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Herzkristall

von

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~Zerstörte Zukunft~

Jetzt sitzt sie hier, vor diesem weißen Papier und weiß nicht, was sie malen soll. Es gibt nur diesen einen schwarzen Stift, den ihr die Lehrerin gegeben hat, nicht einmal Buntstifte, wie zu Hause. Was soll sie denn damit schon schönes malen und was werden Vater und Mutter sagen, wenn das Bild, das Einzige sein wird, von dem sie berichten kann?

Wieder sieht Ivie auf die Uhr an der Wand. Der große Zeiger ist schon einmal ganz herumgelaufen.

Es ist so still hier, niemand redet, niemand bewegt sich. Alle Kinder liegen auf seltsamen Stühlen, sie ähneln denen, die Ivie vom Zahnarzt kennt, nur das an einer Armlehne ein kleiner verstellbarer Tisch befestigt ist. Ob sie schlafen? Ist das immer so in der Schule?

Auch die Lehrerin liegt im Stuhl. Neben ihr sitzt ein wunderschöner Fuchs, seine Augen blinken starr, wie die der anderen Tiere hier. Es sieht unheimlich aus, alles hier ist so merkwürdig.

Ihren ersten Schultag, hat sich Ivie ganz anders vorgestellt. Sie wollte neue Freunde finden und viele spannende Dinge lernen, aber hier ist gar nichts spannend. Die Wände sind kahl, der Boden blank poliert.

Sie seufzt und legt den Stift bei Seite, bevor sie auch nur einen Strich gezeichnet hat. Stattdessen nimmt sie die Brosche von ihrem Kleid und fährt mit den Fingern über den Edelstein.
 

Mutter und Vater sind so stolz gewesen, als sie heute Morgen das Haus verlassen haben. Sie haben sie bis zur Bushaltestelle gebracht und ihr immer wieder erklärt, dass sie an der siebenten Haltestelle aussteigen und dann den Berg hoch laufen muss.

Sie ist so aufgeregt gewesen, als sie ganz allein in den Bus stieg. Trotzdem hat sie alles richtig gemacht. Sie ist an der siebenten Haltestelle ausgestiegen, hat den Berg erklommen und stand dann vor diesem großen Gebäude. Dort waren so viele Menschen, so viele fremde Kinder. Ivie hat nicht gewusst, wo sie hingehen muss, aber als sie diese nette alte Dame am Eingang angesprochen hat, hat diese sie zur Lehrerin gebracht. Mit klopfendem Herzen und weichen Knien stand sie schließlich vor den vielen anderen Kindern.
 

Und nun sitzt sie hier, in diesem kahlen Raum und alle schlafen. Die einzigen, die die Augen offen haben, sind all die vielen Tiere.

Ivie erhebt sich.

Die blinkenden Augen der Kristalltiere starr vor sich hin, noch immer.

Nur ein Kristalina ist anders, seine blauen Augen ruhen auf ihr. Der Wolf sieht sie direkt an, sein Maul bewegt sich nicht, trotzdem hört sie seine Stimme: „Komm her!“

Ivie ist sich nicht sicher, sie knetet ihr Kleid am Bauch durch. Darf sie denn überhaupt hier herum laufen? Die Lehrerin hat ihr doch aufgetragen, ein Bild zu malen.

„Komm her!“, sagt der Wolf wieder.

Ivie sieht zum Lehrerpult.

Die große Frau schläft friedlich, sicher wird sie gar nicht merken, wenn sich Ivie hier mal etwas umsieht und den weichen Wolf streichelt.

Neugierig entfernt sie sich von ihrem Platz und läuft auf den Wolf zu.

Er liegt unter dem Tisch und lässt sie nicht aus den Augen, sein Blick ist sanft und freundlich. Vor seinen Pfoten wirft sich das kleine Mädchen auf die Knie und streichelt ihm über den Kopf. Das Fell blitzt auf, es leuchtet blau, so wunderschön hellblau. Er legt den Kopf in ihre offene Hand und brummt freundlich.

„Du bist hübsch!“, sagt sie.

„Danke! Mein Name ist Isegrim“, sagt er, ohne dass sich sein Maul bewegt.

Ivie kann seine Stimme im Kopf hören, es kitzelt und fühlt sich an, wie bei dem Welpen im Laden. Sie lächelt vergnügt. „Ich bin Ivie!“

Der Wolf nickt: „Ich weiß.“

Sie krault ihn hinter den Ohren. Das Mädchen sieht am Stuhl hinauf.

Der Besitzer des Wolfes rührt sich nicht.

„Warum schlafen denn alle?“

„Sie schlafen nicht, sie surfen.“

„Surfen?“ Ivie weiß nicht was das ist, den Begriff hat sie noch nie gehört.

