Gegen die Schwerkraft von mickii-K ================================================================================ Kapitel 3: ----------- Schweigend sah ich aus dem Fenster zu meiner linken und ignorierte meine nervige Chemieprofessorin, so gut ich konnte. Eigentlich mochte ich das Fach sehr, weshalb ich es auch in meinem Stundenplan hatte. Doch diese Frau Miller würde sogar einen Unsterblichen zu Tode langweilen. Rein hypothetisch natürlich. Unsterbliche gab es ja nicht. Aber es ging mir ums Prinzip. Diese Frau war schrecklich! Wenn es bloß keine bescheuerte Anwesenheitspflicht gäbe. Dem, der sie erfunden hatte, sollte man einmal so richtig in den Hintern treten. Aber ich brauchte nun einmal diese Punkte, die das Chemiefach mit sich brachte. Eigentlich hatte ich nächstes Jahr vor in ein kleines College in Port Angeles zu gehen. An eine Universität war gar nicht zu denken. Nicht bei den Schulden, die wir hatten. Manchmal wünschte ich mir, wir würden in Europa wohnen. Dort war die Gesundheitsvorsorge und alles dergleichen vollkommen umsonst. Keine zusätzlichen Kosten, die man alleine tragen musste, nur weil etwas mit dem Papierkram nicht stimmte. Ich hatte immer noch Gewissensbisse wegen der Haartransplantation, die ich unbedingt gewollt hatte. Ein lautloser Seufzer entwich mir, als ich an meinen Vater dachte. Er tat mir unendlich leid. Immerhin hatte er sich sein Leben bestimmt nicht so vorgestellt. Wahrscheinlich wäre er auch gerne im Reservat geblieben, denn er mochte es dort. Nur mir zuliebe waren wir hier hergezogen, damit ich in Forks in die Schule gehen konnte. Ich wünschte, ich hätte einfach diese egoistischen Wünsche damals nie geäußert. Weder das mit den Haaren noch den Schulwechseln. Es war ja nicht so, als wäre es hier in Forks anders gewesen als dort. Auch hier wurde ich von allen gemieden, weil ich zu still war. Merkwürdig. Ein Freak. Doch damals in der Grundschule im Reservat war ich grauenhaft zur Schau gestellt worden. Nachdem ich wochenlang im Krankenhaus gewesen war, musste ich wieder zurück in die Schule. Ich hatte meinen Vater angefleht, mich nicht dorthin zu schicken, denn die Kinder würden mich auslachen. Leider gab es niemanden mehr in meiner Familie, der mich hätte privat unterrichten können und mein Vater, der musste arbeiten. Zu dieser Zeit war ich noch verpflichtet gewesen einen Kompressionsanzug zu tragen, um zu verhindern, dass die Haut zu dicke Narben bildeten. Das war nicht das Problem gewesen, denn ich konnte über dem Anzug meine normale Kleidung tragen. Das eigentliche Problem waren die Verbrennungen am Kopf. Ich musste deswegen auch eine total bescheuerte Kompressionsmaske tragen. Es war schrecklich gewesen und das Mobbing vorprogrammiert. Also war ich dort an der Schule gewesen, total nervös stand ich vor meiner Klasse, die mich mit Fragen durchlöcherten, aber sie schienen mich nicht auszulachen. Wahrscheinlich waren sie von der Lehrerin vorgewarnt geworden. Ich wusste es nicht, aber ich war richtig glücklich darüber. Es schien alles reibungslos zu verlaufen, bis es zur Mittagspause geläutet hatte und alle Kinder in den Hof gestürmt waren. „Miss Dilo!“ Erschrocken zuckte ich zusammen und sah zu meiner Professorin. Sie verdrehte die Augen, weil ich ihr offensichtlich nicht zugehört hatte. „Was sind Edelgase, Miss Dilo?“, knurrte sie mich regelrecht an. Ich kämpfte gegen den Drang ihr eine Beleidigung an den Kopf zu werfen, weshalb ich sie nur mit zusammengekniffenen Augen anstarrte. „Wissen Sie es nicht?