Chronograph von -Zerschmetterling- ================================================================================ Kapitel 1: ----------- -1-   „Kakashi Hatake, du bist zu spät“, wütend bohrte ich ihm meinen Finger in die Brust.   Zweiundvierzig Minuten. So lange stand ich nun schon an unserem Treffpunkt und wartete auf den Mann, der angeblich so wahnsinnig wichtige Informationen für mich hatte. Nicht, dass es mich sonderlich überraschte, dass er mal wieder nicht pünktlich auftauchte, aber vorhin am Telefon hatte er wirklich beunruhigt geklungen. Bei jedem anderen hätte ich diesen dezent besorgten Unterton wahrscheinlich ignoriert, aber Kakashi war niemand, der sich besonders leicht aus der Ruhe bringen ließ.   „Ah, weißt du, Naruto, das ist eine ganz komische Geschichte“, er kratze sich am Hinterkopf und um seine Augenwinkel bildeten sich kleine Fältchen. „Auf dem Weg hierher habe ich eine ältere Dame getroffen und sie hat so schwere Einkaufstüten getragen. Da konnte ich gar nicht anders, als ihr zu helfen.“   Ich schnaubte und verschränkte die Arme vor der Brust.   „Du hättest wenigsten Bescheid sagen oder eine kurze SMS schreiben können.“   Normalerweise war ich nicht besonders nachtragend, aber heute hatte er mich in aller Frühe aus dem Bett geklingelt und zu unserem Treffpunkt bestellt. In der Eile hatte ich es nicht mal mehr geschafft eine Tasse Kaffee zu trinken und noch dazu regnete es schon seit Stunden wie aus Eimern. Der Sand unter meinen Füßen war dunkel und schwer, hatte sich bereits vollständig vollgesaugt. Abgesehen von dem kleinen Holzhäuschen, in das ich mich mühevoll gequetscht hatte, gab es hier auf dem Spielplatz kaum eine Möglichkeit sich unterzustellen. Die alten Planken waren allerdings nicht gerade das, was man als wasserabweisend bezeichnen würde und so war kontinuierlich ein kleines Rinnsal direkt auf meinen Kopf getropft. Wie sollte ich da nicht nachtragend sein?   „Ich hatte Einkaufstüten in der Hand. Wie hätte ich dir da schreiben sollen?“, fragte Kakashi und schlug den Kragen seines Mantels hoch.   Man könnte meinen, dass er sich dadurch vor dem Wetter schützen wollte, doch es war vielmehr eine symbolische Geste. Schon seit ich denken konnte, trug Kakashi eine Gesichtsmaske, die seinen Mund und seine Nase bedeckte, was vor allem daran lag, dass er anonym bleiben wollte. Oft starrten die Leute ihn dadurch erst recht an, doch heute und bei diesem unbarmherzigen Regen wirkte es alles andere als ungewöhnlich.   „Also warum sollte ich herkommen?“, hakte ich noch einmal misstrauisch nach.   Hatte ich mir den aufgeregten Unterton am Telefon etwa nur eingebildet? Mittlerweile kannte ich Kakashi schon seit knapp zwanzig Jahren und auch wenn wir uns zeitweise nur sehr unregelmäßig sahen, bildete ich mir ein, ihn einigermaßen einschätzen zu können.   „Die Akademie hat eine Entscheidung getroffen.“, erklärte er knapp.   Augenblicklich spürte ich, wie mein Herz in meiner Brust schneller schlug. Eigentlich hatte ich genug Zeit gehabt mich auf diesen Moment vorzubereiten, doch wenn man mal ehrlich war, konnte man sich auf so etwas niemals ausreichend vorbereiten. Immerhin ging es um den Rest meines Lebens. Mehr noch, es ging darum, wem ich mein Leben anvertrauen musste.   „Wer ist es?“, fragte ich mit ungewöhnlich leiser Stimme.   