Isegrim legt den Kopf schief, er sagt: „Das ist wie träumen. Wir Kristalinas schenken ihnen eine eigne Welt, in der sie spielen und miteinander reden können.“

Ivie legt die Stirn in Falten. „Aber wozu? Wir können doch hier spielen und miteinander reden.“

Der Wolf schaut nachdenklich. „Ja, aber dort ist alles viel schöner!“

Viel schöner? Das kann Ivie nicht glauben. Sie erinnert sich an den Tag im Geschäft, als der Welpe sie mit auf die grüne Wiese genommen hat. Dort ist es wirklich schön gewesen, aber so einen Baum gibt es auch auf dem Hof ihrer Eltern und dort ist das Gras sogar noch höher. Da kann man in die Äste klettern und die Äpfel vom Baum pflücken. Sie sind so süß und saftig. Ivie kann sie beinah schmecken. Um das alles zu erleben, müssten die Kinder doch nur zu ihr nach Hause kommen, dann könnten sie die Kühe streicheln und ihre Milch trinken, wenn sie noch ganz warm ist. In Ivies Gedanken wirbeln all die schönen Dinge von zu Hause.

„Das würde ich auch gern mal sehen!“, sagt der Wolf, als habe er ihre Gedanken lesen können.

Eine Hand berührt Ivie an der Schulter, erschrocken fährt sie herum.

Die Lehrerin ist aufgewacht und kniet hinter ihr. „Ivie?“, sagt sie in einem freundlichen Ton, „Ich habe deine Eltern rufen lassen, sie sind bald hier und holen dich ab.“ Frau Zion reicht ihr die Hand und hilft Ivie beim Aufstehen.

Das kleine Mädchen streicht sich das Kleid glatt und sieht noch einmal zum Wolf zurück. „Mach‘s gut Isegrim!“

Der Kristalina nickt und sieht ihr nach, als sie an der Hand von Frau Zion den Raum verlässt.
 

Stumm läuft Ivie mit Frau Zion durch den Flur. Immer wieder schaut sie hinter sich und hat das Gefühl, das Klassenzimmer und all die Kinder nie wieder zu sehen.

Mutter und Vater werden sehr enttäuscht sein und Mae wird sie damit aufziehen, dass sie nur einen einzigen Tag in der Schule gewesen ist. Verlorenes Kind werden sie sie rufen, so wie sie alle Kinder nennen, die nicht am Unterricht teilnehmen dürfen. Tränen sammeln sich in ihren Augen, doch Ivie schluckt sie tapfer herunter. Mama und Papa sollen sie an ihrem ersten Schultag nicht weinen sehen, das hat sie sich ganz fest vorgenommen.
 

Sie lassen das Schulgebäude hinter sich.

„Ivie!“

„Ivie, hier sind wir!“, hört sie die Stimmen ihrer Eltern, doch sie wagt nicht aufzusehen. Sie folgt der Lehrerin und knetet mit der freien Hand den Träger ihres Kleides. Bald haben sie Mutter und Vater erreicht, in Ivie stauen sich immer mehr Tränen. Sie kullern über ihre Wangen.

„Ivie, was ist denn passiert?", will ihre Mama wissen. Sie kniet sich zu ihr hinab und legt ihr die warmen Hände auf die Schultern.

„Mein Kristalina ist zu alt!“, sagt sie.

„Zu alt?“, wiederholt ihr Vater, „Wir haben ihn erst gestern gekauft!“

Frau Zion hebt abwehrend die Hände und sagt: „Unsere Kristalina können nicht mehr mit dem Anhänger ihrer Tochter kommunizieren. Wir arbeiten seit diesem Jahr ausschließlich im virtuellen Klassenzimmer. Aber ich kann ihnen ein Programm mitgeben, mit dem Ivie zu Hause lesen und schreiben lernen kann.“

„Ist das ihr ernst?“, sagt der Vater laut. Er hat die Hände zu Fäusten geballt, sein Gesicht ist verbissen und ernst. „Seit das Kind auf der Welt ist, haben wir Geld an die Seite gelegt, um ihr diese lächerliche Brosche kaufen zu können. Wir haben auf alles verzichtet, nur damit sie zur Schule gehen kann.“

„Es tut mir leid!“, sagt Frau Zion.

„Was ist so falsch an Stift und Papier? Können sie ihr nicht damit etwas beibringen?“

„Das geht leider nicht! Während des Unterrichts befinden sich alle Kinder und auch ich selbst im Netz. Ich kann nicht gleichzeitig dort und hier sein, schon gar nicht, für nur eine Schülerin.“

Das Gesicht des Vaters läuft feuerrot an, seine Stimme ist so laut, das Ivie zusammen zuckt: „Es geht doch nicht nur um irgend eine Schülerin, sondern um die Zukunft dieses Kindes. Was soll aus ihr werden, wenn sie nicht in die Schule gehen kann?“

„Ein Bauer, wie sie!“, erwidert die Lehrerin trocken.

Die Hand ihres Vaters greift nach Ivie, er reißt den Anhänger von ihrem Kleid und wirft ihn auf den Boden. Mit dem Fuß zertritt er ihn.

Schockiert betrachtet Ivie die Splitter, die unter der Schuhsole zum Vorschein kommen.

„Das ist immer noch besser, als wie ihr in einer Traumwelt zu leben. Sie weiß wenigstens noch woher das Essen auf ihrem Teller kommt und wie sich echtes Gras anfühlt. Komm Kind!“ Die Hand des Vaters fast die ihre, er zieht sie hinter sich her.

Ivie sieht zurück.

Frau Zion zuckt mit den Schultern und läuft zum Eingang des Gebäudes, sie hat keinen letzten Blick für sie und ihre Eltern übrig.

Traurig betrachtet das Kind den zertretenen Schmetterling, der in der Ferne immer kleiner wird.



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