“, fragte sie höhnisch. Natürlich wusste ich es. Ich lernte nämlich gerne. Es war mir ein angenehmer Zeitvertreib und gute Noten machten meinen Vater glücklich. Aber ihr zu antworten, das ging gegen mein Prinzip, jeden hier an der Schule anzuschweigen. „Ana, komm schon. Sag es ihr“, murmelte Nina neben mir. Ich sah kurz zu ihr rüber. Gut, es gab eine Person, mit der ich gerne sprach. Ich seufzte nachgiebig. „Edelgase oder auch Interte Gase, sind sieben Elemente, die zur achten Hauptgruppe gehören. Man findet sie im Periodensystem ganz rechts. Warum ihr Name? Man nennt sie Edelgase, da sie mit keinem Element eine Reaktion eingehen. Sprich, sie sind vollwertig und ihre äußerste Schale ist vollständig mit Elektronen besetzt. Deshalb „edel“. Zu den Elementen gehören Helium, Xe …“ „In Ordnung. Ausnahmsweise gebe ich Ihnen kein Minus“, lächelte sie mich an. Es war ein falsches Lächeln, denn sie hätte mir gerne eines reingedrückt. Die anderen Mitschüler starrten mich mit offenem Mund an und ich hörte einige tuscheln. "Sie kann reden", murmelte ein Mädchen vor uns und schielte über die Schulter zu mir. Genervt rutschte ich tiefer in den Sessel. Natürlich konnte ich reden. Ich sprach oft mit Nina, nur glaubten die Leute mehr dem, was andere erzählten, als ihren eigenen Augen, oder wie in meinem Fall ihren eigenen Ohren. Ich schnalzte abfällig mit der Zunge und sah zu Nina, die mich anstrahlte und den Daumen nach oben deutete. Schmunzelnd drehte ich mich wieder zum Fenster und beobachtete die Vögel, die am Gebäude vorbeizogen. Vögel. Ich wünschte mir, dass ich auch so frei sein konnte, wie sie es waren. Mein Familienname bedeutete eigentlich blauer Vogel in der alt-indianischen Sprache. Vielleicht würde ich eines Tages meine Fesseln auch ablegen können und wirklich leben. Es war ein schöner Traum und ich wollte unbedingt daran glauben. Das schrille Läuten der Schulklingeln ertönte. Ja. Ohne Fesseln lebte es sich definitiv leichter. Eine Fessel namens Miller weniger und schon fühlte ich mich, als könnte ich drei Meter hochspringen. „Mann! Der hast du es aber richtig gezeigt“, kicherte Nina belustigt. Ich musste bei dem Gedanken an ihren blöden Blick auch schmunzeln. „Irgendwie schon, ja“, stimmte ich ihr zu. "Und die bescheuerten Mitschüler! Ihre Blicke!", sie lachte, "Versprich mir, dass du jetzt öfters Konter gibst." Ich hob meine linke Augenbraue und musterte sie skeptisch. "Keiner von den Lehrern ruft mich überhaupt noch auf. Sie haben sich damit abgefunden, dass ich nicht mit ihnen Rede." Sie verzog schmollend ihre vollen Lippen. "Stimmt. Hatte ich vergessen. Mann Ana. Du bist echt ein schräger Vogel. Wäre ich bloß früher gekommen, was?", lächelte sie. "Ach … lieber nicht", meinte ich und wurde prompt in die Schulter geboxt. Sie war letztes Jahr hier hergezogen und hatte irgendwie gefallen an mir gefunden. Sie meinte, dass stille Wasser tief wären und sie solche Menschen gerne mochte. Wahrscheinlich um ihre eigene Hyperaktivität zu neutralisieren. Jeden Tag hatte sie sich zu mir gesetzt und mir Geschichten erzählt. Geschichten über ihre Familie, über ihre erste große Liebe, darüber, dass sie gerne Schauspielerin werden wolle oder einfach nur, wie sehr sie das Essen hier an der Schule hasste. Ich hatte nur dagesessen und sie ignoriert. Doch irgendwie hatte sie es geschafft, dass sie sich in mein Herz schlich. Es war zwei Monate nach ihrem Umzug gewesen. Sie war plötzlich krank geworden und ich hatte mich tatsächlich einsam gefühlt. Als ich sie dann besuchen wollte, stand ich mit offenem Mund vor meinem eigenen Wohnhaus, denn sie war sogar meine Nachbarin gewesen. Diese Tatsache hatte mir damals deutlich gemacht, wie wenig ich auf mein Umfeld geachtet hatte. Es war ein Schock für mich gewesen. Im Laufe der Zeit wurde sie zu meiner ersten Freundin, und als ich sie Vater vorgestellt hatte, hätte er fast zum Weinen angefangen. Ich zeigte es zwar nicht, aber ich mochte Nina. Ich glaube, ich liebte sie sogar, wie eine Schwester. Zumindest glaubte ich, dass sich so Geschwisterliebe anfühlen musste. „Und was hast du heute vor?“, begann sie ein neues Thema und musterte mich neugierig. „Ich weiß es noch nicht. Wahrscheinlich schau ich kurz ins Kaffee. Ich mein …“ „Falls Embry kommt, huh?“, sie grinste verschmitzt, weshalb ich sofort rot anlief. Als ich gestern zurück ins Kaffee gegangen war, war sie total aus dem Häuschen gewesen und hat nur von Hochzeit und anderem Blödsinn gelabert. Sie seufzte laut auf. „Ich finde ihn ja total clever … dir die Jacke zu geben.