24 Farben der Liebe von Evilsmile (Adventskalender 2015) ================================================================================ 11. Türchen: Christstollen -------------------------- „Xaver…“, seufze ich, „lass uns nach Hause gehen, ich bin müde.“ Wir sitzen im Café unseres Kinos, um nach dem neuen Bond noch einen Cappuccino zu trinken. Xaver liebt Bond-Filme, besitzt die ganze Sammlung auf DVD und hat etliche im Kino gesehen. Ich dagegen habe ihn nur seinetwegen angesehen. „Schönen Abend noch“, wünscht mir die junge Frau, nachdem ich gezahlt habe, und schaut mich so seltsam dabei an. Ich friere trotz meiner Winterjacke und der Handschuhe, und weiß nicht, was schlimmer ist: die eisige Kälte oder die Müdigkeit. Wahrscheinlich friere ich wegen meiner Müdigkeit. „Der Tag heute war der Schönste seit langem! Danke, Schatz“, lächele ich, bleibe stehen und betrachte die Sterne. „Weißt du noch, wie wir im Sommer auf dem Balkon gelegen und die Sterne betrachtet haben? Es war so verdammt warm gewesen. So warm, wie es jetzt eiskalt ist.“ Sein Gejammer über diese „Wüstenhitze“ habe ich noch gut in den Ohren. Kälte mag er lieber. Und er ist eher der schweigsame Typ, der mich reden lässt mit den Leuten. Glücklich hake ich mich bei ihm unter. Ich liebe Xavers kräftige Arme und was er damit alles anstellen kann. Zum Beispiel mich tragen. Oder als Feuerwehrmann Menschen retten. Dann sind wir auch schon an der Haustür angekommen. Ich bemerke, dass im Treppenhaus Licht brennt. „Guten Abend“, grüßt uns da auch schon unsere Nachbarin Frau Schlemmer, eine Dame im fortgeschrittenen Alter, mit Brille und rot gefärbter Dauerwelle. Ich wundere mich darüber, dass sie heute grüßt, denn sonst ignoriert sie uns komplett. Xaver kann die Schlemmer nicht ausstehen, vom ersten Tag an, wo sie eingezogen war, ein Jahr ist das jetzt her, und bezeichnet sie als „frustriertes Waschweib“. Sie wohnt im Stockwerk unter uns und klingelt oft Sturm, wenn ihr die Musik zu laut ist, um uns dann anzufauchen – und zu laut ist ihr alles, was einen Dezibel über Zimmerlautstärke misst. „Wie geht es Ihnen?“, will sie wissen. „Gut, danke der Nachfrage“, antworte ich knapp, und wir schlüpfen an ihr vorbei zum Aufzug. Einige Sekunden vergehen, bis der Fahrstuhl im Erdgeschoss hält. „Wenn Sie was brauchen, dann zögern Sie nicht, zu fragen.“ „Danke, Frau Schlemmer“, ist alles, was ich darauf höflich antworte, verwundert über ihr plötzliches Interesse. Der Fahrstuhl muss in den fünften Stock, was einige Zeit dauert. Viel zu lange. „Wir sind ja gleich daheim, Schatz.“ Wie aufs Stichwort hält der Fahrstuhl an und die Türen öffnen sich. Xaver folgt mir in die Wohnung, hängt wie immer als erstes seinen Mantel auf seinen Garderobehaken und schlüpft dann aus seinen Halbstiefeln, die er auf dem Teppich abstellt. Was das angeht, ist er sehr pingelig. Kein Besucher darf in Straßenschuhen die Wohnung betreten. Dann verschwindet er im Wohnzimmer, wo ich eine Lampe habe brennen lassen. „Na, Moneypenny, noch wach?