Es fühlte sich so an, als würde mir mein Herzschlag die Kehle zuschnüren. Normalerweise war ich laut und penetrant. Selbstbewusst. Ungehobelt. Energiegeladen. Alles nur nicht leise. Aber in diesem Moment fiel es mir schwer meine Sorgen wie sonst einfach herunterzuschlucken und stattdessen ein Grinsen aufzusetzen. Was, wenn sie die falsche Entscheidung getroffen hatten?   „Lass uns ein Stück gehen“, schlug Kakashi vor.   An Tagen, an denen es wie heute regnete und der Himmel von grauen Wolken verhangen war, ließ er sich des Öfteren mal zu einem kleinen Spaziergang hinreißen. Es war immer riskant, wenn man uns beide zusammen sah, aber um diese Uhrzeit waren noch nicht besonders viele Menschen auf den Straßen unterwegs und wir mussten eben vorsichtig sein. Kakashi bedeckte zwar sein Gesicht, aber die große Narbe die quer über sein rechtes Auge verlief, zeichnete ihn unverkennbar als denjenigen, der er war.    Es war ein ekliges Gefühl, als ich durch das viel zu schmale Fenster aus dem kleinen Holzhäuschen kletterte und mir die ersten Regentropfen den Nacken hinunterkrochen. Meine blonden Haare begannen sofort auf meiner Kopfhaut zu kleben und ich widerstand der Versuchung, mir zum Schutz die Arme über den Kopf zu halten. Ich würde so oder so nass werden, da führte kein Weg dran vorbei. Ich schob meine Hände in die Jackentaschen und hätte ich eine Kapuze gehabt, hätte ich mir die über den Kopf gezogen. Doch bedauerlicherweise hatte ich keine Kapuze. Noch nicht mal einen Regenschirm.   „Wo gehen wir hin?“, fragte ich neugierig.   „Frühstücken“, antwortete er nur knapp und schlenderte in Richtung Straße.   Die Gegend hier war relativ verlassen und das war auch genau der Grund, warum er den Spielplatz als Treffpunkt ausgewählt hatte. Hier spielten schon seit mindestens fünf Jahren keine Kinder mehr und stattdessen war es ein Ort, an dem sich zwielichtige Gestalten tummelten. Auf diese Weise fielen wir zumindest nicht unnötig auf und niemand kam auf die Idee unangenehme Fragen zu stellen. Wahrscheinlich hielten die Leute uns für Drogendealer oder einen Stricher und seinen deutlich älteren Freier.   Der Asphalt platschte laut unter unseren Füßen, als wir den Gehweg entlang schlenderten und auf den belebteren Teil des Viertels zusteuerten. Gegen ein kleines Frühstück hatte ich nichts einzuwenden, was vermutlich daran lag, dass ich für Essen generell immer zu begeistern war. Manchmal scherzte Kakashi, dass mir diese Schwäche irgendwann noch zum Verhängnis werden würde, aber ich konnte einfach nichts Schlechtes darin sehen.   Wir betraten ein kleines Eckcafé und sofort schlug mir der Geruch von frischen Brötchen und gerade erst aufgebrühtem Kaffee in die Nase. Es war nicht besonders gemütlich hier, der Anstrich könnte durchaus eine kleine Auffrischung vertragen und auch die klapprigen Metalltische machten keinen allzu vertrauensvollen Eindruck, aber allein die wohlige Wärme, die einen umfing, sobald man das Café betrat, lud zum Verweilen ein. Alles war besser als weiter draußen im Regen zu stehen. Angewidert schüttelte ich mich und verteilte dabei unabsichtlich ein paar Tropfen auf Kakashis Mantel, der mir nur einen mahnenden Blick zuwarf.   Wir suchten uns einen kleinen Tisch in der Ecke, wo man uns unmöglich belauschen konnte, und bestellten uns dann jeweils ein kleines Frühstück bestehend aus einem Heißgetränk, drei Brötchen und verschiedenen Aufstrichen. Kakashi trank wie immer Pfefferminztee, während ich mir einen Kaffee bestellt hatte. Irgendwie musste ich ja noch wach werden. Die Uhrzeit gepaart mit der deprimierenden Schwärze des Himmels trug nicht gerade dazu bei, dass ich mich sonderlich fit fühlte.   „Du solltest dieses Zeug nicht immer trinken“, Kakashi nickte in Richtung meiner Kaffeetasse. „Es tut dir nicht gut.“   Abwehrend zuckte ich mit den Schultern. Es war nicht das erste Mal, dass er mich ermahnte, aber das ging bei mir schon immer zum einen Ohr rein und zum anderen wieder raus. Manchmal übertrieb er es ein wenig mit seiner Fürsorge und der damit verbundenen Paranoia. Abgesehen davon half mir der Kaffee, die Kopfschmerzen im Rahmen zu halten und das allein war mir jedes Risiko und jede Nebenwirkung wert.   „Ich bin keiner von euch“, erinnerte ich ihn.   Seufzend begann er damit sein Brötchen aufzuschneiden.   „Das spielt keine Rolle, Naruto. Du solltest lieber Tee trinken.“   Angewidert verzog ich das Gesicht. Ich mochte keinen Tee und schon gar keinen Pfefferminztee, so wie er ihn immer trank. Der schmeckte nach Grünzeug, nach Kräutern und irgendwie auch nach Medizin. Kurz gesagt, einfach widerlich. Niemals würde ich dieses Zeug anrühren, egal wie oft Kakashi mir predigte, dass es viel gesünder war.   „Kein Tee“, wehrte ich entschieden ab. „Sag mir lieber, für wen die Akademie sich entschieden hat.“   Nachdem er sich mehrmals vergewissert hatte, dass niemand zusah, schob Kakashi seine Gesichtsmaske ein Stück nach unten und bis herzhaft von seinem Käsebrötchen ab. Es war immer wieder aufs Neue befremdlich, sein komplettes Gesicht sehen zu können. Irgendwie fühlte es sich nicht richtig an und doch konnte ich nicht anders als zu starren.   „Sie werden eine zusätzliche Person schicken“, erklärte er zwischen zwei Bissen. „Es soll möglichst unauffällig bleiben, denn noch gehen wir davon aus, dass sie dich nicht gefunden haben. Zwei Wächter reichen fürs erste.“   Ich nickte, um zu signalisieren, dass ich verstanden hatte.   „Du solltest trotzdem so bald wie möglich dein Urlaubssemester beantragen, Naruto“, fuhr er mit wichtiger Miene fort. „Die Wächter werden morgen im Laufe des Tages ankommen und dann bleibt ihr noch so lange wie möglich hier. Allerdings kann man nie ausschließen, dass irgendwelche unvorhergesehenen Ereignisse eintreten und dann müssen wir flexibel sein.“   Überrascht sah ich ihn an. Den zweiten Teil hatte ich gar nicht mehr richtig mitbekommen, weil ich viel zu sehr von dem abgelenkt wurde, was er am Anfang gesagt hatte.   „Die Wächter kommen hier her?“   Diesmal war es Kakashi, der nickte.   „Solange du noch hier bist, werden sie auf dich aufpassen“, bestätigte er.   Gerade wollte ich von meinem Salamibrötchen abbeißen, doch stattdessen verzog ich nur unzufrieden das Gesicht.   „Wie Kindermädchen?“   Genau so hörte es sich nämlich für mich an. Dabei war ich bei weitem kein Kind mehr. Ich war mittlerweile neunzehn, fast zwanzig Jahre alt und ich hatte absolut keine Lust mich von zwei völlig fremden Menschen auf Schritt und Tritt begleiten zu lassen. Mir reichte schon Kakashis teilweise übertriebene Fürsorge, da brauchte ich nicht noch zusätzliche Glucken um mich herum.   „Wie Wächter“, korrigierte mich Kakashi. „Das ist ihr Job, Naruto.“   Grummelnd nahm ich einen Schluck Kaffee und erntete dafür prompt einen missbilligenden Blick. Wächter hin oder her. Es passte mir nicht, wenn jemand versuchte mir Vorschriften zu machen, das löste dann erst recht genau dieses Verhalten bei mir aus.    „Und wer sind jetzt diese beiden?“, fragte ich eher widerwillig.   