“ Verwirrt hob ich meine linke Augenbraue an. „Mir war kalt. Was daran ist clever?“ „Ja klar. Mag sein. Aber so stellt er auch sicher, dass er dich wieder sieht“, ergänzte sie lächelnd. Skeptisch musterte ich sie. Nun hatte sie komplett ihren Verstand verloren! Nina war genau so groß wie ich, doch weitaus attraktiver. Ihr Körper war kurvig, jedoch hatte sie kein Gramm zu viel an den Rippen, und dass obwohl sie essen konnte, wie ein Mähdrescher. Aber am meisten gefiel mir ihre zarte, makellose Haut. Ich beneidete sie wirklich darum. Vielleicht wenn ich so aussehen würde wie sie, dann könnte ich diesen Schwachsinn, den sie erzählte, glauben. „Komm schon Ana! Der ist total vernarrt in dich!“, lachend hängte sie sich an meinen linken Arm und zog mich zum Spind. "Er ist zwei Stunden lang dort gesessen und hatte kein einziges Mal den Blick von dir abgewandt. Und du … wie du ihm hinterher gerannt bist. Genau wie in den Ro..." „Lass den Quatsch!“, brummte ich. Niemand, der noch völlig bei Trost war, würde sich etwas aus mir machen und ganz bestimmt nicht jemand, der so aussah wie er. Während ich meinen Spind öffnete, flogen mir einige Zettel entgegen, die ich, ohne sie mir anzusehen, in meine Umhängetasche stopfte, ebenso die Jacke von Embry. Meine eigene dunkelgrüne Regenjacke legte ich über die Tasche und schloss die Tür vom kleinen Spind. „Die hören immer noch nicht auf dich zu nerven, was?“, fragte Nina besorgt. „Nope. Aber ist nicht weiter schlimm. Bald sind wir mit diesem Horror namens Schule durch“, ich klopfte ihr leicht auf die Schultern. „Weißt du, obwohl ich die Schule ja auch hasse, freue ich mich gar nicht auf das Ende. Immerhin werde ich dich dann nicht mehr sehen, stimmt‘s?“, traurig sah sie mich an. Ich wusste nicht wirklich, was ich darauf sagen sollte, weshalb ich nur mit den Schultern zuckte. „Ach was. In Zeiten des Internets, ist es so, als wärst du gar nicht in Seattle an der Uni. Mal davon abgesehen ist Seattle eigentlich gleich um die Ecke.“ „Gleich um die Ecke, was?“, schmunzelte sie und nickte. „Wahrscheinlich hast du recht und ich übertreibe Mal wieder.“ „Mal wieder? Du übertreibst ständig“, erwiderte ich trocken. Sie lachte. Ich mochte ihr Lachen sehr. Es stimmte mich selbst auch immer fröhlich. „Naja. Bis morgen!“, winkte sie. Nachdenklich sah ich ihr hinterher. Sie würde mir unglaublich fehlen. Nina war einfach ganz plötzlich in mein Leben aufgetaucht und hatte mir ein bisschen Normalität gegeben, von der ich schon vor Jahren Abschied genommen hatte. Wenn sie im Herbst nach Seattle zog, würde ich wieder einsam sein. Nachdem ich wusste, wie es sich anfühlte einen Freund zu haben, fand ich diesen Gedanken beängstigend. Ich wollte nicht zurück in die Einsamkeit. „Oh … Genau. Ruf mich an, wie’s mit Embry war!“, rief sie mir lautstark zu. Ich konnte die bohrenden Blicke der anderen Mitschüler am Hof deutlich in meinem Rücken spüren. Mit Sicherheit würde ich sie nicht anrufen. Nicht, nachdem sie mich wieder zum neusten „Klatsch und Tratsch“-Thema gemacht hatte. Murrend schlug ich die Richtung zum Kaffee ein. Ich wusste ehrlich gesagt nicht, warum ich mir die Mühe machte. Er hatte zwar gesagt, dass wir uns heute sehen würden, aber konnte ich seinen Worten trauen? Immerhin kannte ich Embry nicht. Ich musste sichergehen, dass er mich danach in Ruhe ließ. Es kam nichts Gutes dabei heraus, wenn ein gut aussehender Mann etwas von jemandem wie mir wollte. Wahrscheinlich irgendein blöder Streich oder eine verlorene Wette. Doch konnte jemand so viele Gefühle, die in seinen Augen aufgeblitzt waren, vortäuschen? Wenn ich bloß Erfahrung mit solchen Situationen hätte! Ich kannte mich gut in Mathe aus oder anderen Schulfächern. Aber von Beziehungen, Freundschaften, und wie man sich dabei passend verhalten soll – nein – davon hatte ich keinen blassen Schimmer. Vielleicht sollte ich in der Bücherei nach einem Ratgeber suchen, oder im Internet darüber recherchieren. Vorsichtshalber … Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)