“ Die schwarze Hauskatze sitzt keine drei Meter von der Tür entfernt, unbeweglich wie ein Denkmal. Ich bücke mich, um sie zu streicheln. Doch Moneypenny mag jetzt nicht gestreichelt werden, herrje, ich weiß nie, was sie von mir will, diese eitle Diva. Xaver mag sie lieber als mich. Ihm ist sie zugelaufen, lange vor meiner Zeit. Sie wendet sich enttäuscht ab und tapst ins Wohnzimmer, springt geschmeidig auf den Ohrensessel. Xavers Lieblingssessel. Gedankenverloren starre ich diesen Sessel an, unter der Stehlampe, wo Xaver oft seine Fachbücher liest. Und mein Blick fällt auf ihren Fressnapf, den sie gar nicht angerührt hat. Plötzlich kann ich mich mehr dazu überwinden, das Wohnzimmer zu betreten. Nicht, ohne Xavers karierten Wollmantel vom Haken zu nehmen, und meine Nase im Stoff zu vergraben. Mit dem Mantel gehe ich um den Sessel herum, erblicke dort die Katze zusammengerollt, deren Augen mich anstarren wie zwei grüne Vollmonde in der Nacht. Ich nehme sie, um sie auf meinen Schoß zu setzen, wo Xavers Mantel liegt. Ich streichele die mager gewordene Katze, die bei mir nie schnurrt, sondern das nur bei Xaver tut. Tat. Ich muss lernen, in der Vergangenheitsform von Xaver zu sprechen. „Du musst doch was fressen! Ich muss mich auch dazu zwingen. Meinst du, das hätte er gewollt, dass ich dich auch noch verliere?“ Als ich auf den Wohnzimmerschrank schaue und das Foto von ihm und mir sehe, kehren meine Kopfschmerzen zurück. Xaver ist tot. Er starb bei einem Feuerwehr-Einsatz vor zwei Monaten. Die vierköpfige Familie hatte er aber aus dem brennenden Haus retten können. Die Todesanzeigen aus der Zeitung mit all dem Lob über den mutigen Feuerwehrmann, den pflichtbewussten Kameraden und tollen Freund, sie liegen alle noch auf dem Schrank, zwischen den Beileidskarten von Freunden. Meine Tränen tropfen auf Moneypennys Fell. „Er war ein wunderbarer Mensch, nicht wahr? So wenig Zeit war uns beiden vergönnt, viel zu wenig, selbst zwanzig Jahre mit Xaver wären zu wenig! Ich vermisse ihn! So sehr, dass ich im Kino zwei Eintrittskarten gekauft habe und dann neben einem leeren Sitz gesessen habe. Verrückt, nicht? Aber er hat sich doch so wahnsinnig auf diesen Bond gefreut! Und ich habe gespürt, dass er bei mir war, den ganzen Abend…“ Ich weiß nicht, wie lange ich so schon dasitze und Moneypenny streichele und in Gedanken ganz bei Xaver bin, an dem mich jeder Quadratzentimeter in dieser Wohnung erinnert. Jedenfalls schreckt uns die Türklingel auf. Moneypenny springt von meinem Schoß und ich erhebe mich widerwillig, um an die Tür zu gehen. Wer kann das sein? Frau Schlemmer steht davor. Sie hält in ihren Händen ein Tablett mit einem Christstollen und einer Flasche Wein darauf und mir klappt der Mund auf. „Hallo, Frau Wolf. Ich hoffe, ich störe nicht. Nun, naja… Sie machen gerade eine schwere Zeit durch. Ich habe auch vor nicht allzu langer Zeit meinen Mann verloren. Gerade jetzt in der Vorweihnachtszeit ist das ganz schlimm für mich. Hier, das ist für Sie, ein Christstollen, den ich selbst gebacken habe.“ Ich schaue von dem mit Puderzucker bedeckten Gebäck zu ihrem freundlich lächelnden Gesicht und war so gerührt, dass mir schon wieder die Tränen kamen. „Vielen Dank, Frau Schlemmer“, sage ich. „Möchten Sie nicht hereinkommen?“ Ein überraschtes Lächeln huscht über ihr Gesicht. „Gerne! Sie dürfen mich auch Marlies nennen“, meint sie, bevor sie herein kommt. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)