Wieder sah Kakashi sich misstrauisch in dem kleinen Café um. Abgesehen von unserem waren nur noch zwei weitere Tische besetzt. An einem saß eine Gruppe junger Menschen, die so aussahen, als hätten sie die komplette letzte Nacht durchgefeiert, an dem anderen ein älterer Herr, der sich hinter einer Tageszeitung versteckt hatte und nur ab und zu einen Schluck aus seiner Tasse nahm. Vorhin hatte ich gesehen, wie er Whiskey aus einem kleinen silbernen Flachmann hineingekippt hatte. Alles in allem nicht gerade die Art von Menschen, die uns gefährlich werden konnten, aber Kakashi war der Meinung, dass man nie vorsichtig genug sein konnte.   „Du wirst sie bald kennenlernen“, versprach er. „Mehr kann ich dir dazu noch nicht sagen – das wäre zu gefährlich. Man sollte dich und deinen Wächter auf keinen Fall jetzt schon in Verbindung bringen. Die Identität der beiden muss also vorerst geheim bleiben.“   Es wollte mir zwar nicht wirklich einleuchten, warum er selbst mir die Namen der beiden nicht verraten wollte, aber auch das schob ich mal wieder auf seine paranoide Art. Wahrscheinlich dachte er wirklich, dass uns der Alkoholiker da drüben am anderen Tisch möglicherweise belauschen könnte. Früher war Kakashi um einiges unbeschwerter gewesen, positiver, aber mit Sicherheit auch naiver.   Ich konnte mich nicht mehr daran erinnern, wie oft wir den Ort gewechselt hatten. Wie oft er für mich eine neue Wohnung, einen neuen Kindergarten, eine neue Schule, eine neue Universität gesucht hatte. Seitdem hatten immer mehr Sorgenfalten tiefe Spuren auf seiner Stirn hinterlassen und seine Züge waren von Jahr zu Jahr härter geworden. Aber mir ging es nicht anders.   Als Kind konnte man so etwas leichter verkraften, man vergaß viel schneller die Menschen, die man kennengelernt hatte und freute sich stattdessen über das aufregende Neue. Doch irgendwann fällt einem das nicht mehr so leicht. Irgendwann beginnt man zu vermissen. Und irgendwann gibt man es schließlich auf, immer wieder Fuß fassen zu wollen. Stattdessen beginnt man damit, sich mit der Einsamkeit anzufreunden und gibt sich mit oberflächlichen Kontakten zufrieden, aus Angst die Menschen, die einem wichtig geworden sind, wieder verlassen zu müssen.   „Naruto?“   Ich schreckte aus meinen Gedanken hoch und stellte fest, dass Kakashi mich besorgt ansah. Schnell setzte ich wieder mein übliches Grinsen auf und verschränkte meine Arme hinter dem Kopf.   „Man, diese Geheimniskrämerei ist ja schön und gut, aber wie soll ich meinen Wächter denn dann erkennen?“, kehrte ich dann abrupt zum Thema zurück.   Diesmal war es Kakashi, der mich verblüfft ansah. Offensichtlich hatte er nicht damit gerechnet, dass ich mir darüber Gedanken machen würde. Einen Moment lang überlegte er, dann legte sich ein geheimnisvolles Lächeln auf seine Züge.   „Du wirst regelrecht erstarren, wenn du ihn zum ersten Mal siehst.“   In einem Zug trank er den Rest seines Tees aus und stellte die leere Tasse zurück auf den Tisch.  Dann zog er sich die Gesichtsmaske wieder bis über die Nase. Die beiden letzten Brötchen hatte er nicht angerührt, doch ich wusste, dass er jetzt aufbrechen würde. So war Kakashi. Er kam, wann er wollte und er ging, wann er wollte. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass wir uns jetzt für eine längere Zeit nicht mehr sehen würden und wollte ihm noch irgendetwas zum Abschied sagen, aber stattdessen sah ich ihm nur dabei zu, wie er seinen Mantel von der Stuhllehne nahm und in die immer noch leicht nassen Ärmel schlüpfte.   „Mach’s gut, Naruto.“   Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)