich alle paar Sekunden nach hinten, um sicherzustellen, dass er mir nicht folgte. Meine Sicht verschwamm und als ich blinzelte, spürte ich die warmen Tropfen an meinen Wangen. Ich war ein schlechter Mensch. Wie konnte ich ihm nur so wehtun? Ich wollte ihm nicht noch mehr Schmerzen zufügen. Sein schmerzerfüllter Gesichtsausdruck erschien mir vor meinen Augen. Was war ich bloß für ein Monster? Wie konnte ich nur an ihm zweifeln? Sein Gesicht verschwand und wurde von dem meines Vaters ersetzt. Wie er mich ebenfalls traurig ansah. Ich hatte sie alle verletzt. Jeder, der mir etwas bedeutete, litt wegen mir. Plötzlich veränderte sich das Bild vor meinen Augen und das wunderschöne Gesicht meiner Mutter erschien. Anders als ich es sonst in Erinnerung hatte, starrte sie mich hasserfüllt an. Undeutliche Bilder flackerten auf. Wie sie mich anschreit. Wie sie mir sagt, dass ich für all ihr Unglück schuldig war. Dass es am besten wäre, wenn ich starb. Ich wimmerte. Sie hatte Recht. Ich fügte allen Menschen um mich herum nur Schmerz zu. Es wäre das Beste für alle, wenn ich einfach tot umfallen würde. Dann würde ich sie nie wieder enttäuschen. Ich würde ihnen nie wieder Schmerzen zufügen. Embry und mein Vater hatten ein Recht auf ein glückliches Leben. Ich war nur ein Hindernis. Ein belustigtes Kichern riss mich aus meinen Gedanken. Verwirrt blieb ich stehen und realisierte, dass ich ohne Orientierung herumgelaufen war. Den Gebäuden nach zu urteilen, war ich im Industriegebiet angelangt. Der Anblick der leeren Straße behagte mir nicht. Es wirkte unnatürlich. Genau wie vorhin breitete sich dieselbe unangenehme Gänsehaut auf meinem Körper aus. Etwas stimmte hier nicht. Ich sollte schleunigst zurück zu Nina. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)